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"Das Morgen ist der Traum von heute" ist eine Geschichte von Sinnsuche und Selbstverwirklichung. Eine schicksalhafte Begegnung mit einem älteren Mann hat großen Einfluss auf das Leben des Protagonisten. Er kann die Weisheiten des Älteren nicht vergessen und begibt sich auf die Suche nach einem Leben, in dem er sich selbst wiedererkennen kann. Auf seinem weiteren Lebensweg träumt er immer wieder davon, dem älteren Mann nochmals zu begegnen, um dessen weisen Worten lauschen zu können. Wird sich sein Traum erfüllen und kommt es zu einem Wiedersehen?
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2022
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DAS MORGEN IST DER TRAUM VON HEUTE ist eine Geschichte von Sinnsuche und Selbstverwirklichung.
Eine schicksalhafte Begegnung mit einem älteren Mann hat großen Einfluss auf das Leben des Protagonisten. Er kann die Weisheiten des Älteren nicht vergessen und begibt sich auf die Suche nach einem Leben, in dem er sich selbst wiedererkennen kann.
Auf seinem weiteren Lebensweg träumt er immer wieder davon, dem älteren Mann nochmals zu begegnen, um dessen weisen Worten lauschen zu können. Wird sich sein Traum erfüllen und kommt es zu einem Wiedersehen?
Das Seminar zum Buch unterwww.der-traum-von-heute.de
Für Monika
Inspiriert durch wahre Begebenheiten
Es fing alles damit an, dass ich im Zug von Berlin nach Heilbronn saß.
Tante Hilde, die Schwester meines Vaters, war gestorben und meine Mutter hatte mich damit beauftragt, unsere Familie bei der Beerdigung zu vertreten. Ich konnte mich nicht daran erinnern, Tante Hilde jemals selbst gesehen zu haben, lediglich von Fotos her kannte ich sie. Was ich mit ihr jedoch unauslöschlich verband, waren Lebkuchen. Solange ich denken konnte, kam jedes Jahr pünktlich zu Beginn der Adventszeit, vermutlich per Dauerauftrag, ein großes Paket aus Nürnberg mit den unterschiedlichsten Varianten dieses Backwerks. Ich mochte besonders die mit Schokoladenüberzug, während auf der Unterseite eine große Oblate die Grundlage bildete. Obwohl ich und meine Tante Hilde uns niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen haben, denke ich noch heute, Jahrzehnte später, beim Anblick dieser Lebkuchen an sie. Fast immer kommen mir dann auch zwei Ereignisse in den Sinn, die sich vor und nach ihrer Beerdigung zugetragen haben.
Zu etwas ganz Besonderem jedoch, wurde die Begegnung mit dem Mann, der mir während der ersten Etappe der Bahnfahrt gegenübersaß.
Wir waren beide am Bahnhof Zoo eingestiegen und hatten unsere erste Begegnung vor der Tür zu unserem Abteil. Entsprechend der Höflichkeitsregeln, die man mir von klein an eingeschärft hatte, zog ich die Schiebetür auf und bat ihn mit einer freundlichen Geste, vor mir einzutreten. Er verstaute mit einer schwungvollen Bewegung seine überdimensionierte Arzttasche auf der Gepäckablage und setzte sich dann mit großer Selbstverständlichkeit ans Fenster. Ich hatte auch eine Platzkarte fürs Fenster und so setze ich mich ihm gegenüber.
Es ruckelte und der Zug nahm langsam Fahrt auf. Als ich auf den zunehmend verschwindenden Bahnsteig schaute, erinnerte ich mich an die Worte der freundlichen aber auch bestimmten Bahnmitarbeiterin am Fahrkartenschalter. »Hier, junger Mann, Ihre Fahrkarten, mit der gewünschten Platzreservierung – Fensterplatz mit Blick in Fahrtrichtung.« Ich zog meine Fahrkarte mit dem fest gebuchten Platz heraus und überprüfte sie. Er hatte sich tatsächlich auf meinem Sitzplatz niedergelassen.
Gerade in dem Moment, als ich ihn auf seinen Irrtum aufmerksam machen wollte, betrat eine äußerst attraktive Mittdreißigerin das Abteil und platzierte sich mir schräg gegenüber. Was für eine reizvolle Erscheinung, dachte ich, und dann auch noch mit Nahtstrümpfen und roten Pumps. Accessoires, die zu jener Zeit im Besonderen meine Fantasie anregten. Bei dieser prächtigen Aussicht nahm ich umgehend davon Abstand, mein Gegenüber auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen. Mehr noch, ich empfand es plötzlich als glückliche Fügung, dass ich auf dem mir ansonsten unliebsamen Platz – mit dem Rücken in Fahrtrichtung – saß.
So reizvoll ich die Frau auch fand, so viel Unruhe verbreitete sie. Sie schlug ihre Beine erst nach rechts übereinander, dann nach links, dann wieder nach rechts, hin und her. Ihre Nylons raschelten bei jeder Bewegung. Sie blätterte unmotiviert in einem Magazin, ohne sich irgendetwas wirklich eingehender anzuschauen oder zu lesen und kontrollierte im Minutentakt die Zeit auf ihrer Armbanduhr. Nach vielleicht zehn Minuten blickte sie auf, schaute zunächst zu dem älteren Mann und dann zu mir und bat uns einen Blick auf ihren Koffer zu haben. Sie wollte auf einen Kaffee in den Speisewagen gehen. Wir nickten beide bestätigend und ich fügte noch ein »machen wir« hinzu.
Ruhe kehrte ein im Abteil und ich nahm dies zum Anlass, meine Augen zu schließen, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Erst spät war ich in der Nacht ins Bett gekommen und die Abfahrt des Zuges war schon kurz nach acht. Während ich mich gerade gemütlich eingerichtet hatte, um etwas vom versäumten Schlaf nachzuholen, betrat der Schaffner das Abteil. Nach erfolgter Fahrkartenkontrolle war dann der zweite Schlafversuch von Erfolg gekrönt und ich nickte für ein gutes Stündchen ein.
