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Welchen Einfluss haben die sozialen Menschenrechte auf den heutigen Sozialstaat? Dieser Frage geht Ingo Stamm in seiner rechtssoziologischen Studie nach. Obwohl die Menschenrechte seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in zahlreichen internationalen und supranationalen Verträgen verankert wurden, finden sie de facto kaum Beachtung. So auch das Recht auf soziale Sicherheit, wie es unter Artikel 9 des UN-Sozialpaktes festgeschrieben ist. Im Rahmen dieses Rechts legt der Autor seinen Fokus auf das Risiko Arbeitslosigkeit und analysiert das sozialpolitische Handeln in Deutschland und Finnland. Am Beispiel der gegenwärtigen Arbeitslosensicherungssysteme Setzt er das dort vorgefundene Menschenbild in Kontrast zum Menschenbild der Menschenrechte. Hierfür untersucht er unter Anwendung der Objektiven Hermeneutik Dokumente aus beiden Ländern. Das Ergebnis zeigt, dass beide Länder, wenngleich auch in unterschiedlicher Intensität, arbeitslosen Personen weite Teile ihrer Autonomie entziehen, indem sie sie zu Erziehungsobjekten machen. Beide Staaten laufen dabei Gefahr, das Autonomieversprechen der sozialen Menschenrechte zu missachten. Mit der Fokussierung auf das Recht auf Einkommen in der Arbeitslosigkeit gewinnt die Studie an zusätzlicher Brisanz – wird doch in vielen europäischen Ländern im Zuge der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik immer strenger eine Gegenleistung von den Leistungsempfängern der Sozialen Sicherheit gefordert bzw. werden Sanktionen gegen Bürger eingeleitet, die zu wenige arbeitsmarktrelevante Aktivitäten vorweisen können.
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2013 als Dissertation an der Universität Siegen angenommen.
Die vorliegende Studie wurde als Dissertationsschrift in leicht abgeänderter Form unter dem Titel „Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit und sein Einfluss auf sozialpolitisches Handeln in Deutschland und Finnland“ im Herbst 2013 von der Universität Siegen angenommen.
An erster Stelle gilt mein Dank Prof. Dr. Silvia Staub-Bernasconi, die mir im Rahmen des Masterstudiengangs „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“ die sozialen Menschenrechte näher brachte und damit zur frühen Motivatorin für die Arbeit wurde. Im weiteren Verlauf trugen meine Gutachter, Prof. Dr. Stefan Kutzner an der Universität Siegen und Prof. Dr. Aila-Leena Matthies von der University of Jyväskylä in Finnland, wesentlich zum Gelingen der Studie bei. Stefan Kutzner hat mir während der Planungsphase entscheidend geholfen, das Thema handhabbar zu machen. Er motivierte mich auch, mit der Methodik der Objektiven Hermeneutik zu arbeiten. Eine wichtige Plattform stellte die Gruppe von Doktoranden und Doktorandinnen von Stefan Kutzner dar, die mir in zahlreichen Kolloquien und Workshops kritische Rückmeldungen, neue Ideen und vor allem mehr Sicherheit bei der Anwendung der Textinterpretationsmethode gegeben hat.
Aila-Leena Matthies hat mich nicht nur inhaltlich unterstützt, sondern durch ihr Engagement auch meinen viermonatigen Aufenthalt in Kokkola ermöglicht. Mit einem CIMO-Stipendium ausgestattet und durch ihre hervorragende Vernetzung konnte ich im Winter und Frühjahr 2012 eine sehr produktive und spannende Zeit an der Kokkola University Consortium Chydenius und an der University of Jyväskylä verbringen. Die Offenheit meiner Interviewpartner und Partnerinnen in Finnland und die Hilfe zahlreicher Kollegen und Freunde hat dazu beigetragen, dass ich das finnische System der sozialen Sicherheit in relativ kurzer Zeit erfassen konnte: Kiitos paljon. Katri-Anniina Matthies gilt mein großer Dank für die Übersetzung der zentralen finnischen Quellen.
Weitere Unterstützung habe ich an der Alice Salomon Hochschule Berlin von Prof. Dr. Bettina Hünersdorf erhalten. Im Rahmen des internationalen Netzwerkes INDOSOW (International Doctoral Studies in Social Work) hatte ich in Berlin und während zwei aufeinander folgenden Summer Schools in Ljubljana die Gelegenheit, meine Arbeit im Kontext anderer internationaler Vergleichsstudien zu reflektieren. Annemarie Schreiegg und Gertraud Stephan sowie meiner Mutter danke ich für das akribische Redigieren der Studie am Ende des Arbeitsprozesses.
Zu guter Letzt möchte ich meinen Freunden und meiner Familie danken, die mich während der gesamten Zeit begleitet, unterstützt und für die notwendige Ablenkung von meinen „Geistesambitionen“ gesorgt haben. Ein besonderer Dank gilt meinem 2010 verstorbenen Opa Max Püttner.
Berlin, März 2015
Ingo Stamm
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Soziale Menschenrechte
2.1 Begriff und historische Entwicklung
2.2 Begründung sozialer Menschenrechte
2.3 Kritische Positionen
3 Das Recht auf soziale Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen
3.1 Zur Entstehung des Rechts auf soziale Sicherheit
3.2 Der UN-Sozialpakt – Staatenpflichten, Justiziabilität und Durchsetzungsmechanismen
3.3 Das Recht auf soziale Sicherheit im UN-Sozialpakt
4 Soziale Menschenrechte in der vergleichenden Sozialstaatsforschung
4.1 „Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ von Gøsta Esping-Andersen
4.2 „Varianten des Wohlfahrtsstaats“ von Franz-Xaver Kaufmann
5 Fallstudien
5.1 Methodik
5.1.1 Objektive Hermeneutik: Methodologischer Hintergrund und Begründung
5.1.2 Auswahl der Protokolle
5.1.3 Zielsetzung und Ablauf der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation
5.2 Das Recht auf soziale Sicherheit in Deutschland
5.2.1 Grundriss der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in Deutschland
5.2.2 Textinterpretationen
5.2.2.1 Bericht der Hartz-Kommission
5.2.2.2 Gesetzestext Sozialgesetzbuch II
5.2.2.3 Merkblatt der Bundesagentur für Arbeit
5.2.3 Zusammenfassung der Ergebnisse
5.3 Das Recht auf soziale Sicherheit in Finnland
5.3.1 Grundriss der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in Finnland
5.3.2 Soziale Grund- und Menschenrechte in Finnland
5.3.3 Textinterpretationen
5.3.3.1 Gesetzestext Arbeitsmarktunterstützung
5.3.3.2 Gesetzestext Social Assistance Act
5.3.3.3 Gesetzestext Sicherheit in der Arbeitslosigkeit
5.3.3.4 Broschüre des Employment and Economic Development Office
5.3.4 Zusammenfassung der Ergebnisse
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
AEMR
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
AFG
Arbeitsförderungsgesetz
ALG
Arbeitslosengeld
AQTIV
Aktivieren, Qualifizieren, Trainieren, Investieren,
Vermitteln
AVAVG
Gesetz über Arbeitsvermittlung und
Arbeitslosenversicherung
BA
Bundesagentur für Arbeit (ehemals Bundesanstalt für
Arbeit)
BIP
Bruttoinlandsprodukt
BMAS
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
CESCR
Committee on Economic, Social and Cultural Rights
CP
civil and political
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DIMR
Deutsches Institut für Menschenrechte
ECOSOC
Economic and Social Council
EFTA
Europäische Freihandelsassoziation
EG
Europäische Gemeinschaft
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
ESC
economic, social and cultural
EU
Europäische Union
GG
Grundgesetz
ILO
International Labour Organization
IPBPR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
IPWSKR
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte
Kela
Kansaneläkelaitos
Kesk.
