Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten - Prof. Johann Caspar Bluntschli - E-Book

Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten E-Book

Prof. Johann Caspar Bluntschli

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Beschreibung

Der Verfasser dieses umfassenden Referenzwerkes ist bei seiner Arbeit von der Ansicht ausgegangen, dass das Recht des natürlichen Wachstums der Völker und Staaten und das Recht der Entwicklung der Menschheit von der Wissenschaft entschiedener als bisher vertreten werden müssen. Er erörtert in der "Einleitung" die Bedeutung und die Fortschritte des modernen Völkerrechts und behandelt anschließend im "Rechtsbuch": Begründung, Natur und Grenzen des Völkerrechts, völkerrechtliche Personen und Organe, Staatshoheit, völkerrechtliche Verträge, Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herstellung desselben, Kriegsrecht, Recht der Neutralität, und listet im Anhang die Kriegsartikel der Vereinigten Staaten von Nordamerika vom Jahr 1863.

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Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten

 

PROF. JOHANN CASPAR BLUNTSCHLI

 

 

 

 

 

 

 

Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten, J. C. Bluntschli

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849662554

 

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868>, abgerufen am 02.08.2022. Der Text wurde lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz CC-BY-SA-4.0. Näheres zur Lizenz und zur Weiterverwendung der darunter lizenzierten Werke unter https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de. Der Originaltext aus o.a. Quelle wurde so weit angepasst, dass wichtige Begriffe und Wörter der Rechtschreibung des Jahres 2022 entsprechen.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Anstatt des Vorworts. 1

Einleitung. Die Bedeutung und die Fortschritte des modernen Völkerrechts.3

Grundlage des Völkerrechts.3

Bedenken gegen das Völkerrecht.4

Anfänge des Völkerrechts.11

Aufleben des modernen Völkerrechts.16

Befreiung des Völkerrechts von religiöser Befangenheit.17

Schranken des Völkerrechts.18

Maßregeln gegen die Sklaverei.19

Religiöse Freiheit.21

Fremdenrecht.23

Gemeinschaft der Gewässer.25

Vermittlung in Streitfällen. Schiedsrichterliches Verfahren.28

Kriegsrecht.30

Feindliches Vermögen im Landkrieg.34

Feindliches Vermögen im Seekrieg.38

Die Neutralität.41

Das Recht der nationalen Entwicklung und der Selbstbestimmung der Völker.43

Erstes Buch. Begründung. Natur und Grenzen des Völkerrechts.47

Zweites Buch. Völkerrechtliche Personen.56

I. Die Staaten.56

II. Staatensysteme.91

Drittes Buch. Völkerrechtliche Organe.101

I. Die Staatshäupter.101

II. Andere Organe des völkerrechtlichen Verkehrs.121

III. Von den Agenten und Kommissären.148

IV. Von den Konsuln.149

Viertes Buch. Die Staatshoheit im Verhältnis zum Land. Gebietshoheit.160

1. Bedeutung, Erwerb und Verlust der Gebietshoheit.160

2. Grenzen des Staatsgebiets.173

3. Öffentliche Gewässer. Die Meeresfreiheit.177

4. Schiffsrecht.184

5. Von den Staatsdienstbarkeiten.203

Fünftes Buch. Die Staatshoheit im Verhältnis zu den Personen.207

1. Schutz der persönlichen Freiheit.207

2. Von der Staatsgenossenschaft.210

3. Hoheitsrecht und Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Staatsgenossen im Ausland.216

4. Hoheitsrecht und Rechtsschutz gegenüber den Ausländern im Inland.219

5. Ausführungspflicht und Asylrecht.224

Sechstes Buch. Völkerrechtliche Verträge.229

1. Erfordernisse und Wirksamkeit der völkerrechtlichen Verträge.229

2. Form der Verträge.236

3. Verstärkung der Verträge. Garantieverträge.239

4. Arten der völkerrechtlichen Verträge.246

5. Von den Allianzen insbesondere.249

6. Aufhören der Vertragsverbindlichkeit.252

Siebtes Buch. Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herstellung desselben.257

1. Im Allgemeinen.257

2. Bruch der inneren Staatsordnung. Intervention.263

3. Minneverfahren.268

4. Schiedsrichterliches Verfahren.271

5. Zwangsmittel ohne Krieg: Selbsthilfe durch Repressalien, Retorsion, Sperre.277

Achtes Buch. Das Kriegsrecht.284

1. Begriff des Kriegs, Kriegsparteien, Kriegsursachen und Kriegserklärung.284

2. Wirkungen des Kriegszustandes im Allgemeinen. Kriegsziel.293

3. Kriegsrecht gegen den feindlichen Staat und in dem feindlichen Staatsgebiet.298

4. Unerlaubte Kriegsmittel.309

5. Recht und Pflicht der Kriegsgewalt gegenüber den feindlichen Personen und den friedlichen Bewohnern in Feindesland. Quartiergeben. Verwundete in der Schlacht. Kriegsgefangene. Geiseln. Auswechslung der Gefangenen. Entlassung auf Ehrenwort.314

6. Verfahren gegen Deserteure und Überläufer, Spione, Kriegsverräter, Wegeführer, Räuber, Marodeure, Kriegsrebellen.339

7. Recht der Kriegsgewalt über das feindliche Vermögen und das Vermögen der friedlichen Personen in Feindesland.346

8. Verkehr und Verhandlungen unter den Kriegsparteien. Waffenruhe. Waffenstillstand. Kapitulation.365

9. Beendigung des Kriegs. Friedensschluss.378

10. Postliminium.392

Neuntes Buch. Recht der Neutralität.400

1. Begriff und Arten der Neutralität.400

2. Bedingungen der Neutralität und Pflichten der Neutralen.403

3. Rechte der Neutralen.419

4. Neutraler Handelsverkehr. Kriegskonterbande. Durchsuchungsrecht.427

5. Blockade.444

6. Prisengerichte.452

Anhang.462

Amerikanische Kriegsartikel der Vereinigten Staaten von 1863.462

Anstatt des Vorworts

Ein Brief an Professor Dr. Franz Lieber in New-York.

Mein lieber Freund!

„Endlich bin ich wieder da“, und dies Mal nicht in der Gestalt des Meerschaums, sondern in der ernsteren eines völkerrechtlichen Rechtsbuchs, dessen Namengebung und Einführung in die Welt ich Sie bitte, als Pate beizustehen. Ihr glücklicher Gedanke, der amerikanischen Armee ein kurz gefasstes Kriegsrecht als Instruktion ins Feld mitzugeben, und mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenschaften des Kriegs möglichst zu zähmen, hat mich zuerst zu dem Vorsatze angeregt, die Grundzüge des modernen Völkerrechts in Form eines Rechtsbuchs darzustellen und Ihre Briefe haben mich ermutigt, dieses Wagnis durchzuführen.

Ihre Kriegsartikel haben durch die Autorität des Präsidenten Lincoln eine amtliche Verstärkung erhalten, welche mein Rechtsbuch völlig entbehren muss. Dasselbe kann nur insofern Autorität gewinnen, als die heutige zivilisierte Welt in ihm einen zeitgemäßen und wahren Ausdruck ihres Rechtsbewusstseins erkennt, und die Macht auf die öffentliche Meinung achtet.

Meines Erachtens ist die neuere Rechtswissenschaft in einer Beziehung hinter den Fortschritten der Rechtspraxis zurückgeblieben. Sie hat ihre Blicke zu lange an der Vergangenheit haften lassen und darüber die Bewegung des Lebens nach der Zukunft hin aus dem Gesichte verloren. Die Wahrheit, dass das gegenwärtige Recht ein gewordenes und daher wesentlich aus der Vergangenheit zu erklären ist, bedarf der Ergänzung durch die andere Wahrheit, dass das gegenwärtige Recht zugleich ein werdendes und berufen ist, das fortschreitende Leben der Menschheit zu begleiten. Viele unserer rechtsgelehrten Kollegen können sich nicht losmachen von der hergebrachten Vorstellung, dass das Recht ein unveränderliches starres System fester äußerer Gesetze sei, welche das menschliche Tun beschränken. Sie denken sich das Recht, wie eine Mauer und wie Spaliere, an welchen der Gärtner die rankenden Pflanzen anbindet, wie ein Messer, womit er die geilen Triebe wegschneidet. Nur schwer ringt sich die Wissenschaft zu dem tieferen Verständnis durch, dass das Recht eine lebendige Ordnung in der Menschheit, nicht eine tote außer der Menschheit sei, dass nur das lebendige und nicht das tote Recht befähigt sei, mit den Völkern zu leben und fortzuschreiten. Am wenigsten passt jener falsche Gedanke eines an sich toten Rechts zu einer Darstellung des Völkerrechts, das überall noch nicht zu festem Abschluss gekommen, sondern noch in mächtiger unaufhaltsamer Bewegung begriffen ist. Das Recht des natürlichen Wachstums der Völker und Staaten, das Recht der Entwicklung der Menschheit, das Recht des fortschreitenden Lebens muss von der Wissenschaft unzweideutiger und entschiedener als bisher anerkannt und vertreten werden, wenn dieselbe ihre hohe sittliche und geistige Mission erfüllen soll, ihre leuchtende Fackel auf den Wegen der Menschheit voranzutragen.

Die Rechtswissenschaft darf daher meines Erachtens nicht bloß die schon in früheren Zeiten zur Geltung gelangten Rechtssätze protokollieren, sondern soll auch die in der Gegenwart wirksame Rechtsüberzeugung neu aussprechen und durch diese Aussprache ihr Anerkennung und Geltung verschaffen helfen. Je empfindlicher der Mangel gesetzgeberischer Organe ist, welche für die Fortbildung des Völkerrechts sorgen, umso weniger darf sich die Wissenschaft dieser Aufgabe entziehen.

Freilich muss sie sich auch davor hüten, der Zukunft vorzugreifen. Sie darf nicht unreife Ideen als wirkliche Rechtssätze und selbst dann nicht verkünden, wenn sie ihre Verwirklichung in der Zukunft klar vorhersieht. Das Recht als ein lebendiges ist immer ein gegenwärtiges und unterscheidet sich dadurch sowohl von dem Recht der Vergangenheit, das nicht mehr ist als von dem Recht der Zukunft, das noch nicht ist. Vergangenheit und Zukunft leben beide nur insofern, als sie sich in der Gegenwart begegnen und fruchtbar verbinden.

In dieser Gesinnung habe ich, mein verehrter Freund, meine Arbeit aufgefasst. Die großen Ereignisse des vorigen Jahrs, denen auch Sie mit so lebhafter Teilnahme gefolgt sind, haben mich in dieser Überzeugung bestärkt. Wir haben es damals in Deutschland erlebt, dass man im Namen eines veralteten und lebensunfähigen Bundesrechts die naturnotwendige Entwicklung der deutschen Nation zu einem politischen Volke mit aller Gewalt hat verhindern wollen. Allzu lange haben wir unter dem Missbrauch des Rechts zur Tötung des Lebens gelitten. Nachdem endlich, Gott sei Dank, jene falsche Autorität des toten Rechts durch die Preußischen Siege gestürzt und für die Neugestaltung Deutschlands freie Bewegung erstritten worden ist, darf auch die deutsche Wissenschaft es nicht länger versäumen, das Recht der Entwicklung wie der Völker so der Menschheit offen zu vertreten.

