Das Meer so tief, der Wind so frei - Barbara Schinko - E-Book

Das Meer so tief, der Wind so frei E-Book

Barbara Schinko

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine falsche Prinzessin Ein Mädchen, das Gänse hütet Zwei Schicksale – ein Märchen Kein Zweifel: Auf dem Landsitz an der irischen Küste geschehen merkwürdige Dinge. Zu allem Überfluss halten seine Bewohner die Studentin Deirdre für eine moderne „Prinzessin“, die sich einen „Prinzen“ angeln will! Doch aus dem Spiel mit vertauschten Rollen wird tödlicher Ernst ... Aoife aus den grünen Weiten Connemaras verfügt über eine besondere Gabe: Ebenso wie ihre Gänse ist ihr der Wind stets ein treuer Begleiter. Als Kevin, ihr Freund aus Kindertagen, nach Jahren wiederkommt und sie um Hilfe bitte, liegt es an ihr, das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften. Mit „Das Meer so tief“ und „Der Wind so frei“ webt Barbara Schinko aus dem Märchen „Die Gänsemagd“ und ihrer Liebe zu den schroffen Klippen und grünen Hügeln Irlands zwei einzeln lesbare und doch zusammenhängende Geschichten über Wind und Meer, Verrat und Treue und Entdeckungen, die unser ganzes Leben verändern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Das Meer so tief

1

2

3

4

5

6

7

Epilog

Der Wind so frei

1

2

3

4

5

6

Epilog

Weitere Bücher von Barbara Schinko

Impressum

Das Meer so tief

Da […] empfand sie heißen Durst und rief ihrer Kammerjungfer: steig ab und schöpfe mir mit meinem Becher, den du aufzuheben hast, Wasser aus dem Bach, ich möchte gern einmal trinken.

„Ei, wenn ihr Durst habt, sprach die Kammerjungfer, so steigt selber ab, legt euch an’s Wasser und trinkt, ich mag eure Magd nicht seyn!“

(aus: Brüder Grimm, Die Gänsemagd in: Kinder- und Hausmärchen Band 2, 1. Auflage 1815)

1

„Warten Sie!“

Was jetzt? Noch ein Bettler, Spendensammler oder Tourist, der sich verlaufen hatte? Wer auch immer es diesmal sein mochte, Deirdre blieb nicht stehen. Ein Unglück jagte heute das nächste. Sie hatte die Schnauze voll! Als wären der abgebrochene Absatz eines ihrer besten Pumps und der Verlust ihres Teilzeitjobs nicht schlimm genug gewesen, hatte sie beim Durchqueren des St-Stephen's-Green-Parks auch noch ein Regenguss überrascht. Soviel dazu, dem Wetterbericht zu vertrauen und ausnahmsweise ihren Schirm zu Hause zu lassen. Als gelernte Dublinerin hätte sie es besser wissen sollen.

Durchnässt bis auf die Haut, den Absatz eines beigen Pumps in der Hand, humpelte sie nun die Reihe georgianischer Backsteinhäuser mit ihren hohen, schmalen Fenstern entlang. Sie erreichte ihr Ziel, eine hellblau gestrichene Haustür zwischen zwei roten, und fummelte gerade mit dem Schlüssel im Schloss, als es hinter ihr wieder tönte: „Warten Sie, Ma'am!“

„Ma'am?“ Empört wirbelte Deirdre herum. Klar wusste sie, dass der brave Dutt, in den sie ihre mahagonifarbene Lockenmähne gezwungen hatte, sie älter machte. Auch der Tweedrock und die graue Bluse dazu wirkten reichlich verknöchert, das war schließlich der Sinn der Sache. Aber trotzdem … „Ich bin noch nicht mal zwanzig!“

Ihr Verfolger starrte sie ratlos an.

Nach einem langen Moment des Schweigens versuchte er es erneut: „Miss?“

Ein Blick in sein Gesicht mit den rehbraunen Augen und den ebenmäßigen, blendend weißen Zähnen genügte für Deirdre. Kein Zweifel, bei dem jungen Mann handelte es sich um genau die Art von Beute, die ihre Mitbewohnerin Dianaimh – gesprochen „Djee-uh-niv“ oder auch „Ihre königliche Hoheit“ – wie Fliegen in ihrem Netz fing.

Das hilflose Opfer von Dianaimhs Begierde fuhr fort: „Ich wollte bloß–“

„Nein!“, fauchte Deirdre, bevor er weitersprechen konnte. „Ich weiß nicht, ob sie heute da ist. Ich weiß nicht, warum sie nicht zurückruft, und ich weiß nicht, wie ihr Terminkalender für die nächsten paar Wochen aussieht, weil ich nämlich nicht ihre verdammte Sekretärin bin!“

Er wich einen Schritt zurück. Von ihrem Ausbruch scheinbar völlig überrumpelt hielt er ihr einen Kleidersack hin. „… Okay? Ich habe Ihre Lieferung hier, Miss.“

O Mann. Der Regenguss musste ihr wohl das Gehirn durchweicht haben. Erst jetzt erkannte Deirdre den jungen Manager der Kleiderreinigung ein paar Straßen weiter. Die soweit sie wusste auch keine Hauszustellungen machte, aber für Dianaimh galten natürlich andere Gesetze als für den Rest der Welt.

Sie riss dem Mann den Kleidersack aus der Hand, murmelte etwas, das mit viel gutem Willen als Entschuldigung durchgehen mochte, und hastete ins Haus. Ein Windstoß knallte die Tür hinter ihr zu, so dass die Glasscheiben des halbrunden Oberlichts klirrten. Deirdre jonglierte mit ihrem Schlüssel, dem abgebrochenen Absatz und dem Kleidersack und schaffte es irgendwie, die erste Wohnungstür rechts im Flur zu öffnen.