Suomen Keskusta
MSAH
Ministry of Social Affairs and Health
NGO
Non-governmental organization
NRO
Nichtregierungsorganisation
OECD
Organisation for Economic Co-operation and Development
SAPD
Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands
SDP
Suomen Sosialidemokraattinen Puolue
SGB
Sozialgesetzbuch
wsk
wirtschaftliche, soziale und kulturelle
TE
Työ- ja elinkeinotoimisto
TYJ
Työttömyyskassojen Yhteisjärjestö
UN
United Nations
US
United States
Als im Jahr 2001 eine Delegation der Bundesrepublik Deutschland vor dem UN-Sozialausschuss in Genf den vierten Staatenbericht über die Verwirklichung der Rechte des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vorstellte, kam es zu einem kleinen Eklat. Der Leiter der Delegation gestand ein, dass es im Bereich der Altenpflege soziale Missstände gibt, die als Menschenrechtsverletzungen zu werten sind (vgl. Hausmann 2002). Dabei gerieten vor allem die Rechte auf eine angemessene Ernährung und auf die Gesundheit älterer Menschen in Heimen ins Blickfeld. Auch das System der sozialen Sicherung wurde vom Expertengremium der Vereinten Nationen kritisiert (vgl. CESCR 2001). Angestoßen durch diesen Vorfall blieb das Thema „Altenpflege“ bis heute Gegenstand öffentlicher Debatten, die soziale Dimension der Menschenrechte war jedoch schnell wieder vergessen. In ähnlicher Weise wiederholte sich dieser Vorgang im Jahr 2011, als es um die Reaktion des UN-Sozialausschusses auf den fünften Staatenbericht Deutschlands ging. Hier konzentrierte sich die kurze Medienaufmerksamkeit vor allem auf das Ausmaß von Kinderarmut in Deutschland.1 Die Resonanz der Bundesregierung bestand kurzgefasst darin, die Vorwürfe für überzogen zu erklären und damit die Kritik des Expertenausschusses aus Genf abzuweisen. Wieder verschwand das Thema internationale Sozialrechte zügig aus der öffentlichen Diskussion.
Es scheint sich also beim System der sozialen Menschenrechte2 – mittlerweile etabliert durch zahlreiche Normen der International Labour Organization (ILO), durch die Europäische Sozialcharta und nicht zuletzt durch den UN-Sozialpakt – und der nationalen Sozialgesetzgebung um zwei komplett unterschiedliche Rechtssphären zu handeln, die nebeneinander und weitgehend ohne Schnittmenge existieren. Es kommt offenbar nur selten vor, dass sie aufeinandertreffen und die Auswirkungen dieser kurzen „Kollisionen“ an die Öffentlichkeit geraten. Wird bezüglich der Länder des Südens derzeit eine intensive Debatte über globale soziale Rechte geführt (vgl. Fischer-Lescano/Möller 2012), scheint für Europa eher die Annahme zu gelten, dass internationalen Abkommen über Sozialrechte in elaborierten Sozialstaaten3 lediglich eine symbolische Bedeutung zukommt. Der Status der sozialen Menschenrechte als vermeintlich „vergessene Menschenrechte“ (Weiß 2000) geht jedoch nicht nur auf die Politik zurück, auch die Sozial- und Rechtswissenschaften, die sich mit Sozialpolitik und Sozialrecht beschäftigen, schenken dem Thema kaum Beachtung. So veröffentlichte der Politikwissenschaftler Michael Krennerich (2013) erst kürzlich das erste Standardwerk über soziale Menschenrechte im deutschsprachigen Raum.4
Erstaunlicherweise befasst sich selbst die international vergleichende Sozialstaatsforschung kaum mit internationalen Sozialrechten. Sie werden entweder gänzlich ausgespart oder in ihrer Wirkkraft von vornherein als marginal angesehen.5 So äußert sich Franz-Xaver Kaufmann, der sich als einer der wenigen intensiv mit der Entstehung des Menschenrechtssystems und seiner sozialen Dimension auseinandergesetzt hat, in eindeutiger Weise:
„Es fällt auf, dass in der soziologischen und sozialpolitischen Literatur auf die Menschenrechtsdoktrin nur selten Bezug genommen wird. Auch in der umfangreichen vergleichenden Forschung zur Wohlfahrtsstaatsentwicklung spielt sie keine Rolle.“ (Kaufmann 2003c: 41)
Gleichwohl erkennt Franz-Xaver Kaufmann in der menschenrechtlichen Programmatik der sozialen Sicherheit ein „Kriterium guter Gesellschaftsentwicklung“ (2003b: 103) und schreibt internationalen Abkommen zur Sozialpolitik zumindest die Rolle einer „Rückschrittsbremse“ (ebd.) zu, wenn sie schon nicht als Motor dienen könnten. In welcher Weise diese internationalen, sozialpolitischen Abkommen diese Rolle erfüllen (können) oder welche Funktion ihnen allgemein zukommt, führt Kaufmann jedoch nicht aus.
An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an und fragt, in welchem Zusammenhang soziale Menschenrechte und nationale Sozialpolitik stehen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem modernen System der Menschenrechte als Teil des Völkerrechts, die historischen Wurzeln der Menschenrechte werden jedoch ebenfalls in den Fokus genommen. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit besteht zunächst darin, das weitgehend unbekannte Feld der sozialen Menschenrechte zu erschließen. Darauf aufbauend soll dann die Beziehung zwischen nationaler und internationaler Ebene untersucht werden.
