Allgemeine Staatslehre - Prof. Johann Caspar Bluntschli - E-Book

Allgemeine Staatslehre E-Book

Prof. Johann Caspar Bluntschli

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Beschreibung

Bluntschli hat sich um die Staatswissenschaft in Deutschland unvergängliche Verdienste erworben. Er hat als Schriftsteller und als akademischer Lehrer, sowie in seiner parlamentarischen Tätigkeit auf die Verbreitung der Erkenntnis, des Staates, seiner Einrichtungen und seiner Wirksamkeit einen weitgreifenden, wohltätigen Einfluss geübt. Sein allgemeines Staatsrecht insbesondere war ein Erfolg, wie ihn kein anderes staatswissenschaftliches Werk der früheren Zeit und der Gegenwart aufzuweisen hat. Das bekannteste Buch Bluntschlis, das sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts viele Freunde erworben hat, da es sich wegen seiner Klarheit und Sachlichkeit zu einem Hand - und Lesebuch auch für Laien eignet, erscheint in dieser fünften Auflage in völlig veränderter Gestalt. Der hier vorliegende erste Band behandelt die allgemeine Staatslehre, den Begriff des Staates, seine inneren Grundlagen in der Natur der Menschen und Völker, wie seine äußeren natürlichen Bedingungen. Er betrachtet die Gesetze und Erscheinungen seines Werdens und Vergehens, seinen Zweck und seine Formen, immer mit kurzen historischen Rückblicken, und behandelt endlich das Wesen der Souveränität

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Seitenzahl: 789

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Allgemeine Staatslehre

 

PROF. JOHANN CASPAR BLUNTSCHLI

 

 

 

 

 

 

 

Allgemeine Staatslehre, J. C. Bluntschli

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849662547

 

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875>, abgerufen am 02.08.2022. Der Text wurde lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz CC-BY-SA-4.0. Näheres zur Lizenz und zur Weiterverwendung der darunter lizenzierten Werke unter https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de. Der Originaltext aus o.a. Quelle wurde so weit angepasst, dass wichtige Begriffe und Wörter der Rechtschreibung des Jahres 2022 entsprechen.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Vorwort.1

Einleitung.2

Erstes Kapitel. Die Staatswissenschaft.2

Zweites Kapitel. Wissenschaftliche Methoden.5

Drittes Kapitel. Allgemeine und besondere Staatswissenschaft.9

Erstes Buch. Der Staatsbegriff.12

Erstes Kapitel. Staatsbegriff und Staatsidee. Der allgemeine Staatsbegriff.12

Zweites Kapitel. Die menschliche Staatsidee. Das Weltreich.21

Drittes Kapitel. Entwicklungsgeschichte der Staatsidee. Die antike Welt.30

Viertes Kapitel. Das Mittelalter.34

Fünftes Kapitel. Die moderne Staatsidee.41

Sechstes Kapitel. Hauptunterschiede des modernen Staatsbegriffs von dem antiken und dem mittelalterlichen Staatsbegriff.48

Siebtes Kapitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Staatslehre.55

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Staats in der Menschen- und Volksnatur.67

Erstes Kapitel. I. Die Menschheit, die Menschenrassen und die Völkerfamilien.67

Zweites Kapitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.72

Drittes Kapitel. Nationale Rechte.78

Viertes Kapitel. Die nationale Staatenbildung und das Nationalitätsprinzip.81

Fünftes Kapitel. Die Gesellschaft.92

Sechstes Kapitel. Die Stämme.94

Siebtes Kapitel. Kasten. 96

Achtes Kapitel. Die Stände.101

Neuntes Kapitel. Der Klerus.104

Zehntes Kapitel. Der französische Adel.109

Elftes Kapitel. Der englische Adel.119

Zwölftes Kapitel. Der deutsche Herrenadel.126

Dreizehntes Kapitel. Deutscher ritterschaftlicher Adel.131

Vierzehntes Kapitel. Der Bürgerstand.136

Fünfzehntes Kapitel. Der Bauernstand.143

Sechzehntes Kapitel. Die Sklaverei und ihre Aufhebung.147

Siebzehntes Kapitel. Das Prinzip der modernen Klassen.153

Achtzehntes Kapitel. Die einzelnen Klassen.156

Neunzehntes Kapitel. Verhältnis des Staates zur Familie.165

Zwanzigstes Kapitel. Die Frauen.174

Einundzwanzigstes Kapitel. Verhältnis des Staats zu den Individuen.179

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Die Staatsbürger im engeren Sinne.187

Drittes Buch. Die Grundlagen des Staats in der äußeren Natur. Das Land.193

Erstes Kapitel. Das Klima.193

Zweites Kapitel. Bodengestalt und Naturerscheinungen.197

Drittes Kapitel. Fruchtbarkeit des Bodens.200

Viertes Kapitel. Das Land.205

Fünftes Kapitel. Von der Gebietshoheit. (Sogenanntes Staatseigentum.)211

Sechstes Kapitel. Einteilung des Landes.215

Siebtes Kapitel. Verhältnis des Staats zum Privateigentum.218

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des Staates.226

Erstes Kapitel. Einleitung.226

Zweites Kapitel. Ursprüngliche geschichtliche Entstehungsformen.228

Drittes Kapitel. Sekundäre Entstehungsformen.233

Viertes Kapitel. Abgeleitete Entstehungsformen.240

Fünftes Kapitel. Untergang der Staaten.242

Sechstes Kapitel. Spekulative Theorien.245

Siebtes Kapitel. Der Staat als göttliche Institution.247

Achtes Kapitel. Die Theorie der Gewalt.253

Neuntes Kapitel. Die Vertragstheorie.255

Zehntes Kapitel. Der organische Staatstrieb und das Staatsbewusstsein.260

Fünftes Buch. Der Staatzsweck.263

Erstes Kapitel. Ist der Staat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?263

Zweites Kapitel. Falsche Bestimmung des Staatszwecks.267

Drittes Kapitel. Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des Staatszwecks.270

Viertes Kapitel. Der wahre Staatszweck.273

Sechstes Buch. Die Staatsformen.280

Erstes Kapitel. Die Einteilung des Aristoteles.280

Zweites Kapitel. Der sogenannte gemischte Staat.283

Drittes Kapitel. Neuere Fortbildung der Theorie.286

Viertes Kapitel. Das Prinzip der vier Grundformen.288

Fünftes Kapitel. Das Prinzip der vier Nebenformen.291

Sechstes Kapitel. Die (Ideokratie) Theokratie.294

Siebtes Kapitel. Monarchische Staatsformen.303

Achtes Kapitel. Hellenisches und altgermanisches Geschlechtskönigtum.306

Neuntes Kapitel. Altrömisches Volkskönigtum.312

Zehntes Kapitel. Das römische Kaisertum.316

Elftes Kapitel. Fränkisches Königtum.321

Zwölftes Kapitel. Die Lehensmonarchie und die ständische beschränkte Monarchie.327

Dreizehntes Kapitel. Die neuere absolute Monarchie.336

Vierzehntes Kapitel. Die konstitutionelle Monarchie.342

Fünfzehntes Kapitel. Falsche Vorstellungen von der konstitutionellen Monarchie.369

Sechzehntes Kapitel. Das monarchische Prinzip und der Begriff der konstitutionellen Monarchie.374

Siebzehntes Kapitel. Die Aristokratie.381

Achtzehntes Kapitel. Die römische Aristokratie.386

Neunzehntes Kapitel. Bemerkungen über die Aristokratie.392

Zwanzigstes Kapitel. Demokratische Staatsformen.399

Einundzwanzigstes Kapitel. Beurteilung der unmittelbaren Demokratie.403

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Die repräsentative (moderne) Demokratie, die heutige Republik.407

Dreiundzwanzigstes Kapitel. Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie.416

Vierundzwanzigstes Kapitel. Zusammengesetzte Staatsformen.421

Siebtes Buch. Staatshoheit und Staatsgewalt (Souveränität), ihre Gliederung. Staatsdienst und Staatsamt.425

Erstes Kapitel. Der Begriff der Staatsgewalt (Souveränität).425

Zweites Kapitel. Staatssouveränität (Volkssouveränität) und Regentensouveränität.429

Drittes Kapitel. Inhalt der Staatssouveränität.437

Viertes Kapitel. Die Fürstensouveränität.442

Fünftes Kapitel. Die Sonderung der Gewalten.444

Sechstes Kapitel. Ältere Unterscheidung der staatlichen Funktionen.446

Siebtes Kapitel. Das moderne Prinzip der Sonderung der Gewalten.449

Achtes Kapitel. Staatsdiener und Staatsämter.457

Neuntes Kapitel. Besetzung der Staatsämter.462

Zehntes Kapitel. Rechte und Verpflichtungen der Staatsbeamten.469

Elftes Kapitel. Ende des Staatsdienstes.478

 

Vorwort.

 

Im Jahr 1852 ist dieses Werk zuerst unter dem Titel erschienen: „Allgemeines Staatsrecht geschichtlich begründet“ in einem Bande. Seither hat dasselbe mehrere Auflagen erlebt und manche Erweiterung und Verbesserung im Einzelnen erfahren.

Als eine fünfte Auflage nötig wurde, fasste ich den Entschluss, diese Staatslehre durch die Aufnahme der Politik zu vervollständigen und in drei Abteilungen

I. Allgemeine Staatslehre,

II. Allgemeines Staatsrecht,

III. Politik

den Fortschritten der Wissenschaft gemäß darzustellen. Das bisherige Werk musste infolgedessen gänzlich umgearbeitet werden. Die beiden ersten Bände entsprechen großenteils den beiden Bänden des früheren Allgemeinen Staatsrechts. Nur habe ich die gemeinsame Grundlage des Staatsrechts und der Politik in dem ersten Bande als Allgemeine Staatslehre vorausgeschickt. Zu diesem Behuf habe ich auch die bisher nicht beachtete Lehre vom Staatszweck neu hinzugefügt und die Begriffe der Souveränität und die allgemeine Institution des Staatsamts in diesen ersten Band aufgenommen. Dagegen habe ich die bisher im ersten Bande enthaltene Lehre von der Gesetzgebung nun dem zweiten Bande zugewiesen, welcher als Allgemeines Staatsrecht erscheint.

In diesen beiden ersten Bänden ist vieles im Einzelnen neu bearbeitet. Der dritte Band Politik ist ganz neu.

Ich habe in diesem für wissenschaftlich Gebildete, insbesondere auch für Studierende der Staats- und Rechtswissenschaft bestimmten Werke die Ergebnisse vieljähriger Arbeit und wiederholten Nachdenkens niedergelegt und betrachte dasselbe als den schriftstellerischen Abschluss eines reifen der Wissenschaft und der Praxis gewidmeten Lebens. Ich hoffe, dass dasselbe eine ebenso günstige Aufnahme finden werde, wie die früheren Auflagen.