Aufgeweckt wurde ich schließlich durch die aus dem Speisewagen zurückgekehrte personifizierte Unruhe, die zum Glück nur gekommen war, um ihren Koffer zu holen. Ich schloss erneut meine Augen, doch statt zu schlafen, musterte ich durch meine blinzelnden Sehschlitze den Menschen, der da auf meinem Platz saß: ein gepflegter Mann in den Endfünfzigern oder Sechzigern mit lebendigen Augen, langen Fingern und einer markanten Narbe am Kinn. Er las sehr interessiert in einem dicken Buch und bewegte währenddessen immer wieder bestätigend seinen Kopf; etwas, das ihm vermutlich überhaupt nicht bewusst war.
Nach einer Weile wandte ich meinen Blick ab und schaute aus dem Fenster in die etwas trostlose Landschaft dieses bedeckten Februartages. Ich ließ den letzten Abend in meinem Stammlokal Revue passieren und ein weiteres Mal tat mir der amerikanische Soldat leid, mit dem ich Backgammon gespielt hatte. Obwohl ich sicherlich ein guter Spieler war und dies immer noch bin, hatte ich ein unverschämtes Würfelglück. Die richtigen Würfe und ein Pasch nach dem anderen kamen, wie ich sie brauchte. Seufzend hatte er mir nach rund drei Stunden Spielzeit meinen Gewinn in Dollar ausgezahlt, es waren 120, bevor er mit leicht hängendem Kopf das Lokal verlassen hatte.
Ich griff in meine Tasche und holte die Beute des gestrigen Abends hervor. Darunter war auch ein 100 Dollarschein. Ein Geldschein, den ich zuvor noch nie gesehen, geschweige denn besessen hatte. Ich betrachtete das Konterfei von Benjamin Franklin und erinnerte mich daran, dass ich während meiner Ausbildung zum Augenoptiker erfahren hatte, dass dieser Staatsmann unter anderem auch die Bifokalbrille erfunden hatte.
Wie aus dem Nichts erreichte mich plötzlich die Frage:
»Fahren Sie nach Amerika?«
Ich hob meinen Kopf und blickte in das freundliche Gesicht des älteren Mannes. Ich freute mich darüber, dass er mich angesprochen hatte und antwortete mit einem deutlichen »Ja.« Ich erzählte ihm von meinem Vorhaben, Ende Juni für eine unbestimmte Zeit, möglicherweise mehrere Monate, in die USA zu reisen.
»Die USA sind groß«, erwiderte er, »wo soll es denn genau hingehen?«
Ich erzählte ihm, dass ich in New York starten wollte und von dort nach Florida weiterreisen würde.
»Ich habe eine Halbschwester, die mit ihren beiden Töchtern in Fort Lauderdale lebt. Meine Schwester habe ich das letzte Mal vor zwölf Jahren bei der Beerdigung unseres Vaters gesehen. Von meinen Nichten kenne ich bisher lediglich die Namen – July und Pamela.«
»Interessant«, erwiderte er und schob die Feststellung hinterher: »Sie haben sehr früh ihren Vater verloren.«
Ich nickte, hielt kurz inne und erzählte ihm dann, dass ich gerade auf dem Weg zur Beerdigung meiner Tante, der Schwester meines Vaters, war. Er klappte sein Buch zusammen und schob es zwischen sich und die Armlehne. Seine Aufmerksamkeit blieb in einer vertrauensvollen Weise auf mich gerichtet. Sein Kopf wippte ganz leicht, so wie ich es schon zuvor beobachten konnte, als er noch in sein Buch vertieft war. Die ganze Situation war mir derart vertraut, ja ich kannte sie, ich hatte sie schon einmal erlebt. Ich hatte ein Déjà-vu-Erlebnis.
Während ich noch dachte, dass mein Gegenüber gleich etwas sagen würde, setzte er auch schon an und richtete seine warme Stimme an mich:
»Der Tod, die letzte Station auf unserer Reise durchs Leben oder vielleicht doch nur eine Station auf einer langen Wanderschaft?«
Ich konnte das Gewicht seiner fragenden Feststellung richtiggehend körperlich spüren. Durch die Art und Weise seiner Betonung hatte er ein imaginäres Fragezeichen in den Raum gesetzt. Ohne einen konkreten Druck zu verspüren, auf diese Frage in irgendeiner Form antworten zu müssen, setzte sich mein Denkapparat jedoch unverzüglich in Bewegung.
Der Zug reduzierte seine Geschwindigkeit und wurde dann spürbar abgebremst. Ein ohrenbetäubendes Quietschen setzte zunächst einen Punkt hinter das gerade begonnene Gespräch. Es herrschte viel Bewegung auf dem Gang, Reisende verließen den Zug, laute Ansagen tönten über den Bahnsteig, während neue Fahrgäste hinzustiegen. Ich hoffte und betete darum, dass wir allein blieben, niemand in unser Abteil kam, der die Intensität der sich anbahnenden Unterhaltung gefährdete.
Ein weiteres Mal tönten krächzende, unverständliche Ansagen über den Bahnsteig, bis ein kurzes Ruckeln anzeigte, dass der Zug seine Fahrt fortsetzte. Keiner der zugestiegenen Fahrgäste hatte sich für unser Abteil entschieden und die Ruhe, die sich jetzt zunehmend auszubreiten begann, erinnerte mich an den Moment, als die attraktive Mittdreißigerin in Richtung Speisewagen aufgebrochen war.
