Das Nahe und das Ferne - Claude Lévi-Strauss - E-Book

Das Nahe und das Ferne E-Book

Claude Lévi-Strauss

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Beschreibung

Im Alter von achtzig Jahren erklärte sich einer der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts bereit, ein Interview zu geben, sein erstes Interview seit fast dreißig Jahren. »Ein Ereignis«, jubelte Le Figaro. Im Gespräch mit dem Bestsellerautor Didier Eribon blickt Claude Lévi-Strauss auf die Stationen seines Lebens und Schaffens zurück – frühe Freud- und Marx-Lektüren, seine Flucht nach New York, Freundschaften mit André Breton und Max Ernst, seine Kritik am Kolonialismus und Cartesianismus, seinen anhaltenden Kampf für einen radikalen Humanismus. Und immer wieder wird deutlich, dass die historischen Ereignisse Lévi-Strauss' Schicksal genauso beeinflusst haben wie er das Denken unserer Epoche. Aber auch private Betrachtungen kommen in diesen Gesprächen nicht zu kurz. Eindrücklich erzählt er von seiner Liebe zur Musik, zur Malerei, zu Blumen, und warum er, der große Ethnologe, nie gern auf Reisen gegangen ist. Claude Lévi-Strauss' Erinnerungen sind die Confessiones eines herausragenden Gelehrten – und gleichzeitig ein bedeutendes Dokument europäischer Geistesgeschichte.

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Claude Lévi-Strauss

Das Nahe und das Ferne

Eine Autobiographie in Gesprächen mit Didier Eribon

Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen

Kampa

Prolog

Haben Sie immer TagebuchTagebuch geführt? Haben Sie Notizhefte oder »Reiseblätter« geschrieben, wie sie sich in Traurige Tropen[1] zitiert finden?

Auf Expeditionen sicherlich, da habe ich mir Notizen gemacht. Es gibt in TraurigeTropenLévi-Strauss, ClaudeTraurige Tropen einige Abschnitte, die wörtlich übernommen sind.

Aber Sie haben kein TagebuchTagebuch in dem Sinne geführt, wie das Bronisław MalinowskiMalinowski, Bronisław in seinem Tagebuch im strikten Sinne des WortesMalinowski, BronisławEin Tagebuch im strikten Sinn des Wortes Neuguinea 1914–1918[2] getan hatte?

Ich habe meinen Gemütszuständen nicht sonderlich viel Bedeutung beigemessen.

Ich habe Ihnen diese Frage gestellt, weil Sie in Traurige TropenLévi-Strauss, ClaudeTraurige Tropen versichern, Sie hätten ein ganz schlechtes Gedächtnis.

Ich habe ein verheerendes, ein selbstzerstörerisches Gedächtnis. Ich verdränge Elemente meines Privat- und Berufslebens je nach den Umständen. Und später gelingt es mir dann nicht mehr, die Fakten ordentlich zusammenzubringen.

Und um diesem Übel abzuhelfen, wenn Sie es denn überhaupt als Übel auffassen …

Jedenfalls ist es im täglichen Leben sehr störend.

Waren Sie nie versucht, Ihr tägliches Tun und Lassen festzuhalten?

Nie. Vielleicht aufgrund einer Art von instinktivem Misstrauen gegenüber dem, was ich tue und bin.

»Es zählt einzig die Arbeit des Augenblicks.«

Eine Art von Misstrauen?

Ich habe in Traurige TropenLévi-Strauss, ClaudeTraurige Tropen erzählt, dass meine Intelligenz neolithisch ist: Ich bin keiner, der kapitalisiert, der sein erworbenes Gut Früchte tragen lässt, eher einer, der sich an einer stetig fließenden Grenze fortbewegt. Es zählt einzig die Arbeit des Augenblicks. Und die geht rasch verloren. Ich verspüre keinerlei Neigung und habe nicht das Bedürfnis, ihre Spur zu bewahren.

Es ist nahezu paradox, Sie sagen zu hören, dass einzig der Augenblick und das Ereignis für Sie zählen.

Subjektiv, ja, das ist es, was zählt. Aber ich rette mich daraus in die Arbeit, indem ich Zettelsammlungen anlege: von allem etwas, beiläufig aufgetauchte Ideen, Lektürezusammenfassungen, Rekurse auf Werke, Zitate … Und wenn ich etwas in Angriff nehmen will, dann ziehe ich einen Packen Zettel aus meinen Schubladen und ordne sie neu, wie bei einer Partie Karten. Dieses Spiel, bei dem der Zufall zu seinem Recht kommt, hilft mir, schwache Erinnerungen aufzufrischen.

 

Wir danken Mlle Eva Kempinski, die, über die Abschrift des Manuskripts hinaus, viel dazu beigetragen hat, Ordnung in die mit Streichungen, Zusätzen und Änderungen übersäte Transkription zu bringen, die wir ihr übergeben hatten.

Erster TeilWenn Don Quijote wiederkehrt

Kapitel 1Von OffenbachOffenbach, Jacques zu MarxMarx, Karl

Sie sind in Brüssel geboren, im Jahr 1908.

Durch Zufall. Mein VaterLévi-Strauss, Raymond war Maler. Vor allem Porträtmaler. Er hatte Jugendfreunde in Belgien, die ihm irgendwelche Auftragsarbeiten besorgt hatten, und so hat er sich mit seiner jungen Frau vorübergehend in Brüssel niedergelassen. Während dieses Aufenthaltes kam ich zur Welt. Meine Eltern sind nach ParisParis zurückgekehrt, als ich zwei Monate alt war.

Sie wohnten in ParisParis?

Mein VaterLévi-Strauss, Raymond war Pariser. Meine MutterLévi-Strauss, Emma ist in Verdun geboren und in Bayonne aufgewachsen.

Ihre KindheitKindheit haben Sie also in ParisParis verbracht, im 16. Arrondissement, glaube ich.

In einem Gebäude, das noch heute existiert, Nr. 26 in der Rue Poussin, in der Nähe der Porte d’Auteuil. Wenn ich dort vorbeikomme, schaue ich zu dem Balkon der Wohnung im fünften Stock, wo ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht habe.

Und heute wohnen Sie ebenfalls im 16. Arrondissement. Ist das ein Viertel, das Sie lieben?

Es ist ein Viertel, das ich in meiner KindheitKindheit geliebt habe, weil es sich viel Pittoreskes bewahrt hatte. Ich erinnere mich, dass es am Ende der Rue Poussin, bei der Abzweigung zur Rue La Fontaine, noch eine Art Bauernhof gab. Die Rue Raynouard war zur Hälfte ländlich. Gleichzeitig gab es da Ateliers von Künstlern, kleine Antiquitätenhändler … Heute ist es ein Viertel, das mich langweilt.

War Ihre Familie sehr an KunstKunst interessiert?