Heidelberg, 1. Mai 1875.

Bluntschli.

Einleitung.

Erstes Kapitel. Die Staatswissenschaft.

Unter Staatswissenschaft im eigentlichen Sinne verstehen wir die Wissenschaft, deren Gegenstand der Staat ist, welche den Staat in seinen Grundlagen, in seinem Wesen, seinen Erscheinungsformen, seiner Entwicklung zu erkennen und zu begreifen sucht.

In diesem Sinne gehören manche Wissenschaften, welche man zuweilen den Staatswissenschaften beizählt, nicht zu diesen, obwohl sie auch eine Beziehung auf den Staat haben und immerhin als Hilfswissenschaft des Staatslebens mit in Betracht kommen, wie insbesondere:

a) nicht die Geschichte einer Nation eines Volkes, insofern dieselbe nicht ausschließlich Staatsgeschichte ist, sondern zugleich die allgemeinen Erlebnisse eines Volkes oder die Tat einzelner Personen darstellt, die Geschichte der Kunst und Wissenschaft, der Wirtschaft und der Sitten, die diplomatischen und politischen Kämpfe, die Kriegsereignisse darstellt;

b) selbst nicht die Statistik, inwiefern sie sich nicht auf die staatlichen Zustände beschränkt, sondern auch die gesellschaftlichen und Privatzustände mit umfasst;

 c) ebenso wenig die Nationalökonomie, insofern sie die wirtschaftlichen Gesetze erforscht, welche für jedermann — nicht bloß für den Staat — gelten;

d) noch die Lehre von der Gesellschaft, insofern das Leben der Gesellschaft sich selbständig bewegt, nicht als Staatsleben erscheint.

Die alten Griechen nannten die gesamte Staatswissenschaft Politik. Wir unterscheiden Staatsrecht und Politik sorgfältiger als zwei besondere Wissenschaften, und fügen denselben überdem noch manche besonderen Lehren unter eigenem Namen bei, wie z. B. die staatliche Statistik, das Verwaltungsrecht, das Völkerrecht, die Polizeiwissenschaft u. s. f.

Staatsrecht und Politik betrachten beide den Staat im Großen und Ganzen, aber jede der beiden Wissenschaften betrachtet ihn von einem anderen Standpunkt aus und nach anderer Richtung. Um den Staat gründlicher zu erkennen, zerlegt die Wissenschaft den Staat in die beiden Hauptseiten seines Daseins und Lebens. Sie untersucht die Teile, damit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissenschaftlichen Interesse entspricht das praktische. Die Klarheit, das Maß und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der Reichtum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit, wenn sie in ihrer Eigentümlichkeit geschaut und erwogen wird.

Die Wissenschaft des Staatsrechts betrachtet den Staat in seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie stellt die Organisation des Staates dar und die dauerhaften Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz, die Notwendigkeit seiner Verhältnisse. Der Staat, wie er ist, in seinen geordneten Verhältnissen, das ist das Staatsrecht.

Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Staat in seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist auf die Ziele hin, nach denen das öffentliche Streben sich bewegt und lehrt die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen, sie erwägt die Mittel, mit welchen die begehrten Zwecke zu erlangen sind, sie beobachtet die Wirkungen auch des Rechts auf die Gesamtzustände und überlegt, wie die schädlichen Wirkungen zu vermeiden, wie die Mängel der bestehenden Einrichtungen zu heben sind. Das Staatsleben, die Staatspraxis, das ist die Politik.

Das Recht verhält sich also zur Politik wie die Ordnung zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zu der mannigfaltigen Bewegung in denselben, wie der Körper zu den Handlungen desselben und zu dem Geist, der sich mannigfaltig ausspricht. Das Staatsrecht prüft die Rechtmäßigkeit der Zustände, die Politik prüft die Zweckmäßigkeit der Handlung.

Sowohl in dem Recht als in der Politik ist ein sittlicher Gehalt. Der Staat ist ein sittliches Wesen und er hat sittliche Lebensaufgaben. Aber Recht und Politik werden nicht von dem Sittengesetz allein und nicht vollständig von dem Sittengesetz bestimmt. Sie sind als Wissenschaften nicht einzelne Kapitel der Sittenlehre. Vielmehr haben sie ihre Grundlage im Staat und ihre Bestimmung für den Staat. Sie sind Staatswissenschaften. Die Sittenlehre aber ist keine Staatswissenschaft, weil ihre Grundgesetze nicht aus dem Staat zu erklären sind, sondern eine breitere Basis in der Menschennatur überhaupt und eine höhere Begründung in der göttlichen Weltordnung und der göttlichen Bestimmung des Menschengeschlechts haben.

Man darf Staatsrecht und Politik nicht absolut voneinander trennen. Der wirkliche Staat lebt; d. h. er ist Verbindung von Recht und Politik. Auch das Recht ist nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung der Politik will wieder zur Ruhe kommen. Es gibt nicht bloß ein Rechtssystem, sondern auch eine Rechtsgeschichte; und es gibt eine Politik der Gesetzgebung. Zwischen beiden Seiten ist eine Wechselwirkung wahrzunehmen, wie überall, wo organische Wesen erscheinen. Damit wird jener Unterschied nicht beseitigt, sondern besser erklärt. Die Rechtsgeschichte unterscheidet sich gerade dadurch von der politischen Geschichte, dass jene sich darauf beschränkt, den Entwicklungsgang der normalen, fest gewordenen Existenz des Staates nachzuweisen und die Entstehung und Veränderung der dauernd gewordenen Institutionen und Gesetze darzustellen, diese aber den Hauptnachdruck auf die wechselnden Schicksale und Erlebnisse des Volkes, die Motive und Handlungsweise der politischen Personen, die Taten und Leiden beider legt, und so das reich bewegte Leben schildert. Der oberste und reinste Ausdruck des Staatsrechts ist das Gesetz (die Verfassung), die klarste und lebendigste Äußerung der Politik ist die praktische Leitung des Staates selbst (die Regierung). Die Politik ist daher mehr noch Kunst als Wissenschaft. Das Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So übernimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Erstarrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne die Grundlagen und die Schranken des Rechtes würde die Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zerstörungswut untergehen.

Lediglich Gründe der Klarheit und Vereinfachung bestimmen uns, den beiden Staatslehren Staatsrecht und Politik noch als dritte, oder vielmehr erste Abteilung der Staatswissenschaft die Allgemeine Staatslehre vorauszuschicken. Wir betrachten hier noch den Staat im Ganzen, ohne vorerst die beiden Seiten in ihm, die unterlägliche des Rechts und die eigenschaftliche der Politik zu unterscheiden. Der Staatsbegriff, seine Grundlagen und Bestandteile (Volk und Land), seine Entstehung, sein Zweck, die Hauptformen seiner Verfassung, der Begriff und die Gliederung der Staatsgewalt, bilden den Inhalt der allgemeinen Staatslehre, welche hinwieder den beiden besonderen Staatswissenschaften, dem Staatsrecht und der Politik, zu Grunde liegt.

In diesem Sinn soll der erste Teil dieses Werks der allgemeinen Staatslehre, der zweite dem Staatsrecht und der dritte der Politik gewidmet sein.

 

 

Zweites Kapitel. Wissenschaftliche Methoden.

 

Die wissenschaftliche Betrachtung des Staats kann von verschiedenem Standpunkt aus und in verschiedener Weise unternommen werden. Wir unterscheiden zwei innerlich begründete Methoden der wissenschaftlichen Untersuchung und zwei falsche fehlerhafte Methoden, welche als einseitige Abarten der ersten beiden Arten erscheinen. Wir bezeichnen als richtige Methoden die philosophische und die historische Methode. Die Abarten entstehen aus der extremen Übertreibung je der einen vorherrschenden Seite jener ersteren Methoden; aus der philosophischen ist so die bloß abstrakt-ideologische, aus der historischen die einseitig-empirische wie aus dem Urbild das Zerrbild durch Verderbnis hervorgegangen.

Der Gegensatz der Methoden schließt sich an teils an die Eigenschaften sowohl des Rechtes als der Politik, teils an die Verschiedenheit der geistigen Anlagen derer, welche in dieser Wissenschaft gearbeitet haben.

Alles Recht und alle Politik nämlich hat eine ideale Seite, einen sittlichen und geistigen Gehalt in sich, aber beide ruhen zugleich auf einem realen Boden, und haben auch eine leibliche Gestalt und Geltung. Die letztere Seite ist von der abstrakten Ideologie verkannt und übersehen worden. Sie pflegt sich ein abgezogenes Staatsprinzip auszudenken, und daraus eine Reihe logischer Folgerungen zu ziehen, ohne Rücksicht auf den wirklichen Staat und dessen reale Verhältnisse. Selbst Platon ist in seiner Republik in diesen Fehler verfallen und daher zu Sätzen gekommen, welche der Natur und den Bedürfnissen der Menschen geradezu widersprechen. Indessen war Platon doch durch den Reichtum seines Geistes und seinen Sinn für die Schönheit der Form vor der armseligen Lehre ausgedörrter Formeln bewahrt geblieben, welche uns in den Staatslehren der neueren so häufig begegnen. Der Staat als ein sittlich organisches Wesen ist nicht ein Produkt der bloßen kalten Logik, und das Recht des Staates ist nicht eine Sammlung spekulativer Sätze.

Diese Methode führt, wenn sie als wissenschaftliche Untersuchung betrieben wird, leicht zu unfruchtbaren Resultaten; wenn sie aber in die Praxis übertritt, zu der gefährlichsten Geltendmachung fixer Ideen und zur Auflösung und Zerstörung des bestehenden Staats. In Zeiten der Revolution, wo die losgebundenen Leidenschaften sich umso lieber solcher abstrakten Lehren bemächtigen, je mehr sie mit deren Hilfe die Schranken des Gesetzes zu durchbrechen Hoffnung haben, erhalten derlei ideologische Sätze leicht eine ungeheure Macht, und werfen, unfähig einen neuen Organismus hervorzubringen, mit dämonischer Gewalt alles vor sich nieder. Die Französische Revolution in ihren leidenschaftlichen Phasen hat der Welt entsetzliche Belege für die Wahrheit dieser Beobachtung vor die Augen geführt: und Napoleon hatte nicht Unrecht zu sagen: „Die Metaphysiker, die Ideologen haben Frankreich zu Grunde gerichtet.“ Die ideologische Auffassung der „Freiheit und Gleichheit“ hat Frankreich mit Ruinen gefüllt und mit Blut getränkt, die doktrinäre Ausbeutung des „monarchischen Prinzips“ hat die politische Freiheit Deutschlands niedergedrückt und seine Machtentwicklung gehemmt, und die abstrakte Durchführung des Nationalitätengrundsatzes hat dem Frieden von ganz Europa bedroht. Die fruchtbarsten und wahrsten Ideen werden verderblich, wenn ideologisch erfasst und dann mit dem Fanatismus der Borniertheit verwirklicht werden.