Nach Ihrem Wunsch habe ich auch für eine französische Übersetzung dieses Werks gesorgt. Dieselbe wird in Bälde ebenfalls im Druck erscheinen. Wenn sich das Buch, das den anderen trefflichen Darstellungen des Völkerrechts keine Konkurrenz machen, sondern dieselben durch den neuen Versuch einer gesetzähnlichen Formulierung ergänzen will, sich als brauchbar erweisen wird, so wird wohl auch eine Übersetzung in englischer Sprache nicht ausbleiben.

So möge denn das Buch seinem freundlichen Paten keine Schande machen, wenn es in die raue Luft des öffentlichen Lebens eintritt.

Heidelberg, im September 1867.

Einleitung. Die Bedeutung und die Fortschritte des modernen Völkerrechts.

Grundlage des Völkerrechts.

Wo immer Menschen mit Menschen verkehren und dauernde Beziehungen anknüpfen, da regen sich in ihnen das Rechtsgefühl und der Rechtssinn und verlangen eine gewisse Ordnung der notwendigen Verhältnisse und eine wechselseitige Achtung der daraus entspringenden Rechte. Beide Eigenschaften der menschlichen Seele, das Rechtsgefühl und der Rechtssinn, sind selbst unter barbarischen Stämmen deutlich wahrzunehmen, aber nur bei zivilisierten Völkern gelangen sie zu voller Ausbildung des Bewusstseins und mit Hilfe öffentlicher Institutionen zu gesicherter Wirksamkeit. Sie können wohl gedrückt, aber nie ganz unterdrückt, wohl missgeleitet, aber nicht zerstört werden. Immer wieder erheben sie sich, wenn der Druck nachlässt, und besinnen sie sich, wenn die verwirrende Leidenschaft erlischt. Der Rechtssinn ist ohne Zweifel stärker in den Männern als in den Frauen und jene sind bereiter als diese, ihr Recht gegen Jedermann mit Gründen und im Notfall mit den Waffen zu verfechten. Aber an zähem und lebhaftem Rechtsgefühl stehen die Frauen den Männern nicht nach. Sie ergeben sich eher der übermächtigen Gewalt, aber sie empfinden und beklagen das Unrecht, das ihnen widerfährt, nicht deshalb weniger, weil sie sich schwächer fühlen und weniger demselben widerstehen können. Schon in den Kindern zeigt sich diese Anlage der Menschennatur für die Rechtsbildung. Auch die Kinder haben ein scharfes Auge für die Ungerechtigkeit, der sie in der Familie oder in der Schule ausgesetzt sind und werden oft tief verletzt und verbittert, wenn sie glauben, parteiisch behandelt zu werden.

Wenn es aber eine unbestreitbare Wahrheit ist, dass der Mensch von Natur ein Rechtswesen und mit der Anlage zur Rechtsbildung ausgestattet ist, dann muss auch das Völkerrecht in der Menschennatur seine unzerstörbare Wurzel und seine sichere Begründung haben. Völkerrecht heißt die als rechtlich-notwendig anerkannte Ordnung, welche die Beziehungen der Staaten zueinander regelt. Die Staaten aber d. h. die organisierten Völker bestehen aus Menschen, und sind selber als einheitliche Gesamtwesen Personen, d. h. lebendige mit Willen begabte Rechtskörper, wie die Einzelmenschen. Die Staaten sind wie die Einzelnen einerseits individuelle Wesen für sich und andrerseits Glieder der Menschheit. Dieselbe Menschennatur, und demgemäß auch dieselbe Rechtsnatur, die jedes Volk und jeder Staat in sich hat, die findet er wieder in den anderen Völkern und Staaten. Sie verbindet alle Völker mit unwiderstehlicher Notwendigkeit. Keines kann sich dieser gemeinsamen Natur entäußern, keines dieselbe in dem anderen Volke verkennen. Deshalb sind sie alle durch ihre gemeinsame Menschennatur verpflichtet, sich wechselseitig als menschliche Rechtswesen zu achten. Das ist die feste und dauerhafte Grundlage alles Völkerrechts. Würde es heute geleugnet und untergehen, so würde es morgen wieder behauptet und neu begründet.

Bedenken gegen das Völkerrecht.

Trotzdem werden heute noch starke Zweifel gegen die Existenz des Völkerrechts vielfältig geäußert. Die grundsätzlichen und die tatsächlichen Bedenken, auf welche sich jene Zweifel stützen, sind in der Tat nicht geringfügig. Sie fordern vielmehr zu ernster Prüfung auf. Man wendet ein, es fehle vorerst an einer beglaubigten Aussprache des Völkerrechts durch das Gesetz, sodann an einem wirksamen Schutze desselben durch die Rechtspflege; und man erinnert daran, dass in dem Streit der Staaten und Völker der Entscheid eher von der siegreichen Gewalt gegeben werde, als von irgend einer Rechtsautorität. Man fragt dann: Wie kann ernstlich von Völkerrecht die Rede sein, ohne ein Völkergesetz, welches das Recht mit Autorität verkündet, ohne ein Völkergericht, welches dieses Recht in Rechtsform handhabt, wenn die Macht schließlich allezeit den Ausschlag gibt?

Wir können es nicht leugnen: Diese Bedenken haben ihren Grund in großen Mängeln und schweren Gebrechen des Völkerrechts. Dennoch ist der Schluss, dass es kein Völkerrecht gebe, übereilt und verfehlt. Fassen wir dieselben schärfer ins Auge.

1. Völkerrechtliche Gesetzgebung.

Wir sind heute gewohnt, wenn irgend Fragen des Familienrechts, des Erbrechts, des Vermögensrechts auftauchen, ein privatrechtliches Gesetzbuch nachzuschlagen und dort die Aufschlüsse über die geltenden Rechtsgrundsätze aufzusuchen, oder wenn ein Verbrechen verübt worden, nachzusehen, mit welcher Strafe es in dem Strafgesetzbuch bedroht sei. Die Fundamentalsätze des Staatsrechts sind gewöhnlich in Verfassungsurkunden öffentlich verkündet, und schon finden wir in einzelnen Staaten, wie z. B. in dem Staat New-York, eine Kodifikation auch des öffentlichen Rechts. Aber es gibt kein völkerrechtliches Gesetzbuch und nicht einmal einzelne völkerrechtliche Gesetze, welche die Rechtsgrundsätze mit bindender Autorität aussprechen, nach denen völkerrechtliche Streitfragen zu entscheiden sind. Da meinen denn Manche, gewohnt alles Recht aus Gesetzen abzuleiten: „Ohne Gesetze kein Recht.“

Indessen sind die Gesetze nur der klarste und wirksamste Ausdruck, aber keineswegs die einzige Quelle des Rechts. Bei allen Völkern gab es eine Zeit, in der sie keine Gesetzbücher und dennoch ein geltendes Recht hatten. In der Jugendperiode auch der Kulturvölker gab es Ehen, Erbrecht der Anverwandten, Eigentum, Forderungen und Schulden ohne Gesetze, welche diese Rechtsverhältnisse ordneten und es wurden die Verbrechen bestraft ohne Strafgesetz. Die in den nationalen Institutionen und in den Volksgebräuchen und Übungen dargestellte Rechtsordnung ist überall älter als die gesetzlich bestimmte. Erst in dem reiferen und selbstbewussteren Lebensalter der Völker unternimmt es der Staat, das Recht in Gesetzbüchern auszusprechen. Es kann uns daher nicht befremden, wenn das noch junge Völkerrecht vorerst ebenfalls in gewissen Einrichtungen, Gebräuchen und Übungen der Völker vornehmlich zu Tage tritt.

Für das Völkerrecht besteht aber in dieser Hinsicht eine eigentümliche Schwierigkeit. Mag das Verlangen nach einer klaren autoritativen Verkündung völkerrechtlicher Gesetze noch so dringend geworden und die geistige Fähigkeit zu solcher Aussprache noch so unzweifelhaft sein, so fehlt es doch an einem anerkannten Gesetzgeber, der das Gesetz erlassen könnte. In jedem einzelnen Staat ist durch die Staatsverfassung für ein Organ des allgemeinen Staatswillens gesorgt, d. h. ein Gesetzgeber anerkannt. Aber wo wäre der Weltgesetzgeber zu finden, dessen Ausspruch alle Staaten und alle Nationen Folge leisteten? Die Einrichtung eines gesetzgebenden Körpers für die Welt, setzt die Organisation der Welt voraus und eben diese besteht nicht.

Vielleicht wird die Zukunft dereinst die erhabene Idee verwirklichen und der gesamten, in Völker und Staaten geteilten Menschheit einen gemeinsamen Rechtskörper schaffen, welcher ihren Gesamtwillen mit allgemein anerkannter Autorität aussprechen wird, wie die Vergangenheit den verschiedenen Nationen in den Staaten eine einheitliche Rechtsgestalt gegeben hat, und wie die Gegenwart wenigstens das Bewusstsein weckt und klärt, nicht bloß, dass die Menschheit in Natur und Bestimmung Ein Gesamtwesen sei, sondern überdem, dass auch in der Menschheit gemeinsame Rechtsgrundsätze zur Geltung kommen müssen. Wird einst jene zukünftige Organisation der Menschheit erfüllt sein, dann freilich wird auch der Gesetzgeber für die Welt nicht mehr fehlen und es wird dann das Weltgesetz die Beziehungen der mancherlei Staaten zueinander und zur Menschheit ebenso klar, einheitlich und wirksam ordnen, wie es das heutige Staatsgesetz tut mit Bezug auf die Verhältnisse der Privatpersonen untereinander und zum Staat.

Mag man aber dieses hohe Endziel für einen schönen Traum der Idealisten halten oder an dessen Erreichung mit Zuversicht glauben, darüber kann kein Streit sein, dass dasselbe zurzeit und noch auf lange hin keineswegs erreichbar sei. Das heutige Völkerrecht entspricht diesem Ideal nicht. Nur langsam und allmählig führt es aus der rohen Barbarei der Gewalt und Willkür zu zivilisierten Rechtszuständen. Es kann höchstens als Übergang dienen aus der unsicheren Rechtsgemeinschaft der Völker zu der endlichen vollbewussten Rechtseinheit der Menschheit. Jeder neue völkerrechtliche Grundsatz, welcher dem gemeinsamen Rechtsbewusstsein der Völker klar gemacht und in dem Verkehrsleben der Völker betätigt wird, ist dann ein Fortschritt auf dem Wege zu jenem Ziel.

Ganz so schlimm, wie es der oberflächlichen Betrachtung erscheint, steht es übrigens nicht. Es fehlt dem heutigen Völkerrecht nicht völlig an gemeinsamer, autoritativer Aussprache seiner Rechtsgrundsätze, die daher einen gesetzesähnlichen Charakter hat. Indem von Zeit zu Zeit große völkerrechtliche Kongresse der zivilisierten Staaten zusammengetreten sind und ihre gemeinsame Rechtsüberzeugung in formulierten Rechtssätzen zu Protokoll erklärt haben, haben sie im Grund dasselbe getan, was der Gesetzgeber tut. Die eigentliche Absicht dabei war nicht, ein Vertragsrecht zu schaffen, welches lediglich die Vertragsparteien und die Unterzeichner des Protokolles binden sollte, sondern allgemeine Rechtsnormen, zunächst freilich nur für die europäische Welt, festzusetzen, welche alle europäischen Staaten zu beachten haben; sie wollten nicht ein Willkürrecht hervorbringen, das ebendeshalb nicht weiter gilt, als jene Willkür Macht hat, sondern ein notwendiges Recht anerkennen, welches in der Natur der Verhältnisse und in den Pflichten der zivilisierten Völker gegen die Menschheit seine eigentliche Begründung hat.