Eine solche Fragestellung kann sich allerdings nicht auf das gesamte Feld der Sozialpolitik beziehen. Daher musste vorab eine Einschränkung vorgenommen werden: Hinsichtlich der Menschenrechte entschied ich mich, das Recht auf soziale Sicherheit – Artikel 9 des UN-Sozialpakts – ins Zentrum zu stellen. Das Recht kann als Generalklausel verstanden werden, die mit allen anderen Paktartikeln in Verbindung steht (vgl. Scheinin 2001a). Unter sozialer Sicherheit verstehe ich grundsätzlich die staatliche Aufgabe, ein System zu schaffen, das den Einzelnen vor allgemeinen Lebensrisiken schützt (vgl. Schulte 2000: 21). Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit verlangt in seiner normativen Auslegung durch den UN-Sozialausschuss die Abdeckung von wenigstens neun Risiken, darunter Krankheit, Alter, Behinderung und Arbeitslosigkeit (vgl. CESCR 2008). Da Systeme sozialer Sicherheit also wiederum aus zum Teil enorm großen Teilsystemen bestehen, musste auch hier eine Einschränkung vorgenommen werden. Innerhalb des Rechts auf soziale Sicherheit konzentriere ich mich auf das Risiko „Arbeitslosigkeit“ und damit auf den Bereich der .arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit.
Dies hat verschiedene Gründe: Für Robert Castel ist Erwerbsarbeit, mehr noch als in der Vergangenheit, zum „Epizentrum“ der sozialen Frage geworden:
„Etwas differenzierter ausgedrückt, bildet ein festes Arbeitsverhältnis in Form einer Anstellung die Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Integration, während ein unglückliches Verhältnis zur Arbeit wie Arbeitslosigkeit oder die Einrichtung in prekären Arbeitsbedingungen die nötigen Voraussetzungen, um einen Platz in der Gesellschaft zu haben oder als vollwertiges Individuum zu gelten, in Frage stellen oder daran hindern, sie zu erlangen.“ (Castel 2011: 37)
Dieser These folgend, scheint eine Untersuchung über den Stellenwert der sozialen Menschenrechte im Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit besonders vielversprechend zu sein. Manches deutet daraufhin, dass dieser Bereich zum exemplarischen Experimentierfeld für Sozialpolitik allgemein geworden ist. Mögliche Veränderungen im Verhältnis zwischen Staat und Bürger drücken sich am ehesten innerhalb dieses Feldes aus, da die Absicherung von Arbeitslosen legitimationsbedürftiger ist als andere Bereiche der sozialen Sicherheit. Hier scheint sich die ebenfalls von Castel (2009) konstatierte Rückkehr „sozialer Unsicherheit“ in Europa als Erstes zu zeigen. Zu den Veränderungen in den Bereichen Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenunterstützung liegen mittlerweile zahlreiche Studien vor. Doch auch hier wird in der Regel kein Bezug zu den sozialen Menschenrechten hergestellt.
Nun liegt es nahe, die Bedeutung internationaler Sozialrechte in einer international vergleichenden Studie zu untersuchen. Wie bereits festgestellt, wird das Menschenrechtssystem in den zahlreichen Veröffentlichungen der vergleichenden Sozialstaatsforschung disziplinübergreifend vernachlässigt. Außerdem stellte sich mir die Frage, ob die Nichtbeachtung sozialer Menschenrechte ein „deutsches“ Phänomen ist, das beispielsweise auf dem hohen Status der Sozialversicherungen als selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts beruht. Die Untersuchung bezieht daher neben Deutschland auch den finnischen Sozialstaat mit ein. Die Wahl fiel auf Finnland zunächst aufgrund der Annahme, dass es sich bei diesem Land als Teil des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsregimes (vgl. Esping-Andersen 1990) um einen kontrastierenden Fall zum deutschen Sozialstaat handelt. Deutschland gilt gemeinhin als einer der Prototypen des konservativ-kooperatistischen Regimes. Zudem existiert nach meinem Kenntnisstand bisher kein Vergleich zwischen dem System sozialer Sicherheit (oder eines Teilbereichs) in Deutschland und in Finnland.6 Auch in größere internationale Vergleichsstudien wird der nördlichste EU-Mitgliedsstaat nur selten mit einbezogen. Zu guter Letzt sprach für die Auswahl von Deutschland und Finnland, dass der Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in beiden Ländern in den letzten 20 Jahren Schauplatz zahlreicher und zum Teil grundlegender Reformen war.7
Beide Länder bekennen sich in diversen Abkommen zu den internationalen Menschenrechten; unter anderem gehören sie zu den derzeit 164 Staaten (Stand: März 2015), die den UN-Sozialpakt ratifizierten. Sie verpflichteten sich dadurch zu einer regelmäßigen Berichtlegung über die Verwirklichung der Paktrechte. Diese beinhalten, wie eingangs für Deutschland beschrieben, auch einen Dialog mit dem zuständigen Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR) in Genf. Der UN-Sozialpakt hat in beiden Staaten den Status einfachgesetzlichen Rechts. Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit ist damit in Deutschland und Finnland geltendes Recht.8
Wie schon deutlich angeklungen, ist die vorliegende Arbeit interdisziplinär angelegt. Entstanden vor dem Hintergrund meiner Praxiserfahrung als Sozialarbeiter in der Arbeits- und Sozialverwaltung bezieht sie sich inhaltlich sowohl auf die (rechts-)soziologische und politikwissenschaftliche (vergleichende) Sozialstaatsforschung als auch auf die Rechtswissenschaften, hier insbesondere auf völkerrechtswissenschaftliche Studien.
Die zentrale Frage der Arbeit lautet: Welchen Einfluss hat das Menschenrecht auf soziale Sicherheit – eingegrenzt auf die Absicherung des Risikos „Arbeitslosigkeit“ – auf das sozialpolitische Handeln in Deutschland und Finnland. Um die Fragestellung für meine Fallstudien handhabbar zu machen, stellt sich für mich die weitere Frage, welches Menschenbild dem Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in beiden Ländern zugrunde liegt und inwieweit dieses in Kontrast zum Menschenbild der Menschenrechte steht.