Der entgegengesetzten Einseitigkeit macht sich die ausschließlich empirische Methode schuldig, indem sie sich bloß an vorhandene äußerliche Form, an den Buchstaben des Gesetzes oder an die tatsächlichen Erscheinungen hält. Diese Methode, welche in der Wissenschaft höchstens durch ihre Sammelwerke einen Wert hat, in denen sie großen Stoff anhäuft, findet in dem Staatsleben häufig, zumal unter bürokratisch gebildeten Beamten, zahlreichen Anhang. Sie gefährdet dann zwar selten unmittelbar die ganze Staatsordnung, wie die ideologischen Gegenfüßler, aber sie setzt sich wie ein Rost an das blanke Schwert der Gerechtigkeit an, umstrickt die öffentliche Wohlfahrt mit Hemmnissen aller Art, verursacht eine Menge kleiner Schäden, entnervt die sittliche Kraft und schwächt die Gesundheit des Staates dergestalt, dass um ihretwillen in kritischen Zeiten seine Rettung überaus erschwert, zuweilen unmöglich gemacht wird. Führt die bloß ideologische Methode, wenn sie praktisch wird, den Staat eher in fieberhafte Stimmungen und Krisen hinein, so hat diese bloß empirische Methode unter derselben Voraussetzung eher chronische Uebel zur Folge.

Die historische Methode unterscheidet sich von der letzteren vorteilhaft dadurch, dass sie nicht bloß das gerade vorhandene Gesetz oder vorhandenen Tatsachen gedankenlos und knechtisch verehrt, sondern den inneren Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die organische Entwicklung des Volkslebens und die in der Geschichte offenbar gewordene sittliche Idee erkennt, nachweist und beleuchtet. Sie geht zwar zunächst von der realen Erscheinung aus, aber sie fasst diese als eine lebendige auf, nicht als eine tote.

Verwandt mit ihr ist die wahrhaft philosophische Methode welche nicht bloß abstrakt spekuliert, sondern konkret denkt und eben darum Idee und Realität verbindet. Während jene ihrer Betrachtung die geschichtliche Erscheinung und Entwicklung zu Grunde legt, geht diese zunächst von der Erkenntnis der menschlichen Seele aus, und betrachtet von da aus die in Geschichte geoffenbarten Äußerungen des menschlichen Geistes.

Nur wenigen Individuen war es vergönnt, diese beiderlei Betrachtungsweisen zugleich in sich zu vereinigen. Die meisten, die sich auf einen höheren wissenschaftlichen Standpunkt erhoben haben, wurden durch ihre natürlichen Anlagen entweder der einen oder der anderen Richtung vorzugsweise zugeleitet. Unter jenen Ersteren verdient Aristoteles voraus unsere Bewunderung, dessen Staatslehre, obwohl in jener jugendlichen Periode der Geschichte der Menschheit geschrieben, welche der reiferen Staatenbildung vorausging, dennoch auf Jahrtausende nach ihm eine der reinsten Quellen staatlicher Weisheit geblieben ist. Der Römer Cicero ahmte zwar in der Form der Begründung und Darstellung die philosophische Weise der darin reicher begabten Griechen nach, den besten Teil des Inhaltes aber schöpfte er mit Recht aus der Fülle praktisch-römischer Politik. Unter den neueren sind der Franzose Bodin, der Italiener Vico und der Engländer Baco de Verulam als frühe Repräsentanten der philosophisch-historischen Methode zu nennen. Cicero ähnlich an hinreißender, schwunghafter Beredsamkeit hat der Engländer Burke die Lehren der englischen Staatswissenschaft ebenso aus der Geschichte und dem Leben seines Volkes gegriffen und in geistreicher und philosophischer Form verherrlicht. Der Italiener Machiavelli, der in seinen Werken die reiche und schwere Lebenserfahrung eines tiefen und klugen Menschenkenners niedergelegt hat, und der Franzose Montesquieu, welcher mit freiem und heiterem Blicke die Welt anschaut und reich ist an feinen Bemerkungen und treffenden Beobachtungen, wechseln in ihren Schriften in der Methode; doch ist jener mehr der historischen, dieser mehr der philosophischen ergeben. Der welsche Schweizer Rousseau und der Engländer Bentham dagegen halten sich, gleich den meisten Deutschen, mehr an die philosophische Methode, verfallen aber häufiger als ihr größeres Vorbild Platon in die einseitigen Verirrungen der bloßen Ideologie.

Es ist somit klar: die beiden Methoden, die historische und die philosophische, bestreiten sich nicht. Sie ergänzen sich vielmehr und korrigieren sich. Der ist sicherlich ein bornierter Historiker, der meint, mit ihm sei die Geschichte abgeschlossen, und es werde kein neues Recht mehr geboren, und der ein eitler und törichter Philosoph, der meint, er sei der Anfang und das Ende aller Wahrheit. Der echte Historiker ist als solcher genötigt den Wert auch der Philosophie anzuerkennen, und der wahre Philosoph ist ebenso darauf hingewiesen auch die zu Rate zu ziehen.

Wohl aber hat jede der beiden Methoden ihre eigentümlichen Vorzüge und hinwieder ihre besonderen Schwächen und Gefahren. Der Hauptvorzug der historischen ist der Reichtum und die Positivität ihrer Resultate; denn die Geschichte ist voll lebendiger Mannigfaltigkeit und zugleich durch und durch positiv. Was der fruchtbarste Denker in seinem Kopfe auszudenken vermag, wird doch immer, verglichen mit den in der Geschichte der Menschheit geoffenbarten Gedanken, nur ein ärmliches Stückwerk sein, und gewöhnlich nur eine unsichere und nebelhafte Gestalt erlangen. Aber daneben besteht allerdings die Gefahr, dass man, dem historischen Bahnen folgend, leicht über der reichen Mannigfaltigkeit der Einheit vergisst und die Einheit verliert, dass man von der Schwere des Stoffes niedergedrückt, und von der Massenhaftigkeit der geschichtlichen Erfahrungen überwältigt wird, dass man insbesondere, von der Vergangenheit angezogenen und gefesselt, den frischen Blick in das Leben der Gegenwart und nach der Zukunft hin verliert. Freilich sind das keineswegs notwendige Folgen der historischen Methode, aber die Geschichte selber zeigt uns, wie häufig Männer, die sich ihr leidenschaftlich hingegeben haben, auf derlei Abwege sich verirren.

Die Vorzüge der philosophischen Methode dagegen sind: Reinheit, Harmonie und Einheit des Systems, vollere Befriedigung des allgemeinen menschlichen Strebens nach Vervollkommnung, Idealität. Ihre Resultate haben einen vorzugsweise menschlichen Charakter, ein vorzugweise ideales Gepräge. Und wieder drohen ihr eigentliche Gefahren, insbesondere dass die Philosophen in dem Streben nach dem einen oft als einfach gedachten Ziele die innere Mannigfaltigkeit der Natur und den reichen Inhalt des realen Daseins folgend, nicht selten statt wirkliche Gesetze zu entdecken, leere Formeln ohne Gehalt, Blase ohne Kern finden, und dem Spiele mit diesen verfallen, dass sie, die natürliche Entwicklung verkennend, unreife Früchte pflücken, wurzellose Bäume in die Erde stecken und in ideologischen Irrwahn versinken. Nur wenigen philosophischen Geistern ist es geglückt, sich von diesen Verirrungen frei zu erhalten.

 

Anmerkung. Diese und verwandte Gedanken habe ich 1841 in der Schrift: „Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen“ in ihrer Beziehung auf die deutsche Wissenschaft näher ausgeführt. Zweite Auflage, Zürich, 1862. Weit früher aber hat der englische Kanzler Bacon die Gebrechen der naturrechtlichen und der positiven Jurisprudenz seiner Zeit gerügt und von der Verbindung der Geschichte mit der Philosophie die nötige Reform der Rechtswissenschaft erwartet.

 

 

Drittes Kapitel. Allgemeine und besondere Staatswissenschaft.

 

Die besondere Staatswissenschaft beschränkt die Untersuchung und Darstellung des Staats auf ein bestimmtes Volk und einen einzelnen Staat, z. B. die alte römische Republik, die neuere englische Verfassung, das heutige deutsche Reich.

Die allgemeine Staatswissenschaft dagegen beruht auf universeller Auffassung nicht eines einzelnen, sondern des Staates. Der besondere Staat geht von einem bestimmten Volke aus, der allgemeine sieht voraus auf die menschliche Natur und von der Menschheit aus. 1

Man fasst die allgemeine Staatslehre und insbesondere das allgemeine Staatsrecht sehr oft als das Produkt idealer Spekulation auf und versucht dasselbe aus einer spekulativen Weltanschauung durch einfache logische Schlussfolgerung herzuleiten. Es sind so mancherlei Systeme entstanden eines sogenannten philosophischen oder natürlichen Staatsrechtes, welches sodann dem sogenannten positiven und historischen Staatsrecht entgegengesetzt wurde.

Ich verstehe den Gegensatz anders. Der Staat muss sowohl philosophisch begriffen als historisch erkannt werden: und das allgemeine Staatsrecht kann so wenig als das besondere dieser zweiseitigen Arbeit entbehren.

Die besondere Staatslehre setzt die allgemeine voraus, wie die besondere Volksart die gemeinsame Menschennatur voraussetzt. Die allgemeine Staatswissenschaft stellt die Grundbegriffe dar, welche in den besonderen Staatslehren zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Die Geschichte, die jene beachtet, ist die Weltgeschichte, nicht die enge Landesgeschichte, welche den besonderen Staat erklärt. In der Weltgeschichte finden wir die Probe der philosophischen Gedanken; und in ihr entdecken wir eine Fülle positiven Gehaltes, welche so oft der bloß spekulativen Betrachtung fehlt. Die Weltgeschichte zeigt uns die verschiedenen Entwicklungsstufen, welche die Menschheit seit ihrer Kindheit durchlebt hat, und auf jeder finden wir eigentümliche Anschauungen vom Staat und verschiedene Staatenbildungen. Sie lehrt uns das Verhältnis verstehen, in die mancherlei Nationen an der gemeinsamen Aufgabe der Menschheit Teil genommen haben.