Die mittelalterliche Rechtsbildung war oft auch in den einzelnen Ländern nicht anders. Man wählte nicht selten die Form des Vertrags und schuf den Inhalt des Gesetzes. Die heutigen Staaten haben nicht einmal die Wahl zwischen zweierlei Formen. Sie können ihre gemeinsame Rechtsüberzeugung nur in der bedenklichen Form einer vielstimmigen Erklärung aussprechen; die einheitliche Form der Aussprache ist für ihre Gesamtheit unmöglich, solange diese nicht zu Einer Rechtsperson organisiert ist. Auch in den Verträgen, welche zunächst nur unter einzelnen Staaten abgeschlossen worden sind, sind daher manche Bestimmungen zu finden, welche ihrem Wesen nach Rechtsgesetze und keineswegs bloße Vertragsartikel sind, welche die notwendige Rechtsordnung, nicht die Konvenienz der kontrahierenden Staaten darstellen.

Sogar die Gesetzgebung eines Einzelstaates kann so völkerrechtliche Grundsätze mit öffentlicher Autorität aussprechen und dadurch an der Klärung und Fortbildung des Völkerrechts überhaupt einen bedeutenden Anteil nehmen. Die formelle und zwingende Autorität eines Staates reicht freilich nicht über die Grenzen seines Gebietes hinaus. Aber die geistige und freie Autorität desselben kann sich sehr viel weiter erstrecken, wenn ihr die öffentliche Meinung ihren Beifall zuwendet, wenn die Überzeugung sich verbreitet, dass jene Aussprache dem Rechtsbewusstsein der zivilisierten Welt entspreche.

Wir haben in neuester Zeit einen merkwürdigen Akt dieser Art erlebt, welcher zugleich einen bedeutenden Fortschritt des modernen Völkerrechts bezeichnet. Während des nordamerikanischen Bürgerkriegs nämlich ist im April 1863 eine „Instruktion für die Armeen der Vereinigten Staaten im Feld“ erschienen, welche geradezu als eine erste Kodifikation des Kriegsrechts im Landkrieg zu betrachten ist. Dieselbe wurde von einem der angesehensten Rechtsgelehrten und Staatsphilosophen Amerikas, von Professor Lieber, entworfen, von einer Kommission von Offizieren geprüft und von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Lincoln, genehmigt. Sie enthält in 157 Paragraphen genaue Vorschriften über die Kriegsgewalt in Feindesland, ihre Macht und ihre Grenzen, über das öffentliche und das Privateigentum des Feindes, über den Schutz der Privatpersonen und die Interessen der Religion, Kunst und Wissenschaft, über Ausreißer und Kriegsgefangene und die Beute auf dem Schlachtfelde, über Parteigänger und Freischaren, über Späher, Räuber und Kriegsrebellen, über Sicherheitspässe, Spione, Kriegsverräter, gefangene Boten und den Missbrauch der Parlamentärfahne, über Auswechslung der Kriegsgefangenen, Waffenstillstandsund Schutzzeichen, über die Entlassung auf Ehrenwort, über Waffenstillstand und Kapitulation, über Mord, Aufstand, Bürgerkrieg, Rebellion. Diese Instruktion ist sehr viel ausführlicher und durchgebildeter als die Kriegsreglemente, welche bei den europäischen Heeren in Übung sind. Da dieselbe aber durchweg Sätze ausspricht von allgemeinem, völkerrechtlichem Rechtsgehalt, und da die Art ihrer Aussprache in Übereinstimmung ist mit dem Rechtsbewusstsein der heutigen Menschheit und mit der zivilisierten Kriegsführung der Gegenwart, so wirkt dieses Edikt über die weiten Grenzen der Vereinigten Staaten weit hinaus; und trägt erheblich dazu bei, einen wichtigen Bestandteil des modernen Völkerrechts in humanem und der Notwendigkeit der Verhältnisse entsprechendem Sinne zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Die europäischen Staaten können hierin nicht hinter dem Vorbilde der amerikanischen Staaten zurückbleiben, ohne sich dem beschämenden Urteil der öffentlichen Meinung auszusetzen, dass sie in der Entwicklung des Völkerrechts hinter dem Fortschritt der zivilisierten Menschheit zurück bleiben.

Ein anderes Surrogat der Gesetzgebung, welches in vielen Ländern die Ausbildung des Privat- und des Strafrechts, selbst des Staatsrechts erheblich gefördert hat, sind die Rechtsbücher, in denen die geltenden Rechtssätze von rechtskundigen Privatpersonen aufgezeichnet und dargestellt werden. Der Inhalt solcher Rechtsbücher ist in der Hauptsache ganz derselbe, wie der Inhalt der Gesetzbücher. Es werden darin die geltenden Rechtsnormen ausgesprochen und verkündet. Aber weil die Rechtsbücher ein Werk der Privaten, die Gesetzbücher dagegen ein Werk der Staatsgewalt sind, so haben jene keinen Anspruch auf die bindende Autorität, welche dem Gesetze Gehorsam verschafft. Die Rechtsbücher haben nur insofern eine Autorität, als auch die Wissenschaft Autorität besitzt und als sie als wahr und gerecht erkannt werden. Es ist das eher eine innerliche und geistige, von der Kritik jeder Zeit zu prüfende, freie Autorität, nicht die gebundene unangreifbare der äußern Gewalt, welche dem Gesetz gebührt, und Gehorsam erzwingt.

In dem folgenden Buch habe ich, durch das amerikanische Vorbild angeregt, den Versuch gewagt, ein solches Rechtsbuch des Völkerrechts darzustellen. Wenn diese Darstellung dem heutigen Rechtsbewusstsein der zivilisierten Welt entspricht, und zur Klärung und Aussprache desselben dienlich ist, so ist der Zweck dieser Arbeit erfüllt; wenn nicht, so wünsche ich nur, dass es in Bälde Anderen besser gelingen möge, dieses berechtigte Bedürfnis zu befriedigen.

2. Völkerrechtliche Rechtspflege.

Fast noch schlimmer als der Mangel eines Völkergesetzes ist der Mangel eines Völkergerichts. Wenn der vermeintliche Eigentümer einer Sache von dem Besitzer Herausgabe verlangt, oder der Gläubiger von dem Schuldner Zahlung fordert, so finden die beiden streitenden Parteien einen Richter im Staat, welcher ihren Streit rechtskräftig entscheidet. Wenn ferner jemand bestohlen oder misshandelt wird, so schreitet der Staatsanwalt ein, die Geschwornen erkennen über die Schuld, der Strafrichter bestimmt die Strafe, welche von der Staatsgewalt vollzogen wird. Aber wenn ein Staat Ansprüche auf einen Bezirk erhebt, den ein anderer Staat besetzt hält, wenn ein Staat Entschädigung fordert für rechtswidrige Verletzung seiner Interessen durch einen anderen Staat, wenn ein Staat einen schweren Friedensund Rechtsbruch begeht wider einen anderen Staat, so gibt es keinen Gerichtshof, an welchen der Kläger sich wenden kann, welcher dem Unrecht wehrt, dem Rechte Anerkennung verschafft und auch den Schwachen wider den Mächtigen schützt. Das letzte und in manchen Fällen das einzige Mittel, welches dem verletzten Staat bleibt, um sein Recht zu behaupten, ist der Krieg und im Kriege entscheidet die Gewalt der aufeinanderstoßenden Naturkräfte. Im Kriege siegt leichter die Partei, welche die Macht, als die, welche das Recht für sich hat.

Unleugbar ist daher der Krieg eine rohe und unsichere Form des Rechtsschutzes. Wir können nicht mit Zuversicht darauf rechnen, dass die Macht sich dahin wende, wo das Recht ist und der besser Berechtigte infolgedessen auch der Stärkere sei. Aber selbst in dieser leidenschaftlichen und rohen Form der gewaltsamen Selbsthilfe macht sich doch das Rechtsgefühl der Völker geltend. Eben für ihr Recht greifen die Staaten zu den Waffen und unternehmen es, indem sie alle ihre Manneskraft anspannen und das Leben der Bürger einsetzen, ihrer Rechtsbehauptung den Sieg zu verschaffen. Niemals ist es auch gleichgültig, auf welcher Seite das Recht sei. Der Glaube an das eigene gute Recht stärkt und ermutigt die Kämpfenden, das Bewusstsein des eigenen Unrechts ängstigt und verwirrt sie. Das offenbare Recht zieht Freunde herbei und gewinnt die Gunst der öffentlichen Meinung; das augenfällige Unrecht reizt die Gegner zur Feindschaft und weckt allgemeine Missgunst. Der Stärkste selbst, wenn er Sieger wird, fühlt sich nach dem unübertrefflichen Ausdrucke Rousseaus nicht stark genug ohne das Recht und wird seines Sieges erst froh, wenn es ihm glückt, dem Erfolge der Waffen die endliche Anerkennung des Rechts zu verschaffen. Wenn der Sieg dauernde und insofern notwendige Wirkungen hervorbringt, so bestimmt er wirklich die Rechtsordnung für die Gegenwart und ihre Folge.

In der Jugendperiode der germanischen Völker und teilweise noch im Mittelalter war es mit dem Rechtsschutz des Privat- und des Strafrechts nicht viel besser bestellt. Die männliche Selbsthilfe war auch da eine gewöhnliche Form der Rechtshilfe. Mit den Waffen in der Hand verteidigte der Eigentümer den Frieden seines Hauses, der Gläubiger pfändete selber den säumigen Schuldner, gegen die Friedensbrecher wurde die Familien- und die Blutrache geübt, der Rechtsstreit der Ritter und Städte wurde in der Form der Fehde vollzogen. Sogar in die öffentlichen Gerichte hinein trat die Waffengewalt, der Zweikampf war ein beliebtes Beweismittel, und selbst der Urteilsschelte wurde durch die Berufung auf die Schwerter Nachdruck verliehen. Nur allmählig verdrängte die friedlichere und zuverlässigere Gerichtshilfe die ältere Selbsthilfe. Es ist daher nicht unnatürlich, wenn die Staaten, d. h. die derzeitigen alleinigen Inhaber, Träger und Garanten des Völkerrechts, in ihren Rechtsstreiten im Gefühl ihrer Selbständigkeit und ihrer Rechtsmacht sich noch heute vornehmlich selber zu helfen suchen.