Völlig ausgelaugt warf sie Schlüssel und Absatz in das Kristallglasschälchen auf dem Schuhschrank, das als Ablage diente, streifte ihre ruinierten Pumps ab und stolperte in Strümpfen in die Küche. Dort hängte sie den Kleidersack erst mal an den Griff des Gefrierfachs über dem Kühlschrank und plumpste erschöpft auf einen der drei Stühle.

Maureen, die beim Herd stand, musterte sie spöttisch. „Du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.“

„Sehr witzig.“ Deirdres Bluse klebte an der Stuhllehne. Ihr Rock war klatschnass, und die Feuchtigkeit drang allmählich durch ihr Höschen.

Maureen schien etwas hinzufügen zu wollen, vermutlich: „Du wirst dir in diesen Klamotten noch den Tod holen“ oder sonst irgendwas Mütterliches in der Art, doch sie klappte den Mund wieder zu und verkniff sich jede weitere Bemerkung.

Gerade das verlieh Deirdre die Kraft, sich zu erheben. Maureen war nun mal nicht ihre Mum. Sie, Deirdre, war neunzehn, studierte hunderte Kilometer von daheim entfernt an einem Dubliner College und hatte ihr Leben im Griff. So wenig es im Moment auch danach aussehen musste.

Also wankte sie in ihr Kämmerchen nebenan und zog sich um. Die nasse Bluse kam auf den Kleiderbügel, der vom Lampenschirm baumelte. Der Tweedrock durfte über der Lehne des Drehstuhls vor dem Schreibtisch trocknen. Eine Notlösung, denn Platz für einen Wäscheständer gab es nicht. Deirdres Zimmer war der kleinste Raum der Wohnung, sogar kleiner als das Bad. Sie und Maureen pflegten Witze darüber zu reißen, dass in ihm bestimmt früher ein Dutzend Dienstboten von Dianaimhs Familie wie Sardinen übereinander gehaust hatten. Dianaimh selbst verfügte natürlich über ein gigantisches Schlafzimmer mit einem ebenso gigantischen privaten Bad im ersten Stock.

In Leggings, Wollsocken und ihrem kuscheligen, wenn auch schon reichlich verwaschenen College-Sweater trottete Deirdre zurück in die Küche. Ein intensiver Geruch nach Fisch und gerösteten Zwiebeln entströmte nun Maureens Pfanne. Wenn das frisch gereinigte Kleid den annähme, würde Dianaimh ihre beiden Mitbewohnerinnen garantiert ermorden, aber das war Deirdre in diesem Moment ziemlich egal. Sie sank auf den Stuhl.

Maureen bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. „Alles okay?“

Deirdres Nicken und ihr Lächeln waren purer antrainierter Reflex, ein Souvenir aus ihrem Teilzeitjob in der Boutique. Sie riss sich gerade noch zusammen, bevor sie auch noch „Danke, alles bestens“ murmeln konnte.

„Ich bin gefeuert worden“, gestand sie Maureen stattdessen.

„Autsch.“ Maureen schnitt eine Grimasse.

Fast wünschte sich Deirdre, ihre Mitbewohnerin wäre bei dem ganzen Theater dabei gewesen. Als Mrs Burke, die ältliche Besitzerin der Schal- und Handtaschenboutique, sie „für ein kurzes Gespräch“ in ihr Büro beordert hatte, hatte sie jedenfalls auf bessere Neuigkeiten gehofft – vielleicht sogar auf die seit Ewigkeiten im Raum stehende Aufstockung ihrer Zehnstundenwoche auf zwölf oder fünfzehn Stunden. Angefangen hatte das Gespräch ja auch ganz okay. Die Chefin hatte ihr sogar Tee in einer der guten Tassen serviert, die sie normalerweise nur für die Kundinnen bereithielt. Und ihr dann höflich, aber bestimmt mitgeteilt, sie könne Deirdre leider nicht länger beschäftigen. Deirdre wäre schlicht und einfach zu jung. Man bräuchte jemanden im Verkaufsraum, mit dem sich die wohlhabende, zumeist betagte Kundschaft besser identifizierte.

Jemand „königlicheren“, hatte Mrs Burke allen Ernstes gesagt und Deirdre über den Rand ihrer Tasse angelächelt. „Sie, meine liebe Miss Bowman, haben zwar das Aussehen, aber noch nicht ganz das Auftreten dafür.“

Um ein Haar hätte Deirdre sie angefaucht, sie solle doch selbst mal ausprobieren, wie königlich ihr Auftreten bei einem Lohn von nicht mal zehn Euro die Stunde noch wäre. Sie hätte es vermutlich tun sollen, ein Gefühlsausbruch wie dieser hätte die Sache auch nicht mehr schlimmer gemacht. Hatte sich ernsthaft eine der alten Schnepfen über ihre Jugend beschwert? Die meisten Kundinnen mochten Deirdre. Es gab sogar Damen, die morgens regelmäßig nur mal rasch in den Laden kamen, um sich von Deirdre ihre Schals binden zu lassen. Deirdre war die verdammte Königin des Schalbindens!

Maureen zog die Pfanne vom Herd. „Hast du Hunger?“, fragte sie beiläufig, woraus Deirdre schloss, dass sie ziemlich erbärmlich aussehen musste. Maureen verteidigte ihr selbst gekochtes Essen normalerweise wie ein Pitbull seinen leckeren, stinkenden Hundeknochen.