Aber nicht alle Perioden der Weltgeschichte und nicht alle Völker haben dieselbe Bedeutung für unsere Wissenschaft. Den Staat der Gegenwart, den modernen Staat zu erkennen, ist vornehmlich ihre Aufgabe. Die antiken und mittelalterlichen Staatenbildungen kommen nur als Vorstufen in Betracht und um durch den Gegensatz gegen den heutigen Staat diesen besser ins Licht zu setzen. Den Wert der verschiedenen Völker für die moderne Staatenbildung überhaupt bestimmen wir je nach ihrem Anteil an den Fortschritten der politischen Zivilisation, d. h. eines menschlich geordneten und menschlich freien Gemeinwesens. Die arische Völkerfamilie (Indo-Germanen) ist vorzugsweise für den Staat, wie die semitische für die Religion welthistorisch bestimmend geworden; aber erst in Europa haben es auch die arischen Völker zu einer bewussteren und edleren Staatenbildung gebracht. Sind unter ihnen hinwieder im Altertum die Hellenen und die Römer, im Mittelalter die Germanen voran gegangen, so beruht unsere heutige Staatskultur vornehmlich auf der Mischung der helleno-romanischen und germanischen Elemente. Die Engländer, in denen diese Mischung auch in der Volksrasse am stärksten vollzogen worden ist, sodann die Franzosen, in denen ebenfalls alt-keltische und romanische Elemente mit germanischen gemischt worden, zuletzt die Preußen, in denen germanischer Rechtssinn und männlicher Trotz mit dem Autoritätsbedürfnis und der Fügsamkeit der Slawen verbunden worden, haben einen größeren Anteil daran als viele andere Völker. Das amerikanische Staatsleben ist von dem europäischen abgeleitet, aber es hat nur in Nordamerika eigentümliche Fortschritte gemacht.

Die allgemeine Staatswissenschaft soll also das gemeinsame staatliche Bewusstsein der heutigen zivilisierten Menschheit und die Grundbegriffe und wesentlich gemeinsamen Einrichtungen darstellen, welche in den besonderen Staaten zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Auch das allgemeine Staatsrecht ist keine bloße Lehre, es hat eine positive Wirksamkeit, aber diese Geltung ist nicht eine unmittelbare, da es keinen allgemeinen Staat gibt, sondern eine durch die besonderen Staaten vermittelte. Es hat aber nicht bloß eine ideale, es hat auch eine reale Wahrheit, so gewiss als die Menschheit und die Weltgeschichte keine bloßen Gedankendinge, sondern reale Wahrheiten sind.

 

Anmerkung. Der Gegensatz bei Aristoteles (Rhetor. I. 10. 13.) zwischen νόμος ἴδιος (besonderes Recht) und νόμος ϰοινὁς (gemeines Recht) hat doch noch einen anderen Sinn. Unter jenem versteht er das Recht, welches ein bestimmter Staat für sich hervorgebracht hat, sei es nun geschrieben oder nicht, unter diesem das von Natur gerechte (φύσει ϰοινὸν δέϰαιον) ohne Rücksicht auf staatliche Gemeinschaft.

 

Fußnoten:

 

1 Derselbe Gedanke liegt der römischen Anschauungsweise zu Grunde. L 9. (Gajus) D. de Justitia et Iure:„Omnes populi, qui legibus et moribus reguntur, partim suo proprio partim kommuni omnium hominum jure utuntur. Nam quod quisque populus ipse sibi jus konstituit, id ipsius proprium civitatis est, vocaturque jus zivile; quod vero naturalis ratio inter omnes homines konstituit, id apud omnes peraeque custoditur, vocaturque jus gentium, quasi quo jure omnes gentes utuntur.“

Erstes Buch. Der Staatsbegriff.

Erstes Kapitel. Staatsbegriff und Staatsidee. Der allgemeine Staatsbegriff.

Der Staatsbegriff erkennt und bestimmt die Natur und die wesentlichen Eigenschaften wirklicher Staaten. Die Staatsidee zeigt das Bild des noch nicht verwirklichten, aber anzustrebenden Staates in dem leuchtenden Glanze gedachter Vollkommenheit. Der Staatsbegriff kann nur durch geschichtliche Prüfung gefunden werden; die Staatsidee wird von der philosophischen Spekulation erschaut. Der allgemeine Staatsbegriff wird erkannt, wenn man die vielen wirklichen Staaten, welche die Weltgeschichte hervorgebracht hat, überschaut und die gemeinsamen Merkmale aufsucht. Die höchste Staatsidee wird geschaut, wenn die Anlage der Menschennatur zum Staat erwogen und die höchste denkbare und mögliche Entwicklung dieser Anlage als staatliches Ziel der Menschheit betrachtet wird.

Wenn wir die große Anzahl von Staaten überblicken, welche uns die Geschichte vor die Augen führt, so werden wir einzelne gemeinsame Merkmale aller Staaten sofort gewahr, andere aber stellen sich erst bei näherer Prüfung heraus.

1. Vorerst ist es klar, dass in jedem Staat eine Masse von Menschen verbunden ist. So sehr verschieden auch die Volkszahl der einzelnen Staaten sein kann, indem die einen nur wenige Tausende, andere dagegen viele Millionen Menschen umfassen, so steht doch das fest, dass von Staat erst dann die Rede ist, wenn der Kreis einer bloßen Familie überschritten ist, und sich eine Menge von Menschen (beziehungsweise von Familien, Männer, Weiber und Kinder) vereinigt finden. eine Familie, ein Geschlecht wie das Haus des jüdischen Erzvaters Jakob kann der Kern werden, um den sich mit der Zeit eine größere Menge Menschen ansammelt, aber erst wenn das geschehen ist, erst wenn die einzelne Familie sich in eine Reihe von Familien aufgelöst hat, und die Verwandtschaft zur Völkerschaft erweitert ist, ist eine wirkliche Staatenbildung möglich. Die Horde ist noch nicht Völkerschaft. Ohne Völkerschaft, oder auf den höheren Stufen der Zivilisation, ohne Volk kein Staat.

Eine Normalzahl für die Größe des Volks im Staat gibt es nicht, am wenigsten eine so geringe, wie Rousseau gemeint hat, von nur 10,000 Mann. Im Mittelalter konnten wohl so kleine Staaten sicher und würdig bestehen. Die neuere Zeit treibt zu größerer Staatenbildung an, teils weil die politischen Aufgaben des modernen Staats einer reicheren Fülle von Volkskräften bedürfen, teils weil die gesteigerte Macht der Großstaaten für die Unabhängigkeit und Freiheit der Kleinstaaten leicht gefährlich und bedrohlich wird.

2. Sodann zeigt sich eine dauernde Beziehung des Volkes zum Boden als notwendig für die Fortdauer des Staats. Der Staat verlangt ein Staatsgebiet, zum Volke gehört das Land.

Nomadenvölker, obwohl Häuptlinge an ihrer Spitze stehen, und obwohl sie unter sich das Recht handhaben, bewegen sich doch nur in dem Vorhofe des Staates. Erst die feste Niederlassung derselben bedingt das Staatwerden. Moses hat des jüdische Volk zum Staat erzogen, aber Josua erst hat den jüdischen Staat in Palästina gegründet. Als in den Zeiten der großen Völkerwanderung die Völker ihre Wohnsitze verließen und neue zu erobern unternahmen, befanden sie sich in einem unsicheren Übergangszustand. Der frühere Staat, den sie gebildet hatten, bestand nicht mehr, der neue noch nicht. Der persönliche Verband dauerte noch eine Weile fort, der Zusammenhang mit dem Lande war gelöst. Nur wenn es ihnen gelang, von neuem festen Boden zu gewinnen, so glückte es ihnen eben deshalb, einen neuen Staat herzustellen; die Völker aber, welchen das nicht gelang, gingen unter. So retteten die Athener unter Themistokles auf ihren Schiffen den Staat Athen, weil sie nach dem Sieg die Stadt wieder einnahmen; aber die Kimbern und Teutonen gingen unter, weil sie die alte Heimat verlassen hatten und keine neue erwarben. Sogar der römische Staat wäre untergegangen, wenn sich die Römer nach dem Brande der Stadt nach Veji übergesiedelt hätten.

3. In dem Staat stellt sich die Einheit des Ganzen, die Zusammengehörigkeit des Volkes dar. Im Inneren sind zwar verschiedene Gliederungen möglich mit großer und eigentümlicher Selbständigkeit, wie in Rom der Populus der Patrizier und daneben die Plebes, wie im älteren germanischen Mittelalter die Volksverfassung neben der Lehensverfassung. Der Staat kann auch aus mehreren Teilen zusammengesetzt sein, die in sich selber wieder Staaten bilden, wie aus dem alten deutschen Reich allmählich Territorialstaaten herausgewachsen sind, oder wie in den modernen Bundesstaaten Nordamerikas und der Schweiz und ebenso in dem neuen deutschen Reich ein gemeinsamer Gesamtstaat und eine Anzahl verbündeter Länderstaaten zugleich bestehen. Aber wenn die Gemeinschaft nicht, sei es in ihrem inneren Organismus, einen einheitlichen Zusammenhang besitzt, sei es im Verhältnis zu den auswärtigen Staaten sich als ein zusammengehöriges Ganzes darstellt, so ist kein Staat da.

4. In allen Staaten tritt der Gegensatz zwischen Regierenden und Regierten, oder um uns eines alten, zuweilen missverstandenen und auch wohl missbrauchten Ausdrucks zu bedienen, der aber an und für sich weder gehässig noch unfrei ist, zwischen Obrigkeit und Untertanen, zwar in den mannigfaltigsten Formen, aber immerhin als notwendig hervor. Selbst in der ausgebildetsten Demokratie, in welcher dieser Gegensatz zu verschwinden scheint, ist derselbe dennoch vorhanden. Die Volksgemeinde der athenischen Bürger war die Obrigkeit, und die einzelnen Athener waren im Verhältnis zu jener Untertanen.

Wo es keine Obrigkeit mehr gibt, welche die Autorität besitzt, wo die Regierten den politischen Gehorsam gekündigt haben, und jeder tut wozu ihn die Lust treibt, wo Anarchie ist, da hat der Staat aufgehört. Die Anarchie kann aber, wie alle Negation, so wenig dauern, dass sich aus ihr sofort wieder, wenn auch in roher und oft grausamer despotischer Form, unter jedem lebendigen Volke eine Art von neuer Obrigkeit aufwirft, welche sich Gehorsam erzwingt, und so jenen unentbehrlichen Gegensatz herstellt. Die Kommunisten verneinen zwar denselben in ihren Theorien, aber damit verneinen sie den Staat selbst. Auch ist es ihnen noch unter keinem Volke gelungen, mit Vernichtung des Staates ihren bloß gesellschaftlichen Verband einzuführen, und würde es ihnen je gelingen, vorübergehend die Massen für sich und ihre Plane einzunehmen, so wäre, nach dem Vorbilde der religiösen Kommunisten des XVI. Jahrhunderts, der Wiedertäufer, und nach der inneren Konsequenz der Dinge, mit Sicherheit darauf zu rechnen, dass auch sie wieder eine Herrschaft, und zwar die härteste, die es je gegeben, aufrichten würden.