Indessen der Krieg ist doch nicht das einzige völkerrechtliche Rechtsmittel. Es gibt daneben auch friedliche Mittel, dem Völkerrechte Anerkennung und Schutz zu verschaffen. Die Erinnerungen und Mahnungen, unter Umständen die Forderungen der neutralen Mächte, die guten Dienste befreundeter Staaten, die Äußerungen des diplomatischen Körpers, die Drohungen der Großmächte, die Gefahren von Koalitionen gegen den Friedensbrecher, die laute und starke Stimme der öffentlichen Meinung gewähren der völkerrechtlichen Ordnung auch einigen — freilich nicht immer einen ausreichenden Schutz, und werden selten ungestraft missachtet. Zuweilen endlich werden völkerrechtliche Schiedsgerichte gebildet, welche den Streit der Staaten auch in wirklicher Rechtsform nach einem vorgängigen Prozessverfahren entscheiden.

3. Angebliche Herrschaft der Gewalt.

Wer immer einen Blick wirft auf die Geschichte der Völker, wird auch die Wahrnehmung machen, dass die Macht einen großen Anteil hat an der Bildung der Staaten und diese Macht erscheint oft genug in der rohen Form der physischen Gewalt, welche mit dem Säbel in der Hand ihre Gebote durchsetzt und unter dem Donner der Kanonen und im Gewitter der Schlacht die Verhältnisse der Staaten umgestaltet. Aber obwohl in allen Zeitaltern viel brutale Gewalt der Mächtigen sich breit macht und auf die Rechtsordnung einen Druck übt, und obwohl viel verübtes Unrecht ungestraft bleibt, so ist die Weltgeschichte doch nicht ein wüstes Durcheinander der entfesselten Leidenschaften und nicht das Ergebnis der rohen Gewaltübung. Vielmehr erkennen wir, bei näherer Prüfung und Überlegung des weltgeschichtlichen Ganges, auch eine sittliche Ordnung. Der sichere Fortschritt der allgemein-menschlichen Rechtsentwicklung stellt sich darin unzweideutig dar. Das Wort unseres großen Dichters: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ spricht eine tröstliche Wahrheit aus.

Die Regel der heutigen Welt ist nicht mehr der Krieg, sondern der Friede. Im Frieden aber herrscht in den Beziehungen der Staaten zueinander nicht die Gewalt, sondern in der Tat das anerkannte Recht. In dem friedlichen Verkehr der Staaten miteinander wird die Persönlichkeit und die Selbständigkeit des schwächsten Staates ebenso geachtet, wie die des mächtigsten. Das Völkerrecht regelt die Bedingungen, die Formen, die Wirkungen dieses Verkehrs wesentlich für alle gleich, für die Riesen wie für die Zwerge unter den Staaten. Jeder Versuch, diese Grundsätze gestützt auf die Übermacht willkürlich zu verletzen und ihre Schranken zu überschreiten, ruft einen Widerspruch und Widerstand hervor, welchen auch der mächtige Staat nicht ohne Gefahr und Schaden verachten darf.

Aber selbst in dem Ausnahmezustand des Kriegs, in welchem die physische Gewalt ihre mächtigste Wirkung äußert, werden dieser Gewalt doch von dem Völkerrecht feste Schranken gesetzt, welche auch sie nicht überschreiten darf, ohne die Verdammung der zivilisierten Welt auf sich zu laden. In nichts mehr bewährt und zeigt sich die Macht und das Wachstum des Völkerrechts herrlicher als darin, dass es vermocht hat, die spröde Wildheit der Kriegsgewalt allmählich zu zähmen und selbst die zerstörende Wut des feindlichen Hasses durch Gesetze der Menschlichkeit zu mäßigen und zu bändigen.

Überdem dürfen wir bei der Beurteilung geschichtlicher Ereignisse niemals vergessen: Was dem oberflächlichen Sinn nur als rohe Übermacht und als brutale Gewalt erscheint, das stellt sich der tieferen Erkenntnis in manchen Fällen als unwiderstehliche Notwendigkeit der natürlichen Verhältnisse und als unaufhaltsamer Drang berechtigten Volkslebens dar, welches die abgestorbenen Formen des veralteten Rechts abstößt, wie die jungen Pflanzentriebe im Frühling das welke Laub des Winters abstoßen. Wo aber das wirklich der Fall ist, da ist die Gewalt in Wahrheit nur der Geburtshelfer des natürlichen oder des werdenden Rechts. Sie dient dann der Rechtsbildung, sie beherrscht dieselbe nicht.

Die Mängel also des Völkerrechts sind groß, aber nicht so groß, um dessen Existenz zu behindern. Das Völkerrecht ringt noch mit ihnen, aber es hat schon manchen Sieg über die Schwierigkeiten erfochten, welche seiner Geltung im Wege stehen. Man vergleiche die Rechtszustände der heutigen Staatenwelt mit den Zuständen der früheren Zeitalter und man wird durch diese Vergleichung der großen und segensreichen Fortschritte gewahr, welche das Völkerrecht in den letzten Jahrhunderten gemacht hat und fortwährend macht. Darin ersehen wir eine Bürgschaft für die weiteren Fortschritte der Zukunft. Die Vervollkommnung des Völkerrechts begleitet und sichert die Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Halten wir Überschau und betrachten wir im Großen die Entwicklung des Völkerrechts.

Anfänge des Völkerrechts.

1. Im Altertum.

Einzelne Keime des Völkerrechts sind zu allen Zeiten unter allen Völkern sichtbar geworden. Selbst unter wilden und barbarischen Stämmen finden wir fast überall eine gewisse, meistens religiöse Scheu, die Gesandten anderer Stämme zu verletzen, mancherlei Spuren des Gastrechts und die Übung, Bündnisse und andere Verträge abzuschließen, den Krieg durch den erklärten Frieden zu beendigen.

Bei den zivilisierten alten Völkern Asiens, wie besonders bei den alten Indern mehren und entwickeln sich teilweise die Ansätze und Triebe zu völkerrechtlicher Rechtsbildung. Aber selbst die hochgebildeten Hellenen, obwohl sie zuerst den Staat menschlich begriffen haben, sind doch nur in dem eng begrenzten Verhältnis der hellenischen Staaten zueinander zu einem noch sehr dürftigen Völkerrecht gelangt. Die Gemeinschaft der Religion, Sprache und Kultur hat in den Hellenen aller Städte das Gefühl nationaler Gemeinschaft und Verwandtschaft geweckt. In Folge davon wurde die in eine große Anzahl selbständiger Städte und Staaten geteilte Nation doch auch einer gewissen Rechtsgemeinschaft inne. „Alle Hellenen sind Brüder“, sagte man und erkannte an, dass jeder hellenische Staat dem anderen gegenüber gewisse Rechtsgrundsätze zu beachten verpflichtet sei. Aber die nicht hellenischen, die sogenannten barbarischen Völker betrachteten sie noch als „ihre natürlichen Feinde“, mit denen keine Rechtsgemeinschaft bestehe. Der Krieg mit den Barbaren erschien ihnen als die natürliche Regel und jede List oder Gewalt gegen die Barbaren als erlaubt. Sie wiesen die Gleichberechtigung der Barbarenstaaten noch mit Verachtung von sich, und hielten sich als die edlere Rasse für berufen, über die Barbaren zu herrschen. Das war nicht etwa nur die Meinung der eitlen und selbstsüchtigen Menge, es war das ebenso die Meinung der berühmten Philosophen Platon und Aristoteles.

Die Römer sind als die weltgeschichtlichen Begründer des von Religion und Moral unterschiedenen Rechts und der Rechtswissenschaft anerkannt. Aber auch den Römern verdankt die Welt noch nicht die erste allgemeine Feststellung des Völkerrechts. Freilich sind in dem alten Rom auch vortreffliche Anfänge eines zivilisierten Völkerrechts zu entdecken. Bevor die Römer einen fremden Staat mit Krieg überzogen, pflegten sie ihre Forderungen in Rechtsform durch ihre Gesandte, die Fecialen, anzumelden und, wenn nicht willfahrt wurde, den Krieg feierlich anzukünden. Sie kannten und übten mancherlei Formen der Staatsverträge und Bündnisse mit anderen Staaten. Obwohl sie während des Kriegs schonungslos und grausam verfuhren, so pflegten sie doch die Religion, die Sitten und teilweise sogar das Recht der untertänig gewordenen Völker zu schützen. Sie erhoben sich sogar zu der Idee der Humanität, als der großen Aufgabe ihrer Politik und fassten die Welt als Ein Ganzes in weitgreifendem Gedanken zusammen. Aber alle diese Keime entwickelten sich doch nicht zu einem humanen Völker- und Weltrecht, weil der Sinn der Römer nicht auf Rechtsgemeinschaft unter den Völkern, sondern auf absolute Herrschaft Roms über die Völker gerichtet war. Die absolute Weltherrschaft eines Volkes aber ist die Verneinung des Völkerrechts im Prinzip.

Wir sehen, die Eitelkeit, der Stolz, die Selbstsucht und die Herrschsucht der einzelnen Völker verhinderten im Altertum das Wachstum des Völkerrechts und zerstörten die noch schwachen Keime, bevor sie erstarkt waren. Ohne wesentliche Gleichberechtigung der verschiedenen Völker ist kein Völkerrecht möglich.

2. Im Mittelalter. Christentum.

Im Mittelalter treten in Europa zwei neue Mächte entscheidend auf, die christliche Kirche und die germanischen Fürsten und Völker. Haben etwa diese Mächte das Völkerrecht zur Welt gebracht?

In der Tat leuchten manche christliche Ideen der Bildung des Völkerrechts vor. Das Christentum sieht in Gott den Vater der Menschen, in den Menschen die Kinder Gottes. Damit ist die Einheit des Menschengeschlechts und die Brüderschaft aller Völker im Prinzip anerkannt. Die christliche Religion beugt jenen Stolz der antiken Selbstgerechtigkeit und fordert Demut, sie greift die Selbstsucht in ihrer Wurzel an und verlangt Entsagung, sie schätzt die Hingebung für Andere höher als die Herrschaft über Andere. Sie entfernt also die Hindernisse, welche der Gründung eines antiken Völkerrechts im Wege waren. Ihr höchstes Gebot ist die Menschenliebe und sie steigert dieselbe bis zur Feindesliebe. Sie wirkt erlösend und befreiend, indem sie die Menschen reinigt und mit Gott versöhnt. Sie verkündet die Botschaft des Friedens. Es liegt nahe, diese Ideen und Gebote in die Rechtssprache zu übersetzen und zu Grundsätzen eines humanen Völkerrechts umzubilden, welches alle Völker als freie Glieder der großen Menschenfamilie anerkennt, für den Weltfrieden sorgt und sogar im Kriege für die Menschenrechte Achtung fordert. Im Mittelalter war die römisch-katholische Kirche berufen, die christlichen Ideen zu vertreten, sie hatte die Erziehung der unzivilisierten Völker übernommen. Dennoch hat sie ein derartiges christliches Völkerrecht nicht hervorgebracht. Vergeblich sieht man sich in dem kanonischen Gesetzbuch darnach um. Nur dem Kriegsrecht ist ein Abschnitt des alten Decretum Gratiani (II. 23) gewidmet.