Ich suchte regelrecht danach, die Unterhaltung mit dem Mann fortzusetzen. Ich wollte gerne dort anknüpfen, wo wir stehen geblieben waren. Und so fragte ich ihn, ob er die Aussage den Tod betreffend wiederholen könne. Er tat dies umgehend:
»Der Tod, die letzte Station auf unserer Reise durchs Leben oder vielleicht doch nur eine Station auf einer langen Wanderschaft?«
»Wenn dies eine an mich gerichtete Frage wäre, könnte ich keine abschließende Antwort geben. Ich glaube, ich habe mich bisher irgendwie gescheut, darüber konkreter nachzudenken. – Gescheut passt nicht wirklich«, ergänzte ich, »das ist nicht die treffende Beschreibung. Ich finde, dass dies ein ausgesprochen interessantes und spannendes Thema ist. Mit der Station auf einer langen Wanderschaft ist sicherlich die Wiedergeburt gemeint?«
Er nickte so deutlich, dass ihm die Bewegung seines Kopfes mit Sicherheit jetzt auch bewusst war.
»Wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir schlicht und ergreifend niemand ein, es gibt einfach keinen Menschen in meinem Umfeld, bei meinen Freunden und Bekannten und auch innerhalb meiner Familie, mit dem ich über solch ein Thema sprechen könnte.«
»Ja, es ist wirklich eine ausgesprochen interessante und spannende Thematik«, erwiderte der Mann. »Und zugleich ein Thema, über das man sich wahrlich nicht mit jedem unterhalten und austauschen kann. Und dabei geht es letztlich alle an. Es scheint so, als hätten die meisten Menschen, was den Tod betrifft, einen eingebauten Verdrängungsmechanismus. Was vermutlich auch gut ist, denn hierdurch wird es möglich, das alltägliche Leben unbeschwerter zu gestalten. Und dann gibt es da natürlich noch einen weiteren Aspekt, den Zeitgeist. Früher starben die Menschen zu Hause, im Kreis ihrer Familie und nächsten Angehörigen. Der Tod war damals selbstverständlicher, er gehörte mehr zum Leben dazu. Heutzutage ist der Tod in die Krankenhäuser verbannt, vom alltäglichen Leben weit entfernt. Ich denke, das ist ein weiterer Grund, weshalb es zunehmend schwieriger wird, sich mit anderen über den Tod zu unterhalten und auszutauschen. Aber was glauben Sie, wie denken Sie über den Tod?«
Während er so sprach, dachte ich die ganze Zeit, was für ein bemerkenswerter und interessanter Mensch. Jemand, der mit mir ganz sachlich, ohne in irgendeiner Art unangenehm berührt zu sein, über das sprach, was folgt, wenn das Leben vorbei ist.
Ich wiederholte seine Frage und verschaffte mir hierdurch ein wenig Zeit, bevor ich ihm antwortete.
»Dass nach dem Tod das ewige Leben im Himmel oder womöglich in der Hölle auf mich wartet, daran habe ich als Kind geglaubt. Ebenso wie ich mir den lieben Gott als allmächtigen helfenden Vater im Himmel auf einer Wolke sitzend vorgestellt habe. Mit diesen kindlich-naiven Betrachtungen kann ich heutzutage nicht mehr viel anfangen. Was die Idee der Reinkarnation, der Wiedergeburt betrifft, so ist dies für mich ein ganz neues Thema.«
Ich erzählte ihm, dass ich erst kürzlich in einem Esoterik-Magazin zum ersten Mal etwas darüber gelesen hatte. Zuvor war mir die Möglichkeit der Wiedergeburt, als wie es scheint fester Bestandteil fernöstlicher Lebensphilosophien, völlig unbekannt gewesen.
»Wiedergeboren zu werden ist auf jeden Fall eine sehr tröstliche Vorstellung, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie das vonstattengehen soll. Ich muss auch gestehen, dass ich den Artikel nicht bis zu Ende gelesen habe. Die Verfasserin fing zunehmend an, von sich selbst zu schreiben und der Beitrag schmierte richtiggehend ab, in eine aufgesetzte und belehrende Heiligkeit. Ich blätterte weiter und fand dann am Ende des Artikels auch noch ein Bild von ihr. Sehr alternativ, mit langem wallendem Rock, Sandalen und in einer Hand hielt sie irgendeine sakrale Gerätschaft mit Glöckchen und Räucherwerk.«
Während ich die äußeren Kennzeichen der Autorin schilderte, breitete sich im Gesicht des Mannes ein herzliches und auch hörbares Lachen aus. Wir lachten uns an und nickten im Gleichklang. Dann zuckte ich mit meinen Schultern und fügte an, dass es vielleicht eines Lebens als Buddhist oder irgendeiner anderen asiatischen Lebensphilosophie bedürfe, um der Wiedergeburt gegenüber zu einer offeneren Einstellung zu gelangen.
»Das sehen Sie vollkommen richtig«, erwiderte der Mann. »Mit Sicherheit ist die Wiedergeburt etwas Selbstverständlicheres, wenn man im festen Glauben daran aufwächst. Jedoch gibt es auch viele bedeutende Menschen unseres Kulturkreises, die von der Wiedergeburt überzeugt waren und sich entsprechend äußerten. So zum Beispiel Schopenhauer, Hölderlin, Johann Wolfgang von Goethe und sogar der Mann, den Sie vorhin eingehend auf dem 100 Dollarschein betrachtet haben. Darüber hinaus gibt es auch Hinweise, dass die Reinkarnation für die Urchristen von Bedeutung war. Zumindest findet sich eine Stelle in der Bibel, genaugenommen im Johannes-Evangelium, die für mich unmissverständlich darauf hinweist.«
Mit Vielem hatte ich gerechnet, aber nicht mit einer solch komprimierten Fülle an Informationen. Alles, was er sagte und wie er es sagte, klang sehr glaubhaft. Es gab für mich keinerlei Grund, das Gehörte in irgendeiner Form in Zweifel zu ziehen. Mein Staunen war mir mit Sicherheit ins Gesicht geschrieben, während ich damit beschäftigt war, die Namen der bedeutenden Menschen innerlich zu sortieren. Den Namen Hölderlin hatte ich schon einmal gehört, konnte mit ihm jedoch nicht allzu viel anfangen. Ich erfuhr dann auf Nachfrage, dass dies ein bedeutender deutscher Dichter war. Meine Begeisterung war geweckt und ich wollte jetzt definitiv mehr über die Reinkarnation erfahren und vor allem hören, was dieser interessante Mann noch alles zu berichten wusste. Zunächst interessierte mich jedoch, wodurch bei ihm das Interesse an dieser Thematik geweckt worden war. So erfuhr ich, dass er seine ersten Berührungspunkte mit den Themen Tod und Wiedergeburt während seines Philosophiestudiums hatte.