Für ein besseres Verständnis meines Vorgehens bedarf es zunächst einer Präzisierung der Formulierung „sozialpolitisches Handeln“. Da soziale Menschenrechte der Hauptgegenstand der Untersuchung sind, bezieht sich dieses Handeln primär auf den Staat bzw. staatliche Stellen der Arbeits- und Sozialverwaltung. Das moderne Verständnis der Menschenrechte als Bestandteil völkerrechtlicher Verträge sieht immer die öffentliche Ordnung und seine Institutionen als primäre Pflichtenträger in der Verantwortung (vgl. Menke/Pollmann 2007). Mit Handeln ist hier also im Wesentlichen die Ausgestaltung von Recht gemeint. Die Gesetzgebung ist direkt auf politische Entscheidungen bzw. Regierungshandeln zurückzuführen. Der Staat hat eine Monopolstellung bei der Rechtssetzung, wobei die Menschenrechte als internationales Recht, das erst in nationale Gesetzgebung transferiert werden muss, eine gesonderte Stellung einnehmen. Selbstverständlich entfaltet sozialpolitisches Handeln auf der Ebene der Implementierung von Gesetzen und Verordnungen in vielfältiger Weise und nahezu in allen Lebensbereichen Wirkung. Eine Ausweitung der Arbeit auf diese Ebene hätte die Grenzen der Durchführbarkeit jedoch überschritten.
Der Frage nach dem Menschenbild kommt eine bestimmte Funktion zu. Das Menschenbild des modernen Menschenrechtssystems fasst den Menschen primär als Träger subjektiver, universeller und unveräußerlicher Rechte auf, die der Sicherung gleicher Autonomie dienen. Dabei sind nicht nur die „klassischen“ bürgerlich-politischen Menschenrechte, sondern auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte mit einbezogen.9 Der Rechtswissenschaftler Winfried Brugger sieht folgende Vorteile in seiner Vorstellung von einem Menschenbild der Menschenrechte:
„Der Rekurs auf das Menschenbild verspricht eine zusammenfassende, ganzheitliche Sicht der Menschenrechte. Das ist angesichts der Vielzahl dessen, was heute als Menschenrecht positivrechtlich anerkannt oder eingefordert wird, ein Vorteil, denn so kann eine gedankliche Konzentration auf das Universelle im Partikularen und das Verbindende im Trennenden erfolgen.“ (Brugger 2007: 217)
Ich gehe weiter davon aus, dass auch allen sozialpolitischen Entscheidungen und dem daraus resultierenden Handeln immer eine Vorstellung vom Menschen, meist Adressat sozialpolitischer Maßnahmen, zugrunde liegt. Ein Menschenbild wird also stets implizit mitgedacht und ist latent vorhanden. Daher bietet sich für die Analyse der Dokumente das Interpretationsverfahren der objektiven Hermeneutik an, da dieses auf die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen abzielt (vgl. Oevermann 1981, 2002). Die Fallstudien zu Deutschland und Finnland setzen sich aus der Analyse mehrerer Dokumente aus den Bereichen Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenunterstützung zusammen.
Der Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit soll dabei ausdrücklich nicht im Sinne einer Politikfeldanalyse, beispielsweise mit Blick auf Zugangsbedingungen, Leistungsumfang und Bezugsdauer, in vergleichender Weise untersucht werden. Es kann und soll sich außerdem nicht um eine vergleichende, normative Bewertung über die Verwirklichung des Rechts im Sinne einer (völker-)rechtswissenschaftlichen Expertise handeln.10 Im Mittelpunkt steht im Sinne einer soziologischen Herangehensweise die Beziehung zwischen Staat und Individuum (vgl. Kaufmann 2009: 85).
Ziel meiner rekonstruktiven Forschungsarbeit ist es, im Ergebnis eine Kontrastierung des Menschenbilds der Menschenrechte mit dem impliziten Menschenbild der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in Deutschland und Finnland vorzunehmen. Es kommt also in gewisser Weise zu einem doppelten Vergleich: Zunächst untersuche ich, inwieweit sich die Menschenbilder auf den zwei verschiedenen Ebenen gleichen oder unterscheiden; in einem zweiten Schritt gehe ich der Frage nach, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede diesbezüglich zwischen beiden Ländern zu identifizieren sind. Die Zusammenführung der Ergebnisse der zwei Fallstudien zu Deutschland und Finnland soll Antworten liefern, was beide Länder im Hinblick auf die Bedeutung der sozialen Menschenrechte verbindet und was sie trennt. Die Frage nach dem Menschenbild dient also als eine Art Indikator für die Wirkkraft des Menschenrechts auf soziale Sicherheit. Dabei versuche ich im Fazit, von dem übergreifenden Konzept des Menschenbilds der Menschenrechte zu einem differenzierteren Blick auf das Recht auf soziale Sicherheit zu kommen. Die Ergebnisse der Arbeit sollen sowohl einen Beitrag für die soziologische Sozialstaatsforschung liefern als auch als Basis für weiterführende Studien zum professionellen Handeln von Sozialarbeitern11 im Bereich der Arbeits- und Sozialverwaltung und angrenzender Arbeitsfelder dienen.
Kapitel 2, das der Einleitung folgt, nimmt das System sozialer Menschenrechte allgemein in den Fokus. Es fasst die Entwicklung der Menschenrechte von rein moralisch verstandenen Rechten hin zu ausdifferenzierten, völkerrechtlich verbrieften Normen in knapper Form zusammen. Daran anschließend werden aktuelle Begründungstheorien zu sozialen Menschenrechten vorgestellt. Dabei wird auf die Sichtweise der sozialen Menschenrechte als Freiheitsrechte besonders eingegangen und das Menschenbild der Menschenrechte für die späteren Fallrekonstruktionen expliziert. Das Kapitel schließt mit einem kurzen Blick auf Kontroversen und Kritik sowie einer Diskussion über das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschenrechte.
Kapitel 3 ist dem Recht auf soziale Sicherheit, vor allem seiner Ausgestaltung innerhalb des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte der Vereinten Nationen gewidmet. Zunächst werden der Pakt und seine Entstehung beschrieben, außerdem wird auf aktuelle Kontroversen zu internationalen Sozialrechten eingegangen. In Kapitel 3.3 wird dann der überaus kurze, aber zentrale Artikel 9 des UN-Sozialpakts anhand des Allgemeinen Kommentars (General Comment) Nr. 19 des UN-Sozialausschusses im Detail beschrieben. Dabei werde ich vor allem den Geltungsbereich und die wesentlichen Strukturelemente vorstellen und die Frage nach den staatlichen Pflichten zu beantworten versuchen. Diese Beschreibung erfolgt bereits mit einem Fokus auf das Risiko „Arbeitslosigkeit“.