Allerdings versuchten es die Päpste im Mittelalter, das Amt der obersten Schiedsrichter über die Fürsten und Völker der abendländischen Christenheit sich zuzueignen. Öfter saßen die Päpste zu Gericht über die Streitigkeiten der Fürsten unter sich oder mit den Ständen. Wenn sich nur irgendwie dem Streit eine religiöse Seite oder eine kirchliche Beziehung abgewinnen ließ — und wo wäre das nicht möglich? — so hielten sie ihre Gerichtsbarkeit für begründet. Bald bemühten sie sich dann, Vergleiche zu stiften, bald sprachen sie ihr Urteil aus. Aber diese völkerrechtliche Stellung der Päpste litt doch an großen Mängeln. Wo das öffentliche Recht in Frage war, da waren die mächtigen Parteien nicht geneigt, sich dem geistlichen Gericht zu unterwerfen, und die Päpste vermochten nicht, den trotzigen Widerspruch zu beseitigen, nicht den Widerstand zu brechen.

Es gelang den Päpsten so wenig, ihr völkerrechtliches Schiedsrichteramt durchzusetzen, als es ihnen glückte, ihren Anspruch auf Weltherrschaft zu verwirklichen. Auch dieser Anspruch hatte eher einen völker- als einen staatsrechtlichen Charakter angenommen, seitdem das alte römische Weltreich zerrissen und in eine große Anzahl unabhängiger Fürstentümer und Republiken zerfallen war. Die Päpste begründeten nun diesen Anspruch auf absolute Weltherrschaft mit der religiösen Autorität Gottes, wie die alten römischen Kaiser ihn politisch mit dem Beruf und Willen des römischen Volkes begründet hatten. Der geistliche Absolutismus war aber im Prinzip eben so wenig verträglich mit einer allgemeinen Rechtsordnung, welche die Fürsten und Völker in ihren Rechten schützt, als der weltliche. Jener war sogar gefährlicher als dieser, weil er seine Vollmacht aus dem unerforschlichen Willen des allmächtigen Gottes ableitete und nicht wie dieser in dem ausgesprochenen Menschengesetz eine deutliche Schranke fand. Dennoch war die behauptete göttliche Herrschaft des Papstes über die christlichen Völker schwächer als die Hoheit des antiken römischen Kaisers, weil der christliche Papst grundsätzlich genötigt war, die Zweiheit von Staat und Kirche anzuerkennen und das weltliche Schwert nicht selber handhaben durfte, sondern dem König überlassen musste. So oft daher eine weltliche Macht dem Papste ihren Gehorsam oder ihren Beistand versagte, wie das trotz Kirchenbann und Interdict auch im Mittelalter nicht selten geschah, so war sein Spruch und sein Gebot in seiner Wirksamkeit gelähmt.

Es zeigte sich aber im Mittelalter noch ein zweites Grundgebrechen, welches jede Gestaltung eines päpstlichen Völkerrechts unmöglich machte. Eben die religiöse Begründung des päpstlichen Rechts verhinderte dasselbe allgemein-menschlich zu werden. Die Kirche verlangte den Glauben als die Grundbedingung auch des Rechts. Nur unter der gläubigen Christenheit sollte der Friede walten und die Rechtsordnung gelten. Den Ungläubigen gegenüber kannte das Papsttum keine Schonung und keine Achtung der Menschenrechte. Gegen die Ungläubigen war der Krieg die Losung; man ließ ihnen nur die Wahl zwischen Bekehrung oder Vertilgung. Jede Ketzerei und den Unglauben auszurotten auf der Erde, das wurde auf allen Kanzeln als die heilige Pflicht der Christenheit verkündet. Damit ist aber die menschliche Grundlage des Völkerrechts im Prinzip verneint. Wenn das Völkerrecht Menschenrecht ist, weshalb sollten denn die ungläubigen Völker sich nicht ebenso darauf berufen dürfen, wie die gläubigen? Hören sie denn auf, Menschen zu sein, weil sie andere Vorstellungen haben als die Kirche von Gott und göttlichen Dingen?

Die antike Welt hatte kein Völkerrecht zu Stande gebracht, weil die selbstsüchtigen Völker den Fremden, den Barbaren nicht gerecht wurden, das christliche Mittelalter kam nicht dazu, weil die glaubenseifrigen Völker die Ungläubigen für rechtlos hielten. Die reine Idee der Menschlichkeit konnte die Welt nicht erleuchten, solange die Atmosphäre von dem Rauche der Brandopfer verdunkelt war, welche der Glaubenshass angezündet hatte.

Die Germanen.

Die zweite bestimmende Macht des Mittelalters, die Germanen, brachten ebenfalls eine Anlage zu völkerrechtlicher Rechtsbildung mit, aber auch diese Anlage gelangte im Mittelalter nicht zu voller Entwicklung. Der trotzige Freiheitssinn und das lebhafte Gefühl der besonderen Persönlichkeit, wodurch die Germanen von jeher sich auszeichneten, haben einen natürlichen Zug zu allgemeinem Menschenrecht. Die in zahlreiche Stämme und Völkerschaften geteilten Germanen waren immer geneigt, auch anderen Völkern ein Recht zuzuschreiben, wie sie es für sich in Anspruch nahmen. In dem Fremden achteten sie doch den Menschen und hielten es für billig, dass ein Jeder nach seinem angeborenen Stammes- oder seinem gewählten Volksrechte beurteilt werde. Sie erkannten so ein Nebeneinander verschiedener Volksrechte an. Für sie hatten Persönlichkeit, Freiheit, Ehre höchsten Wert, aber sie glaubten nicht im Alleinbesitz dieser Güter zu sein, wenn freilich auch sie sich für besser und schätzenswerter hielten als andere Nationen. Um den Glauben Anderer kümmerten sie sich nicht, bevor sie in die Schule der römischen Kirche kamen. Nicht einmal im eigenen Lande machten sie das Recht vom Glauben abhängig. Sogar im Kriege vergaßen sie das Recht nicht. Sie betrachteten die Fehde und den Krieg als einen gewaltigen Rechtsstreit und glaubten, dass Gott dem Recht zum Siege verhelfe, in der Schlacht wie im Zweikampf. Auch in dem Feind und in den unterwürfigen Knechten und eigenen Leuten achteten sie noch immer von Natur berechtigte Menschen. Sicher sind das höchst bedeutsame Ansätze zum Völkerrecht, wie der Belgier Laurent zuerst und vortrefflich gezeigt hat.

Aber es fehlte den Germanen anfangs sowohl an der Einheit des politischen Willens und der staatlichen Macht als an der nötigen Geistesbildung, um einem neuen Weltrecht Ausdruck zu geben und Geltung zu verschaffen. Ihre Sitten waren zu roh, ihr Trotz zu ungefügig, ihre Fäuste zu derb und ihre Rauflust zu unbändig. Als sie aber später von Rom in die geistige und sittliche Schule und Zucht genommen wurden, bekamen sie mit der Einheit des Papsttums und des Kaisertums und mit der religiösen Bildung auch die Mängel der mittelalterlich-römischen Institutionen und Ideen, und jene Ansätze konnten nicht mehr zu gesundem und fröhlichem Wachstum gelangen.

Vergeblich wurde nun das römische Kaisertum dem deutschen Königtum aufgepfropft. Die Kaiser nannten sich wohl noch Herren der Welt, Könige der Könige, Häupter der ewigen Stadt und Regenten des Erdkreises. Auch sie behaupteten wohl, die obersten Richter zu sein über die Fürsten und die Völker, und die Schirmer des Weltfriedens. Aber die weltliche Oberherrlichkeit der Kaiser wurde in der abendländischen Christenheit noch weniger allgemein anerkannt als die geistliche der Päpste. Nicht einmal in Deutschland und in Italien vermochten die Kaiser den Landfrieden vor der wilden Fehdelust der vielen großen und kleinen Herren nachhaltig zu schützen. Um die Weltordnung zu handhaben, dazu reichten ihre Kräfte noch weniger aus. In dem Ideal des Mittelalters herrschen überall Recht und Gericht; aber in der Wirklichkeit regiert die rohe Gewalt. Es ist bezeichnend, dass die „Zeit des Faustrechts“ von jedermann auf die mittelalterlichen Zustände bezogen wird und dass das Wort auf kein anderes Zeitalter besser passt. Wo aber das Faustrecht in Übung ist, da hat das Völkerrecht keinen Raum.

Aufleben des modernen Völkerrechts.

Erst nachdem die kirchlich-päpstliche Einheit in dem abendländischen Europa durch die Reformation des sechszehnten Jahrhunderts zerbrochen war, wie lange vorher schon die weltlich-kaiserliche Einheit sich als unausführbar erwiesen hatte, bekamen die lange zurück gehaltenen Rechtstriebe Luft. Die Wissenschaft, welche sich endlich der Herrschaft des Glaubens entwand, förderte nun zunächst mit ihrem Lichte ihre Entfaltung. In der Tat, die Begründung des neueren Völkerrechts ist voraus ein Werk der Wissenschaft, welche das schlummernde Rechtsbewusstsein der zivilisierten Welt aufgeweckt hat. Dann folgte ihr die staatsmännische Praxis und übernahm die Pflege und Erweiterung des Völkerrechts. Noch heute sind beide Kräfte tätig. Bald geht die Wissenschaft voraus, indem sie völkerrechtliche Grundsätze ausspricht und erweist, bald folgt die Wissenschaft der rüstiger vorschreitenden Praxis nach, welche von der Kulturströmung der Zeit getrieben und von den Bedürfnissen der Zeit gedrängt sich entschließt, neues Recht anzuwenden und ins Leben einzuführen. Wenn es der Wissenschaft gelingt, der Menschheit ihre Rechtsideen als Rechtsvorschriften klarzumachen, und das Rechtsgefühl der Mächte diese Vorschriften zu beachten beginnt, dann ist wirkliches Völkerrecht offenbar geworden, gesetzt auch es sollte nicht überall und nicht ausnahmslos anerkannt werden und die Befolgung nicht immer zu erzwingen sein. Ebenso wenn es der staatlichen Praxis glückt, sei es durch diplomatische Verhandlungen oder in der Kriegsübung oder sonst im Leben angesehener Völker bestimmte völkerrechtliche Befugnisse und Pflichten zur Anerkennung und stätigen Wirksamkeit zu bringen, so wird auch auf diese Weise das allmählige Wachstum des Völkerrechts sichtbar, obwohl es an einer alle Staaten bindenden formellen Autorität und an einer gesicherten Rechtspflege noch fehlt.

Es ist charakteristisch, dass das bahnbrechende Werk des edlen Holländers Hugo de Groot, der mit Recht als der geistige Vater des modernen Völkerrechts geehrt wird, im Angesicht des entsetzlichen Krieges geschrieben wurde (1622—1625), in welchem die deutsche Nation während dreißig Jahren gegen sich selber wütete. Damals trat der hochgebildete Gelehrte und Staatsmann zugleich dem religiösen Fanatismus entgegen, welcher die Ausrottung der Andersgläubigen als ein gottgefälliges Werk ansah und der brutalen Rohheit, welche ihren Leidenschaften und Lüsten zügellosen Lauf verstattete. Er zeigte der Welt das erhabene Bild eines auf die menschliche Natur gegründeten und durch die Zustimmung der Weisen und Edlen aller Zeiten geheiligten Rechts, damit sie sich wieder ihrer Pflicht erinnere und Mäßigung lerne.

Befreiung des Völkerrechts von religiöser Befangenheit.