Sie schüttelte den Kopf. Trotzdem holte Maureen ohne noch mal zu fragen einen zweiten Teller aus dem Schrank. Wenigstens bot sie einer Vegetarierin nichts von ihrem Lachs an, sondern stellte nur eine Portion Reis und Gemüse vor Deirdre hin und drückte ihr eine Gabel in die Hand. „Da. Iss.“

Trübsinnig spießte Deirdre eine Erbse auf. Sie hatte sich erst vorhin zum Lunch ein Tofusandwich aus der Feinkostabteilung im Supermarkt und dazu einen frisch gepressten Orangensaft gegönnt. Acht Euro, von denen sie sich nun wünschte, sie gespart zu haben.

Maureen setzte sich zu ihr. „Willst du hören, wie Ihre königliche Hoheit vor ein paar Tagen mal wieder den Vogel abgeschossen hat?“

Sie deutete Deirdres resigniertes Schweigen einfach als Ermutigung und redete weiter: „Am Dienstag, du warst noch in der Uni, habe ich mir ein Fischfilet gebraten.“ Sie wies auf ihren Teller. „Und mir dabei ein bisschen Fett aufs T-Shirt gespritzt, also bin ich gegangen und habe mich umgezogen. Nach gerade mal fünf Minuten bin ich zurückgekommen. Sitzt doch glatt Ihre königliche Hoheit beim Tisch und futtert meinen Lachs!

Und ich: ‚Klaust du gerade mein Essen?‘

Und sie guckt mich an und fragt: ‚Äh, wieso, wolltest du denn was davon?‘“ Maureen war echt gut darin, Dianaimhs verträumte, stets ein bisschen abwesend klingende Stimme nachzuahmen.

„Ich meine, ernsthaft?“, schloss sie. „Als hätte ich den Lachs für sie gekauft und gebraten! Als wäre ich ihre verdammte Köchin!“

Deirdre raffte sich immerhin dazu auf, einzuwerfen: „Wenigstens glaubt sie nicht, du wärst ihr Zimmermädchen! Ich musste gestern wegen der Ratenzahlung für die Stromrechnung zu ihr rauf. Da saß sie auf der Couch, und am Boden, gerade vor ihren Füßen, lag einer ihrer BHs. Und sie“, Deirdre wedelte hochmütig mit einer blassen Hand. „‚Ach, sei ein Schatz, heb das für mich auf und tu es in die Wäschetonne.‘ Sie hätte sich bloß danach bücken müssen!“

Maureen schien diese Anekdote nicht im Geringsten zu überraschen.

„Und ich noch süffisant: ‚Schmeckt dir mein Lachs?‘“, erzählte sie weiter. „Und sie darauf allen Ernstes: ‚Du hast ihn akzeptabel zubereitet, aber das Filet ist leider von minderer Qualität.‘ Und dann befiehlt sie mir glatt, ich solle nächstes Mal lieber zum Fischmarkt draußen in Dalkey fahren. Die spinnt doch!“

„Tut sie“, stimmte Deirdre von ganzem Herzen zu. Zumindest seit sie selbst eingezogen war und vermutlich schon weitaus länger führte Maureen mit Dianaihm einen ständigen Kleinkrieg um ihr Essen. Auch Deirdre blieb nicht verschont. Ihr einziger Trost bestand darin, dass Dianaimh vegetarische Gerichte wie die Pest hasste und somit wenigstens Deirdres Tofu niemals anrührte.

Leider traf das nicht auf den Rest ihrer Küchenvorräte zu. Der einzige kleine kulinarische Luxus, den sich Deirdre in ihrem Studentenleben leistete, war das himmlische Gewürz aus einem arabischen Laden nahe der Boutique. Es kostete unverschämt viel, mehr als zehn Euro das Döschen, und sie tat ihr Möglichstes, um damit lange auszukommen. Dianaimh dagegen? Schüttete Deirdres mühsam aufgesparte Körnchen großzügig über ihre Trüffel-Pasta, beschwerte sich dann über den „komischen“ Geschmack und ließ die Portion fast unberührt stehen.

Maureen ließ das Besteck sinken und musterte sie abwägend. „Was wirst du jetzt tun? Um an Kohle zu kommen, meine ich.“

„Weiß nicht.“ Deirdre hatte keine hochtrabenden Pläne – nicht so wie Maureen, die neben ihrer Gastronomie-Ausbildung abends kellnerte, fast jedes Wochenende irgendwo als Barkeeperin arbeitete und noch dazu ehrenamtlich in einer Suppenküche aushalf, um so viele Tipps und Tricks wie sie nur konnte für ihr späteres eigenes Restaurant aufzuschnappen. Für sie als Journalismus-Studentin standen die Aussichten auf ein bezahltes Praktikum ungefähr gleich hoch wie die auf einen Lotteriegewinn, und auch die Hoffnung, sich das Studium mit einem fachspezifischen Nebenjob zu finanzieren, hatte sie längst aufgegeben. Mrs Burkes Boutique lag schlicht und einfach in bequemer Gehweite der Wohnung. Und es war angenehmer gewesen, reiche Damen zu bedienen, die sie „mein Liebes“ nannten, und den gelegentlichen Spinner, der ihre Wange getätschelt hatte, als beim Kellnern in irgendeinem Studentenpub mit Bier überschüttet zu werden.