Ich holte meinen 100 Dollarschein wieder aus der Tasche und betrachtete ein weiteres Mal das Konterfei von Benjamin Franklin. Neben den Dichtern und Denkern Schopenhauer, Hölderlin und Goethe fiel er absolut aus der Reihe. Er hatte als Staatsmann Amerika in die Unabhängigkeit geführt und war darüber hinaus ein Erfinder, schon für sich eine ungewöhnliche Kombination. Und jetzt auch noch ein Mensch, der fest an die Reinkarnation glaubte?
Ich drehte den Geldschein so, dass mein Gegenüber das Konterfei von Franklin sehen konnte und fragte:
»Was hat denn dieser Staatsmann, der, soviel ich weiß, ganz nebenbei auch die Bifokalbrille erfunden hat, gesagt, woraus sich schließen lässt, dass er an die Wiedergeburt glaubte?«
»Ja«, setzte der Mann an, »Benjamin Franklin war wirklich ein sehr ungewöhnlicher Mensch, der übrigens nicht nur die Mehrstärkenbrille, sondern auch den Blitzableiter erfunden hat. Um Ihre Frage zu beantworten: Franklin hat schon im Alter von 22 Jahren seinen Grabspruch geschrieben. Ich kann Ihnen diesen zwar nicht wortwörtlich wiedergeben, aber zumindest ungefähr:
Hier liegt der Leib des Druckers Benjamin Franklin, gleich dem Einband eines alten Buches, seines Inhalts und Titels beraubt. Doch dieses Werk wird erneut in einer schöneren Ausgabe erscheinen, korrigiert und ergänzt von seinem Schöpfer.«
Ich war beeindruckt und stellte für mich fest, dass Benjamin Franklin, als er das schrieb, jünger gewesen war als ich. Ich musste mir gleichzeitig aber auch eingestehen, dass ich die im Grabspruch enthaltene Aussage nicht gänzlich verstanden hatte. Um aber zu reagieren und mir nichts anmerken zu lassen, fragte ich:
»Wie stehen Sie denn persönlich der Wiedergeburt gegenüber und vor allem, wie soll das vonstattengehen?«
»Ich sehe das ganz ähnlich, wie es Franklin mit seinen Worten ausgedrückt hat. Zum einen ist da unser vergänglicher Körper und zum anderen unsere unsterbliche Seele. Irgendwann hat unser Körper ausgedient und stirbt und gibt das wirklich wertvolle, unsere unvergängliche Seele, frei. Die Seele kann sich dann für eine gewisse Zeit von der irdischen Existenz erholen, im körperlosen Zustand auch irgendwelche Reifungsprozesse durchlaufen, bevor sie sich wieder in einem neuen Körper inkarniert.«
Wunderbar, wie er ohne Schnörkel, ausgesprochen verständlich seine Sicht der Dinge beschreiben konnte. So bekam ich nicht nur eine Antwort auf meine Frage, sondern verstand zugleich umfassender, was Franklin mit seiner Grabinschrift ausdrücken wollte.
»Sie scheinen von dem, was sie gesagt haben, sehr überzeugt zu sein. Es hört sich so an, als hätte die Reinkarnation für Sie den Stellenwert einer Gewissheit.«
»Ziemlich überzeugt, ja! Gewissheit ist etwas viel gesagt! Ich kann es letztlich ja nicht beweisen, jedoch ist es für mich persönlich logischer, wiedergeboren zu werden, als dass meine Seele nur einen einzigen irdischen Auftritt hat. Etwas, das jedoch in diesem Zusammenhang für mich Gewissheit hat, ist, dass das höchste Ziel des Lebens die Selbstverwirklichung ist. Denn es ist insbesondere die Tatsache des Todes, die uns mahnt, die Verwirklichung unseres Selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Ich bin mir absolut sicher, dass jedem Menschen eine Schöpferkraft innewohnt und wir hier auf Erden wandeln, um aus dieser Kraft umfassend zu schöpfen – das Beste aus diesem Leben zu machen. Der Tod, als die unüberschreitbare Grenze unserer Möglichkeiten in dieser Existenz, fordert uns nachdrücklich auf, die uns gegebene Zeit nicht ungenutzt vorüberziehen zu lassen. Wir müssen die größten Potenziale, die in uns schlummern, freilegen!«
Ich hing wie magnetisiert an seinen Lippen. Was und wie er es sagte, berührte mich zutiefst. Mir war, als füllten seine Worte einen Raum in meinem Innern, in den ich bisher noch nie vorgedrungen war. Im empfand Wahrhaftigkeit.
Der Mann hatte zu sprechen aufgehört. Er schaute mich an. Sein bestätigendes Kopfnicken hatte für mich nicht nur etwas Vertrautes, sondern auch sehr Beruhigendes. Die ganze Situation hatte mich völlig vergessen lassen, dass wir uns in einem Zug befanden. Entsprechend erschrak ich, als ich bemerkte, dass wir irgendwo auf freier Strecke angehalten hatten.
Ich war tief beeindruckt von dem, was der Mann gesagt hatte und auch davon, wie kraftvoll er zu mir sprach. Seine Sätze kamen wie aus einem Guss, druckreif, ohne die geringste Unterbrechung.
»Es ist wirklich toll, Ihnen zuzuhören. Ich wünschte, ich hätte eine Tonbandaufnahme von all dem, was Sie gesagt haben; dann könnte ich es mir später noch mal in Ruhe anhören.«
Meine Rückmeldung erfreute ihn sichtlich, das verriet mir sein Lächeln. Dann sprach er weiter, während sich im gleichen Moment der Zug wieder in Bewegung setzte.