Von Anfang an war das neue Völkerrecht frei von dem antiken Vorurteil, dass nur das eigene Volk berechtigt, die Fremden aber rechtlos seien und ebenso frei von dem mittelalterlichen Wahne, dass die Gültigkeit des Menschenrechts abhängig sei von dem besonderen Gottesglauben. Mit viel Mut und großem Nachdruck hat sodann der Nachfolger Groots, der Deutsche Pufendorf ebenfalls noch im siebzehnten Jahrhundert wider die kirchlichen Eiferer die Wahrheit verfochten, dass das Natur- und das Völkerrecht nicht auf die Christenheit eingeschlossen sei, sondern alle Völker aller Religionen verbinde, weil alle zur Menschheit gehören.

Trotz dieser einleuchtenden Lehren ist in unserm zivilisierten Europa der große Fortschritt der Wissenschaft erst vor wenig Jahren zu durchgreifender praktischer Anerkennung gelangt. Noch die sogenannte Heilige Allianz vom September 1815 wollte ein ausschließlich christliches Völkerrecht begründen und schützen. Allerdings war sie nicht mehr ganz so enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterschied nicht mehr zwischen rechtgläubigen und nicht rechtgläubigen christlichen Bekenntnissen und beseitigte die feindliche Scheidung der verschiedenen Konfessionen. In ihr verband sich der katholische Kaiser von Österreich mit dem protestantischen König von Preußen und dem griechischen Zaren von Russland. Die verschiedenen Konfessionen sollten nur eine christliche Völkerfamilie bilden. Aber man wollte doch nicht über die Grenze der Christenheit hinaus gehen und meinte in der christlichen Religion die Grundlage des neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeschlossen von der europäischen Staatengemeinschaft. Freilich hatte man es schon seit Jahrhunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrechtliche Verträge abzuschließen. Aber erst auf dem Pariser Friedenskongress vom Jahre 1856 wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die europäische Staatengenossenschaft aufgenommen und dadurch der allgemeinmenschliche Charakter des Völkerrechts anerkannt.

Seither ist es auch in der Praxis anerkannt, dass die Grenzen der Christenheit nicht zugleich Grenzen des Völkerrechts seien. Unbedenklich breitet sich dasselbe über andere mohammedanische Staaten und ebenso über China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung seiner Rechtsgrundsätze, mögen dieselben nun Gott nach der Weise der Christen oder der Buddhisten, nach Art der Muhammedaner oder der Schüler des Confucius verehren. Endlich ist die Wahrheit durchgedrungen: Der religiöse Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechtspflicht.

Schranken des Völkerrechts.

Das moderne Völkerrecht erkennt voraus das Nebeneinanderbestehen der verschiedenen Staaten an. Es soll die Existenz der Staaten sichern, nicht dieselbe gefährden, ihre Freiheit schützen, nicht unterdrücken.

Aber zugleich legt es allen Staaten auch Pflichten auf, indem es sie als Glieder der Menschheit verbindet und deshalb von ihnen Achtung vor dem Menschenrecht fordert. Würde man die Souveränität der Staaten als ein unbegrenztes Recht fassen, so würde jeder Staat auch dem anderen gegenüber tun können, was ihm beliebte, d. h. es würde das Völkerrecht im Prinzip verneint. Würde man umgekehrt die Zusammengehörigkeit der Staaten und die Einheit des Menschengeschlechts rücksichtslos durchführen, so würde dadurch die Selbständigkeit der einzelnen Staaten gebrochen, ihre Eigenart und ihre Freiheit gefährdet, sie würden am Ende zu bloßen Provinzen des einen Weltreichs erniedrigt.

Deshalb ist es nötig, dass die Fortbildung des Völkerrechts zugleich die Grenzen beachte, welche seiner Wirksamkeit durch das Staatsrecht gezogen sind. Aus diesem Grunde bestimmt das Völkerrecht zunächst und hauptsächlich die Rechtsverhältnisse der Staaten untereinander und hütet sich davor, sich in die inneren Angelegenheiten der Staaten einzumischen. Den Schutz der Privatrechte stellt es durchweg den Staaten anheim, auch dann, wenn diese Privatrechte einen allgemein-menschlichen Charakter haben, und greift nicht in die Handhabung der staatlichen Strafgerichtsbarkeit ein, wenngleich auch hier zuweilen menschliches Recht in Frage ist.

Es ist nicht unmöglich, dass in der Zukunft das Völkerrecht etwas weniger ängstlich sein und in manchen Fällen sich für berechtigt halten werde, zum Schutze gewisser Menschenrechte einzuschreiten, wenn dieselben von einer Staatsgewalt selbst unterdrückt werden; etwa so wie in den Bundesstaaten die Bundesgewalt gewisse vorschriftsmäßige Rechte der Privaten auch gegen die Verletzung von Seite eines Einzelstaates zu schützen pflegt. Aber die bisherigen Versuche völkerrechtlicher Garantien zum Schutze menschlicher Privatrechte sind noch selten und schwach und überall noch hindert die Furcht vor Eingriffen in die Souveränität der Staaten ein energisches Vorgehen.

Maßregeln gegen die Sklaverei.

Eine derartige Ausnahme enthalten die völkerrechtlichen Maßregeln gegen die Zufuhr von Negersklaven.

Die meisten Völker der alten Welt hatten die Sklaverei geduldet. Die römischen Juristen, wohlbewusst, dass das natürliche Menschenrecht die Freiheit, nicht die Sklaverei sei, suchten diese eben mit der allgemeinen Rechtssitte aller Völker zu rechtfertigen. Auch das Christentum, obwohl es den Geist der Bruderliebe auch unter Herren und Sklaven weckte, ließ doch die bestehende Sklaverei als Rechtsinstitut unangefochten.

Während des Mittelalters wurde in dem germanisierten Europa die antike Sklaverei in die weniger harte Eigenschaft umgestaltet und allmählich in die bäuerliche Hörigkeit gemildert, aber es erhielt sich doch noch bis tief ins achtzehnte, in einzelnen, auch deutschen Ländern bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein eine erbliche Knechtschaft der eigenen Leute. In Osteuropa nahm diese bäuerliche Eigenschaft sogar in den letzten Jahrhunderten massenhaft überhand und in den europäischen Kolonien von Amerika erhielt sogar die strengste Sklaverei eine neue Gestalt und Anwendung in der absoluten Herrschaft, welche die weißen Eigentümer über die schwarze Arbeiterbevölkerung erkauften, die aus Afrika dahin verpflanzt ward.

In allen diesen Zeitaltern kümmerte sich das Völkerrecht niemals darum. Im achtzehnten Jahrhundert noch schützte und begünstigte das freie England die Sklavenzufuhr aus Afrika. Noch im Jahre 1713 schämten sich die englischen Staatsmänner nicht, in dem Frieden mit Spanien zu Utrecht ausdrücklich auszubedingen, dass es den englischen Schiffen gestattet werde, binnen der nächsten Jahre einige tausend Negersklaven jährlich in die spanischen Kolonien einzuführen. Sie betrachteten den Menschenhandel noch als ein vorteilhaftes Spekulationsgeschäft, wofür England sich Privilegien einräumen lassen müsse.

Seit ungefähr einem Jahrhundert finden wir eine entschiedene Wendung in den Ansichten der zivilisierten Welt. Die Philosophie und die schöne Literatur brachten menschlichere Grundsätze in Umlauf. Von da an beginnt in allen Ländern ein offener Kampf für die persönliche Freiheit wider die Knechtschaft, und die Gesetzgebung verzeichnet und sichert die Siege der Freiheit. Die Leibeigenschaft und Hörigkeit werden teilweise vor, teilweise nach der französischen Verkündung der Menschenrechte in den westeuropäischen Ländern abgeschafft.

Jetzt erst beginnt auch das Völkerrecht die Frage in Betracht zu ziehen; und nun geht England voran in der Bekämpfung der Negersklaverei, welche es selber früher großgezogen hatte. Der Wiener Kongress missbilligt in einer förmlichen Erklärung vom 8. Februar 1815 den von Afrika nach Amerika betriebenen Negerhandel, „durch welchen Afrika entvölkert, Europa geschändet und die Humanität verletzt“ werde. Früher schon hatten auch die Vereinigten Staaten von Amerika diesen schmählichen Seehandel mit schwarzen Menschen gesetzlich verboten. Die Verurteilung dieser besonders gefährlichen und schädlichen Art der Sklavenzüchtung durch den Spruch der zivilisierten Menschheit war nun im Prinzip entschieden und damit wenigstens erwiesen, dass das Rechtsgefühl der Welt humaner und freier geworden war als es im Altertum und im Mittelalter gewesen.

Freilich zeigte sich hier sofort wieder die große Schwierigkeit alles Völkerrechts, dem Urteil der zivilisierten Menschheit Geltung zu verschaffen, ohne die Freiheit der einzelnen Staaten zu gefährden. Zwar ließen sich die europäischen Staaten anfangs herbei, der unablässigen Bestürmung der englischen Diplomatie das verlangte Visitationsrecht ermächtigter Kriegsschiffe gegen verdächtige Sklavenschiffe innerhalb gewisser Meere zuzugestehen und insofern eine Art völkerrechtlicher Seepolizei auch im Friedenszustande einzuführen. In diesem Sinne kam der europäische Vertrag vom 20. Dezember 1841 zu Stande. Aber dieses Untersuchungsrecht begegnete dem Widerspruch der Vereinigten Staaten, welche besorgten, dass dadurch die Übermacht der englischen Kriegsmarine über ihre Handelsmarine verstärkt und der friedliche Seehandel überhaupt belästigt werde. Auch Frankreich sagte sich nun wieder los von dem Zugeständnis solcher Durchsuchung und trat auf den Standpunkt der Vereinigten Staaten über, welche es vorzogen, gemeinsam mit England Kreuzer auszurüsten, welche an den afrikanischen Küsten zunächst die eigenen Sklavenschiffe verfolgen aber sich hüten sollten, fremde Kauffahrer zu belästigen.

Auf den Vorschlag der nordamerikanischen Bundesregierung kam dann die weitere Verabredung mit England (9. August 1842) zu Stande, gemeinsam die Staaten, welche noch öffentliche Sklavenmärkte gestatten, zur Abstellung dieses Missbrauchs zu mahnen. Auch diese Maßregel zur Befreiung der Welt von der Schmach der Sklaverei ist nicht ohne Wirkung geblieben. Insbesondere sah sich die Ottomanische Pforte veranlasst, dem Andringen der Diplomatie Gehör zu geben.

Neuerdings hat die Aufhebung der Leibeigenschaft in dem russischen Reich durch das Manifest des Kaisers Alexander II. vom 19. Februar 1861 die große Frage endlich für Europa und für einen großen Teil von Asien zu Gunsten der persönlichen Freiheit entschieden. Noch wichtiger ist der Sieg der Freiheit über die Sklaverei in Nordamerika geworden. Seitdem die Verwerfung der Sklaverei zu einem Grundgesetz der Vereinigten Staaten erklärt worden ist (1865), ist dieses Institut nirgends mehr auf dem ganzen Weltteil zu halten.