Kapitel 4 bezieht dann das System der sozialen Menschenrechte auf zwei bekannte Studien der vergleichenden Sozialstaatsforschung. Dabei werden vor allem Gøsta Esping-Andersens Drei-Welten-Theorie mit seinen Erweiterungen und der damit verbundenen Kritik (vgl. Esping-Andersen 1990, 1999) und Franz-Xaver Kaufmanns „Varianten des Wohlfahrtsstaats“ (vgl. Kaufmann 2003a) vor dem Hintergrund der Fragestellung präsentiert. Beide Studien heben die Wichtigkeit sozialer Rechte hervor und erwähnen auch die Ebene der Men- (ebd.: 39–42), schreiben ihr aber keine tragende Rolle zu und lassen sie demnach nicht explizit in ihre Untersuchungen einfließen. Dabei soll die identifizierte Forschungslücke, welche die vorliegende Arbeit in Ansätzen zu schließen versucht, konkretisiert werden. Dieses Vorhaben kann natürlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Da die Veröffentlichungen zur vergleichenden Sozialstaatsforschung mittlerweile kaum zu überblicken sind, war eine Selektion unumgänglich.
Kapitel 5 kommt eine zentrale Position innerhalb der Arbeit zu. Nach einer kurzen Vorstellung und Begründung des methodischen Zugangs mittels der Textinterpretation der objektiven Hermeneutik folgen die zwei Fallstudien zu Deutschland und Finnland. Beiden Teilen ist jeweils ein kurzer historischer Abriss über die Entwicklung von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenunterstützung vorangestellt. Dies geschieht im Unterkapitel zu Finnland aufgrund der bereits konstatierten Wissenslücke aus deutscher Sicht ausführlicher. Zur Untersuchung der Situation in Deutschland wurden der Bericht der Hartz-Kommission, der aktuelle Text des Sozialgesetzbuches II und eine Informationsbroschüre der Bundesagentur für Arbeit einer Analyse unterzogen. Für den finnischen Fall wurden drei zentrale Gesetzestexte und ebenfalls eine Broschüre für Arbeitslose für die Textinterpretationen ausgewählt. Die Ergebnisse der Interpretationen werden jeweils am Ende der Länderkapitel zusammengefasst.
Im abschließenden Kapitel 6 werden die Ergebnisse der beiden Länderstudien zusammengeführt und diskutiert. Dabei wird unter anderem gezeigt, dass das implizite Menschenbild im Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in Deutschland und in Finnland strukturell ähnlich ist. Das Kapitel endet mit einer kurzen Bewertung der Ergebnisse im Hinblick auf die Bedeutung wohlfahrtsstaatlicher Regime und mit einem Ausblick auf weiterführende Forschungsvorhaben.
1Exemplarisch sei hier auf die Artikel „Uno kritisiert deutsches Sozialsystem“ (Spiegel-Online 2011) und „Vereinte Nationen rügen deutsche Sozialpolitik“ (Meisner 2011) im Spiegel und Tagesspiegel verwiesen.
2Ich verwende die Begriffe „soziale Menschenrechte“, „internationale Sozialrechte“ sowie „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ (kurz: wsk-Rechte) in der vorliegenden Arbeit synonym.
3In der vorliegenden Arbeit verwende ich trotz des international etablierten Begriffs „welfare state“ mehrheitlich den in Deutschland üblichen Begriff „Sozialstaat“, siehe Lessenich (2012a: 25–27).
4Auch im Rahmen internationalen Rechts ist die vorliegende Literatur zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten überschaubar; exemplarisch sei hier auf die Sammelbände von Eide et al. (2001), Chapman/Russell (2002) sowie Baderin/McCorquodale (2006a) verwiesen. Innerhalb der Sozialen Arbeit ist die soziale Dimension der Menschenrechte wesentlich von Silvia Staub-Bernasconi (2003, 2013) eingebracht worden.
5Beispielhaft können hierzu folgende Studien und Einführungswerke genannt werden: Esping-Andersen (1990), Seeleib-Kaiser (2001), Kaufmann (2003a), Schmidt (2005), Schmidt et al. (2007), Schubert et al. (2008), Schmid (2010), Van Aerschot (2011).
6Aufgrund meiner Sprachdefizite beruhen meine Kenntnisse über die Situation in Finnland notgedrungen auf Veröffentlichungen in Englisch oder Deutsch und beschränken sich daher auf bestimmte Autoren.
7Für Deutschland sei hier exemplarisch auf Lessenich (2008), Ludwig-Mayerhofer et al. (2009) und Dingeldey (2011), für Finnland auf Keskitalo (2008) und Van Aerschot (2011) verwiesen. Über das Verhältnis zwischen sozialer Arbeit und (neuer) Arbeitsmarktpolitik in Deutschland siehe die beiden Bände von Burghardt/Enggruber (2005, 2010) sowie von Dahme/Wohlfahrt (2005).
8Zum Status von Menschenrechtsverträgen in Deutschland siehe Schneider (2004); für Finnland sei auf die Aufsätze des finnischen Völkerrechtlers Martin Scheinin (2001c, 2002) verwiesen.
9Auf die Debatte über den Ursprung des Menschenbilds der Menschenrechte, die auch in engem Zusammenhang mit der Frage nach der kulturübergreifenden Geltung der Menschenrechte steht (vgl. Menke/Pollmann 2007: 74–98), kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
10Rechtswissenschaftliche Studien, die sich explizit mit dem Menschenrecht auf soziale Sicherheit in Deutschland und Finnland befassen bzw. einen europäischen Vergleich anstreben, liegen m.W. nicht vor. Rechtsvergleichende Studien zu sozialen Grundrechten in Europa allgemein siehe Matscher (1991) sowie die umfangreiche Studie (einschließlich Deutschlands und Finnlands) von Iliopoulos-Strangas (2010).
11In der vorliegenden Arbeit verwende ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit grammatikalisch die männliche Form. Dabei sind jedoch stets beide Geschlechter gemeint.
Zwei Hinweise sind vorab wichtig: Erstens wird die Geschichte der Menschenrechte gemeinhin in zwei Zeitalter aufgeteilt, in die Entwicklungsphase vor der Gründung der Vereinten Nationen und in die Zeit danach. Zweitens gibt es nicht den einzig wahren Begriff der Menschenrechte. Nach wie vor werden über Idee und Konzept der Menschenrechte lebhafte Debatten geführt. Bestehende Menschenrechte werden in neuen Abkommen für bestimmte Gruppen spezifiziert, es entstehen neue Instrumente der Überwachung und einzelne Normen werden weiterentwickelt und präzisiert. Die Menschenrechte als Teil des Völkerrechts müssen also als ein offenes Konzept verstanden werden. Dies zeigt sich gerade auch mit Blick auf die sozialen Menschenrechte.