Maureen wies auf den Kleidersack. „Bring ihr doch das rauf und frag sie dabei gleich, ob sie dich als ihr Zimmermädchen anstellt. Wenn sie dich ohnehin schon dafür hält, kann sie dich auch bezahlen.“

Deirdre schnaubte. „Ganz ehrlich? Lieber verhungere ich auf der Straße.“

Noch während sie sprach, fiel ihr plötzlich wieder ein, was der Manager der Kleiderreinigung gesagt hatte: „Ich habe Ihre Lieferung hier, Miss.“ Ihre Lieferung. Sie hatte vorhin nicht groß darüber nachgedacht, aber er musste sie für Dianaimh gehalten haben. Kein Wunder, sie sahen einander ja auch verblüffend ähnlich, fast wie Schwestern. Auf den ersten Blick war der einzige Unterschied zwischen ihnen beiden das dunklere Mahagonirot von Deirdres verglichen mit dem hellen Erdbeerblond von Dianaimhs Haaren.

Sehr zu Dianaimhs Missfallen! Gleich am Tag, nachdem Deirdre hier eingezogen war, hatte ihr Dianaimh eine Liste mit Maßnahmen in die Hand gedrückt, um jegliche Verwechslungsgefahr zu verringern. Ganz oben hatte gestanden, Deirdre müsse ihren Kindheitsspitznamen „Dee“ ablegen, weil dieser allzu sehr nach Dianaimhs eigenem „Djee“ klang. Punkt zwei: Deirdre sollte ihre Locken noch dunkler, am besten gleich braun oder schwarz färben. Bisher hatte sie sich mit dem Hinweis auf chronischen Geldmangel erfolgreich vor dem Friseurbesuch gedrückt. Auch dank Maureens Hilfe; ihre schlaue Mitbewohnerin hatte Dianaimh listig darauf hingewiesen, es wäre doch wohl peinlich, wenn sich Deirdre die Haare selbst färben und die Nachbarn ihre verpfuschte Frisur dann für Dianaimhs halten würden.

Ohnehin hätte Deirdre liebend gern gewusst, was die Nachbarn glaubten: dass Dianaimh derzeit ein Doppelleben führte, heute die erdbeerblonde Tochter aus gutem Hause und dann morgen wieder die am Hungertuch nagende Journalismusstudentin spielte?

Die Holztreppe draußen knarzte. Maureen verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen. Was nur eines bedeuten konnte, und tatsächlich – schon im nächsten Moment schlenderte Dianaimh in die Küche. Sie war in eines ihrer legeren Outfits gekleidet: beige Yoga-Leggings, ein cremeweiß schimmerndes Satintop und goldene Ballerinas. Alles zusammen hatte vermutlich mehr gekostet, als Deirdres Monatsmiete betrug, und da waren die Diamantohrstecker oder der echte Goldschmuck um Hals und Arme noch längst nicht inbegriffen.

Nur mit viel Mühe bezwang Deirdre ihre Eifersucht, was Dianaimhs Luxusleben anging. „Da drüben hängt ein Kleid von dir“, stieß sie hervor.

Dianaimhs Blick schweifte zu dem Kleidersack. Dann zurück zu Deirdre. „Trag es mir nachher rauf“, befahl sie und schlenderte zu einem der Schränke, öffnete ihn und schloss ihn wieder, als hätte sie sich nur versichern wollen, ob irgendein diensteifriger Hauself seit gestern Nachmittag das Knabberzeug darin nachgefüllt hatte. O ja, Deirdre wusste genau, auf wessen Konto die fehlenden Kräcker-Packungen gingen!

Maureen wandte sich ihr zu. „Kannst du das glauben?“, besagte der Ausdruck auf ihrem Gesicht.

Auf dem Weg zurück zur Tür blieb Dianaimh stehen. „Wann bekomme ich die achtzig Euro für die Stromrate?“ Ein vorwurfsvoller Unterton schwang in ihrer Stimme mit.

Gute Frage. Vor allem angesichts von Deirdres heutiger Pechsträhne. Sollte sie Dianaimh bitten, ihr Aufschub zu gewähren? Womöglich würde diese dafür Zinsen verlangen, und zwar zweifellos mehr als jede Bank.

Während Deirdre noch mit sich rang, antwortete Maureen schon an ihrer Stelle: „Deirdre ist heute gefeuert worden. Und was willst du mit achtzig Euro? Pfeif doch drauf. Kauf dir einfach mal ein Paar Strümpfe weniger und schon hast du das Geld wieder drinnen. “

Dianaimh hob eine Braue. Ganz sicher wog Deirdres ruhiger Schlaf für sie nicht annähernd so schwer wie ein weiteres Paar Strümpfe für ihren überquellenden Schrank. Von ihr so etwas wie Mitleid zu erwarten war zwecklos, und Deirdre schluckte ihren Stolz. „Gib mir bis nächste Woche“, bat sie. „Ich beschaffe das Geld, okay?“ Irgendwie.

Für einen langen Moment starrte Dianaimh sie einfach nur an, als wäre ihr völlig schleierhaft, warum Deirdre die achtzig Euro nicht gleich hier und jetzt aus der Luft herbeihexen könne. Dann zuckte sie die Schultern und schlenderte so verträumt, wie sie gekommen war, aus der Küche.

Als sie weg war, stieß Maureen einen tiefen, genervten Seufzer aus. Deirdres Blick fiel auf den Kleidersack, der noch immer an seinem Platz hing. Und sie stellte sich bildlich vor, wie sie zur Schublade trat, sich eines von Maureens Küchenmessern schnappte und damit auf das wasserdichte Material einhackte, bis dessen Inhalt – der zweifellos sehr viel mehr als achtzig Euro gekostet hatte – in Fetzen hing. Statt jedoch ihre Fantasie in die Tat umzusetzen, trat sie wie an unsichtbaren Schnüren gezogen zum Kleidersack und öffnete dessen Reißverschluss.