Es gab sogar eine regelrechte erbliche Belastung! Mein Urgroßvater, der Vater der Mutter meines Vaters, hieß Isaac StraussStrauss, Isaac. 1806 in Straßburg geboren, stieg er sehr jung nach ParisParis auf, wie es heißt. Er war Geiger und gründete ein kleines Orchester. Er trug dazu bei, die Musik Ludwig van Beethovens, Felix MendelssohnMendelssohn Bartholdy, Felix Bartholdys und mancher anderer bekannt zu machen. In ParisParis hat er mit Hector BerliozBerlioz, Hector zusammengearbeitet, der ihn in seinen Memoiren erwähnt; und auch mit Jacques OffenbachOffenbach, Jacques, für den er einige seiner berühmten Quadrillen schrieb. OffenbachsOffenbach, Jacques Musik kannte man in meiner Familie auswendig; sie hat meine ganze KindheitKindheit begleitet.

StraussStrauss, Isaac wurde gegen Ende der Regentschaft von Louis-Philippe I.Louis-Philippe I. Leiter des Ballorchesters bei Hofe, später dann, unter Napoleon III.Napoleon iii., Direktor des Casino-Orchesters von Vichy, das er lange leitete. Wiederum später trat er die Nachfolge von Philippe MusardMusard, Philippe als Dirigent der Opernbälle an. Gleichzeitig war er so etwas wie ein »Cousin PonsBalzac, Honoré deCousin Pons« und leidenschaftlicher Sammler von Antiquitäten, mit denen er auch handelte.

Hat Ihre Familie von dieser Sammlung etwas erhalten können?

Er hatte eine bedeutende Sammlung von Judaica, die gegenwärtig im Musée de Cluny aufbewahrt wird. Verschiedene Objekte, die durch seine Hände gegangen sind, wurden von Mäzenen erworben, die sie dem Louvre übereigneten. Was übrig blieb, wurde nach seinem Tode verkauft oder zwischen seinen Töchtern aufgeteilt. Der Rest wurde während der Besetzung von den Deutschen geplündert. Ich bewahre ein paar Überreste davon auf; so das Armband, das Napoleon III.Napoleon iii. meinem UrgroßvaterStrauss, Isaac überreichte, um sich für die Gastfreundschaft in der Villa Strauss in Vichy zu bedanken. Diese Villa Strauss, in der der Kaiser zu Besuch weilte, existiert noch heute. Sie ist zu einer Bar oder einem Restaurant umgestaltet worden, ich weiß nicht mehr, aber ihren Namen hat sie behalten.

Wurde die Erinnerung an diese Vergangenheit in der Familientradition wachgehalten und weitergegeben?

Sicher, denn das war die glorreiche Periode der Familie: Sie stand dem Thron nahe! Mein UrgroßvaterStrauss, Isaac hatte häufigen Umgang mit der Prinzessin MathildeBonaparte, Mathilde. Die Familie meines VatersLévi-Strauss, Raymond lebte im Gedenken an das Zweite Kaiserreich. Es blieb ihr übrigens nahe und lebendig: Als Kind habe ich noch – und zwar mit meinen eigenen Augen – die Kaiserin EugénieEugénie de Montijo (Kaiserin) gesehen.

Sie haben erzählt, dass Ihr Vater Maler war.

Ja, und zwei meiner Onkel ebenfalls. Anfangs vom Glück begünstigt, starb mein GroßvaterLévi, Gustave Henri väterlicherseits ruiniert, sodass einer seiner Söhne – er hatte vier Jungen und ein Mädchen – schon sehr früh arbeiten musste, um die Familie zu unterstützen.

Man schickte meinen VaterLévi-Strauss, Raymond auf die École des hautes études commerciales [Wirtschaftswissenschaftliche Hochschule].[3] Zu Beginn seines Berufslebens hat er mit bescheidenen Tätigkeiten an der Börse angefangen. Er hat Daniel-Henry KahnweilerKahnweiler, Daniel-Henry kennengelernt, und sie sind Freunde geworden. Sobald er konnte, hat er sich der MalereiMalerei verschrieben, für die er sich seit der KindheitKindheit leidenschaftlich begeisterte.

Andererseits fügte es der Zufall, dass mein VaterLévi-Strauss, Raymond und meine MutterLévi-Strauss, Emma Cousine bzw. Cousin zweiten Grades waren. In Bayonne hatte die ältere Schwester meiner Mutter einen Maler geheiratet, der zeitweilig sogar eine Berühmtheit war, Henry Caro-DelvailleCaro-Delvaille, Henry. Eine andere Schwester hat ebenfalls einen Maler geheiratet, Gabriel RobyRoby, Gabriel, einen Basken; für ihn, der von schwächlicher Gesundheit war und früh starb, war das Leben noch schwieriger als für meinen VaterLévi-Strauss, Raymond.

Haben meine Eltern sich aufgrund der familiären Bindungen oder aufgrund der Beziehungen zwischen Malern kennengelernt? Ich weiß es nicht mehr. Wie dem auch sei, meine MutterLévi-Strauss, Emma lebte vor ihrer Heirat in Paris, zum Teil bei den Caro-Delvailles. Um Sekretärin werden zu können, erlernte sie Stenographie und Schreibmaschine.

Ihr VaterLévi-Strauss, Raymond hat in seinem Beruf als Maler nicht viel Geld verdient.

Immer weniger, in dem Maße, in dem der Geschmack des Publikums sich wandelte.

Ihre KindheitKindheit ist also nicht die eines Sohnes der PariserParis Bourgeoisie gewesen?

Der Kultur nach ist sie es gewesen, dem Leben in einem Kreis von Künstlern nach; sie war geistig sehr reich. Aber man hatte sich mit materiellen Schwierigkeiten herumzuschlagen.

Haben Sie daran genaue Erinnerungen?

Ich erinnere mich der Ängste, die zu bestimmten Zeiten wach wurden, wenn es keine Aufträge mehr gab. Mein VaterLévi-Strauss, Raymond, der ein großer Bastler war, erfand also alle möglichen Arten von Nebenerwerbstätigkeiten. Eine Zeit lang konzentrierte man sich im Hause auf Stoffdrucke. Man schnitt Linoleumtafeln, bestrich die erhabenen Stellen mit einem Leim und presste die so behandelten Formen dann auf Samtstoffe, damit verschiedenfarbige Metallstäubchen, die man darüberstreute, daran haften bleiben konnten.

Und Sie waren an diesen Tätigkeiten beteiligt?

Ich habe sogar Vorlagen gemacht! Dann gab es eine andere Zeit, in der mein VaterLévi-Strauss, Raymond kleine Tischchen mit Lackimitation im chinesischen Stil anfertigte. Er hat auch Lampen mit billigen, auf Glasscheiben geklebten japanischen Drucken hergestellt. Alles war recht, um die Monatsenden zu überstehen.

Haben Sie Bilder aufbewahrt, die er gemalt hat?

Wenige, weil meinen Eltern wegen der Plünderungen gegen Ende des Krieges nichts mehr blieb, nicht einmal ein Bett …

Sie haben von der Sammlung jüdischer Antiquitäten gesprochen, die Ihr Urgroßvater zusammengetragen hatte. Hatte sich bei Ihren Eltern eine religiöse Bindung erhalten?

Meine Eltern waren ganz und gar ungläubig. Meine MutterLévi-Strauss, Emma allerdings, Tochter eines Rabbiners, war noch in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen.

Haben Sie Ihren Rabbiner-GroßvaterLevy, Èmile noch gekannt?