Ihr Ursprung liegt in der Antike und fand mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Virginia Declaration of Rights von 1776, und der Französischen Revolution mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, der Déclaration des Droits de l’homme et du Citoyen von 1789, ihre ersten Höhepunkte.12 Die „stille Revolution“ (Menke/Pollmann 2007: 26) hin zum modernen Menschenrechtssystem, das Ausgangspunkt dieser Arbeit ist, entstand jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zuge der Gründung der Vereinten Nationen und mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) im Jahr 1948 wurden die Menschenrechte Teil internationalen Rechts. Insbesondere die AEMR war eine eindrucksvolle Antwort auf die durch das Nazi-Regime begangenen „Akte der Barbarei“, wie es in der Erklärung heißt, und auf die weltweite Verwüstung, die durch den Zweiten Weltkrieg entstanden war. Der bekannte Völkerrechtler Christian Tomuschat bezeichnete diesen Zeitpunkt daher auch als „kopernikanische Wende des Völkerrechts“ (2002: 14). Die historische Entwicklung der Menschenrechte in ihrer sozialen Dimension soll an dieser Stelle allerdings nur in Ansätzen, insbesondere im Hinblick auf die Entstehung gängiger Systematisierungen, erläutert werden.
Doch zur begrifflichen Klärung zunächst einige Schritte zurück: Rechte sind gerechtfertigte bzw. rechtfertigbare Ansprüche von Person(en) X, den Trägern des Rechts, gegenüber Person(en) Y, den Adressaten des Rechts, auf der Basis von Rechtsgründen (Gosepath 1998: 148). Wenn hier von Rechten gesprochen wird, dann sind subjektive Rechte gemeint, also Rechte, die Subjekte haben. In ihrem ursprünglichen Verständnis sind Menschenrechte moralische Rechte, es sind also moralisch begründete Ansprüche; der Rechtsgrund ist ein moralischer. Dem gegenüber stehen legale Rechte, die innerhalb eines Staates verliehene, einklagbare Ansprüche sind und „deren Verletzung mit staatlichen Zwangsmitteln sanktioniert werden“ (ebd.).
Der deutsche Philosoph Georg Lohmann bezeichnet die Menschenrechte als komplexe Rechte. Demnach haben sie seiner Meinung nach nicht nur eine moralische Dimension, sondern sie entfalten erst als „politisch gesatzte, juridische Rechte ihre volle Bedeutung“ (2000b: 354). Prägnant auf den Punkt gebracht stehen die Menschenrechte zwischen einer moralischen Idealisierung und einer politisch ausgehandelten, rechtlichen Institutionalisierung (Lohmann 2000a: 9). Ähnlich sieht das auch Jürgen Habermas, der von einem Janusgesicht der Menschenrechte spricht, „das gleichzeitig der Moral und dem Recht zugewandt ist“ (1999: 391).
Als moralische Rechte, so wieder Georg Lohmann, verpflichten die Menschenrechte „zunächst alle einzeln, und wenn alle einzeln diese Verpflichtungen nicht angemessen erfüllen können, dann alle gemeinsam“ (2009: 47).13 Die „gemeinsame Verpflichtung“ bedeutet letztlich die Forderung, gemeinsame Institutionen zu schaffen, welche die aus den Menschenrechten entstehenden Pflichten erfüllen können. Menschenrechte als Teilkategorie der Moral müssen also entsprechend verrechtlicht, „d. h. in juridische, einklagbare Rechte transformiert werden“ (ebd.: 46). Auf diesem Wege werden alle, „die für die an einem Ort herrschende öffentliche Ordnung verantwortlich sind, also Politik und Staat“ (Menke/Pollmann 2007: 30), zum Adressaten menschenrechtlicher Forderungen. Rechtsverletzungen unter Privatpersonen fallen in der Regel nicht unter den Begriff Menschenrechtsverletzung. Nur in Ausnahmefällen, „wenn ein direkter Zusammenhang zwischen dieser individuellen, privaten Verletzung und schwerwiegenden strukturellen Defiziten der herrschenden öffentlichen Ordnung besteht“ (ebd.: 29), ist die Sphäre der Menschenrechte berührt.
Eine Begriffsbestimmung der sozialen Menschenrechte kommt nicht ohne einen Verweis auf die historischen Entwicklungsstufen aus. Eine gängige Einteilung geht von drei mutmaßlich in historischer Abfolge entstandenen Kategorien oder auch Klassen von Menschenrechten aus: den negativen Freiheitsrechten, den positiven Teilnahmerechten und den sozialen Teilhaberechten (vgl. Lohmann 1998, 2012).
Thomas H. Marshall (1992) hat in seinem berühmten Aufsatz über Bürgerrechte und soziale Klassen von 1949 ähnliche Kategorien identifiziert und eine historische Abfolge beschrieben. Obwohl er die Menschenrechte nicht direkt erwähnt, wurden diese Entwicklungsstufen vielfach auf die Entstehungsgeschichte der Menschenrechte übertragen. Demnach entstanden die klassischen Freiheitsrechte im 18. Jahrhundert, die politischen Rechte im 19. und die sozialen Teilhaberechte im 20. Jahrhundert. Denkt man beispielsweise an die Einführung der Bismarck’schen Sozialreformen in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts, die deutlich vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts stattfanden, wird deutlich, dass Marshalls Zuordnung bei genauem Blick grob ausfällt – insbesondere, wenn man von Menschen- oder Grundrechten ausgeht. Doch auch wenn eine klar trennbare Abfolge nicht haltbar ist, verdeutlicht diese Darstellung, dass sich die Entwicklung der Menschenrechte hin zum modernen Menschenrechtssystem in Form internationalen Rechts in gewissen Schüben vollzogen hat.
Mit der Frage der Begründbarkeit sozialer Menschenrechte haben sich bisher nur wenige Autoren explizit befasst.14 Hervorzuheben ist der Philosoph Stefan Gosepath (1998, 2001), dessen Ansatz durch seine klare Struktur besticht. Er konzipiert drei alternative Begründungsstrategien sozialer Menschenrechte. Ihm zufolge liegt allen drei Auffassungen – der Auffassung von Freiheit, der Auffassung von Bedürfnissen und der Auffassung von Gleichverteilung – soziale Gerechtigkeit als basale Leitidee zugrunde:
Gosepaths Auffassung von Freiheit als erste Begründungsstrategie respektiert den gleichen Anspruch eines jeden auf Freiheit. Soziale Menschenrechte sind nötig, um persönliche und politische Autonomie und gleiche Nutzungschancen von Freiheitsrechten zu ermöglichen (Gosepath 1998: 159). Die sozialen Rechte fungieren also als eine Art „Steigbügel“ für die bürgerlich-politischen Menschenrechte. Diese Sichtweise scheint den ersteren keinen eigenen Wert zuzusprechen, sie scheinen nur ein Mittel zur Realisierung der Freiheitsrechte zu sein. Positiver formuliert können die sozialen Rechte auch basaler als Freiheitsrechte angesehen werden.