Ein cremefarbenes Seidenkleid mit dezenter Goldstickerei an den Ärmeln kam zum Vorschein. Es musste brandneu sein – Deirdre konnte sich nicht erinnern, ihre Mitbewohnerin je darin gesehen zu haben. Wohl aber hätte sie geschworen, dass sie selbst noch vor drei oder vier Tagen an genau diesem Teil im Schaufenster einer exklusiven Boutique nahe der Grafton Street vorbeigelaufen war.

„Los, zieh es an“, drängte Maureen sie. Ein gefährliches Glitzern erschien in ihren Augen. „Ihr beide habt doch dieselbe Größe. Ich style dich, und dann hast du wenigstens ein paar geile Bewerbungsfotos für deinen nächsten Job.“

Deirdre schüttelte abwehrend den Kopf, aber sie strich dabei reumütig über die cremefarbene Seide. Genau diese Art von Fummel musste Mrs Burke wohl gemeint haben, als sie gesagt hatte, Deirdre sähe nicht königlich genug aus. Selbst wenn sie es sich hätte leisten können, in denselben Läden wie Dianaimh zu shoppen – vermutlich würden die Türsteher dort sie gar nicht erst reinlassen. Oder falls doch die Verkäuferinnen über ihren Armeleute-Geruch die Nase rümpfen.

„Los, zieh es an“, wiederholte Maureen erwartungsvoll.

Deirdre schnaubte. „Damit sie ausflippt, wenn sie mich sieht?“

Maureen wischte den Einwand mit einer abfälligen Handbewegung zur Seite. „Ist doch egal, ob sie deswegen auf dich sauer ist oder wegen der Stromrechnung. Und es wäre nur fair. Sie klaut ständig deine Sachen.“

Deirdre musste an die Kräcker denken und nickte.

Maureen fuhr fort: „Sie trägt deine Unterwäsche.“

„Was?“

„Ich schwöre es! Am Dienstagabend, du warst noch immer nicht da, hatte sie doch dieses Date. Und rein zufällig musste ich kurz rauf, als sie sich gerade dafür umgezogen hat. ‚Ist das nicht Deirdres Höschen?‘, habe ich sie noch gefragt. Sie hat mir nicht mal geantwortet.“

Deirdre weigerte sich, ihr das zu glauben. Trotzdem nahm sie sich im Stillen vor, ihre gesamte Unterwäsche demnächst auszukochen. Nur sicherheitshalber.

„Ich werde ihr Kleid nicht anziehen“, verkündete sie laut, mehr um sich selbst als um Maureen davon zu überzeugen. Sie zog den Reißverschluss wieder zu, nahm den Kleidersack und trug ihn aus der Küche, stieg damit die Treppe aus dunklem Holz hinauf bis in den ersten Stock. Meditationsmusik mit Harfen- und irischen Flötenklängen drang aus Dianaimhs Zimmer.

Deirdre klopfte. Keine Antwort. Sie zählte in Gedanken bis zehn, drückte die Klinke runter und trat ein.

Dianaimh lag mit geschlossenen Augen auf der Designercouch. Alle Fenster im Raum standen sperrangelweit offen, so dass der Wind durchs Zimmer pfiff und die Tür hinter Deirdre zuschlug.

Der ohrenbetäubende Knall entlockte Dianaimh nicht mal ein Zucken ihrer Lider. Wie üblich herrschte um sie herum das totale Chaos: Collegeblöcke und einzelne Blätter aus Skripten, Textmarker, Unterwäsche und Seidenblusen, angeknabberte Kräcker und zerbissene Lakritzstangen, Diamantringe und Perlenarmbänder lagen kreuz und quer verstreut, als wäre ein Sturm über sie hinweggefegt.

Deirdre wandte sich ab. Sie wollte den Kleidersack an die Schranktür hängen und gehen …

Doch ein Glitzern unterhalb des Heizkörpers zog ihren Blick wie magisch an: eine goldene Sandale mit hohem Keilabsatz. Sie passte perfekt zum cremefarbenen Kleid. Verstohlen spähte Deirdre um sich, bis sie die zweite Sandale neben einem Bettpfosten entdeckte.

Dann hängte sie den Kleidersack an die Türklinke, schlich auf Zehenspitzen durchs Zimmer, angelte eine Sandale und danach die zweite und verließ mit dem Kleidersack und ihrer neuen Beute mucksmäuschenstill Dianaimhs Reich.

Maureen klatschte in die Hände und gackerte triumphierend, als Deirdre zurück in die Küche kam. „Ich wusste es! Wir machen aus dir noch eine falsche Prinzessin.“

Sie joggte rüber ins gemeinsame Bad. Holte ihren Make-up-Beutel, Bürsten, Haarspray und Kämme, während Deirdre ein wenig schuldbewusst in das Kleid schlüpfte. Maureen musste ihr mit dem Reißverschluss helfen: Offenbar brauchte man für so ein Prinzessinnenkleid auch zwingend eine Zofe.

Aber der Aufwand lohnte sich – das seidige Material schien ihre Haut zu liebkosen, und sie protestierte nicht, als Maureen sie anschließend an den Küchentisch beorderte. Dass ihre Verwandlung hier stattfinden würde, wo Dianaimh jederzeit reinplatzen konnte, machte den Streich irgendwie nur besser.

„Schließ die Augen.“

Deirdre gehorchte. Während Maureen mit dem Ausbürsten ihrer Haare begann, malte sie sich aus, sie wäre Dianaimh und ließe sich nach einem Tag voller anstrengendem Herumgezicke vom Stylisten ihrer Wahl verwöhnen.