Es wird daher nicht mehr lange dauern, bis das allgemeine Rechtsbewusstsein der Welt die großen Sätze eines jeden humanen Rechts auch mit völkerrechtlichen Garantien schützen wird:

Es gibt kein Eigentum des Menschen am Menschen. Die Sklaverei ist im Widerspruch mit dem Recht der menschlichen Natur und mit dem Gemeinbewusstsein der Menschheit.

Religiöse Freiheit.

Noch weniger entwickelt, aber wiederum in den Anfängen sichtbar, ist der völkerrechtliche Schutz der religiösen Freiheit gegen grausame Verfolgung und Unterdrückung durch den Fanatismus anderer von dem Staat bevorzugter Religionen. Mit Recht überlässt man den gesetzlichen Schutz der religiösen Bekenntnißund Cultusfreiheit den einzelnen Staaten und scheut sich bei geringen und zweifelhaften Anlässen die Selbständigkeit des staatlichen Sonderlebens anzutasten. Aber bei großen und schweren Verletzungen jenes natürlichen Menschenrechts bleibt die gesittete Völkergenossenschaft nicht mehr teilnahmelos und stumm. Sie äußert zum mindesten ihre Meinung, gibt Räthe und erlässt Warnungen und Mahnungen. Zuletzt kann eine grobe Missachtung der Menschenpflicht zu ernster Machtentfaltung auch der Staaten führen, welche sich vorzugsweise berufen fühlen, ihre Glaubensgenossen oder würdiger noch das allgemeine Menschenrecht wider die fanatischen Verfolger zu schützen. Gegenüber der Türkei ist das bereits in einzelnen Fällen geschehen. Die europäischen Mächte haben wiederholt zum Schutze der christlichen Rajahs völkerrechtlich eingewirkt. Das Aufsehen, welches der kirchliche Raub des jüdischen Knaben Mortara auch in dem romanischen und katholischen Westeuropa gemacht hat, beweist, dass das öffentliche Gewissen der heutigen Menschheit nicht bloß dann sich zu regen anfängt, wenn die eigene Religion gekränkt wird, sondern auch dann, wenn zu Gunsten der eigenen Religion die heiligen Rechte der Familie verletzt werden.

Gesandtschaften und Konsulate. Geringere Schwierigkeiten standen der Pflege des friedlichen Verkehrs von Staat zu Staat und der Nationen untereinander im Wege. Zu allen Zeiten hatten die Völker — wenige wilde Stämme ausgenommen — miteinander durch Gesandte, als Repräsentanten unterhandelt; und von Alters her wurden diese Gesandten erst durch die Religion, dann durch das Recht als unverletzlich geschützt. Aber die Einrichtung ständiger Gesandtschaften in den verschiedenen Hauptstädten gehört erst der neueren Zeit an und ist in Europa vorzüglich seit Richelieu und Ludwig XIV. allgemeine Sitte geworden. Infolgedessen wurde der fortdauernde Zusammenhang unter den Staaten in dem fortgesetzten persönlichen Verkehr ihrer Vertreter lebendig dargestellt. Das Völkerrecht erhielt so in den Residenzen gleichsam einen persönlichen Ausdruck und eine friedlich wirkende Repräsentation. Es fanden sich da wie in Knotenpunkten des Weltverkehrs die Diplomaten der verschiedenen Staaten zusammen und fingen an, als sogenannte diplomatische Körper sich als völkerrechtliche Genossenschaften zu fühlen. Wenn auch dabei selbstsüchtige Absichten mitgewirkt haben, so hat doch augenscheinlich die Wirksamkeit des Völkerrechts durch diese Einrichtung sehr gewonnen. Wenn ein Staat seine völkerrechtlichen Pflichten offenbar verletzen möchte, so findet er sofort in dem diplomatischen Körper eine gewisse Schranke. Da kein Staat mächtig genug ist, um die Missbilligung der zivilisierten Staatengesellschaft gleichgültig hinzunehmen, so wird diese Stimme des Völkerrechts nicht leicht überhört. Indem diese ständigen Gesandtschaften sich immer weiter über die ganze Erde hin erstrecken, wächst der Verband aller Staaten zu einer gemeinsamen Weltordnung allmählig heran und die völkerrechtlichen Garantien nehmen an Stärke und Ausdehnung zu.

Außer den Gesandtschaften hat das neuere Völkerrecht noch das Institut des Konsulats weiter ausgebildet. Die Zahl der Konsuln ist viel größer als die der Gesandten und in starker Vermehrung begriffen. Durch die Konsulate wird so ein zweites Netz völkerrechtlicher Ämter über die Erdoberfläche ausgebreitet, welche dem friedlichen Verkehr aller Nationen dienen und die Rechtsgemeinschaft in der Welt beleben. Die Konsuln sind nicht wie die Gesandten berufen, als eigentliche Stellvertreter der Staaten zu handeln, sie haben vorzugsweise die Interessen der Privaten in fremden Ländern zu wahren und den heimatlichen Rechtsschutz auch in der Ferne wirksam zu machen. Gerade deshalb steigt ihre Wichtigkeit in dem Maße, in welchem der internationale Verkehr reicher und belebter wird.

Zuerst haben die Bedürfnisse und Interessen des Handels die Kaufleute veranlasst, ins Ausland zu gehen und mit Fremden zu verkehren. Daher sind die Konsulate anfangs nur als Handelskonsulate gegründet worden. Auch heute noch ist der Handelsverkehr die wichtigste Beziehung von Nation zu Nation. Aber er ist es heute schon nicht ganz mehr, wie früher. Es gibt bereits eine Menge von Kulturbeziehungen aller Art, welche die Nationen ebenfalls verbinden. Nicht einmal mehr die Mehrzahl der Reisenden sind Kaufleute. Die verschiedensten Ursachen bestimmen die Privaten, vorübergehend fremde Länder zu besuchen, oder sich auf längere Zeit auswärts niederzulassen, Interessen der Bildung, der Wissenschaft, der Kunst, der Landwirtschaft, des Vergnügens, der Verwandtschaft u. s. f. Auch diese Masse von Nichtkaufleuten tritt in den Rechtsverkehr mit den Ausländern und bedarf gelegentlich der Förderung und des Schutzes in der Fremde. Die Konsuln sind berufen, auch diesen Klassen nötigenfalls beizustehen.

Indem so der Geschäftskreis der Konsuln erweitert und ihre Geschäftslast vergrößert ward, genügten nicht überall mehr die alten Handelskonsul, welche nur nebenher das Konsulat verwalteten. Man konnte dem Kaufmann nicht zumuten, dass er neben seinem eigenen Handel die mannigfaltiger, schwieriger und zahlreicher gewordenen Geschäfte des Konsulats unentgeltlich als Ehrenpflicht besorge, und man ward genötigt, an den begangensten Plätzen und in den Hauptstädten, wo man keine Gesandtschaften unterhielt, für besoldete Generalkonsule zu sorgen, welche dann das Konsulat als Hauptberuf verwalteten. Das so im Wachstum begriffene Konsulat ist augenscheinlich noch der Hebung und Steigerung fähig und ganz geeignet, die friedlichen und freundlichen Beziehungen der Nationen untereinander und mit den Staaten vielfältig zu sichern und zu fördern. Um den ersten Ring der Gesandtschaften wird so ein zweites weiteres Band geschlungen, welches die Gemeinschaft der Welt pflegt.

Fremdenrecht.

Keine Isolierung der Staaten. Die friedlichen Siege des neueren Völkerrechts haben voraus die Zustände der Fremden sehr verbessert. Die antiken Völker waren noch wie die Barbaren geneigt, die Fremden wie Feinde zu betrachten und für rechtlos zu halten, wenn sie nicht von dem Schutz eines einheimischen Gastfreundes oder von der Schirmhoheit eines mächtigen Patrons gedeckt waren. Die Verbannung in die Fremde, das Exil, galt daher als Verstoßung ins Elend. Auch das Mittelalter behandelte die Fremden noch mit offenbarer Ungunst. Die Fremden waren genötigt, einen unsicheren Rechtsschutz der Landesherren und der Gemeinden mit schwerem Gelde zu bezahlen; wollten sie ihr Vermögen wieder aus dem Lande wegziehen, so mussten sie auch den Wegzug mit Prozenten des Vermögenswertes erkaufen; starben sie in dem für sie fremden Lande, so pflegte die Herrschaft auch auf ihre Verlassenschaft zu greifen und dieselbe wie herrenloses Gut an sich zu ziehen oder doch die Wegfahrt der Erben mit erheblichen Abzügen zu belasten.

Das alles ist anders und besser geworden. Die Fremden werden nun in der zivilisierten Welt in ihren Menschenrechten geachtet und in den wichtigsten Beziehungen des Privatrechts und des Verkehrs den Einheimischen durchweg gleichgestellt. Die Barbarei des Wildfangsund des Heimfallsrechts ist endlich aus Europa verschwunden. Zahlreiche Staatenverträge haben die Abzugsrechte gänzlich abgeschafft und sichern die Freizügigkeit. Der deutsche Privatmann lebt in Paris oder in New-York oder in Calcutta ebenso sicher wie in Berlin oder in München. Zahllose Fremde aus allen Ländern der Welt wohnen in allen Weltteilen untereinander gemischt friedlich beisammen und fühlen sich in Person, Vermögen und Verkehr nicht minder geschützt als in der Heimat. Mit dem Aufschwung der Transportmittel hat auch die gemeinsame Rechtsbildung Schritt gehalten. Auch sie hat die nationale Isoliertheit durchbrochen und ein internationales Verkehrsrecht geschaffen, von dem sich kein Staat abschließen kann. Wollte er dasselbe missachten, so würde er nicht bloß die Missbilligung der zivilisierten Welt auf sich laden, sondern auch in Gefahr sein, zur Rechenschaft gezogen zu werden, damit er lerne, in den Fremden die Menschen und in dem Verkehr der Nationen die Gemeinschaft der Völker zu achten. Der Gedanke des Weltbürgerrechts, den Kant als eine ideale Hauptforderung des neuen Völkerrechts ausgesprochen, hat heute schon zum Teil eine reale Wahrheit, und dieses Weltbürgerrecht ist so wenig unverträglich mit dem besonderen Staatsbürgerrecht, als dieses mit dem Gemeinde- und Ortsbürgerrecht.

Nur in dem Inneren der großen Kontinente von Asien und besonders von Afrika, wohin die Zivilisation noch nicht mit Macht vorgedrungen ist, dauert einstweilen noch die früher allgemeine Verneinung des Fremdenrechtes fort, gewiss nicht lange mehr. Mit vollem Recht nimmt sich jeder Staat seiner Bürger auch in der Fremde insofern an, als dieselben gegen Rechtsverweigerung und Gewalttat seines Schutzes bedürfen. Der Staatsschutz ist nicht an die Grenzen des Staatsgebietes gebannt. Die Verbindung der Staaten und die Einheit der Menschheit zeigen sich auch darin, dass die schützenden Arme der Staatsgewalt überall hin auf der Erdoberfläche soweit sich ausstrecken, als es mit der rechtlichen Selbständigkeit anderer Staaten verträglich ist. Dieser staatliche Rechtsschutz in der Fremde ist zuweilen von mächtigen Staaten anmaßend und übermütig überspannt worden, aber im Großen und Ganzen ist es doch ein großer Fortschritt eines wirksamen Völkerrechts, dass der internationale Verkehr und die Rechtssicherheit der Fremden nicht der Willkür einer launischen Staatsgewalt Preis gegeben und Staaten, welche diese Rechte verletzen, zur Genugtuung und Entschädigung angehalten werden.