Ausgeführt wurde das Argument bezüglich sozialer Grundrechte bereits von Robert Alexy. Er unterscheidet in Anlehnung an Ernst-Wolfgang Böckenförde zwischen rechtlicher und faktischer Freiheit. Ohne faktische (wirkliche, reale) Freiheit – also der tatsächlichen Möglichkeit, zwischen dem Erlaubten zu wählen – sei die rechtliche Freiheit wertlos (Alexy 1994: 458). Sie wird dann für viele zur „leeren Formel“ (Böckenförde 2006: 234) – eine Verbindung, die bereits Lorenz von Stein erkannt hat: „Die Freiheit ist eine wirkliche erst in dem, der die Bedingungen derselben, den Besitz der materiellen und geistigen Güter, als die Voraussetzung der Selbstbestimmung, besitzt“ (zit. nach Böckenförde 2006: 234). In der Gedankenfolge von John Rawls (1979) kann auch von der Gewährleistung des fairen Werts der Freiheit gesprochen werden (vgl. Gosepath 2004a: 304–308).
Manche Autoren bezeichnen, basierend auf dieser Argumentation, alle Menschenrechte als Freiheitsrechte.15 Diese Sichtweise kann wiederum in Zusammenhang mit den von Franklin D. Roosevelt 1941 in seiner Rede zur Lage der Nation formulierten vier Freiheiten, den Four Freedoms of Speech, of Worship, from Want and from Fear – der Rede- und Religionsfreiheit sowie der Freiheit von Not und von Furcht –, gelesen werden, die der Entstehung der AEMR zugrunde lagen. Der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio fokussiert bei seiner Beschreibung der Entwicklung der Menschenrechte ebenfalls auf den Begriff der Freiheit: auf die Freiheit vom Staat, auf die Freiheit im Staat bis hin zur Freiheit durch oder mithilfe des Staates (2007: 16). Stefan Gosepath kritisiert diesen Ansatz dahingehend, dass negative und positive Freiheit nicht willkürlich zusammengefasst werden könnten. Er fragt dabei mit Recht, ob jede Abwesenheit von etwas auch gleich eine Freiheit ist. Nicht nur bei sozialen Rechten, sondern auch in Bezug auf das „klassische“ Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sei der Begriff „Sicherheit“ das sinnvollere Vokabular (2004a: 300). Auch weist er darauf hin, dass nicht Freiheit das oberste Ziel der Menschenrechte sei, sondern die Sicherung gleicher Autonomie (ebd.: 314 f.). Freiheit müsse dabei als Bedingung für ein selbstbestimmtes Handeln in Freiheit gesehen werden. Autonomie wiederum könne „gleichermaßen durch einen Mangel an Freiheit wie durch einen Mangel an guten Lebensbedingungen gefährdet [werden]“ (Gosepath 2004a: 315). Daraus ergibt sich ein Menschenbild der Menschenrechte, auf das ich mich auch in den folgenden Fallstudien beziehe: Basierend auf der gleichen Achtungsmoral und der Menschenwürde ist der Mensch als ein selbstbestimmt handelnder Träger subjektiver Rechte zu sehen. Ziel ist dabei die Ermöglichung und Sicherung autonomer Lebensführung.
Gosepaths Auffassung von Gleichverteilung als dritte Begründungsstrategie sieht in dem Prinzip gleicher Achtung eine Forderung der politischen Gerechtigkeit nach Berücksichtigung des gleichen Anspruchs eines jeden auf einen gerechten Anteil bei der Verteilung von Gütern. Sie bezieht sich dabei direkt auf das moralische Prinzip der Gleichheit und „nicht auf ein bestimmtes Kriterium, wie Autonomie oder Bedürfnisse“ (Gosepath 1998: 173). Das bedeutet, dass sich aus der gleichen Achtung, zusammen mit dem Prinzip der allgemeinen und reziproken Rechtfertigung, eine bestimmte Art der Gleichbehandlung – es sei denn, es lägen gute Gründe für Ausnahmen vor – ableiten lässt.
Die Diskussionen und Konflikte um gesellschaftliche Verteilungsfragen sind naturgemäß zahlreich. Zu den grundlegenden Fragen gehört zunächst die Klärung, welche Güter zu verteilen sind bzw. was als Gut zu bezeichnen ist. Stefan Gosepath zählt hier vier Kategorien zu verteilender Güter auf: bürgerliche Freiheiten, politische Partizipationsmöglichkeiten, soziale Positionen und Chancen sowie wirtschaftlichen Profit (1998: 176). Weiter stellt sich die Frage, wer anspruchsberechtigt ist und wer vorrangig Ansprüche auf einen fairen Anteil geltend machen kann. Sodann muss festgelegt werden, welche Gründe es für Aus nahmen geben kann. Diese Fragekomplexe können an dieser Stelle nicht ausführlich problematisiert werden. Gosepath kommt zum Ergebnis, dass der moralische Anspruch auf einen gerechten Anteil das Prinzip zur Generierung von Menschenrechten bilden sollte; zu diesem würden soziale Menschenrechte gleichberechtigt dazugehören (ebd.: 179). Seiner Meinung nach begründet und konstituiert die Idee sozialer Gerechtigkeit die Idee sozialer Rechte (ebd.: 184). Soziale Menschenrechte werden als „gleicher Anspruch aller Menschen auf eine sozial gerechte globale Güterverteilung verstanden, die zum Ausgleich von moralisch relevanten Benachteiligungen von Personen dient“ (Gosepath 2004b: 109).
Die grundlegende Kritik an den sozialen Menschenrechten setzt meist bei der eingangs diskutierten Frage nach dem Ursprung der Menschenrechte – zwischen Recht und Moral – an. Vertritt man die Position, dass Menschenrechte ausschließlich als naturgegebene, vorstaatliche Rechte anzusehen sind, die dem Bereich der Moral entspringen, kann dies zur Infragestellung sozialer Menschenrechte führen. So schreibt der englische Politikwissenschaftler Maurice Cranston in einer früheren Abhandlung über die Menschenrechte, dass die Formulierung von sozialen Menschenrechten eine Überfrachtung darstelle und damit die ganze Rede über die Menschenrechte „out of the clear realm of the morally compelling into the twilight world of utopian aspiration“ stoßen würde (1973: 68). In ähnliche Richtung tendierend spricht Christian Tomuschat im Hinblick auf den UN-Sozialpakt von einem „Füllhorn von köstlichen Gaben“ (2009: 142). Demgegenüber ziehe der UN-Zivilpakt „für uns wohlbekannte Freiheiten einen neuen Stützpfeiler ein“ (ebd.: 142). Wie oben dargestellt, richten sich Menschenrechte immer an eine öffentliche Ordnung und seine Institutionen und verlangen nach einer politisch ausgehandelten Überführung in gültiges Recht. Sie sind damit von rein moralischen Rechten, die wiederum alle Menschen als Pflichtenträger vorsehen, zu unterscheiden. Auch das Argument von Cranston, dass den sozialen Rechten Pflichten korrespondierten, für die es keine potenten – schon gar nicht universelle – Pflichtenträger gäbe, greift nicht (1973: 69). Dieser von Cranston in Bezug auf das Recht auf soziale Sicherheit vorgebrachte Einwand kann für eine prinzipielle Aberkennung des Menschenrechtsstatus sozialer Rechte nicht genutzt werden, gibt es doch auch in Bezug auf das „klassische“ Menschenrecht auf Leben noch kein weltweites System der Gewährleistung.