Und Maureen zog auch wirklich alle Register! Hochsteckfrisur, Maniküre samt Nagellack, Make-up, ein Paar von Maureens eigenen Ohrringen mit glitzernden Strasssteinchen …

„Augen zu!“, befahl sie wieder und hielt den Make-up-Spiegel außer Deirdres Reichweite, als diese danach griff. „Vertrau mir. Dein neuer Look wird einfach nur geil.“

Argwöhnisch hob Deirdre eine Hand zu den Locken, von denen nun ein paar perfekt geringelte Strähnen zu beiden Seiten ihr Gesicht umspielten. Sie war sich nicht sicher, ob sie und Maureen dieselbe Definition von „geil“ hatten.

Endlich erlaubte Maureen ihr aufzustehen, und führte sie am Arm zum großen Spiegel bei der Garderobe.

Hin- und hergerissen starrte Deirdre ihr Spiegelbild an. Das also verstand Maureen unter einem geilen neuen Look? Sie sah aus wie Dianaimhs Zwilling! Und das in jeder Hinsicht. Maureen hatte ihre Haare nach dem Vorbild von Dianaimhs Lieblings-Datefrisur gestylt, sie hatte ihr den zartrosa Lippenstift und den Lidschatten mit einem leichten Goldton verpasst und sogar ihre Wimpern optisch verlängert. Als krönenden Touch schnappte sie sich noch ein beiges Handtäschchen, drapierte den Riemen über Deirdres Schulter und trat ein paar Schritte zurück wie eine Künstlerin, die ihr Werk betrachtete.

„Und? Wie fühlst du dich?“

Im Spiegel funkelte Deirdre sie vorwurfsvoll an.

„Eure Majestät“, ergänzte Maureen mit einem spöttischen kleinen Knicks.

Deirdre sprach den ersten Gedanken aus, der ihr in den Sinn kam: „Sie wird dich umbringen. Oder warte, nein, lass es mich anders formulieren. Sie wird uns beide umbringen!“

Maureen lachte bloß. „Und wo, glaubst du, findet sie noch zwei Irre, die für sie ganz umsonst Köchin und Zimmermädchen spielen?“

Das Schrillen eines Handys übertönte fast ihre letzten Worte. Dianaimhs Handy, dem irischen Jig als Klingelton nach zu schließen. Das Geräusch kam aus der Küche – in Panik hastete Deirdre los. Wenn Dianaimh das Klingeln hörte, wenn sie runterliefe, um nachzusehen …

Atemlos riss sie das Handy an sich und presste eine Taste.

„Dianaimh!“ Auf dem Display erschien das Gesicht eines jungen Mannes. Erst als er Deirdre zunickte, kapierte sie, dass sie statt den Anruf abzuwürgen versehentlich einem Videotelefonat zugestimmt hatte. Dianaimh würde sie umbringen! Und nicht nur das: Sie würde Deirdre zuerst umbringen, ihre Leiche dann zu Frühstückswürstchen verarbeiten und diese genüsslich in Maureens bester Pfanne braten!

„Ich wollte dich bloß an unser Treffen erinnern“, sprach der junge Mann nichts ahnend weiter. Er mochte ein paar Jahre älter sein als sie und war mit seinen schwarzen Locken und dunklen Augen genau der Typ, mit dem sie auf der Uni geflirtet hätte. Jedenfalls wenn ihr vor lauter Angst nicht gerade übel gewesen wäre und wenn er nicht ausgerechnet einen cremefarbenen Designerstrickpulli unter einem beigen Sakko getragen hätte, die Uniform aller reichen Blender.

„Vergiss nicht: in einer halben Stunde im An Saol Sona.“ Er lächelte sie an. „Du siehst übrigens toll aus.“

Deirdres Kehle war so rau, ihr Mund so trocken, dass sie ihrer Stimme nicht zu trauen wagte. Sie nickte daher nur stumm und legte ohne ein Wort des Abschieds auf.

Wie in Trance starrte sie dann auf das Handy. Ihr Herz klopfte, als wollte es ihr die Brust sprengen. Nur ein Gedanke kreiste unentwegt durch ihren Kopf: Dianaimhs Datingpartner hatte sie, Deirdre, soeben in Dianaimhs neuem Kleid gesehen. Sie und Maureen waren so gut wie tot.

„Sie wird uns beide umbringen. Sie wird ein Steak aus mir machen und es in deiner Pfanne braten, sie wird mich halb roh und noch blutig verschlingen, sie wird–“ Noch während sie sich plappern hörte, hämmerte ein neuer Gedanke an einem Türchen in ihrem Kopf, doch die Panik, die überall sonst herrschte, ließ ihn nicht ein.

„Stopp. Stopp!“ Maureen hob befehlend eine Hand. Ihre Augen glitzerten fast so furchterregend, wie es das Messer in Dianaimhs Hand tun würde, wenn sie … „Halt die Klappe und lass mich nachdenken. ‚In einer halben Stunde‘ hat er gesagt?“

Deirdre nickte.

„Was wenn du–?“ Maureen unterbrach sich. „Eins nach dem anderen. Wie sah er aus?“

„Für einen reichen Blender ganz okay“, musste Deirdre zugeben.

Ein triumphierendes Grinsen trat auf Maureens Gesicht und ließ Deirdre argwöhnisch ergänzen: „Warum fragst du?“

„Na, weil er damit haargenau in Dianaimhs Beuteschema passt. Und du warst doch vorhin bei ihr oben. Hat sie da ausgesehen, als hätte sie in einer halben Stunde ein Date?“

Deirdre schüttelte den Kopf.