Bei den slawischen Völkern finden wir die alte Idee, dass nur die Einstimmigkeit aller Gemeindeglieder den Gemeinwillen hervorbringe und nicht die Mehrheit noch eine höhere Stimme entscheide. Das kann aber höchstens als Gemeindeprinzip und auch nur bei einer Nation gelten, in der sich alle leicht und rasch zusammen schließen, nicht aber als Staatsprinzip; denn der Staat muss den unvermeidlichen Widerspruch Einzelner überwältigen.

5. Der Staat ist keineswegs ein lebloses Instrument, nicht eine tote Maschine, sondern ein lebendiges und daher organisches Wesen. Nicht immer wurde diese organische Natur des Staates begriffen. Die politischen Völker hatten freilich eine Vorstellung derselben und erkannten in der Sprache dieselbe willig an. Aber der Wissenschaft blieb die Einsicht in den staatlichen Organismus lange verborgen und heute noch haben manche Staatsgelehrte kein Verständnis dafür. Es ist das Verdienst hauptsächlich der deutschen historischen Rechtsschule, die organische Natur des Volkes und Staates erkannt zu haben. Dadurch wurde sowohl die mathematisch-mechanische Auffassung des Staates welche nur mit Zahlen operierte, und die atomistische Behandlungsweise widerlegt, welche über den Einzelnen das Ganze vergaß. Wie das Ölgemälde etwas anderes ist als eine Anhäufung von farbigen Öltropfen, und eine Statue etwas anderes als eine Verbindung von Körnchen Marmor, und wie der Mensch nicht eine bloße Menge von Blutkügelchen und Zellengefäßen ist, so ist auch das Volk nicht eine bloße Summe von Bürgern und der Staat nicht eine bloße Anhäufung von äußeren Einrichtungen.

Allerdings ist der Staat kein Naturgeschöpf, und daher nicht ein natürlicher Organismus. Er ist ein mittelbares Werk der Menschen. Die Anlage zur Staatenbildung freilich ist schon in der Menschennatur zu finden. Insofern hat der Staat selber eine natürliche Grundlage. Aber die Natur hat es der menschlichen Arbeit und der menschlichen Einrichtung überlassen, jene Staatsanlage zu verwirklichen. Insofern ist der Staat ein Produkt der menschlichen Tätigkeit und seine organische Erscheinung eine Nachbildung des natürlichen Organismus.

Wenn wir den Staat einen Organismus nennen, so denken wir auch nicht an die Tätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fortzupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften der natürlichen Organismen:

a) jeder Organismus ist eine Verbindung von leiblich-materiellen Elementen mit belebt-seelischen Kräften, oder kurz von Seele und Leib.

b) Obwohl das organische Wesen Ein Ganzes ist und bleibt, so ist es doch in seinen Teilen mit Gliedern ausgestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu verschaffen.

c) Der Organismus hat eine Entwicklung von innen heraus und ein äußeres Wachstum.

In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur des Staates:

a) In dem Staat sind der Staatsgeist und der Staatskörper, der Staatswille und die wirkenden Staatsorgane notwendig verbunden zu einem Leben. Der eine Volksgeist, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Staatsgeist. Der eine Volkswille, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen der Menge, ist der Staatswille. Die Staatsverfassung mit ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den Staatswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Staatshaupte, welches regiert, mit mancherlei Behörden und Ämtern, welche die Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerechtigkeit des Staates handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für die gemeinsamen Kultur- und Wirtschaftsinteressen, mit dem Heere, welches die Stärke des Staates bedeutet, diese Staatsverfassung ist der Staatskörper, in dessen Gestalt das Volk sein Gesamtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und Form der Staatsindividuen sind verschieden, ähnlich wie die einzelnen Menschen voneinander verschieden sind. Der Fortschritt der Menschheit beruht wesentlich auf dem Wettstreit der Völker und Staaten, aus denen sie besteht.

b) In der Staatsverfassung offenbart sich auch die Gliederung des Staatskörpers. Jedes Amt und jede staatliche Versammlung ist ein besonderes Glied desselben, welchem eigentümliche Funktionen zukommen. Das Amt ist nicht wie ein Teil einer Maschine, es hat nicht bloße mechanische Tätigkeiten auszuüben, die sich immer gleichbleiben, wie die Räder und die Spindeln einer Fabrik, welche immer dasselbe in gleicher Weise tun. Seine Funktionen haben einen geistigen Charakter und ändern sich im Einzelnen je nach den Bedürfnissen des öffentlichen Lebens, zu deren Befriedigung sie bestimmt sind. Dem Leben dienend sind sie in sich selber lebendig. Wo daher das Leben in dem Amte erstirbt, wo dieses in einen gedankenlosen Formalismus versinkt und sich der Natur einer Maschine annähert, welche ohne Unterscheidung, ohne Berücksichtigung der eigentümlichen und wandelbaren Verhältnisse, die vorliegen, nach festen äußern Gesetzen in regelmäßiger mechanischer Bewegung fortarbeitet, da ist das Amt selbst dem Verderben verfallen, und der in eine Maschine verkommene Staat geht sicher eben deshalb zu Grunde.

Nicht allein der Mensch, welcher in dem Amte wirkt, das Amt selbst hat in sich eine psychische Bedeutung, es lebt in ihm ein seelisches Prinzip. Es gibt einen Charakter, einen Geist des Amtes, der hinwieder auf die Person, welche, wie in dem Körper das Individuum, in dem Amte waltet, einen Einfluss übt. In dem römischen Konsulat lag eine würdevolle Hoheit und Machtfülle, welche auch einen nicht bedeutenden Mann, der zum Konsul erwählt worden war, emporhob, und seine natürlichen Kräfte steigerte. Das Richteramt ist ein so heiliges, der Gerechtigkeit geweihtes, dass diese erhabenen Eigenschaften auch die Seele eines schwächeren Mannes, welcher zum Richter bestellt wird, erfüllen und in ihm den Mut, für das Recht einzustehen, wecken können. Der Geist des Amtes vermag zwar nicht die Natur des Beamten umzuändern, er ist nicht mächtig genug diesen so zu durchdringen, dass jederzeit die persönliche Erfüllung des Amtes der Bedeutung desselben vollkommen entspricht; aber der Beamte verspürt doch jederzeit eine psychische Einwirkung des Amtes auf seinen individuellen Geist und sein Gemüt, und wenn er einen offenen Sinn hat, kann es ihm nicht entgehen, dass in dem Amte selbst eine Seele lebt, welche zwar nun mit seiner Individualität in eine enge Beziehung und in unmittelbare Verbindung getreten ist, aber immerhin von jener verschieden ist und seine Persönlichkeit überdauert.

c) Die Völker und Staaten haben eine Entwicklung und ein eigentümliches Wachstum. Die Perioden der Völker- und Staatengeschichte bemessen sich nach großen, die Altersperioden der einzelnen Menschen weit überragenden Zeitaltern. Wenn diese nach Jahren und nach Jahrzehnten sich unterscheiden, so sind jene über Jahrhunderte ausgebreitet. Jede Periode hat wieder ihren besonderen Charakter und die Gesamtgeschichte eines Volkes und Staates stellt sich als ein zusammenhängendes Ganze dar. Die Kindheit der Völker hat einen anderen Charakter als ihr reifes Alter und jeder Staatsmann ist genötigt, die Lebenszeit, in welcher der Staat sich befindet, zu beachten. Auch da gilt die Lebensweisheit: Ein jedes Ding hat seine Zeit.

Allerdings besteht aber neben dieser Verwandtschaft mit der Entwicklung der organischen Naturwesen auch ein beachtenswerter Gegensatz. Während nämlich das Leben der Pflanze, des Tieres und des Menschen in regelmäßigen Perioden und Stufen auf- und hinwieder absteigt, so ist der Entwicklungsgang der Staaten und der staatlichen Institutionen nicht immer ebenso regelmäßig. Die Einwirkungen der menschlichen Freiheit oder äußerer Schicksale bringen öfter bedeutende Abweichungen hervor, und unterbrechen bald oder fördern plötzlich die normale Stufenfolge oder wandeln sie zuweilen um, je nachdem große und gewaltige Männer oder wilde Leidenschaften auch des Volkes in dieselben eingreifen. Diese Abweichungen sind zwar weder so zahlreich noch gewöhnlich so groß, dass die Regel selbst um derselben willen bedeutungslos würde. Im Gegenteil sie sind viel seltener, und meistens auch geringfügiger, als die wähnen, welche sich in ihren Meinungen von den unmittelbaren Eindrücken der jeweiligen Gegenwart bestimmen lassen. Aber sie sind doch wichtig genug, um den Beweis zu führen, dass der Gedanke einer bloßen Naturwüchsigkeit des Staates einseitig und unbefriedigend sei, und um der freien individuellen Tat auch in dieser Hinsicht ihr Recht widerfahren zu lassen.

6. Indem die Geschichte uns Aufschluss gibt über die organische Natur des Staates, lässt sie uns zugleich erkennen, dass der Staat nicht mit den niederen Organismen der Pflanzen und der Tiere auf einer Stufe stehe, sondern von höherer Art sei. Sie stellt ihn als einen sittlich-geistigen Organismus dar, als einen großen Körper, der fähig ist die Gefühle und Gedanken der Völker in sich aufzunehmen und als Gesetz auszusprechen, als Tat zu verwirklichen. Sie berichtet uns von moralischen Eigenschaften, von dem Charakter der einzelnen Staaten. Sie schreibt dem Staat eine Persönlichkeit zu, die mit Geist und Körper begabt ihren eigenen Willen hat und kundgibt.

Der Ruhm und die Ehre des Staates haben von jeher auch das Herz seiner Söhne gehoben und zu Opfern begeistert. Für die Freiheit und Selbständigkeit, für das Recht des Staates haben in allen Zeiten und unter allen Völkern je die Edelsten und Besten ihr Gut und Blut eingesetzt. Das Ansehen und die Macht des Staates zu erweitern, die Wohlfahrt und das Glück desselben zu fördern, ist überall als eine der ehrenvollsten Aufgaben der begabten Männer angesehen worden. An den Freuden und Leiden des Staates haben jederzeit alle Bürger desselben Anteil genommen. Die ganze große Idee des Vaterlandes und die Liebe zum Vaterlande wäre undenkbar, wenn dem Staat nicht diese hohe sittlich-persönliche Natur zukäme.

Die Anerkennung der Persönlichkeit des Staates ist denn auch für das Staatsrecht nicht weniger unerlässlich als für das Völkerrecht.