Sogar sehr gut. Während des Ersten Weltkrieges habe ich bei ihm gelebt. Meine MutterLévi-Strauss, Emma und ihre Schwestern hatten sich mit ihren Kindern dort einquartiert, während ihre Männer zum Militärdienst eingezogen waren.

Abgesehen von dieser Zeit, die Sie bei Ihrem GroßvaterLevy, Èmile verbracht haben, sind Sie in einer glaubenslosen Atmosphäre aufgewachsen, in der die jüdische Tradition vielleicht dennoch präsent war?

So reibungsfrei war es nicht. Meine Großmutter väterlicherseits war noch praktizierende Gläubige. Allerdings steckte in diesem Zweig der Familie ein Körnchen Wahnsinn, der sich auf bald tragische, bald burleske Weise äußerte. Ein Bruder meines VatersLévi-Strauss, Raymond, der, von Bibelexegese geradezu besessen, nicht ganz richtig im Kopf war, beging Selbstmord; ich war damals drei Jahre alt. Noch vor meiner Geburt hatte sich ein anderer Bruder meines VatersLévi-Strauss, Raymond zum Priester weihen lassen, um sich, im Gefolge einer Auseinandersetzung, an seinen Eltern zu rächen. Eine Zeit lang hatte die Familie also einen Abbé Lévi in ihren Reihen … Ich erinnere mich seiner zu einer späteren Zeit, er war damals kleiner Angestellter der Compagnie du Gaz, stets hübsch geschniegelt, mit blondem, hochgezwirbeltem Schnurrbart, mit seiner Persönlichkeit und seinem Status glücklich und zufrieden.

Der Rabbiner, mein GroßvaterLevy, Èmile mütterlicherseits, war ein frommer Mann von bescheidenem Wesen, der die Rituale skrupulös einhielt. Drei oder vier Jahre hintereinander habe ich an allen religiösen Festen teilgenommen. Was seine FrauLevy, Sara betraf, so bezweifelten selbst ihre Töchter, dass sie gläubig war. In Bayonne hatte meine GroßmutterLevy, Sara sie in eine Klosterschule geschickt, weil das die beste Lehranstalt war. Die älteste Tochter bereitete sich auf das Lycée de Sèvres vor oder trat sogar ein, ich weiß nicht mehr, und das zu einer Zeit, da die gutgläubige Provinz in den Sèvres-Absolventinnen Teufelinnen sah. Die Frau des Rabbiners hatte liberale Ansichten!

Obwohl ungläubig, blieben meine Eltern durch ihre KindheitKindheit der jüdischenJudentum Tradition verhaftet. Sie begingen die religiösen Feiertage zwar nicht, sprachen aber davon. Man ließ mich in Versailles meine Bar-Mizwa feiern, ohne andere Gründe dafür geltend zu machen als meinen GroßvaterLevy, Èmile nicht zu enttäuschen, damit ich schließlich einwilligte.

Sind Sie niemals von religiösen Gefühlen in Unruhe versetzt worden?

Wenn Sie unter ReligionReligion die Beziehung zu einem persönlichen Gott verstehen, nie.

Hat dieser »UnglaubeGlaube« in Ihrer geistigen Entwicklung eine Rolle gespielt?

Das weiß ich nicht. In meiner Jugend war ich auf diesem Gebiet sehr intolerant; heute, nachdem ich die GeschichteGeschichte / Geschichtswissenschaft / Historiker der ReligionenReligion – aller Arten von ReligionenReligion – untersucht und gelehrt habe, bin ich ehrfürchtiger geworden, als ich das mit achtzehn oder zwanzig Jahren war. Und obwohl ich für religiöse Losungen taub bleibe, bin ich doch mehr und mehr von dem Gefühl durchdrungen, dass der Kosmos und der Platz des Menschen im Universum unser Fassungsvermögen übersteigen und stets übersteigen werden. Es kommt vor, dass ich mich mit Gläubigen besser verstehe als mit eingefleischten Rationalisten. Immerhin besitzen jene ein Gespür für das Mysterium. Das Denken scheint in meinen Augen konstitutionell unfähig zu sein, dieses Mysterium zu enträtseln. Man muss sich mit der unermüdlichen Maulwurfsarbeit zufriedengeben, welche die wissenschaftliche Erkenntnis an seinen Rändern betreibt. Aber ich kenne nichts Reizvolleres, nichts Bereichernderes für den Geist als den Versuch, ihr zu folgen – auf profanem Wege; wenngleich man sich bewusst bleiben sollte, dass jeder Fortschritt neue Probleme hervorbringt und die Aufgabe ohne Ende ist.

Sie haben die Zeit des Ersten Weltkrieges bei Ihrem GroßvaterLevy, Èmile in Versailles verbracht?

Von 1914 bis 1918. Da habe ich auch meine Schulzeit begonnen: erst in der Volksschule, dann am Lycée Hoche. Als wir nach ParisParis zurückkehrten, bin ich am Lycée Janson de Sailly in die sixième gekommen.

Haben Sie sehr unter dem Krieg gelitten?

Nein. Mein VaterLévi-Strauss, Raymond, der gesundheitlich stets anfällig war, ist zum Militärdienst einberufen worden, als Krankenwärter im Militärlazarett von Versailles. Ein Cousin, der sehr viel älter war als ich, ein brillanter normalien [Absolvent einer École normale supérieure], war das einzige Kriegsopfer unter meinen Angehörigen. Maurice BarrèsBarrès, Maurice hat seine Briefe vom Feld in seinem Buch Les Diverses Familles spirituelles de la France zitiert und kommentiert.

Nach dem Krieg sind Sie also in das Janson de Sailly eingeschult worden?

Ich bin dort bis zum Abitur geblieben.

Sind Sie von manchen Ihrer Professoren geprägt worden?

Ich glaube nicht. Sie flößten mir mehr oder weniger Sympathie ein, aber keiner von ihnen hat die Rolle eines geistigen Führers übernommen.

Sie sind also auf anderen Wegen mit dem marxschen Denken in Berührung gekommen?

Ich habe die Beziehungen meines VatersLévi-Strauss, Raymond zu einer belgischen Familie erwähnt. Das waren in der Tat enge Freunde; wir verbrachten alle Ferien zusammen. Einmal luden sie im Sommer einen ihrer eigenen Freunde ein, einen militanten jungen belgischen Sozialisten, der in seinem Lande bereits bekannt war. Ich habe ihm Fragen über Autoren gestellt, von denen im Rahmen des Gymnasialunterrichts noch kaum die Rede war: MarxMarx, Karl, Pierre-Joseph ProudhonProudhon, Pierre-Joseph … Er hat mich veranlasst, sie zu lesen.

»Marx hat mich auf der Stelle fasziniert.«

Wie alt waren Sie damals?

Sechzehn Jahre. Und MarxMarx, Karl hat mich auf der Stelle fasziniert.

Mit welchem seiner Werke haben Sie begonnen?

Ich weiß nicht mehr, aber ich habe mich sehr bald darangemacht, Das KapitalMarx, KarlDas Kapital zu lesen.

Sind Sie nicht vor der Schwierigkeit dieser Lektüre zurückgeschreckt?