Weitere kritische Positionen anerkennen zwar, dass wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Teil des Völkerrechts sind, sie sprechen diesen Rechten jedoch, im Gegensatz zu den bürgerlich-politischen Rechten, den Status individueller, einklagbarer Rechte ab. Die Kritik bezieht sich also auf Fragen der Umsetzung (vgl. Kapitel 3.2). Zwei Punkte will ich dabei kurz skizzieren:
Der erste Punkt kann mit dem Begriff „Ressourcenvorbehalt“ umschrieben werden. Einfach ausgedrückt werden soziale Rechte als teure Leistungsrechte angesehen, deren volle Realisierung die meisten Staaten überfordern würde und im Falle einklagbarer Ansprüche die Entscheidungskompetenz der Parlamente im schlimmsten Fall aufheben und den Verfassungsgerichten übertragen würde. Eine Antwort auf diese Kritik gibt indirekt Henry Shue in seiner Abhandlung über Basic Rights und staatliche Pflichten. Er erkennt drei zusammenhängende Pflichten: „Duties to avoid, to protect and to aid“ – meist mit Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten übersetzt – und weist nach, dass die Pflichtentrias auf beinahe alle Menschenrechte bezogen werden kann (Shue 1996: 51–64).16 Die Verwirklichung bürgerlicher Rechte bedeutet nicht nur, dass der Staat nicht eingreifen darf, sondern auch, dass er beispielsweise beim Recht auf körperliche Unversehrtheit in der Pflicht steht, dieses Recht vor Eingriffen Dritter zu schützen, und dabei aktiv Maßnahmen ergreifen muss. Diese Schutzpflichten können in Anlehnung an Robert Alexy mit „Leistungsrechten im weiteren Sinn“ (1994: 395–410) bezeichnet werden. Auf der anderen Seite zeigt Shue anhand des Rechts auf Nahrung, dass es zum Beispiel bei staatlich angeordneten Vertreibungen von Kleinbauern keineswegs um kostenintensive Maßnahmen geht, sondern nur um ein Unterlassen. Kostenneutrale Menschenrechte, welche die Staaten lediglich zur Respektierung verpflichten, kann es demnach nicht geben. Ernst Tugendhat formuliert in diesem Zusammenhang: „Die Idee, dass es Rechte geben kann, denen der Staat einfach dadurch nachkommen kann, dass er sich nur aller Eingriffe enthält, ist … eine Fiktion“ (1993: 352). Zur Begründung eines kategorischen Unterschieds kann der Ressourcenvorbehalt also nicht dienen, auch wenn soziale Menschenrechte ein „größeres Gewicht auf die Leistungskomponente legen“ (Krennerich 2013: 107).
In engem Zusammenhang mit der Ressourcenfrage steht als zweiter Punkt die Diskussion um die Justiziabilität sozialer Menschenrechte. Da der Inhalt der Rechte nicht hinreichend bestimmt sei, könnten sie auch nicht individuell eingeklagt werden, so der gängige Einwand. Sie fungierten daher als Programmsätze oder hätten den Charakter von Staatszielen. Aufgrund der inhaltlichen Weiterentwicklung auf UN-Ebene – beispielsweise durch die Formulierung sogenannter General Comments – und aufgrund intensiver rechtswissenschaftlicher „Entwicklungsarbeit“17 lässt sich feststellen, dass soziale Menschenrechte „zahlreiche justiziable Elemente“ aufweisen, welche „die Rechtsnormen präzisieren“ (Krennerich/Stamminger 2004: 11). Demnach können auch soziale Menschenrechte gerichtlichen oder quasi-gerichtlichen Verfahren unterworfen werden (vgl. Kapitel 3.2).
Zusammenfassend kann mit Heiner Bielefeldt festgehalten werden, dass „es sich im Verhältnis von ,klassisch‘-liberalen und sozialen Rechten [weder] um einen Gegensatz zwischen zeitlos gegebenen unveränderlichen Naturrechten einerseits und frei vom Staat gewährten positiven Ansprüchen andererseits [handelt] noch um ein abstraktes Spannungsverhältnis zwischen liberalistischer Staatsabwehr und sozialistischer Staatsintervention“ (1998: 101). Nach Stefan Gosepath können alle negativen Freiheitsrechte und (sozialen) Grundrechte „unter den Begriff der Autonomie subsumiert werden“ (2004a: 314). Das Ziel einer autonomen Lebensführung kann, wie oben beschrieben, sowohl durch einen Mangel an Freiheit wie auch durch einen Mangel an Sicherheit, also an guten Lebensbedingungen, in Gefahr geraten.
12Zur Geschichte der (sozialen) Menschenrechte siehe Oestreich (1978), Heidelmeyer (1997), Pollmann/Lohmann (2012) Kap. I. sowie Krennerich (2013) Teil I, Kap. 1.
13Diese Sichtweise beruht unweigerlich auf der universellen Achtungsmoral und wäre unter Bezugnahme auf utilitaristische oder kontraktualistische Moralkonzeptionen nicht mehr haltbar, wie Lohmann (2005: 11) an anderer Stelle ausführt.
14Zur Begründung der Menschenrechte allgemein siehe Pollmann/Lohmann (2012), Kap. II, 2, Menke/Pollmann (2007), Kap. I.
15Vgl. Bielefeldt (1998, 2011), Krennerich (2006, 2013).
16Innerhalb des Menschenrechtsdiskurses hat der norwegische Rechtswissenschaftler Asbjørn Eide den ursprünglich 1980 von Henry Shue entwickelten Ansatz aufgegriffen (vgl. Eide et al. 1987).
17Siehe hierzu Schneider (2004), Suárez Franco (2009), Trilsch (2012).