»Junger Mann«, fuhr er fort, »wenn wieder einmal das Thema Tod im Raum steht und Sie wahrnehmen, dass es die Anwesenden um sie herum unangenehm berührt und die eine oder andere Person einer Auseinandersetzung damit ausweichen möchte, dann lässt sich dies auch noch auf etwas Anderes zurückführen.
Auch wenn es den meisten Menschen nicht bewusst ist, erinnert uns der Tod an all das, was wir bisher nicht verwirklicht haben, an unser ungelebtes Leben. Ja, er bringt uns in Kontakt mit dem, was schlimmer ist als der Tod, mit dem Teil unseres Lebens, der nicht gelebt wurde. Folglich mahnt er uns, Nichtverwirklichtes zu realisieren, unser Leben mit Sinn zu füllen und das, was im Leben wirklich zählt, nicht länger auf die lange Bank zu schieben.«
»Bevor ich mich gleich von Ihnen verabschieden werde, möchte ich Ihnen noch etwas mit auf den Weg geben:
Leben Sie so, dass Sie innerlich zufrieden sind und dass wirklich Sie es sind, der sich in dem Leben, das er lebt, äußert.
Finden Sie heraus, welche Dinge Ihnen wirklich wichtig sind und füllen Sie damit Ihre Existenz.
Leben Sie Ihr Leben und nicht das eines anderen.
Leben Sie ein Leben, in dem Sie sich selbst wiedererkennen können. Folgen Sie Ihrem Herzen und Ihrer Intuition. Ihre Seele wird es Ihnen danken, weil sie sich gehört und verstanden fühlt.«
Dann ging plötzlich alles sehr schnell und die Dinge überstürzten sich. Schon während der Botschaft an mich hatte der Mann seine mittlerweile neben ihm auf dem Sitz platzierte Tasche geöffnet. Zugleich bremste der Zug ab. Er verstaute sein Buch und klappte die Verschlussbügel herunter. Er stand auf, reichte mir die Hand und sagte:
»Machen Sie es gut und bleiben Sie gesund.«
Nachdem er die Schiebetür zum Abteil geöffnet hatte und bereits auf dem Gang stand, drehte er sich noch einmal um:
»Und übrigens, ein großes Dankeschön, dass Sie nicht auf ihren Sitzplatz beharrt haben.«
Er hatte also die ganze Zeit gewusst, dass er auf meinem Platz saß.
Ich schaute aus dem Fenster auf den mäßig besuchten Bahnsteig. Da lief er, hob, ohne sich dabei umzudrehen, seine freie Hand, machte eine winkende Bewegung und verschwand aus meinem Leben, so schlagartig wie er gekommen war.
Der Zug setzte seine Fahrt fort und ich wechselte auf den Sitz gegenüber; meinen Platz, den, auf dem bis eben der Mann gesessen hatte. Das Polster war noch warm und wie die Wärme erfüllte mich auch der Gedanke, dass ich auf diesem Platz noch mehr von der soeben vernommenen Botschaft in mich aufnehmen könnte.
Mich energetisierten seine kraftvollen Worte, ich hatte solche nie zuvor gehört. Eine Ansprache, die sich für mich frei von Eitelkeiten und ohne den geringsten Hauch einer schulmeisterlichen Belehrung vollzog. Ich versuchte, einige seiner Äußerungen, zumindest Fragmente davon, für mich zu wiederholen, um sie auch später noch erinnern zu können. Ich war in einem sehr eigenen, fremdartigen Zustand. Eine Art denkgehemmtes Hochgefühl, so als hätte ich eine mir bisher unbekannte Droge genommen.
Leben Sie ein Leben, in dem Sie sich selbst wiedererkennen können! und Füllen Sie Ihre Existenz mit den Dingen, die Ihnen wirklich wichtig sind! und Schieben Sie die wichtigen Dinge nicht auf die lange Bank!
Was um mich herum geschah, bekam ich nur am Rande mit, es war einfach zu unwichtig. Natürlich hatte ich mitbekommen, dass sich zwei neue Mitreisende im Abteil niedergelassen hatten, die sich scheinbar auch kannten, von denen jedoch jeder für sich mit einem Buch beschäftigt war.
Auch wenn ich es mir nicht vollends eingestehen wollte, ich war traurig. Gar nicht so sehr, weil der Mann sich verabschiedet hatte, sondern weil mir zunehmend bewusster wurde, dass ich mir insgeheim immer jemanden gewünscht hatte, der so zu mir sprach, wie er es getan hatte und dessen Worte ich vorbehaltlos annehmen konnte. Ein Mensch mit Lebenserfahrung, ein Onkel oder ein Freund der Familie, jemand der mir Wichtiges und Wesentliches sagte, ohne mich dabei belehren zu wollen. Einen reifen Erwachsenen, den ich so bejahen konnte wie diesen Mann und der mich genau deshalb auch wirklich erreicht hatte. Er wusste kaum etwas, praktisch nichts über mich und hatte es dennoch geschafft, einfach durch seine Art zu sein, mir das Gefühl zu geben, dass ich richtig war, so wie ich war. Wie hatte er das gemacht?
Ich weiß nicht, wie lange ich so in Gedanken war. Schließlich unterbrach mich der Schaffner, der zunächst die Fahrkarten der beiden zugestiegenen Personen kontrollierte und mir im Anschluss mitteilte, dass der nächste Halt, den wir in 15 Minuten erreichen würden, jener war, wo ich umsteigen musste.
Bevor ich anfing mich fertig zu machen, wiederholte ich noch mehrmals die Aussage:
Leben Sie ein Leben, in dem Sie sich selbst wiedererkennen können.
Dieser Satz, der Einzige, bei dem ich mit Sicherheit wusste, dass ich ihn genau in Erinnerung hatte, spulte sich gleich einem Mantra immer wieder von Neuem ab. Er wurde zu einer Botschaft, die sich fortan in mir wie eine Hintergrundmusik einnistete.