Person im rechtlichen Sinn ist ein Wesen, dem wir einen Rechtswillen zuschreiben, welches Rechte erwerben, schaffen, haben kann. Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ist dieser Begriff ebenso bedeutsam, wie auf dem Gebiete des Privatrechts. Doch ist der Staat die öffentlich-rechtliche Person im höchsten Sinne. Die ganze Staatsverfassung ist dazu eingerichtet, dass die Person des Staats ihren Staatswillen, der verschieden ist von dem Individualwillen aller Einzelnen und etwas anderes ist als die Summe der Einzelwillen, einheitlich gestalten und betätigen kann.

Allerdings ist die Persönlichkeit des Staates nur von freien Völkern erkannt und nur in dem zivilisierten Volksstaat zur vollen Wirksamkeit gelangt. Auf den Vorstufen der Staatenbildung stellt sich noch der Fürst vor, er allein sei Person und der Staat lediglich der Bereich seiner persönlichen Herrschaft.

7. Ähnlich verhält es sich mit der männlichen Eigenschaft des modernen Staates, welche erst im Gegensatze zu der weiblichen Kirche erkannt worden ist. Es kann eine religiöse Gemeinschaft alle anderen Merkmale einer Staatsgemeinschaft an sich tragen; dennoch will sie nicht Staat sein und ist nicht Staat, eben weil sie nicht in selbstbewusster Weise sich männlich selber beherrscht und im äußern Leben frei betätigt, sondern nur Gott dienen und ihre religiösen Pflichten üben will.

Fassen wir das Resultat dieser historischen Betrachtung zusammen, so lässt sich der allgemeine Begriff des Staates so bestimmen: Der Staat ist eine Gesamtheit von Menschen, in der Form von Regierung und Regierten auf einem bestimmten Gebiete verbunden zu einer sittlich-organischen, männlichen Persönlichkeit. Oder kürzer ausgedrückt: Der Staat ist die politisch organisierte Volksperson eines bestimmten Landes.

Anmerkungen. 1. Es ist nicht ohne Interesse nachzusehen, wie die verschiedenen Völker den Staat benannt haben. Die Griechen noch bezeichneten Stadt und Staat mit dem nämlichen Wort (πόλις), zum Zeichen, dass ihr Begriff vom Staat auf die Stadt gegründet und durch den städtischen Gesichtskreis auch beschränkt war. Auch der römische Ausdruck civitas weist noch auf die Bürgerschaft einer Stadt hin, als den Kern des Staates, aber ist persönlicher gehalten als das griechische Wort, und eher geeignet, größere Volksmassen in sich aufzunehmen. Auch spricht es für die hohe sittliche Bedeutung des Staates, dass der Ausdruck Zivilisation von dem Namen des Staats abgeleitet ist, und praktisch mit der Ausbreitung und Verwirklichung des Staates zusammenfällt.

In gewissem Betracht steht der andere römische Name res publica noch höher, insofern nämlich als demselben die Beziehung nicht bloß auf eine (städtische) Bürgerschaft, sondern ein Volk zu Grunde liegt (res populi), und die Rücksicht auf Volkswohlfahrt darin enthalten ist. Im Sinne der Alten schließt der Ausdruck Republik die Monarchie nicht aus, passt aber nicht auf despotisch geartete Staaten.

In den modernen Sprachen hat nicht bloß unter den Romanen, sondern ebenso unter den Germanen der Ausdruck Staat (stato, état, staat) überhandgenommen. An sich völlig indifferent (er bezeichnet ursprünglich jeden Zustand, und offenbar ergänzte man anfänglich status rei publicae, um eine nähere Beziehung zu dem Staat zu erlangen) ist dieser Ausdruck mit der Zeit zu der allgemeinsten und durch keinerlei Nebenbegriffe beschränkten, noch durch schillernden Doppelsinn zweifelhaften Bezeichnung des Staates geworden. Obwohl darin das Feste, was steht, hervorgehoben ist, so ist doch auch dieser Zusammenhang in Vergessenheit geraten, und bezeichnet das Wort nicht etwa die bestehende Staatsordnung und Staatsverfassung (πολιτεία), sondern den Staat, welcher auch einige völlige Umgestaltung der Regierungsform überleben kann.

Alle anderen modernen Ausdrücke haben nur eine beschränkte Geltung; so das stolze Wort Reich, welches nur auf große Staaten passt, die überdem monarchisch organisiert, auch wohl aus mehreren beziehungsweise wieder selbständigen Ländern zusammengesetzt sind, ähnlich dem romanischen Worte imperium, empire, in welchem zugleich auf die kaiserliche Herrschaft angespielt wird. Enger ist der Sinn des Wortes Land, welches zunächst das äußere, und zwar ein zusammenhängendes Staatsgebiet, dann aber auch den auf diesem Gebiet ruhenden Staat bezeichnet. Es bildet übrigens dieser Ausdruck den natürlichen Gegensatz zu der griechischen πόλις, indem er auf die Landschaft zunächst den Staat gründet, wie dieses ihn aus der Stadt erwachsen lässt. Noch enger — um der Beziehung auf das Individuum willen — aber zugleich durch die persönliche Hinweisung auf den Zusammenhang und die Vererbung der Blutsverwandtschaft im Lande gehobener und vergeistigter ist das schöne Wort Vaterland, in welchem die ganze volle Liebe und Pietät des einzelnen Staatsbürgers zu dem großen und lebendigen Ganzen, dem er mit seinem Leibe angehört, mit dessen Dasein auch sein Dasein verwachsen ist, dem sich zu opfern die höchste Ehre des Mannes ist, sich so verständlich und gemütlich ausprägt. 1

2. Ich habe in den psychologischen Studien über Staat und Kirche (Zürich 1845) die Männlichkeit des Staates näher erörtert. Der französische Ausdruck: L'état c'est l'homme bedeutet nicht bloß: Der Staat ist der Mensch im Großen, sondern zugleich: Der Staat ist der Mann im Großen, wie die Kirche die weibliche Natur im Großen, die Frau darstellt.

Fußnoten:

1 Euripides in den Phönizierinnen:

Zum Vaterland fühlt jeder sich gezogen.

Wer anders redet, Mutter, spielt mit Worten,

Und nach der Heimat stehen die Gedanken.

Schiller im Wilhelm Tell:

Ans Vaterland, ans teure, schließ' dich an,

Das halte fest, mit deinem ganzen Herzen.

Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft;

Dort in der fremden Welt stehst du allein.

 

 

Zweites Kapitel. Die menschliche Staatsidee. Das Weltreich.

 

Genügt der Staatsbegriff, wie ihn die historische Betrachtung der verschiedenen Staaten nachzuweisen vermag, dem menschlichen Geiste? Die historische Schule fühlt sich wohl befriedigt in der Annahme, dass der Staat der Körper sei der Volksgemeinschaft. Sie leitet ihn her aus der Natur und dem Bedürfnis der Nation, und beschränkt ihn auf die Nation.

Die philosophische Erkenntnis aber kann sich mit dieser Antwort nicht so leicht zufriedengeben. Indem sie den tieferen Grund der Staaten aufsucht, findet sie in der menschlichen Natur die Anlage und das Bedürfnis zum Staat. Aristoteles schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: „Der Mensch ist ein von Natur staatliches Wesen“ (φύσει πολιτιϰὸν ζῶον). Nicht die nationale Eigentümlichkeit macht ihn zum Staat fähig und des Staates bedürftig, sondern die gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Organismus der verschiedenen Staaten untersuchen, machen wir die Entdeckung, dass die wesentlichen Organe sich bei sehr verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen, dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlossener, er weist mit innerer Notwendigkeit auf die höhere Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind. Wie könnte sich daher auf das Volk der Staat begründen lassen, ohne Rücksicht auf die höhere Gesamtheit, der das Volk untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste beseelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen Wesens streben, d. h. zum Staat zu werden suchen?

Die national beschränkten Staaten haben daher nur eine relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen noch nicht die Erfüllung der höchsten Staatsidee erkennen. Ihm ist der Staat ein menschlicher Organismus, eine menschliche Person. Ist er aber das, so muss der menschliche Geist, der in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die Person, und in einem nicht-menschlich organisierten Körper kann der Menschengeist nicht wahrhaft leben. Der Staatskörper muss daher dem menschlichen Körper nachgebildet sein. Der vollkommene Staat ist also der körperlich sichtbaren Menschheit gleich. Der Weltstaat oder das Weltreich ist das Ideal der fortschreitenden Menschheit.

Der einzelne Mensch als Individuum, und die Menschheit als Ganzes, das sind die ursprünglichen und bleibenden Gegensätze der Schöpfung. Darauf beruht im letzten Grunde der Unterschied des Privatrechts und des Staatsrechts. Das gemeinsame Bewusstsein der Menschheit ist freilich noch in träumerischem Zustande befangen und vielfältig verwirrt. Es ist noch nicht zu voller Klarheit erwacht, und nicht zur Einheit des Willens vorgeschritten. Die Menschheit hat daher ihr organisches Dasein auch noch nicht ausbilden können. Erst die späteren Jahrhunderte werden das Weltreich sich verwirklichen sehen. Aber die Sehnsucht nach einer solchen organisierten Lebensgemeinschaft aller Völker ist schon in der bisherigen Weltgeschichte von Zeit zu Zeit offenbar geworden, und die zivilisierte europäische Menschheit fasst bereits das hohe Ziel fester ins Auge.

Es ist wahr, dass alle geschichtlichen Versuche, den Weltstaat zu verwirklichen, am Ende verunglückt sind. Aber daraus folgt für den Staat so wenig die Unerreichbarkeit dieses Ziels, als für die christliche Kirche, welche ebenso die Hoffnung in sich trägt, dereinst die ganze Menschheit zu umfassen, aus der bisherigen Nichterfüllung auf die Unmöglichkeit der Erfüllung geschlossen werden kann. Wie die christliche Kirche den Glauben nicht aufgeben kann, eine allgemeine zu werden, so kann die humane Politik das Streben nicht aufgeben, die ganze Menschheit zu organisieren. Der Idee der universellen Kirche entspricht in der Politik die Idee des universellen Weltreichs.

Die Geschichte selbst, wenn wir sie nur freien Blickes zu würdigen wissen, weist deutlich genug auf den Weg hin, welcher zu diesem Ziele führt und warnt zugleich vor den Irrgängen, in welche auch das politische Genie geraten ist, als es in kühnem Eifer den Weltstaat zu früh zu verwirklichen versucht hat.

Seitdem in Europa zuerst ein menschliches Bewusstsein vom Staat erwacht ist, hat jede Periode den Versuch in ihrer Weise gewagt.

Zuerst Alexander der Große. In dem hundertpaarigen Ehefest zu Susa gab Alexander der Welt 1 ein Bild seiner Idee. Er wollte den männlichen Geist der Hellenen mit der weiblichen Sinnigkeit der Asiaten vermählen. Der Okzident und der Orient sollten sich verbinden und vermischen und aus der Mischung beider „wie in einem Becher der Liebe“ die neue Menschheit hervorgehen, die Ein großes göttlich-menschliches Reich erfülle und in demselben ihre Befriedigung finde. Die Kultur der folgenden Jahrhunderte wurde allerdings durch Alexander in solcher Weise bestimmt; und der griechische Same der Bildung gedieh zu üppigem Wachstum in dem eröffneten Boden Asiens. Aber es ist nicht bloß dem verhängnisvollen Schicksal zuzuschreiben, welches den Gründer des neuen Weltstaates in der Blüthe der Jahre wegraffte, bevor er noch die einheitlichen Institutionen befestigt und für die Nachfolge in der Herrschaft gesorgt hatte, dass dieser erste geniale Versuch, ein Weltreich herzustellen, keinen Bestand gehabt hat und hoffnungslos mit dem Tode Alexanders gescheitert ist. Die Mischung der Gegensätze war zugleich eine Trübung der Wahrheit, die leitende Idee selbst war unklar.

Die politischen Ideen wurden durch die Mischung verwirrt. Die freie menschliche Ansicht der Hellenen vom Staat ließ sich nicht mit der religiösen Betrachtung der Perser von dem göttlichen Königtum vereinigen. Die makedonische Monarchie konnte nicht zugleich asiatische Theokratie sein. Die Orientalen glaubten willig, dass Alexander der Sohn des höchsten Gottes sei, die Europäer wurden von der Zumutung angewidert, dem menschlichen Herrscher göttliche Ehre zu erweisen.

Und die Völker wurden verwirrt. Die hellenische Wissenschaft und Kultur befreite wohl die orientalische Welt aus den strengen Banden der religiös-politischen Beschränkung, aber ihre Wirkung war mehr Auflösung der alten, nicht Schöpfung einer neuen Welt. Die Vergöttlichung des Menschen verdrängte die Ehrfurcht vor den alten Göttern; und die liederlich gewordene Kultur der Europäer half mit, den Orient vollends zu entnerven.

Einen dauerhafteren und nachhaltigeren Erfolg hat der Versuch der Römer gehabt, die Weltherrschaft zu erobern. Das römische Reich war ein Weltreich. Das ganze römische Volk fühlte sich berufen, seine Staatsidee über die Erde zu verbreiten, und alle Völker der römischen Hoheit zu unterwerfen. Die männliche Kraft und die eherne Gewalt des römischen Charakters überwand die zahlreichen Nationen, die sich ihrem Siegeszug über den Erdkreis entgegenzusetzen wagten: und schon war der römische Staat mit seinen Rechtsinstitutionen von Granit in drei Weltteilen auf festen Grundlagen aufgebaut. Der größte Römer Julius Cäsar hat der Nachwelt die Kaiseridee als Erbgut hinterlassen und in ihr eine Autorität begründet, welche über die nationalen Schranken hinaus die Welt umspannt.

Aber auch das Streben der Römer ist von der Weltgeschichte gerichtet. Es war nicht, wie das Alexanders auf die Mischung der Völker, sondern auf die höhere Natur Eines Volkes gegründet, welches der Menschheit seinen Volkscharakter einprägen, die Welt romanisieren wollte.

Das war sein inneres Gebrechen. Keine Nation ist groß genug, um die Menschheit zu umfassen, und die anderen Nationen in ihren Armen zu erdrücken. am Widerstand der jugendlich-frischen germanischen Nation ist der römische Weltstaat gescheitert. Er vermochte die Deutschen nicht zu bezwingen, und ist nach Jahrhunderte langen Kämpfen ihrem Andrang erlegen.

Die Idee des Weltstaates hat seither nie mehr so glänzend geleuchtet am politischen Horizont, aber sie ist doch nie mehr untergegangen. Das romanisch-germanische Mittelalter hat sie wieder in seiner Weise zu verwirklichen gesucht, zuerst in der fränkischen Monarchie, dann in dem römisch-deutschen Kaisertum. In bescheideneren Verhältnissen freilich, aber nicht ohne in der Erkenntnis der Wahrheit wichtige Fortschritte gemacht zu haben. Es sollte nicht mehr Ein übermächtiges absolutes Reich hergestellt werden, welches alle Seiten des gemeinsamen Lebens gleichmäßig beherrsche. Der große für die Menschheit so folgenreiche Gegensatz von Staat und Kirche war inzwischen durch das Christentum offenbar geworden. Der Staat verzichtete darauf, auch die Gewissen durch seine Gesetze zu beherrschen. Er erkannte an, dass es neben ihm auch eine religiöse Gemeinschaft gebe, welche ein eigenes Lebensprinzip und ebenfalls einen sichtbaren Körper habe, verschieden von seiner Existenz und wesentlich selbständig. Damit aber war eine Schranke gezogen, welche ihn hinderte, allmächtige Herrschaft zu üben. Er war genötigt, das religiöse Leben der Leitung der Kirche zu überlassen. Er gelangte über sein Verhältnis zur Kirche zwar nicht zu voller Klarheit, aber die Freiheit des religiösen Glaubens und die Verehrung Gottes war vor seiner Willkür gerettet, die Autorität des Christentums war nicht von ihm abhängig.

Sodann sollte das christliche Weltreich nicht mehr die verschiedenen Völker verschlingen und vernichten, sondern allen Völkern Frieden und Recht gewähren. Der mittelalterliche römische Kaiser galt nicht als absoluter Herr über alle Völker, sondern als gerechter Schirmer ihres Rechts und ihrer Freiheit. Die Kaiseridee, für welche sich ein Staatsmann wie Friedrich II. 2 und ein Denker wie Dante 3 begeistert hatte, war so gereinigt. Das mittelalterliche Reich umfasste eine große Anzahl wesentlich selbständiger Staaten, welche zu einer Gesamtordnung zwar verbunden und formell dem Kaiser untergeordnet, aber in allen wesentlichen Beziehungen unabhängig waren und für sich lebten nach eigenem Willen. Die Mannigfaltigkeit auch des Volks- und Stammeslebens wurde im Mittelalter mit Vorliebe geschützt und gepflegt. Aber was an sich ein Fortschritt war in der Entwicklung des Weltstaates, führte, weil zu einseitig verfolgt, zu dessen Auflösung. Der Trieb zur Sonderung wurde stärker als der Drang nach Einheit. Die Spaltung der Nationalitäten, der Gegensatz der Sprachen, hat Frankreich und Deutschland getrennt, und die fränkische Weltmonarchie in zwei Teile zerrissen. Der Erhebung der Fürsten und Landesherrn vermochte das karg ausgestattete deutsche König- und römische Kaisertum nicht zu begegnen. Die deutsche Zentralinstitution hatte keine zentrale Unterlage, daher erhielt die Peripherie die Oberhand, und das Reich ging aus den Fugen. Wieder sind die Versuche verunglückt, aber wieder haben sie den nachfolgenden Geschlechtern beachtenswerte Lehren hinterlassen.

In unserem Jahrhundert hat der Kaiser Napoleon I. den Gedanken, der eine Zeit lang im Dunkel geblieben, wieder zu beleben unternommen. Er vermied den Fehler des Mittelalters und sorgte voraus für eine starke, durchgreifende Zentralgewalt; aber er bewahrte die wahren Fortschritte des Mittelalters nicht mit der nötigen Sorgfalt. Er achtete die fremden Nationalitäten zu wenig, und trat insofern wieder auf die Bahn zurück, welche die Römer zuvor begangen hatten, wenn auch gemäßigter als sie vorschreitend. Er wollte Europa zu einem großen völkerrechtlichen Gesamtstaat organisieren, welcher sich nach Einzelstaaten gliedere. Das Kaisertum sollte der französischen Nation angehören, und diese in der großen Völkerfamilie die Stellung des Hauptes einnehmen. In einem Menschenalter hoffte er zu erreichen, wozu die Römer Jahrhunderte gebraucht hatten. Er vermochte aber seine Plane nicht durchzuführen. Zwar scheiterten dieselben diesmal nicht am Widerstand der deutschen Nation. Obwohl dieselbe unwillig die französische Oberhoheit trug, schien sie sich doch, am alten eigenen Reich verzweifelnd, und unzufrieden mit den vaterländischen Zuständen, der Napoleonischen Gestaltung zu fügen. Nur die beiden großen deutschen Staaten, das aufstrebende Preußen und das länder- und völkerreiche Österreich, jenes für seine Existenz besorgt, dieses sich selbst als kaiserlichen Staat fühlend, suchten in wiederholten Kriegen die französische Übermacht zu bekämpfen; aber auch sie wurden von dem überlegenen Staatsmanne und Feldherrn besiegt. Aber über den Widerstand Englands, in dem ein großes historisches Nationalgefühl mit germanischen Freiheitsideen sich verbunden hatte, wurde Napoleon nicht Herr, und die noch halbbarbarischen Russen wichen besiegt in ihre Steppen zurück, aber unterwarfen sich nicht. Und die Franzosen hielten im Unglück nicht aus, als sich das verbundene Europa wider sie wandte. Der Napoleonische Gedanke kam doch aus ähnlichen Gründen nicht zur Erfüllung, wie zuvor der römische. Die übrigen Völker fühlten sich bedroht von der Universalmonarchie, nicht gesichert und befriedigt von der neuen Weltregierung; und das französische Volk war nicht mächtig genug, jene sich dauernd unterzuordnen.

Inzwischen arbeitet die unbesiegbare Zeit selbst unablässig fort, die Völker einander näher zu bringen, und das allgemeine Bewusstsein der menschlichen Gemeinschaft zu wecken. Das ist aber die natürliche Vorbereitung einer gemeinsamen Weltordnung. Es ist nicht zufällig, dass die modernen Entdeckungen und die zahlreichen neuen Verbindungsmittel durchweg diesem Ziele dienen, dass die gesamte Wissenschaft der neueren Zeit diesem Impuls folgt und voraus der Menschheit — erst in untergeordneter Beziehung den einzelnen Nationen angehört, dass eine Menge Hindernisse und Schranken, die zwischen den Völkern lagen, wegfallen. Heute schon verspürt die gesamte europäische Menschheit jede Störung, die einem einzelnen Staat widerfährt, als ein Uebel, am sie mitzuleiden hat, und was an den äußersten Grenzen des europäischen Körpers begegnet, findet sofort allgemeines Interesse auch in dem Inneren desselben. Der europäische Geist wendet bereits seine Blicke auf den Erdkreis und die arische Rasse fühlt sich berufen, die Welt zu ordnen.

Wir sind noch nicht so weit. Es fehlt aber gegenwärtig schon weniger am Willen und an der Macht als an der geistigen Reife. Die Glieder der europäischen Völkerfamilie kennen ihre Überlegenheit über die anderen Völker gut genug, aber sie sind unter sich und über sich selbst noch nicht ins Klare gekommen. Ein endlicher Erfolg ist erst möglich, wenn das lichtende Wort der Erkenntnis darüber und über das Wesen der Menschheit ausgesprochen sein wird, und die Völker bereit sind, es zu hören.

Bis dahin wird das Weltreich eine Idee sein, welcher Viele nachstreben, welche keiner zu erfüllen im Stande ist. Aber als Idee der Zukunft darf die Wissenschaft der allgemeinen Staatslehre sie nicht übersehen. Erst in dem Weltreich wird der wahre menschliche Staat offenbar, in ihm auch das Völkerrecht seine Vollendung und in höherer Gestalt ein gesichertes Dasein finden. Zu dem Weltreich verhalten sich die Einzelstaaten, wie sich die Völker zur Menschheit verhalten. Die Einzelstaaten sind Glieder des Weltreiches und erlangen in ihm ihre Ergänzung und ihre volle Befriedigung, wie die Glieder im Körper. Das Weltreich hat nicht die Aufgabe, die Einzelstaaten aufzulösen und die Völker zu unterdrücken, sondern den Frieden jener und die Freiheit dieser besser zu schützen.

Der höchste zur Zeit noch nicht realisierte Staatsbegriff ist also: Der Staat ist die organisierte Menschheit, aber die Menschheit in ihrer männlichen Erscheinung, nicht in der weiblichen Gestaltung. Der Staat ist der Mann.

 

Anmerkungen. 1. einer der geistreichsten und wahrheitsliebendsten Männer, der Waadtländer Vinet (l'individualisme et le sozialisme), erhob das Bedenken gegen die Idee des humanen Staates, dass durch denselben alles menschliche Leben absorbiert, die individuelle Freiheit im Prinzip aufgehoben, und über die Gewissen der Einzelnen wie über die Wissenschaft eine ungebührliche weltliche Herrschaft geübt würde. Dieser Einwurf nötigt in der Tat zu einer genaueren Begrenzung jener Idee.

Vorerst ist anzuerkennen, dass der Staat nicht die einzige humane Gemeinschaft, nicht die einzige leibliche Darstellung der Menschheit ist. Die Kirche ist in ihrer irdisch-sichtbaren Erscheinung auch eine Gemeinschaft, auch ein Leib der Menschheit. Damit ist aber zugleich anerkannt, dass die politische Herrschaft des Staates nicht das religiöse Leben der Menschen bestimmt, und dass die Freiheit der Gewissen und der Glaube des Individuums nicht durch den Staat gefährdet wird.

Sodann folgt aus der menschlichen Natur des Staates keineswegs, dass der Staat eine vollkommene Herrschaft über das Individuum habe. In jedem einzelnen Menschen können wir vielmehr zwei Naturen unterscheiden, die individuelle und die gemeinsam-menschliche. Das Individuum mit seinem Leben gehört nicht ausschließlich, nicht ganz weder der Gemeinschaft mit anderen Individuen noch der Erde an, somit auch nicht dem Staat, als einer irdischen Lebensgemeinschaft. Der Staat beruht auf der menschlichen Natur nicht insofern als sie sich in Millionen von Individuen mannigfaltig offenbart, sondern insofern als die gemeinsame Natur der Menschheit in einem Wesen erscheint, und die Autorität des Staates erstreckt sich daher nicht weiter, als die Interessen der Gemeinschaft und das Nebeneinanderbestehen und Zusammenleben der Menschen es erfordern. Der Staat hat selbst, wenn er in das freie individuelle Gebiet missbräuchlich übergreift, die Macht nicht, seine Herrschaft auch hier durchzusetzen; denn den Geist des Individuums vermag er nicht zu fesseln, und die Seele des Individuums kann er nicht töten.

2. Neuestens hat sich auch Laurent gegen die Idee des Weltstaats erklärt (Histoire du droit des gens I. S. 39 f.). Seine Gründe sind folgende:

a) Der Weltstaat wäre Universalmonarchie und diese unverträglich mit der Souveränität der Staaten.

b) Die Individuen als natürliche und die Völker als künstliche Personen sind verschieden. Jene sind in sich mangelhaft und werden von bösen Leidenschaften bewegt, diese sind vollkommene und moralische Wesen. Das Nebeneinanderbestehen jener erfordert daher die fortdauernde Wirksamkeit der Staatsgewalt, das Nebeneinander dieser nicht oder nur ausnahmsweise.

c) Das Individuum ist schwach und muss sich der Staatsgewalt unterwerfen; die Staaten aber sind stark und werden sich daher nicht unter eine höhere Gewalt beugen lassen.

d) Wäre der Weltstaat so mächtig, um auch die Staaten wider ihren Willen zu beugen, so würde diese Übermacht das Recht und die Freiheit unterdrücken, denn wo Widerstand unmöglich ist, da kann die Freiheit nicht bestehen.

e) Der Volksstaat ist nötig für die Entwicklung der Individuen, aber er genügt auch dafür. Die Förderung der Individuen bedarf des Weltstaates nicht, und für die Entwicklung der Nationen wäre er gefährlich.

Auch diese Gründe meines verehrten Freundes haben mich nicht überzeugt. Dagegen ist zu erinnern:

Zu a) Man kann sich das Weltreich mit monarchischer Spitze (Kaisertum), aber auch in republikanischer Form denken, sei es als Direktorium (ich erinnere an die europäische Pentarchie) oder als Konföderation oder Union sämtlicher Staaten. Keinesfalls aber braucht man sich eine absolute Macht der Weltregierung zu denken; und der Fortbestand der Volksstaaten macht geradezu eine Ausscheidung der Kompetenzen zwischen ihnen und dem Weltreich notwendig. Es ist kein Grund den Bereich des letzteren über die gemeinsamen Weltangelegenheiten hinaus auszudehnen, wie insbesondere die Erhaltung des Weltfriedens und den Schutz des Weltverkehrs, überhaupt des Gebietes, das wir heute Völkerrecht heißen. Die Form des Bundesstaates oder des Bundesreiches, in welchem für die gemeinsamen Bundesangelegenheiten eine gemeinsame Gesetzgebung, Regierung, Rechtspflege besteht, und für die besonderen Landesangelegenheiten ebenso die Souveränität der Einzelstaaten anerkannt bleibt, kann hier als Vorbild dienen.

Zu b) Die Völker haben ihre Mängel und ihre Leidenschaften ähnlich den Individuen, und gäbe es kein Völkerrecht, so würden die schwachen und hilflosen Völker die bequeme Beute der starken und herrschsüchtigen Völker. Derselbe Grund, auf dem das Völkerrecht ruht, ist auch die Grundlage des Weltreichs.

Zu c) Die Stärke der Volksstaaten — auch dem Weltreich gegenüber — ist die beste Garantie dafür, dass jene nicht durch dieses unterdrückt werden; aber so stark ist auch der größte Volksstaat nicht, um für sich allein, wenn er im Unrecht ist, den Kampf mit der Welt aufzunehmen. Nur wenn Gruppen von Staaten oder Parteien einander feindlich entgegentreten, wird dann noch ein Krieg möglich sein. In allen anderen Fällen wird sich derselbe in Exekution der Weltrechtspflege verwandeln. Da wir durch die beste Staatseinrichtung doch nicht völlig gegen den Bürgerkrieg gesichert sind, so werden wir auch zufrieden sein müssen, wenn die stärkere Ordnung des Völkerrechts den Staatenkrieg seltener macht. Die Vervollkommnung des Rechtes nähert sich im besten Falle dem Ideal; sie erreicht es nie.

Zu d) Das Weltreich ist im Verhältnis zu den Volksstaaten unter allen Umständen weniger übermächtig, als der Volksstaat im Verhältnis zu den Bürgern; dennoch wird die Freiheit der Bürger nicht bedroht, sondern geschützt durch die Staatsordnung.

Zu e) Nicht alle individuellen Bedürfnisse werden durch den Staat befriedigt; es gibt auch kosmopolitische Interessen, sowohl geistige als materielle (Weltwissenschaft, Weltliteratur, Weltkunst, Welthandel), die eine volle Befriedigung nur in dem Weltreich finden können; wie wenig aber heute noch die Rechte ganzer Völker gesichert sind, beweist die europäische und amerikanische Völkergeschichte.

Laurent gründet das Völkerrecht auf die Einheit des Menschengeschlechts, und ein anderer Grund ist nirgends zu finden. Aber wenn er diese Einheit nur als eine innere erkennt, so fordern meines Erachtens Logik und Psychologie zugleich, dass die innere Kraft sich auch äußerlich darstelle. Wenn die Menschheit innerlich Ein Wesen ist, so muss sie sich auch in ihrer vollen Entwicklung als eine Person offenbaren. Die Organisation der Menschheit aber ist der Weltstaat.

Ich weiß, dass die Meisten der Mitlebenden diese Idee für einen Traum halten; aber das darf mich nicht abhalten, meine Überzeugung auszusprechen und zu begründen. Die späteren Geschlechter, vielleicht erst nach Jahrhunderten, werden über die Streitfrage endgültig entscheiden.

 

Fußnoten:

 

1 „Rex terrarum omnium ac mundi.“ Justin. XII. 16. Laurent hist. du Droit des Gens II. 5. 262.

2 Friderici Konstit. Regni Siculi I. 30.: „Oportet Caesarem fore justitiae patrem et filium, dominum et ministrum; patrem et dominum in edendo justitiam et editam konservando: sic et in venerando justitiam sit filius et in ipsius copiam ministrando minister.“

3 Seine Schrift de monarchia verherrlicht das Kaisertum; und in seiner göttlichen Komödie verehrt er in dem Kaiser die Spitze der göttlichen Weltordnung. Vgl. Wegele Dantes Leben und Werke. Jena 1852.

 

 

Drittes Kapitel. Entwicklungsgeschichte der Staatsidee. Die antike Welt.

 

A. Die hellenische Staatsidee.

 

Die eigentliche Staatswissenschaft beginnt zuerst unter den Hellenen. In Hellas gelangte das menschliche Selbstbewusstsein zuerst wie zu künstlerischer und philosophischer, so auch zu politischer Entfaltung.

So klein das Gebiet der hellenischen Staaten und so beschränkt ihre Macht noch war, so breit und umfassend war die Grundlage, auf der sich der hellenische Staatsgedanke erhob, und so hoch und edel ist die Staatsidee, welche die griechischen Denker aussprechen. Sie gründen den Staat auf die Menschennatur, und sind der Meinung, nur im Staat könne der Mensch seine Vollkommenheit erreichen und die wahre Befriedigung finden. Der Staat ist ihnen die sittliche Weltordnung, in welcher die Menschennatur ihre Bestimmung erfüllt.