„Gut. Ich wette, Ihre königliche Hoheit hat längst dieses Treffen vergessen und wird nicht aufkreuzen. Und das heißt, mit ein bisschen Glück wird sie auch nie was von all dem hier erfahren. Du gehst einfach an ihrer Stelle hin.“

„Ich? Was soll ich ihm–?“

„Sei Dianaimh!“, fiel ihr Maureen ungeduldig ins Wort. „Du weißt schon. Unverschämt und hochnäsig. Mach ihn am besten so fertig, dass er nie wieder anzurufen wagt. Ihr wird es scheißegal sein, sie hat sicher schon den Nächsten an der Angel und kann sich nicht mal mehr an Loverboys Namen hier erinnern.“

„Aber–“, begann Deirdre. Dann klappte sie den Mund zu. So verrückt Maureens Plans auch klingen mochte, er konnte funktionieren. Oder? Es stimmte, Dianaimh war unglaublich launisch und verlor rasend schnell das Interesse an ihren Eroberungen. Die Chancen, dass sie dem Anrufer irgendwann mal ein Date versprochen hatte und ihn nun sitzen lassen würde, standen ziemlich gut. Und noch wichtiger: Wenn ihre Opfer dann aufgebracht nach einer Erklärung verlangten, ging sie nicht ans Telefon und rief oder schrieb auch nie zurück, sondern blockierte kommentarlos ihre Nummern.

Ja, der Plan konnte klappen.

Hätte klappen können, verbesserte sie sich, wenn sie wie Dianaimh gewesen wäre, die Männerherzen zum Frühstück fraß. Oder wenigstens eine bessere Schauspielerin, als sie es nun mal war. Reicher Blender hin oder her, wie sollte sie es schaffen, den armen Kerl wie Dreck zu behandeln?

Andererseits: Wenn sie ihm auf diese Weise hälfe, Dianaimhs Spinnennetz zu entkommen, täte sie ihm damit nicht langfristig gesehen einen Gefallen?

Abrupt schoss ihr ein neuer Gedanke in den Sinn. „Kann es sein, dass wir uns täuschen? Dass er … ich weiß auch nicht … ihr Bruder oder so was ist?“

„Quatsch, sie ist ein Einzelkind“, widersprach ihr Maureen im Brustton der Überzeugung. Keine Ahnung, ob sie das wirklich wusste oder es bloß vermutete, doch Deirdre blieb zum Nachfragen keine Zeit. Maureen schubste sie energisch in die Richtung der Tür.

„Los“, befahl sie. „Geh und brich ihm das Herz.“

2

Obwohl das An Saol Sona keine zwanzig Minuten entfernt lag, hetzte Deirdre die Straße entlang. Sie wurde erst langsamer, als sie den Merrion Square Park fast durchquert hatte und damit absolut sicher war, dass Dianaimh sie nicht durch eines ihrer Zimmerfenster erspähen könnte.

Bist du bescheuert? Du willst doch nicht wirklich zu diesem Date, oder? Lauf lieber zum Busbahnhof und hau ab, so schnell es geht!, warnte sie ein pessimistisches Stimmchen in ihrem Kopf. Maureen hätte darüber gelacht, aber …

Kaum dachte Deirdre an sie, fiel ihr ein, dass Maureen noch heute Abend mit dem Überlandbus nach Waterford fahren würde. Sie hatte sich doch mit ein paar Mädchen aus ihrem Lehrgang zu einer Wanderwoche in den Comeragh Mountains verabredet und angedroht, ihr Handy die ganze Zeit über ausgeschaltet zu lassen: „Wenn Ihre königliche Hoheit glaubt, dass ich dort abhebe, kann sie mich mal!“

Vor der Statue von Oscar Wilde am Parkausgang blieb Deirdre so abrupt stehen, dass ein Geschäftsmann im Anzug fast gegen sie geprallt wäre. Ihr erster Impuls bestand darin, Maureen anzurufen und sie anzubetteln, sie möge als eine Art menschlicher Schutzschild für sie zu Hause bleiben. Aber das konnte sie unmöglich verlangen. Immerhin war es Deirdres bescheuerte Idee gewesen, in Dianaimhs Kleid mit Dianaimhs Datingpartner zu telefonieren! Trotzdem, sie hätte alles dafür gegeben, nicht allein in Dianaimhs Schusslinie zurückzubleiben.

Die Sache mit dem Kleid durfte nicht auffliegen, koste was wolle.

Die Westland Row war wie gewohnt zugeparkt. Ein weiteres Mal blieb Deirdre stehen. Sie atmete tief durch. Aufrecht und königlich schritt sie dann an der langen Reihe der Autos vorbei und überprüfte dabei verstohlen in jeder zweiten Fensterscheibe ihr Spiegelbild.

Wie würde Dianaimh einem Datingpartner wohl am schnellsten das Herz brechen? Mit dauerndem Herumgezicke oder eher, indem sie ihr Opfer völlig ignorierte?

Überpünktlich erreichte sie das An Saol Sona, das einzige Lokal in dieser Gegend mit einem irischen Namen. Es war eine Mischung aus Bar und Café: ein langgestreckter Raum mit Mosaikfußboden, rechts eine Theke aus dunklem Holz, links entlang der Wand Stühle und Tische und in den Fensternischen gepolsterte Bänke. Vergoldete Statuen rundeten den geschmackvollen Dekor ab.

Dianaimhs neuestes Opfer wartete schon an einem Zweiertisch mit Blick zur Tür. Deirdre reckte das Kinn und zwang sich, scheinbar sorglos auf ihn zuzuschlendern, statt gleich wieder nach draußen zu stürmen und Dianaimh ihre Missetat zu gestehen.