Ich verstand nicht alles. In Wirklichkeit waren das, was ich bei MarxMarx, Karl entdeckte, andere, für mich neue Denkformen: KantKant, Immanuel, HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich …

Wahrscheinlich hat diese Marx-Lektüre Sie zu anderen philosophischen Studien angestiftet.

Ich weiß nicht. Jedenfalls habe ich meine Philosophie-Klasse sehr schlecht begonnen und erst im Laufe des Jahres festen Boden unter den Füßen bekommen.

In welcher philosophischen Tradition stand Ihr Professor?

Er war Bergsonianer. Sozialist und Bergsonianer.

Hat Sie der Bergsonismus nie in Versuchung geführt?

Nein. Dem bergsonschen Denken gegenüber empfand ich sogar Feindseligkeit, weil es mir allzu viel Gewicht auf die Erscheinungen, auf das unmittelbare Bewusstsein zu legen schien … Später habe ich es besser verstanden und ihm in Das Ende des TotemismusLévi-Strauss, ClaudeDas Ende des Totemismus[4] meine Reverenz erwiesen.

Sie sind durch Vermittlung dieses belgischen Freundes Marxist geworden. Aber Sie sind auch politischer Aktivist geworden.

Er hatte mich bekehrt. Oder war ich dieser Bekehrung spontan entgegengekommen? Ich kann es nicht sagen; jedenfalls machte er mich eine Zeit lang zu einer Art Zögling der belgischen Arbeiterpartei. Meinen ersten gedruckten Text veröffentlichte der Verlag L’Églantine der POB [Parti Ouvrier Belge]: eine Broschüre über Gracchus BabeufBabeuf, François Noël (Gracchus), deren Existenz ich nur zu gern vergäße. Und dann wurde ich in der SozialistischenSozialismus Partei Frankreichs aktiv, die sich damals SFIO [Section Française de l’Internationale Ouvrière, Französische Sektion der Arbeiter-Internationale] nannte.

Welche politischen Auffassungen vertrat Ihre Familie?

Sie war politisch nicht engagiert. In der Familie meiner MutterLevy, Emma, beim GroßrabbinerLevy, Èmile von Versailles, war man himmelweit von jeder politischen Betätigung entfernt. Auf der väterlichen Seite: eine gutbürgerliche Familie, die bessere Tage gesehen hatte und mit einem konservativen Temperament gesegnet war, abgesehen wahrscheinlich von der Jugendzeit meines VatersLévi-Strauss, Raymond und seiner Brüder während der Dreyfus-AffäreDreyfus-Affäre. Sie waren, wie sie erzählten, zu einer Dreyfus-Kundgebung gegangen, bei der Jean JaurèsJaurès, Jean sprach. Sie gingen zu ihm, um ihm zu danken, und JaurèsJaurès, Jean gab ihnen eine zweideutige Antwort: »Ich hoffe«, sagte er, »Sie werden sich daran erinnern.« Und das sollte heißen: »Sie kommen zwar zu uns, aber unmittelbar danach entfernen Sie sich wieder.« Das war die reine Wahrheit.

Ihr militantes Engagement ging ziemlich weit.

Ich bin Sekretär der Groupe d’études socialistes des cinq Écoles normales supérieures [Sozialistische Studiengruppe der fünf Elitehochschulen] gewesen, obwohl ich selbst kein normalien war, und ich war sogar Generalsekretär der Fédération des étudiants socialistes [Vereinigung sozialistischer Studierender].

Gibt es Leute, die Sie damals gekannt haben und noch heute sehen?

Die, mit denen ich am engsten verbunden war, sind tot: Pierre BoivinBoivin, Pierre, später Georges LefrancLefranc, Georges, die ich übrigens aus den Augen verloren hatte. Ich habe auch Marcel DéatDéat, Marcel gut gekannt.

Waren Sie mit ihm befreundet?

Nicht wirklich. Ich habe ihn kennengelernt, als ich, um Geld zu verdienen, in den Jahren vor der agrégation [Zulassungsprüfung für das höhere Lehramt] Sekretär eines sozialistischen Abgeordneten war; er hieß Georges MonnetMonnet, Georges. Ich hatte also zu einem Zeitpunkt Zugang zur Abgeordnetenkammer, als Marcel DéatDéat, Marcel Sekretär der sozialistischen Gruppe war.

In welchem Jahr?

Von 1928 bis 1930. Im Jahr meiner agrégation habe ich ihn verlassen, weil ich keine Zeit mehr hatte.

Kommen wir auf Ihre Studien zurück. Sie haben das Janson de Sailly nach der Philosophieklasse verlassen und ein Philosophiestudium begonnen.

Weil mir nichts anderes einfiel.

Es war eine rein negative Wahl?

Ja. Nach dem Janson de Sailly habe ich zunächst eine hypokhâgne [Vorbereitungsjahr auf die Grandes Écoles] am Lycée Condorcet gemacht. Aber ich habe mich an den Schwierigkeiten von Griechisch und MathematikMathematik gestoßen, zwischen denen man zu wählen hatte. Also habe ich in ein Jurastudium begonnen.

Wer war Ihr Philosophieprofessor am Condorcet, in der hypokhâgne?

André CressonCresson, André. Als ich mich entschloss, die hypokhâgne zu verlassen, hat er mir gesagt: »Sie sind für die Philosophie nicht geschaffen, eher für etwas Andersgeartetes.« Und er hat mir Jura nahegelegt. In Wirklichkeit wäre es die EthnologieEthnologie gewesen, aber er hatte ganz richtig gesehen.

Wo haben Sie Ihr Jurastudium absolviert?

An der juristischen Fakultät in ParisParis, die an der Place du Panthéon lag und heute Teil der Sorbonne, Paris I, glaube ich, geworden ist.

Wie lange waren Sie dort?

Bis zum Examen. Gleichzeitig habe ich ein Philosophieexamen gemacht.

Wo?

An der Sorbonne.

Sie haben beide Studiengänge gleichzeitig verfolgt?

Zu dieser Zeit schwänzten die Jurastudenten häufig ihre Vorlesungen. Man lernte Repetitorien auswendig. Aber die Jurisprudenz schläferte mich ein, und ich habe mich auf die Philosophie konzentriert. Sie sehen, das sind noch immer negative Gründe.

Und haben Sie dort bestimmte Professoren beeinflusst?

Ich fürchte, ich muss ein zweites Mal mit Nein antworten. Nicht aus kritischer Einstellung diesen Professoren gegenüber, eher aus einer kritischen Einstellung mir selbst gegenüber. Ich hörte die Vorlesungen von Léon BrunschvicgBrunschvicg, Léon, aber ich verstand gar nichts.

Wie lange haben Sie seine Vorlesungen gehört?

Mehrere Jahre, bis zur agrégation.

Ohne zu verstehen?

Ohne den Eindruck, etwas wirklich zu verstehen. Als Professoren hatte ich überdies Albert RivaudRivaud, Albert, Jean LaporteLaporte, Jean, Louis BréhierBréhier, Louis, Léon RobinRobin, Léon für die griechische PhilosophiePhilosophie, Paul FauconnetFauconnet, Paul und Célestin BougléBouglé, Célestin für die SoziologieSoziologie, Abel ReyRey, Abel in WissenschaftsgeschichteWissenschaftsgeschichte … Im Grunde bin ich wie ein Zombie über das Gelände gestreunt, mit dem Gefühl, dass ich draußen blieb.