Auch wenn es sich vielleicht ein wenig komisch anhören mag, – ich fühlte mich reifer. Meine Welt, so wie ich sie bisher kannte, war während der ersten Etappe der Bahnfahrt ein gutes Stück größer und reicher geworden.
Mein Anschlusszug kam auf die Minute pünktlich und fuhr planmäßig wieder los. Diesmal saß ich von Anfang an auf meinem Platz – am Fenster mit Blick in Fahrtrichtung. Wenn alles so zuverlässig weiterlief wie bisher, würde ich in rund drei Stunden in Heilbronn sein. Ich verlor mich in Gedanken, spekulierte, was heute noch und vor allem morgen auf mich zukommen würde.
Das Umsteigen, ich glaube es war in Fulda, war gleich einem Ritual, das den Übergang in einen neuen Zeitabschnitt meines Lebens markierte.
Helmut, einer der Söhne von Tante Hilde, holte mich vom Bahnhof ab. Damit er mich problemlos erkennen konnte, hielt ich, so wie drei Tage zuvor am Telefon verabredet, eine zusammengerollte Tageszeitung in die Höhe. Mein Cousin, ein großer Mann von über 1,90 Metern, hatte mich gesehen. Er winkte mir zu.
Während ich das letzte Kind meines Vaters war, ein später Nachzügler, war Helmut das erste Kind von Tante Hilde. Vom Alter her hätte er ohne Weiteres mein Vater sein können. Uns trennten mindestens 25 Jahre.
»Weißt du noch«, sagte Helmut, »dass ich mit dir gespielt habe, als du klein warst?«
»Nein, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber meine Mutter weiß das noch.«
Dass Helmut mit mir im Kinderzimmer auf dem Boden gesessen hatte und wir mit Begeisterung meine Autos fahren ließen, hatte mir meine Mutter erst vor wenigen Tagen berichtet.
Helmut erzählte mir, dass er 1963 für sieben Monate in Berlin gearbeitet hatte und in dieser Zeit des Öfteren bei uns zu Hause zu Besuch war. Er fügte sogleich noch an, dass es das Jahr gewesen war, in dem John F. Kennedy in Berlin seine berühmte Rede mit dem häufig zitierten Satz hielt: »Ich bin ein Berliner.«
Helmut war stolz darauf, damals dabei gewesen zu sein; ein historisches Ereignis, das ihn seither auf seinem Lebensweg begleitet hatte.
Rückblickend betrachtet wäre ich seinerzeit natürlich auch sehr gerne dabei gewesen, jedoch hatte man als Junge von sechs Jahren bekanntlich andere Interessen, als einen Präsidenten auf Staatsbesuch zu bejubeln.
Was das Jahr 1963 betraf, war ich dennoch nicht völlig erinnerungslos. Da war zum einen die Aufregung meiner Eltern, als Kennedy fünf Monate später in Dallas erschossen wurde. Das, was da geschehen war, begriff ich zu jener Zeit in keiner Weise, jedoch weiß ich noch um die Bestürzung und Erschütterung von Mutter und Vater, die atmosphärisch so raumgreifend war, dass dies vermutlich sogar unser Dackel Sissi gespürt hatte. Was ich zum anderen erinnere, war der Wegzug von Carsten, dem Nachbarsjungen, der damals mein bester Freund war.
Ein sichtbares Zeugnis der Betroffenheit meiner Eltern, die sich bei ihnen im November 1963 ausgebreitet hatte, wurde mir rund 50 Jahre später zuteil, als ich die Wohnung meiner Mutter auflöste. Ich fand in einem ihrer Schränke drei dicke Ordner mit ausgeschnittenen und sorgsam eingeklebten Zeitungsausschnitten von Kennedys Ermordung.
Mein Cousin war ein wohlhabender Mann, der mich mit einem nagelneuen 7er BMW mit Lederausstattung abholte. Als autobegeisterter Mensch war ich beeindruckt und machte daraus auch keinen Hehl. Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihm, dass laut meiner Eltern nicht Mama oder Papa, sondern Auto, mein erstes gesprochenes Wort gewesen war.
Helmuts Wohnstätte stand dem schicken BMW in nichts nach. Eine komfortable und geschmackvoll eingerichtete Villa im Bungalowstil. Auf Nachfrage erzählte mir Helmut von seiner Firma, einem mittelständischen Unternehmen der Automobilzuliefererindustrie. Er hatte sie vor 15 Jahren selbst aus dem Boden gestampft und beschäftigte mittlerweile fast einhundert Menschen. Chapeau!
Helmuts Frau, die ausgesprochen höflich und zuvorkommend war, zeigte mir mein Gästezimmer:
»Essen gibt es in einer Stunde. Ich hoffe, du magst Flädlesuppe und Rinderbraten und Spätzle.«
Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich weder Flädle noch Spätzle.
Das Essen duftete fantastisch und die Suppe und die mir bisher unbekannten Teigwaren schmeckten hervorragend. Ich nahm zweimal nach, was für sich allein schon zeigte, wie sehr es mir schmeckte und lobte mehrfach das sensationelle Essen. Wenn die Schüsseln nicht leer gewesen wären, hätte ich auch noch ein drittes Mal zugeschlagen. Die Köchin war sichtlich glücklich und auch Helmut geizte nicht mit einem Lobgesang auf die Kochkünste seiner Frau.
Die Beerdigung war am späten Vormittag des nächsten Tages. Helmut brach mit mir schon in aller Frühe auf. Seine Frau plante eigenständig nachzukommen und auf dem Weg dorthin noch ihre Mutter abzuholen. Unsere erste Station war ein Blumengeschäft, bei dem ich ein Bouquet abholte, das meine Mutter Tage zuvor telefonisch bestellt hatte. Die zweite Station war das Lokal, in dem es später den Totenschmaus geben sollte, bevor es zum vorerst dritten und letzten Haltepunkt ging, dem Friedhof.