„Da ist sie ja – Dianaimh, die Schönheit!“, begrüßte er sie mit einem Lächeln. Er wirkte erfreut und auch ein bisschen überrascht, sie zu sehen. Deirdre hoffte bloß inständig, dass ihn Dianaimh nicht schon mehrmals versetzt hatte. Ein hartnäckiger Verehrer war das Allerletzte, was sie gebrauchen konnte.

„Du siehst wirklich fabelhaft aus, alle Achtung.“ Diensteifrig zog er einen Stuhl für sie unter dem Tisch hervor. Kaum nahm Deirdre Platz, merkte er beiläufig an: „Deine Haare sind dunkler. Wann hast du sie dir gefärbt …?“

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Was jetzt?

Sei Dianaimh!

Sie erwiderte seinen Blick und gab hochmütig zurück: „Müssen wir darüber reden?“, legte dabei einen Vorwurf in jedes Wort.

„Nein, nein“, wehrte er sogleich ab, und sie konnte gerade noch verhindern, dass sie erleichtert auf ihrem Stuhl zusammensackte. „Aber wir haben ein wenig Zeit, möchtest du hier etwas trinken?“ Auf seinen Wink eilte ein Kellner mit der Karte herbei.

Deirdre bestellte das teuerste Glas Wein, das sie finden konnte. Ihr Datingpartner zuckte mit keiner Wimper, sondern gratulierte ihr noch zu ihrer „guten Wahl“. Mist! Wie sollte sie es bloß anstellen, ihn zu vergraulen? Als der Kellner gleich darauf mit einem Glas und der Weinflasche kam und diese am Tisch öffnete, nahm er sie ihm sogar aus der Hand und schenkte ihr selbst ein. Sein Eifer entlockte ihr ein Lächeln, für das er wiederum so dankbar wirkte, als hätte sie ihm ein kostbares Geschenk gemacht.

Dieses Date verlief ganz eindeutig nicht nach Plan. Um Zeit zu gewinnen, nippte Deirdre am Wein. Er war immerhin besser als jener, den Maureen zum Kochen verwendete.

„Du trinkst nichts?“, entschlüpfte ihr, als sie bemerkte, dass ihr Datingpartner fasziniert jede ihrer Bewegungen betrachtete. Er schüttelte den Kopf, und sie fühlte sich schäbig. Womöglich war er ja genauso pleite wie sie und hatte sein Sparschwein geschlachtet, nur um Dianaimh standesgemäß ausführen zu können? Auch wenn der Designer-Strickpulli unter dem Sakko nicht unbedingt danach aussah. Konnte gut sein, dass der genauso wie ihre Boutique-tauglichen Klamotten aus einem Laden der Heilsarmee stammte.

Ob sie die Outfits nun wohl weiterverkaufen und wenigstens ein paar Euro dafür kriegen könnte?

Sie riss sich von diesen trübsinnigen Gedanken los. „Wie viel Zeit haben wir noch?“, erkundigte sie sich möglichst unverfänglich und wagte nicht zu fragen, was für danach geplant war. Vielleicht ein Kino- oder Theaterbesuch oder Dinner.

Ihr Interesse schien ihn zu erstaunen. Hastig setzte Deirdre eine gelangweilte Miene auf, spreizte die Finger und betrachtete eingehend ihre Nägel, wie es Dianaimh gerne tat.

Das musste wohl jeden Verdacht ihres Gegenübers zerstreuen. Bereitwillig warf er einen Blick auf die Uhr und erwiderte: „Nicht mehr viel – der Wagen sollte in fünf Minuten da sein. – Brighid hat dir mit deinen Sachen vom Landsitz für das Wochenende zwei Koffer gepackt“, ergänzte er.

Für einen Herzschlag erstarrte Deirdre.

Hastig riss sie sich zusammen, lächelte wieder verträumt und hoffte nur, ihr Datingpartner hätte ihr die jähe Panik nicht vom Gesicht abgelesen. Ein Treffen mit ihm in einem Café war das eine; aber gleich ein Wochenende zu zweit? Das ging ihr dann doch zu schnell!

„Ich habe angerufen, man erwartet dich also.“ Er lehnte sich zurück.

Dich. Man erwartete sie, besser gesagt Dianaimh – ihn aber nicht? Bevor ihr die Frage entschlüpfen konnte, biss sich Deirdre auf die Lippe. Was zum Teufel ging hier vor?

Sie musterte ihr Gegenüber angestrengt, hoffte in seinem Gesicht, seiner Haltung, seinen Klamotten irgendeinen Hinweis darauf zu finden. Schließlich blieb ihr Blick an dem cremefarbenen Pulli und dem beigen Sakko darüber hängen. Cremefarben und Beige waren Dianaimhs Farben … Ein jäher Gedanke drängte sich ihr auf: Hatten sie und Maureen die Situation völlig falsch interpretiert? War das hier gar kein Date, gehörte der junge Mann vielmehr zu der Armee von Laufburschen und Bediensteten, die Dianaimhs reiche Familie beschäftigte?

Spontan beschloss sie, diese Theorie zu testen. „Was ist in den Koffern?“, fragte sie in einem möglichst gelangweilten Ton und richtete dabei ihr ganzes Augenmerk wieder auf ihre frisch lackierten Nägel.

„Eine Auswahl an Abendkleidern. Und natürlich Bikinis.“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sie angrinste – verschwörerisch, so als wäre irgendwas von dem Gesagten ein Insider-Witz, den sie verstehen müsste. Sie lächelte unverbindlich. Und war sich nun fast sicher, dass ihre Theorie stimmte. Wohin würde der Wagen, der jeden Moment aufkreuzen konnte, sie bringen?

---ENDE DER LESEPROBE---