Um Ihnen zu zeigen, in welchem Maße ich mich unbeteiligt fühlte: Am selben Tag, da die Ergebnisse der agrégation verkündet wurden, bin ich in eine Spezialbuchhandlung gegangen und habe eine Abhandlung über Astrologie gekauft. Nicht dass ich daran geglaubt hätte, sondern aus Rache und um mir selbst zu beweisen, dass ich meine geistige Unabhängigkeit nicht verloren hatte.

Sie waren von Ihren Studien also nicht begeistert?

Nein. Ich begeisterte mich für die Politik, für die politische Reflexion. Wie ich die agrégation bestanden habe? Das bleibt ein Geheimnis. Aber ich habe sie schließlich ordentlich bestanden, und zwar als Dritter in meinem ersten concours [Aufnahmeprüfung für das Studium an einer Grande École]. Ein Wunder, für das ich nur zwei Erklärungen finde.

Mich hatte ein brillanter Kommilitone unter seine Fittiche genommen, ein glühender Katholik, der sich womöglich mit der Idee einer Konversion trug. Das Griechische war seine Stärke, er ließ mich die Texte vorbereiten. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, doch ich verdanke ihm viel.

Die zweite Erklärung ist ziemlich komisch. Ein Arzt, der ein Freund der Familie war, hatte mir eine Ampulle – Morphium, Kokain? – geschenkt, die, wie er behauptete, mir Geistesstärke verschaffte, wenn ich sie vor der leçon tränke. Zur Vorbereitung dieser letzten Prüfung wird man sieben Stunden in der Bibliothek der Sorbonne eingesperrt. Ich beeilte mich, den Inhalt der Ampulle, in einem Glas Wasser gelöst, einzunehmen, und mir wurde davon so schlecht, dass ich die Vorbereitungsstunden ausgestreckt auf zwei Stühlen verbringen musste. Sieben Stunden Seekrankheit! Überdies war das Thema, das ich gelost hatte, das katastrophalste, das man sich denken konnte: »Gibt es eine angewandte PsychologiePsychologie?« Henri WallonWallon, Henri war Mitglied des Prüfungsausschusses, dieses Thema war ihm zu verdanken. Ich trat völlig verstört zur Prüfung an, ohne mich vorbereitet haben zu können, und improvisierte eine Unterrichtsstunde, die als brillant beurteilt wurde, in der ich, glaube ich, jedoch von nichts anderem als von SpinozaSpinoza, Baruch de gesprochen habe. Letztlich hatte die Droge wahrscheinlich also doch ihren Dienst getan …

Wer meldete sich in jenem Jahr zur Prüfung?

Ferdinand AlquiéAlquié, Ferdinand, der Erster wurde. Unter anderen auch Simone WeilWeil, Simone.

Haben Sie sie gut gekannt?

Das wäre zu viel gesagt. Wir schwatzten in den Gängen der Sorbonne miteinander. Ihre schneidenden Urteile verwirrten mich. Bei ihr ging es immer um Alles oder Nichts.

Ich bin ihr später in den Vereinigten Staaten wieder begegnet, wohin sie einen kurzen Abstecher machte, bevor sie nach England ging und dort starb. Sie gab mir ein Zeichen, wir trafen uns im Säulengang eines großen Gebäudes – der Bibliothek der Columbia University oder in der Public Library, ich weiß nicht mehr. Wir sprachen auf den Stufen sitzend miteinander. Die intellektuellen Frauen unserer Generation waren häufig maßlos übersteigert. Ich reihte sie in diese Kategorie ein. Simone WeilWeil, Simone aber hat den Rigorismus bis zur Selbstzerstörung betrieben.

Sie haben Ihr Referendariat zusammen mit Simone de BeauvoirBeauvoir, Simone de und Maurice Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice gemacht.

Damals machte man dieses Referendariat vor dem concours. Es war ein pädagogisches Referendariat von drei Wochen. Durch Zufall fand ich mich zusammen mit Simone de BeauvoirBeauvoir, Simone de und Maurice Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice bei meinem alten Lehrer am Janson de Sailly wieder. Wir hielten nacheinander Unterricht.

War das Ihr erstes Zusammentreffen?

Ja, und wir haben uns bald aus den Augen verloren, für mehrere Jahre.

Simone de BeauvoirBeauvoir, Simone de erwähnt diese Episode in ihren Memoiren. Im Zusammenhang mit Ihnen schreibt sie: »Der zweite [L.-S.] schüchterte mich durch sein Phlegma ein, doch er verwendete es mit Geschick, und ich fand ihn sehr komisch, wenn er mit farbloser Stimme und völlig unbewegtem Gesicht seinen Zuhörern den Wahnsinn der Affekte auseinandersetzte …«[5]

Daran habe ich keinerlei Erinnerung.

»Ich habe Simone de Beauvoir in dieser Zeit noch vor Augen: blutjung, mit der frischen, rosigen Gesichtsfarbe eines Mädchens vom Lande.«

Hatten Sie ein gutes Verhältnis zueinander?

Es scheint mir so. Ich habe Simone de BeauvoirBeauvoir, Simone de in dieser Zeit noch vor Augen: blutjung, mit der frischen, rosigen Gesichtsfarbe eines Mädchens vom Lande. Sie sah aus wie ein rotbäckiger Apfel.

Und Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice?

Da ich ihn später genau kennengelernt habe, sind diese frühen Erinnerungen ein wenig verblasst.

Rückblickend scheint Ihnen dieses dreiwöchige Zusammentreffen doch wohl sehr merkwürdig, eine Art Vorzeichen?

Es erscheint mir vor allem fern, beinahe phantomhaft.

Haben Sie sich nie mit Simone de BeauvoirBeauvoir, Simone de angefreundet?

Nie. Aber keineswegs aus Abneigung.

Bestand keinerlei Anziehung zwischen Ihnen?

Auch das ist es nicht. Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul und sie sind schnell berühmt geworden, sie nahmen im intellektuellen Leben eine Stellung sehr weit über mir ein. Sie schüchterten mich ein und brauchten mich nicht. Als Margaret MeadMead, Margaret – ich glaube 1949 – nach ParisParis kam, habe ich es gewagt, die First Lady des geistigen Lebens Amerikas und die First Lady des geistigen Lebens Frankreichs zusammenzuführen. Ich habe ihnen zu Ehren einen kleinen Empfang gegeben. Sie haben nicht einmal das Wort aneinander gerichtet.

Vielleicht aufgrund der Sprachbarrieren?

Vielleicht. Jede blieb in einer Ecke des Raumes, umgeben von ihrem Hofstaat.

Sie haben Ihr Referendariat gemeinsam gemacht, doch sie hat ihren concours1929 bestanden, wenn ich ihren Memoiren vertrauen darf, und Sie 1931.

Das Juraexamen erforderte ein zusätzliches Jahr. Und dann hatte ich Nebenbeschäftigungen, um das Familienbudget aufzubessern. Dennoch bestand ich mit knapp dreiundzwanzig Jahren.

Als ich die Prüfungsergebnisse erfuhr, stürzte ich mich in ein Taxi, um meinen Eltern die wichtige Neuigkeit zu verkünden, aber zu Hause herrschte Trauerstimmung. Der letzte noch lebende Bruder meines Vaters war da. Ein großes, an der Börse erworbenes Vermögen erlaubte es ihm seit Langem, für seine Mutter aufzukommen und meine Eltern in schwierigen Lagen zu unterstützen. Er war im Begriff, ihnen zu offenbaren, dass die Wirtschaftskrise ihn endgültig ruiniert hatte. Mir wurde beinahe gleichzeitig klar, dass ich jetzt einen Beruf hatte und dass das materielle Schicksal meiner Eltern für mich fortan eine ständige Verpflichtung war.

Nach der agrégation sind Sie nach Mont-de-Marsan berufen worden.

Nicht sofort. Zunächst habe ich meinen Militärdienst geleistet. Drei Monate in Straßburg; dann, dank politischer Freunde, zusammen mit einigen anderen im Kriegsministerium. Unter ihnen war Paul GadenneGadenne, Paul.

Sie haben Sympathie füreinander empfunden?

Nein, er war ein sehr höflicher Junge, aber zurückhaltend und wenig gesellig.

Was haben Sie da gemacht?

Wir haben den Pressedienst für den Minister besorgt: Wir lasen die Zeitungen und schnitten alles aus, was ihn interessieren konnte. Überdies übertrug uns das Kabinett die Erledigung der Post, die es für unbedeutend hielt.

Haben Sie damals jede politische Tätigkeit eingestellt?

Sicher. Das wäre nicht zugelassen worden. Wenn man auf dem Gang mit General Weygand zusammentraf, ohne Habachtstellung einzunehmen, dann wäre man auf der Stelle in die Garnison abkommandiert worden.

Welche Bilder haben Sie aus dieser Zeit bewahrt?

Straßburg hat keinen schlechten Nachgeschmack bei mir hinterlassen. Ich war Soldat zweiter Klasse, aber ich habe dort ziemlich lustige Leute kennengelernt. Und dann habe ich Familienangehörige getroffen, die ich gar nicht kannte. Man stopfte mir die Taschen mit Lebensmitteln voll. In ParisParis gab es sehr wenig Arbeit, es genügte, wenn einer von uns zum Dienst anwesend war, während die anderen ihren Beschäftigungen nachgingen.

Und nach dem Militärdienst sind Sie dann als Professor ans Lycée von Mont-de-Marsan berufen worden.

Ich hatte die Wahl zwischen Aubusson und Mont-de-Marsan. Ich habe mich für Mont-de-Marsan entschieden. Das war meine erste Anstellung und gleichzeitig meine Hochzeitsreise. Am Vorabend meiner Abreise habe ich geheiratet.

Und Sie haben sich dort im Südwesten eingerichtet.

Ich habe meine dienstlichen Funktionen am 1. Oktober 1932 aufgenommen und mich alsbald in die lokale Politik eingemischt. Ich habe bei den Kantonalwahlen kandidiert. Die Geschichte ist abrupt zu Ende gegangen, weil ich einen Autounfall hatte. Ich bin ohne Führerschein gefahren. Es war mein Jugendfreund und sozialistischer Parteigenosse Pierre DreyfusDreyfus, Pierre, der später Président-directeur général von Renault und dann Industrieminister unter François MitterrandMitterrand, François geworden ist, der diesen Gebrauchtwagen gekauft hatte: einen Citroën 5CV. Er hatte den Wagen bis Mont-de-Marsan gefahren, und wir sind gemeinsam aufgebrochen, um Wahlkampf zu machen. Nach Ablauf einer Stunde hatte ich den Wagen in den Graben gesetzt. Das war der erste Tag des Wahlkampfes, und auch der letzte.

Wie ist dieses Unterrichtsjahr verlaufen?

Sehr gut. Es war das erste Jahr, und das Ganze hat mir Spaß gemacht.

Haben Ihre politischen Engagements die Wahl der Themen beeinflusst, die Sie behandelten?

O nein, ganz und gar nicht! In meinem Unterricht war ich neutral. Für mich handelte es sich um zwei getrennte Bereiche. Ich versuchte nicht, meine Schüler zu bekehren. Ich handelte nach dem Lehrplan und nur nach dem Lehrplan.

Haben Sie einige Erinnerungen an diesen Aufenthalt im Département Landes bewahrt?

Eher an sozialistischeSozialismus Kreise als ans Lycée. Die politischen Zusammenkünfte waren häufig von gastronomischen Festen begleitet. Das sind die genauesten Erinnerungen, die mir geblieben sind. Andere haben sich wiedereingestellt, als ich in die Académie gewählt wurde. Die Lokalzeitung der Region Landes hat meine alten Schüler ausfindig gemacht und ihre Aussagen veröffentlicht. Manche haben mir geschrieben.

Sie sind nur ein Jahr in Mont-de-Marsan geblieben?

Ich bin dann nach Laon berufen worden. Meine FrauDreyfus, Dina, die ebenfalls die agrégation erhalten hatte, ist in Amiens angestellt worden. Wir wohnten bei meinen Eltern in der Rue Poussin und versuchten, unsere Kurse auf den gleichen Teil der Woche zusammenzudrängen.

Und Sie fingen an, das Unterrichten für weniger lustig zu halten?

Im zweiten Jahr habe ich mich tatsächlich gelangweilt, ich verspürte zunehmend Lust, mich zu verändern, etwas von der Welt zu sehen.

Und in Laon haben Sie Ihre politischen Aktivitäten fortgesetzt?

Mehr in ParisParis als in Laon, wo ich mich nicht aufhalten mochte, obwohl die Stadt in ihrer nüchternen Derbheit nicht ohne Reiz war. Ihre Kathedrale, gedrungen und niedergekauert, hatte etwas Anziehendes.

Wie in Mont-de-Marsan sind Sie auch hier nur ein Jahr geblieben?

Ein Jahr und einige Monate. Anfang 1935 bin ich nach BrasilienBrasilien gegangen.

»Ich verspürte zunehmend Lust, mich zu verändern, etwas von der Welt zu sehen.«

In Traurige TropenLévi-Strauss, ClaudeTraurige Tropen haben Sie Ihre Abreise nach BrasilienBrasilien beschrieben …

Ja. Célestin BougléBouglé, Célestin hatte mich zu Georges DumasDumas, Georges geschickt, den ich kannte, weil ich seine Vorlesungen in Sainte-Anne besucht hatte. DumasDumas, Georges gründete die Universitätsmission, er hat eingewilligt, mich anzunehmen.

Sie waren mit BougléBouglé, Célestin in Kontakt geblieben?

Er war der Betreuer meiner Diplomarbeit.

Worum ging es in der Diplomarbeit?

Ich glaube, sie trug den Titel »Die philosophischen Postulate des historischen Materialismus«. Sie handelte von MarxMarx, Karl, aus philosophischer Perspektive.

Hatten Sie sich dieses Thema selbst gewählt?

Sicher.

War es damals üblich, Diplomarbeiten über MarxMarx, Karl zu schreiben?

Eher selten, aber mit MarxMarx, Karl hatte ich eine Welt entdeckt, und ich stand noch im Banne dieser Offenbarung.

Und Sie haben Lust verspürt, das zu Ihrem Studiengebiet zu machen?

Ich will Ihnen gestehen, dass mein Selbstverständnis zu dieser Zeit durchaus darauf hinauslief, der Philosoph der SozialistischenSozialismus Partei zu werden.

Wenn Sie heute zurückblicken, amüsiert Sie das?

Nein, ich kann nicht sagen, dass ich dabei Ironie empfinde. Die SozialistischeSozialismus Partei war ein sehr lebendiger Kreis, in dem man sich wohl in seiner Haut fühlen konnte. Die Idee eines Brückenschlages zwischen der großen philosophischen Tradition, das heißt DescartesDescartes, René, LeibnizLeibniz, Gottfried Wilhelm, KantKant, Immanuel, und dem politischen Denken, wie es MarxMarx, Karl verkörperte, war sehr verführerisch. Selbst heute noch verstehe ich, dass ich davon träumen konnte.

Hatte BougléBouglé, Célestin Ihr Thema ohne Widerstreben akzeptiert?

Ja, aber mit einem anderen Thema als Ausgleich. Neben der schriftlichen Prüfung gab es noch eine mündliche über ein Thema, das einem zugewiesen wurde. BougléBouglé, Célestin wählte eine Frage aus dem Bereich des Saint-SimonismusSaint-Simonismus, der meinen Beschäftigungen zwar nicht allzu fern war, sie jedoch in eine Richtung drängte, die mehr mit seiner eigenen Orientierung übereinstimmte.

Warum hatten Sie BougléBouglé, Célestin zur Betreuung Ihrer Arbeit gewählt?

Er war damals praktisch der einzige, dem man diese Art von Thema vorlegen konnte. Es gab zwar FauconnetFauconnet, André, doch der verstrickte sich in eine regelrechte DurkheimDurkheim, Émile-Hörigkeit, der gegenüber mich eine Verweigerungshaltung erfasste. BougléBouglé, Célestin war zu jener Zeit Direktor der École normale supérieure und schaute etwas herablassend auf alle, die keine normaliens waren. Dennoch hat er eingewilligt. Das erklärt Ihnen vielleicht, warum ich ihn nach der agrégation wissen ließ, dass ich gerne ins Ausland ginge.

Weil er offizielle Funktionen am Quai d’Orsay wahrnahm?

Nein, aber er war so etwas wie der Beschützer aller jungen Soziologen.

Und Sie wollten Soziologe werden?

Ich wollte Ethnologe werden, und damals war die Grenze zwischen SoziologieSoziologie und EthnologieEthnologie noch fließend.

Kam es schon häufig vor, dass Leute, die ihre agrégation in Philosophie abgelegt hatten, sich anderen Disziplinen zuwandten, nämlich denen, die man heute die »HumanwissenschaftenHumanwissenschaften« nennt, wie das dann nach dem Zweiten Weltkrieg so häufig der Fall sein sollte?

Das Phänomen zeichnete sich bereits ab, freilich in sehr viel kleinerem Maßstab.

»Von Kindheit an hatte ich mich für exotische Merkwürdigkeiten begeistert; mein Taschengeld wanderte zu den Antiquitätenhändlern.«

Warum haben Sie sich entschlossen, Ethnologe zu werden?

Sagen wir, es war ein Zusammentreffen von Umständen. Von KindheitKindheit an hatte ich mich für exotische Merkwürdigkeiten begeistert; mein Taschengeld wanderte zu den Antiquitätenhändlern.

Nehmen Sie hinzu, dass sich um 1930 unter den jungen Philosophen das Bewusstsein zu verbreiten begann, dass eine Disziplin namens EthnologieEthnologie existierte, die danach strebte, einen offiziellen Status zu erwerben. Es gab zwar keinen ethnologischen Lehrstuhl an den französischen Universitäten, aber das Institut d’Ethnologie war gegründet, das alte Musée d’Ethnographie im Palais du Trocadéro wurde zum Musée de l’Homme. In dieser Hinsicht kamen die Dinge in Bewegung. Jacques SoustelleSoustelle, Jacques war der erste agrégé de philosophie, dem ein beispielhafter Übergang zur EthnologieEthnologie gelang.

Außerdem hatte ich ein oder zwei angelsächsische ethnologische Bücher gelesen, vor allem Primitive SocietyLowie, Robert H.Primitive Society von Robert LowieLowie, Robert H., der mich überzeugte, weil sich bei ihm die Theorie mit der Feldforschung verband. Ich erahnte das Mittel zur Versöhnung meiner Berufsausbildung mit meiner Vorliebe für das Abenteuer. Denn wie viele »Expeditionen« habe ich nicht als Kind und Jugendlicher in Frankreich auf dem Land und sogar im weiteren Umland von ParisParis unternommen!

Schließlich gestand mir Paul NizanNizan, Paul, den ich zwei oder drei Mal bei Familienzusammenkünften traf (er hatte eine meiner Cousinen geheiratet), dass selbst er sich durch die EthnologieEthnologie in Versuchung geführt fühlte. Das hat mich ermutigt.

Was für eine Art von Persönlichkeit war er?

Soweit ich mich erinnere, ein wenig kalt und stets auf der Hut vor dem bürgerlichen Milieu, in das ihn seine Heirat von Zeit zu Zeit verschlug. Ich habe natürlich Aden ArabieNizan, PaulAden Arabie gelesen, das ich sehr bewunderte.

Haben Sie auch seine anderen Bücher gelesen?

Ja, in der Folge habe ich Antoine BloyéNizan, PaulAntoine Bloyé (Das Leben des Antoine B.), Die WachhundeNizan, PaulDie Wachhunde gelesen …

Ein Buch wie Die WachhundeNizan, PaulDie Wachhunde muss ziemlich starken Eindruck auf einen jungen Philosophen gemacht haben. Hat es Sie beeinflusst?

In dem Maße, wie es in den Bereich einer marxistischen Kritik der institutionellen Philosophie vordrang, ja. Aber ich respektierte die Lehrer, die er so gewaltsam angriff. Denn wir hatten dieselben Professoren gehabt, in einem zeitlichen Abstand von wenigen Jahren. Ich achtete BrunschvicgBrunschvicg, Léon, LaporteLaporte, Jean, RobinRobin, Léon …

Warum haben Sie nicht versucht, NizanNizan, Paul besser kennenzulernen? Sie schienen sich in vielen Dingen nahe zu sein.

Er war älter als ich und hat nie etwas dazu beigetragen, unsere Beziehungen zu bessern. Und dann hatte ich bei ihm wie bei anderen das Gefühl, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Ich hätte nie gewagt, das Collège de FranceCollège de France zu betreten, um eine Vorlesung zu hören. In meinen Augen war das ein hochangesehener Ort, der bedeutenderen Leuten als mir vorbehalten war.

Kapitel 2Der Ethnologe vor Ort

Im Februar 1935 nehmen Sie also in Marseille das Schiff. Bestimmungshafen: São Paulo. Dank Georges DumasDumas, Georges haben Sie eine Anstellung an der Universität der Stadt bekommen. Welche Verbindungen bestanden zwischen dem großen Psychologen und BrasilienBrasilien?

Der Einfluss Frankreichs war seit dem Comtismus in BrasilienBrasilien sehr stark. Für die gebildeten Brasilianer war Französisch die zweite SpracheSprache. Georges DumasDumas, Georges hatte sich dort mehrfach aufgehalten und Verbindungen mit der örtlichen Aristokratie aufgenommen, vor allem in São Paulo. Als die Brasilianer in dieser Stadt eine Universität gründen wollten, haben sie sich natürlicherweise an ihn gewandt, mit der Bitte um Gründung einer französischen Mission.

Wann war die Universität gegründet worden?

Ein Jahr vor meiner Ankunft. Ich gehörte zum zweiten Schub.

Gab es, abgesehen von der französischen, andere Missionen?

Es gab eine italienische Mission, vor allem mit Giuseppe UngarettiUngaretti, Giuseppe. Man muss sagen, dass die Italiener in São Paulo sehr zahlreich vertreten waren – die Hälfte der Stadt, oder beinahe die Hälfte. Es gab auch einige deutsche Professoren, allerdings mit individuellen Lehraufträgen, denn es war bereits die Zeit des Hitlerismus.

Welche Atmosphäre herrschte an der Universität, als Sie ankamen?

Die Universität war vom Großbürgertum gegründet worden, zu einem Zeitpunkt, als die Spannung zwischen der paulistischen Macht und der Bundesregierung noch sehr stark war. So stark, dass sie beinahe auf eine Spaltung hinausgelaufen wäre. Die Menschen in São Paulo betrachteten sich als Speerspitze einer Nation, die in kolonialer Erstarrung eingeschlafen war. Zur Förderung der paulistischen Jugend und zu ihrer Verschwisterung mit der europäischen Kultur hatten diese Aristokraten sich nun entschlossen, eine Universität zu gründen.

Paradoxerweise kamen jedoch die Studierenden aus den Unterschichten, denn es gab eine große Kluft zwischen der Elite und der arm und geistig provinziell gebliebenen Mehrheit der Bevölkerung. Die Studierenden, häufig bereits berufstätige Männer und Frauen, beargwöhnten die Großbürger, die die Universität gegründet hatten. Und wir selbst fanden uns zwischen beiden Lagern. Obschon sie uns respektierten, sahen die Studierenden uns manchmal doch nur als Diener der herrschenden Klasse.

Sie waren also keine »Wachhunde der Bourgeoisie«?

Nein, aber wir mussten achtgeben, nicht als solche zu erscheinen.

Wie gingen die Vorlesungen vor sich?

Die Studierenden hatten einen immensen Wissensdurst. In gewisser Hinsicht wussten sie übrigens mehr als wir, weil sie, als Autodidakten, alles verschlungen, alles gelesen hatten, freilich Werke aus zweiter oder dritter Hand. Es war nicht so sehr unsere Aufgabe, ihnen Dinge beizubringen, die sie nicht wussten, als vielmehr ihnen intellektuelle Disziplin zu vermitteln.

In welcher Gegend lag die Universität?

Im Stadtzentrum, in alten Gebäuden, in denen noch ein Hauch von kolonialer Atmosphäre zu spüren war, während die Universität heute, wie andere vom Gigantismus befallene Institutionen, in Gebäuden im Stil von Jussieu oder Nanterre inmitten eines weitläufigen, eher öden Campus untergebracht ist.

Wie viele Studierende hatten Sie?

Einige Dutzend.

Was viel ist.

Aber ja! Es war die gesamte paulistische Jugend oder doch wenigstens diejenigen, die über ein Minimum von Mitteln verfügten. Meine Kollegen, die französische Literatur lehrten, hatten deutlich mehr Zuhörer, denn die gute Gesellschaft strömte ihnen zu.

Und Sie selbst hielten eine SoziologieSoziologievorlesung?

Der Lehrstuhl war so benannt.

Aber da SoziologieSoziologie und EthnologieEthnologie ja nicht klar voneinander geschieden waren, hätten Sie auch Ethnologie lehren können?

Vergessen Sie nicht, dass die brasilianische Bourgeoisie eine lange intellektuelle Tradition besaß, die auf Auguste ComteComte, Auguste zurückging. Sein Denken übte auf das BrasilienBrasilien des 19. Jahrhunderts einen derart erheblichen Einfluss aus, dass die Fahne Brasiliens seine Formel Ordem e progresso trägt.

War der Einfluss von Auguste ComteComte, Auguste noch spürbar?

Es gab noch höchst lebendige positivistische »Kirchen«. Doch die gebildeten Brasilianer waren von ComteComte, Auguste zu DurkheimDurkheim, Émile übergegangen, der für sie einen modernisierten PositivismusPositivismus repräsentierte. Was sie also wollten, war SoziologieSoziologie.

Was doch wohl für Sie störend war?

Ich war nach BrasilienBrasilien gegangen, weil ich Ethnologe werden wollte. Und ich war erobert worden von einer EthnologieEthnologie, die gegen DurkheimDurkheim, Émile rebellierte. Er war kein Mann des Feldes, während ich, angeregt von den Engländern und Amerikanern, die ethnologische Feldforschung entdeckte. Ich war also in einer falschen Position. Man hatte mich berufen, um den französischen Einfluss einerseits und die ComteComte, Auguste-DurkheimDurkheim, Émile-Tradition andererseits fortzusetzen. Und ich kam an, zu diesem Zeitpunkt gebannt von einer angelsächsisch inspirierten Ethnologie. Das hat mir ernsthafte Schwierigkeiten bereitet.

Welcher Art?

Georges DumasDumas, Georges hatte im ersten Jahr an der Universität einen jungen Verwandten von ihm installiert, der Soziologe war. Als ich eintraf, als Nebenfachsoziologe, wenn ich so sagen darf, war jener Verwandte darauf bedacht, mich in eine untergeordnete Position abzuschieben. Das behagte mir nicht, und als ich Widerstand leistete, bemühte er sich, im Namen der Comteschen Tradition, in der er Spezialist war und der mein Unterricht entgegenarbeitete, meine Entlassung zu erwirken. Die Schirmherren der Universität, die auch die der großen Zeitung O Estado de São Paulo waren, schenkten ihm bereitwillig Gehör. Dass ich bleiben konnte, verdanke ich der Solidarität einiger heute verstorbener Kollegen: Pierre MonbeigMonbeig, Pierre und Fernand BraudelBraudel, Fernand, der mich mit der Autorität, die er bereits genoss, unterstützte. Ich habe 1985 daran in meiner Ansprache erinnert, als man ihm seinen Degen der Académie française überreichte.[6]

Sie sind in BrasilienBrasilien geblieben, aber nicht sofort zu einer Expedition zu den Indianern aufgebrochen.

Gleich zu Ende des ersten Studienjahres. Anstatt nach Frankreich zurückzukehren, sind meine Frau und ich in den Mato GrossoMato Grosso zu den CaduveoCaduveo und den BoróroBoróro gegangen.[7] Ich hatte jedoch bereits angefangen, mit meinen Studierenden EthnologieEthnologie zu treiben: über die Stadt São Paulo selbst und über die Folklore der Umgebung, mit der sich meine