Als wir ankamen, war es kurz vor zehn und bis zum Beginn der Trauerfeier und zur anschließenden Beerdigung blieb noch eine gute Stunde. Und doch waren schon viele Menschen da, die Abschied von Tante Hilde nehmen wollten. Nachdem Helmut alle Anwesenden begrüßt und mich ihnen vorgestellt hatte, sagte er zu mir.
»Meine Mutter ist in der Halle aufgebahrt und wenn du sie auch noch einmal sehen möchtest, dann ist jetzt Gelegenheit dazu.«
Ich zuckte kurz, war aber auch gespannt, denn ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben einen Toten gesehen.
Mit Anspannung und zugleich mit Neugier trat ich an den Sarg heran. Da lag sie nun, meine Tante Hilde und sah so aus, als würde sie schlafen, hatte aber diese Kälte um sich.
So sah ich Tante Hilde zum ersten und zugleich zum letzten Mal, bedankte mich für die vielen Lebkuchen und fragte mich, wo sich ihre Seele wohl gerade aufhielte.
Im Nachgang fragte ich mich noch, ob sie wohl ein Leben gelebt hatte, in dem sie sich selbst wiedererkennen konnte.
Nach der Beisetzung ging es dann in das Lokal, das Helmut mit mir schon am frühen Vormittag aufgesucht hatte. Im Gegensatz zum Ritus des Abschieds in der Totenhalle, war mir das Ritual des Totenschmauses sehr geläufig. Ich hatte bis dahin an wenigstens sechs oder sieben Beerdigungen teilgenommen.
Was sich dann während des Totenschmauses mit den Angehörigen und Freunden der Familie ereignete, war filmreif; eine Episode, die ich immer wieder gerne erzähle.
Ich hatte mir einige Wochen zuvor, gleich nach dem Jahreswechsel, ein Ohrloch stechen lassen. Anfang der 1980er-Jahre galt dies, zumindest in meiner Heimatstadt Berlin, als cool. Ich trug also einen Ohrring, genaugenommen hatte ich einen kleinen weißgoldenen Ring im linken Ohr.
Im Lokal war ein Büffet mit warmen und kalten Speisen angerichtet. Nachdem ich eine erste Portion gegessen hatte, stand ich auf, um mir ein zweites Gericht zu holen. Ich stellte mich zunächst ganz ordnungsgemäß an. Der erneute Gang zum Büffet war jedoch mit einer deutlich längeren Wartezeit verbunden und so entschied ich, mich zunächst wieder auf meinen Platz zu setzen; etwas, das den beiden Frauen, mit denen ich Rücken an Rücken saß, entgangen sein musste. So wurde ich Zeuge einer Unterhaltung, besser gesagt einer sehr lebendigen Diskussion, die mich und meinen Ohrring zum Gegenstand hatte.
»Wissen Sie, ich denke, dass der junge Mann mit dem Ohrring ein Zuhälter ist.«
»Nein, das glaube ich nicht. Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe erst kürzlich im Fernsehen einen Bericht aus dem Rotlichtmilieu gesehen. Die Zuhälter trugen dort alle einen Ohrring. Meine Nachbarin bestätigte mir das dann auch. Sie hatte darüber in einer Zeitung gelesen. Das scheint deren Erkennungszeichen zu sein.«
»Ich glaube, da liegen Sie falsch. Ohrringe sind das Erkennungszeichen von schwulen Männern. Ich war erst vorige Woche mit meiner Enkelin in Stuttgart. Wie Sie wissen, studiert sie dort seit einem Jahr. Ich habe ihr ein Bett und einen Schrank für ihre neue Studentenunterkunft gekauft. Nach dem Einkauf haben wir uns dann noch in ein Café gesetzt. Am Nebentisch saßen zwei Männer, die beide einen Ohrring trugen und ganz unverfroren miteinander flirteten. Ich wollte da gar nicht hinsehen. Nachdem wir gegangen waren, erzählte mir meine Enkelin, dass drei ihrer Kommilitonen schwul seien und dass alle einen Ohrring tragen.«
Kurz war ich erschrocken, aber der Schreck wich rasch einer schelmischen Freude an der Unterhaltung, die mich zum Thema hatte. Ursprünglich hatte ich gedacht, dass ich mir den Ohrring aus rein modischen Beweggründen zugelegt hatte, konnte aber spätestens jetzt erkennen, dass der Ohrring auch ein Relikt des Protests und Aufbegehrens war.
Mein Zug ging um halb fünf und mein Cousin ließ es sich nicht nehmen, mich zum Bahnhof zu bringen. Wir verabschiedeten uns vor dem Bahnhof und ich bedankte mich nochmals für seine Gastfreundschaft. Auf der Rückfahrt nach Berlin ließ ich die Erlebnisse der letzten zwei Tage mehrfach Revue passieren. Mir fielen unzählige Leute ein, denen ich die Ohrringepisode erzählen würde. Was jedoch den älteren Mann von der Hinfahrt und seine Botschaft betraf, Fehlanzeige. Natürlich würde ich meiner Freundin Carola davon erzählen und auch Jens und Andreas würde die Geschichte interessieren, nur wusste ich bereits zu diesem Zeitpunkt um ihre Reaktionen. Sie würden sehr wahrscheinlich, gleich wenn ich zu Ende erzählt hatte, einfach zur Tagesordnung übergehen. Ich wollte auf keinen Fall Perlen vor die Säue werfen. Die Begegnung mit dem Mann war mir zu wichtig und wertvoll. Dieser besondere Moment durfte keinen Schaden nehmen. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zur Überzeugung, die Begegnung mit dem Mann zunächst für mich zu behalten, sie wie ein Geheimnis zu bewahren.
Am Bahnhof Zoo holte mich Carola ab. Sie stand auf dem Bahnsteig, unweit der Tür, an der ich ausstieg und winkte mir zu. Wir hatten uns erst letzten Oktober auf der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes kennengelernt. Ohne, dass wir beide darüber jemals wirklich gesprochen hatten, gingen wir sehr sachlich an das Projekt intime Partnerschaft heran. In Sachen Gefühle standen wir gleichermaßen auf der Bremse. Es war so, als hätten wir eine stille Übereinkunft getroffen, denn das Ende unserer Beziehung war von Anfang an vorgezeichnet. Während mein Vorhaben darin bestand, ab Juni für mehrere Monate durch die USA zu reisen, hatte Carola einen Vertrag unterschrieben, der sie dazu verpflichtete, ab Mai für ein Jahr als Au Pair in Australien zu arbeiten.