Selbst die völlige Abschließung und Isoliertheit eines Staates wider jeden Fremdenverkehr, in früherer Zeit als ein selbstverständliches Recht eines souveränen Staates betrachtet, erscheint dem heutigen Rechtsbewusstsein als eine Verletzung des natürlichen Menschenrechts, welches für alle Nationen einen gesicherten Rechtsverkehr fordert, damit die Menschenanlage zu voller und reicher Entfaltung gelangen und so die Bestimmung des Menschengeschlechts erfüllt werden könne. In den letzten Jahrhunderten hatte sich so die ostasiatische Welt gegen die europäisch-amerikanische völlig abgeschlossen. Die chinesischen und japanischen Seehäfen und Handelsstädte blieben lange Zeit den Schiffen und Kaufleuten der christlichen Nationen versperrt. Aber in unseren Tagen sind auch diese trennenden Schranken vor der zwingenden Macht des erstarkten menschlichen Völkerrechts gefallen und die ostasiatischen Reiche in die Handels- und Verkehrsgemeinschaft mit den Europäern und Amerikanern eingetreten. Im Jahre 1842 hat England das chinesische Weltreich zuerst genötigt, in dem Frieden von Nanking seine Häfen wieder zu öffnen, und im Jahre 1858 haben die Vereinigten Staaten von Nordamerika zuerst wieder Japan dem Weltverkehr erschlossen. Seither berühren sich und wirken aufeinander die christlich-moderne und die ostasiatische alte Zivilisation, und das Völkerrecht hat wiederum einen gewaltigen Fortschritt zum allgemeinen Weltrecht gemacht.

Gemeinschaft der Gewässer.

Freie Schifffahrt. Würde sich die Luft nicht jeder menschlichen Absperrung im Großen entziehen, so hätte sicherlich die souveräne Selbstsucht der Einzelstaaten auch die Luft über ihrem Lande als ihr ausschließliches Eigentum anzusprechen hier oder dort den Versuch gemacht. Aber die Staaten haben keine Gewalt über die mächtige Bewegung der Luftströme, welche unbekümmert um alle Landesgrenzen ihren Weg nehmen. Auch das Meer und die öffentlichen Gewässer sind von der Natur miteinander verbunden und, wenn sie auch die Länder zuweilen trennen, so dienen sie doch zugleich, den Verkehr der verschiedenen Nationen zu erleichtern. Sie verbinden auch die Küsten und Ufer, welche sie bespülen. Da haben es aber die Staaten wirklich lange versucht, ihre Alleinherrschaft möglichst weit auch über die Gewässer auszudehnen und die Freigebigkeit der gemeinsamen Natur ausschließlich für sich auszubeuten. Sogar über das offene Meer hin wollte die mittelalterliche Staatshoheit ihr Eigentum ausbreiten. Die Republik Genua nahm über das ligurische, Venedig über das adriatische Meer eine ausschließliche Seeherrschaft in Anspruch. Die Könige von Spanien und Portugal behaupteten, die westindischen Meere gehören ihnen allein zu, weil der Papst Alexander VI., dem diese Meere so wenig als die westindischen Länder jemals gehört hatten, ihnen dieselben geschenkt habe. Als Hugo de Groot zuerst diese sinnlose Anmaßung widerlegte und für die „Freiheit der Meere“ seine Fürsprache unternahm, musste er noch mancherlei hergebrachte Missbräuche schonen. Lange nachher noch und bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein wollte England über die Meere, welche die Großbritannischen Inseln umschließen, eine ausschließliche Seehoheit behaupten.

Dem langsamen, aber stätigen Wachstum der völkerrechtlichen Erkenntnis haben endlich alle diese anmaßenden Übergriffe weichen müssen. In dem heutigen Rechtsbewusstsein der zivilisierten Welt haben die beiden wichtigen Sätze feste Wurzeln:

Kein Staat hat eine besondere Seehoheit über die offene See. Die untereinander verbundenen Meere sind der freien Schifffahrt aller Nationen offen.

Vor wenig Jahren erst sind einige letzte Reste der älteren selbstsüchtigen Beschränkung und Ausbeutung weggeräumt worden. Das Marmormeer, obwohl es von den türkischen Küsten umschlossen ist und seine enge Einfahrt leicht von den Dardanellenschlössern beherrscht werden kann, und das Schwarze Meer, welches Russland für sich in Beschlag zu nehmen bemüht war, sind durch die Friedensschlüsse von Adrianopel (1829) und Paris (1856) der freien Schifffahrt aller Nationen geöffnet worden. Noch im Jahre 1841 wurde der Sundzoll, den Dänemark von den Seefahrern zwischen der Nordsee und der Ostsee seit Jahrhunderten erhob, als herkömmliches und in vielen Staatsverträgen bestätigtes Recht von den meisten Seemächten anerkannt. Aber als endlich die Vereinigten Staaten erklärten, sie werden dieses geschichtliche Recht, welches dem natürlichen Recht der freien Seefahrt widerstreite, nicht ferner respektieren, ließ sich auch Dänemark willig auf den anerbotenen Loskauf mit den europäischen Staaten ein. Die Freiheit der Meere ward nun auch in diesem Falle anerkannt.

Nachdem einmal der natürliche Zusammenhang der öffentlichen Gewässer und ihre Bestimmung, der Schifffahrt aller Nationen zu dienen, erkannt und anerkannt war, führten diese Gedanken zu weiteren Befreiungen. Man musste zugestehen, dass die Gebietshoheit sich nicht ganz auf den festen Erdboden beschränken lässt. Mehr noch als der nasse Küstensaum am Meer, und als die Buchten und Reeden, welche vom Festland her teilweise beherrscht werden, gehören die großen Ströme und Flüsse, welche durch ein Land fließen oder seine Grenze bilden, und die Häfen, welche durch öffentliche Werke geschützt sind, damit sie hinwieder die Schiffe schützen können, einem bestimmten Staatsgebiete zu und sind der Aufsicht und Sorge des Einzelstaates unterworfen. Sie sind ein fließender Teil des Landes, und nicht wie das offene Meer frei von jeder besonderen Staatshoheit.

Allein neben jener Zuteilung zu einem Sondergebiet muss auch die natürliche Verbindung der schiffbaren Ströme, Flüsse, Seen, Häfen mit der offenen See beachtet werden, und insoweit ist jene ausschließliche Gebietshoheit durch die Rücksicht auf die Verkehrsgemeinschaft zu ermäßigen und abzuändern. Von dem freien und offenen Meer her fahren die Schiffe der verschiedenen Nationen in die Seehäfen und in die Flüsse der Staaten ein. Die Freiheit des internationalen Verkehrs wäre gehemmt und die Gemeinschaft in der Benutzung öffentlicher Gewässer wäre gestört, wenn jeder Staat willkürlich alle seine Häfen und Flüsse für fremde Schiffe unzugänglich machen dürfte. Wenn ein Fluss durch mehrere Staatsgebiete hindurchfließt, um sich ins Meer zu ergießen, so könnten die einen Staaten, insofern ihre Gebietshoheit nicht beschränkt würde, die anderen von dem Seeverkehr absperren, und die Gewässer würden ihrer natürlichen Bestimmung, die Nationen zu verbinden, entfremdet.

Zuerst wurde diese neue Forderung des Völkerrechts, dass der Zusammenhang der öffentlichen Gewässer beachtet und die Freiheit der Schifffahrt geschützt werde, im Pariser Frieden von 1814 in Anwendung auf die Rheinschifffahrt ausgesprochen und zugleich eine allgemeine Durchführung des Prinzips auf allen europäischen Flüssen in Aussicht gestellt. Es war hauptsächlich das Verdienst des Preußischen Gesandten, Wilhelms von Humboldt, diesen Fortschritt der völkerrechtlichen Verkehrsgemeinschaft anzutragen. Die Wiener Kongressakte von 1815 (Art. 108 ff.) verkündete sodann die Freiheit der Schifffahrt auf allen schiffbaren Flüssen, welche zwei oder mehrere Gebiete durchströmen, und wendete diesen Grundsatz ausdrücklich auch auf die schiffbaren Nebenflüsse des Rheins an, ferner auf die Schelde, deren Mündungen lange Zeit durch die Holländer für die belgischen Schiffe gesperrt waren, die Maas, die Elbe, die Oder, die Weser, die Weichsel und den Po. Von da an mussten allmählig die mancherlei aus dem Mittelalter überlieferten Flusszölle der wachsenden Freiheit weichen und sowohl die Uferstaaten als die Seemächte hatten nun ein festes Prinzip gewonnen, von welchem aus sie alle herkömmlichen Beschwerden und Gebühren bekämpften, durch welche der Schifffahrtsverkehr belastet und gehemmt war. Nur solche Gebühren blieben gerechtfertigt, welche als Gegenleistung erschienen für notwendige oder nützliche Dienste. Später erst nahmen die Donaustaaten das neue Prinzip an. Aber endlich wurde durch den Pariser Frieden von 1856 auch die Donau den Schiffen aller Nationen geöffnet.

Die Logik des Gedankens nötigt uns, dieselbe Freiheit der Schifffahrt auch bezüglich der Flüsse zu fordern, welche nur durch Ein Staatsgebiet fließen, aber, indem sie ins Meer münden, von Natur dem Weltverkehr dienen. Diese Forderung ist aber zurzeit noch nicht allgemein anerkannt. Mancher Staat verweigert heute noch fremden Schiffen die Benutzung seiner Eigenflüsse, während er für seine Schiffe die freie Schifffahrt auf Flüssen fordert, deren Wasser nirgends seine Ufer bespült, die durch mehrere fremde Staatsgebiete fließen. Das ist ein auffallender und grober Widerspruch. Weshalb sollte Ein Staat mehr Recht haben an seinem Eigenfluss, als die sämtlichen Uferstaaten zusammen an ihrem Gemeinfluss? Wenn diese genötigt sind, ihre Flüsse dem Weltverkehr zu öffnen, warum sollte jener seine Flüsse gegen den Welthandel absperren dürfen? Wie sollten die fremden Schiffe, welche völkerrechtlich befugt sind, einen Gemeinfluss zu befahren, diese Befugnis verlieren, wenn in Folge von Gebietsabtretungen, Ein Staat in den Besitz des ganzen Flusses gelangt? Sollte z. B. der Po der Schifffahrt offenstehen, so lange er durch mehrere Staatsgebiete fließt, und abgesperrt werden können, wenn er ganz und gar in den Besitz des Königreichs Italien kommt? Der Mississippi war im vorigen Jahrhundert noch ein Gemeinstrom, an dem auch England und Spanien Teil hatten und gehört heute ganz den Vereinigten Staaten zu. Hat er infolgedessen seine Natur verändert und ist seine Bedeutung für den Weltverkehr geringer geworden? Jene Unterscheidung zwischen der freien Schifffahrt auf mehrstaatlichen Weltströmen und der unfreien Schifffahrt auf einstaatlichen Weltströmen ist also unhaltbar.

Vermittlung in Streitfällen. Schiedsrichterliches Verfahren.