In den kommenden Wochen fuhr ich fleißig Taxi, um mir mein Geld für die Amerikareise zu verdienen, spielte hin und wieder Backgammon oder Doppelkopf, traf mich mit Freunden und verbrachte die Samstagabende mit Carola. Wenn wir uns unter der Woche sahen, dann meistens am Mittwoch, ihrem freien Tag. Carola jobbte bis zu ihrem Australienaufenthalt als Kellnerin in einem Café. Als sie mir dann Mitte April ihr Flugticket zeigte, mit dem Abflugtermin 27. April, wurde es dann doch, wenn auch nur kurz, etwas sentimentaler. Rückblickend betrachtet ist dieser Moment das Ende unserer Beziehung gewesen. Er war wie eine Schere, die das dünne Band zwischen uns zerschnitt. Fortan reduzierten sich dann auch unsere gemeinsamen Treffen auf ein Minimum, bis sie schließlich per Flugzeug aus meinem Leben verschwand.
Leben Sie ein Leben, in dem Sie sich selbst wiedererkennen können.
Gleich nach meiner Rückkehr von Tante Hildes Beerdigung hatte ich diesen Satz in meiner schönsten Schrift auf eine Karteikarte geschrieben. Diese hatte ich dann an meinem Flurspiegel befestigt. So wurde ich jeden Tag aufs Neue an die Begegnung mit dem Mann im Zug erinnert und fing an, mich selbst zu fragen, ob ich mich in meinem Leben wiedererkannte. Entsprach mein Leben wirklich meinen Bedürfnissen oder fehlte mir etwas?
Während ich an den Taxihaltestellen auf Fahrgäste wartete, hatte ich die Zeit, mir über meine Fragen an das Leben Gedanken zu machen. Ich bedauerte es mittlerweile sehr, dass ich von dem Mann aus dem Zug nicht mehr wusste, als dass er Philosophie studiert hatte. Ich hatte ihn weder nach seinem Namen noch nach seiner beruflichen Tätigkeit oder gar seiner Adresse gefragt. Ich wusste nicht einmal, ob er in Berlin lebte.
Immer öfter stieg er in meiner Vorstellung als Fahrgast zu mir ins Taxi und gab mir die Gelegenheit, ihm Fragen zu stellen. Mal stieg er an der Oper ein, mal am Flugplatz, mal am Bahnhof und ein anderes Mal an einer schlichten Privatadresse.
Zu einem ständigen Begleiter auf meinen Taxifahrten war mir ein Philosophiebuch geworden, das ich auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Ich hoffte darauf, hier ein paar Antworten zu finden oder irgendetwas von dem, was der Mann zu mir gesagt hatte. Das Buch war streckenweise sehr interessant, jedoch auch schwer zu lesen. Ich wünschte mir ein paar griffigere Sätze, klare, wohl formulierte Aussagen, so wie ich sie von dem Mann im Zug gehört hatte. Aussagen an die ich mich hätte halten, an denen ich mich hätte orientieren können. Meine Suche blieb erfolglos und so ließ auch mein Interesse an dem dicken Wälzer zunehmend nach. Das Philosophiebuch blieb immer öfter zu Hause, bis es endgültig von der Biographie von Jim Morrison abgelöst wurde. Zum ersten Mal hörte ich vom Club 27. So nannte man die Musiker, die im Alter von 27 Jahren gestorben waren. Nach Brian Jones von den Rolling Stones, Jimi Hendrix und Janis Joplin, war Jim Morrison die vierte Person in diesem Club. Später sollten noch Kurt Cobain und Amy Winehouse folgen.
An einem der letzten Arbeitstage vor meiner Abreise in die USA wurden meine Tagträume der zufälligen Begegnung mit dem Mann aus dem Zug, die in den letzten Wochen immer seltener geworden waren, dann doch noch einmal beflügelt. Ich hatte per Funk einen Auftrag angenommen und fuhr zu der mir übermittelten Adresse. Ein Mann kam aus dem Haus, setzte sich wie die meisten Fahrgäste auf die Rückbank, begrüßte mich und sagte mir, wo es hingehen sollte. Ich war zunächst über den Innenspiegel mit ihm in Kontakt getreten, drehte mich aber sofort um, als ich für den Bruchteil einer Sekunde glaubte, mein Traum sei Wirklichkeit geworden. Die Ähnlichkeit mit dem Mann aus dem Zug war frappierend, jedoch fehlte die markante Narbe am Kinn und auch die Stimme hatte eine komplett andere Klangfarbe.
Ich suchte das Gespräch zu diesem Fahrgast, was mir leicht fiel, und erzählte ihm, dass ich vor ein paar Monaten jemanden im Zug kennengelernt hatte, der ihm sehr ähnlich war.
»Haben Sie vielleicht einen Bruder?«
Er schüttelte den Kopf. Zwei Schwestern habe er, jedoch keinen Bruder, sagte er und er kannte auch keinen Doppelgänger mit einer Narbe am Kinn. Ein humorvoller Mensch, mit dem man sich gut unterhalten konnte. Wir sprachen über dieses und jenes, bis unsere Unterhaltung schließlich an einem Thema hängen blieb. Ich erfuhr von meinem Fahrgast, dass er von Beruf Bestatter war. Was für ein Zufall! Ausgerechnet der Mensch, den ich für einen kurzen Augenblick für meinen Mann aus dem Zug gehalten hatte, hatte jeden Tag mit dem Tod zu tun. Jemand, mit dem man vermutlich gleichermaßen sachlich, ohne dass er unangenehm berührt sein wird, über den Tod sprechen kann. Euphorisiert fragte ich ihn sogleich: