Strukturale Anthropologie Zero - Claude Lévi-Strauss - E-Book

Strukturale Anthropologie Zero E-Book

Claude Lévi-Strauss

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Beschreibung

Wie so viele europäische jüdische Wissenschaftler und Künstler floh auch Claude Lévi-Strauss Anfang der 1940er Jahre vor den Nationalsozialisten in die USA und lebte als Flüchtling in New York. Dieser Band legt Zeugnis ab von der Erfahrung des Exils, von einem sowohl biografisch als auch historisch entscheidenden Moment. Diese zwischen 1941 und 1947 geschriebenen Texte präsentieren den politischen Zeitzeugen und lassen zugleich die Vorgeschichte der strukturalen Anthropologie sichtbar werden, mit der Lévi-Strauss in der Nachkriegszeit die wissenschaftliche Welt im Sturm erobern sollte.

Die amerikanischen Jahre stehen für ihn im Zeichen historischer Katastrophen: zum einen der Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner und zum anderen des Völkermords an den Juden Europas. Seit der Zeit des Exils scheint die Anthropologie von Lévi-Strauss durch die Erinnerung und die Möglichkeit der Shoah, die nie benannt wird, geprägt zu sein. Strukturale Anthropologie Zero bedeutet daher, zur Quelle eines Denkens zurückzukehren, das unser Menschenbild revolutioniert hat. Diese Vorgeschichte des Strukturalismus unterstreicht aber auch das Gefühl eines neuen Anfangs, das ihren Autor am Ende des Krieges beseelte, und beleuchtet das Projekt eines zivilisatorischen Neubeginns.

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Titel

3Claude Lévi-Strauss

Strukturale Anthropologie Zero

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Vincent Debaene

Mit zahlreichen Abbildungen

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Vorwort

Eine Vorgeschichte der Strukturalen Anthropologie

New York, 1941 bis 1947

Tabula rasa

Wohlfahrtsstaat und internationale Zusammenarbeit

»Die nationale Souveränität ist kein Gut an sich«

Genozid an den Indianern Amerikas und Vernichtung der Juden Europas

Anmerkung zur vorliegenden Ausgabe

Strukturale Anthropologie Zero

Geschichte und Methode

I

. Die französische Soziologie

I

II

III

II

. Zum Gedenken an Malinowski

III

. Das Werk von Edward Westermarck

IV

. Der Name der Nambikwara

Individuum und Gesellschaft

V

. Fünf Rezensionen

VI

. Die Technik des Glücks

Reziprozität und Hierarchie

VII

. Krieg und Handel bei den Indianern Südamerikas

VIII

. Die Theorie der Macht in einer primitiven Gesellschaft

IX

. Reziprozität und Hierarchie

X

. Die Außenpolitik einer primitiven Gesellschaft

Kunst

XI

.

Indian Cosmetics

XII

. Die Kunst der Nordwestküste im American Museum of Natural History

Ethnographie Südamerikas

XIII

. Der soziale Gebrauch der Verwandtschaftsbegriffe bei Indianern Brasiliens

XIV

. Zur dualistischen Organisation in Südamerika

XV

. Die Tupi-Kawahib-Indianer

Stammesgliederungen und Geschichte

Kultur

Lebensunterhalt

Wohnverhältnisse

Kleidung und Schmuck

Transportmittel

Techniken

Politische und soziale Organisation

Krieg

Lebenszyklus

Ästhetik und Zerstreuung

Magie und Religion

Bibliographie

XVI

. Nambikwara-Indianer

Stammesgliederungen und Geschichte

Kultur

Lebensunterhalt

Wohnverhältnisse

Kleidung und Schmuck

Transportmittel

Techniken

Politische und soziale Organisation

Lebenszyklus

Ästhetik und Zerstreuung

Magie und Religion

Schamanentum und Medizin

Folklore, Wissen und Traditionen

Bibliographie

XVII

. Stämme vom rechten Ufer des Rio Guaporé

Einleitung

Stammesgliederungen

Kultur

Lebensunterhalt und Nahrung

Haustiere

Wohnverhältnisse

Kleidung und Schmuck

Transportmittel

Techniken

Soziale Organisation

Lebenszyklus

Kannibalismus

Ästhetik und Zerstreuung

Religion, Folklore, Mythologie

Bibliographie

Verzeichnis der Abbildungen

Nachweise

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7Vorwort

»Ihr Denken ist nicht reif«: Mit diesen Worten, so Lévi-Strauss, begründete Brice Parain, der damalige Sekretär und verlegerische Berater von Antoine Gallimard, seine Ablehnung, den Sammelband Anthropologie structurale zu veröffentlichen. Wann genau sich das zutrug, erläutert Lévi-Strauss nicht, aber er gibt einen Hinweis, nämlich »bevor ich die Traurigen Tropen schrieb«, womit es also um 1953, 1954 herum gewesen sein dürfte.[1]  Ohne sich lange bei dem von Parain – den Lévi-Strauss bald als einen »Gegner der Ethnologie« bezeichnen wird[2]  – vorgebrachten Grund für die Ablehnung aufhalten zu wollen, darf man doch sicher sein, daß darin auch Mißtrauen gegenüber Sammelbänden von Einzelartikeln eine Rolle spielte, die bekanntlich, da entweder zu heterogen oder zu repetitiv, selten gute Bücher ausmachen. Doch als Lévi-Strauss das Manuskript von Anthropologie structurale dem Verlag Plon gibt, das schließlich 1958 als Buch erscheint, drei Jahre nach Tristes Tropiques, hat er sich nicht damit begnügt, alte Texte mit einem dem Anlaß entsprechenden Vorwort zusammenzustellen. Vielmehr legt er einen im höchsten Maße strukturierten Band vor, der nicht träge der chronologischen Ordnung folgt, 8sondern seine Überlegungen in fünf Teile und siebzehn Kapitel gliedert. Die Teile schreiten von der fundamentalsten Ebene, der strukturalen Organisation der sozialen Tatsachen (Sprache und Verwandtschaft), weiter zur Sozialen Organisation, dann zu den konkreten Erscheinungsformen dieser zugrundeliegenden Strukturen, die auf der Ebene von Ritus und Mythos (Magie und Religion) auszumachen sind, sodann zum künstlerischen Schaffen (Kunst), um in einen letzten Abschnitt zu münden, der nach dem Platz der Ethnologie sowohl innerhalb der Sozialwissenschaften als auch im modernen Unterricht fragt (Probleme der Methode und des Unterrichts). Dem Ganzen ist eine ehrgeizige Einleitung vorangestellt, die der Ethnologie und der Geschichte ihre jeweilige Rolle zuweist, zu einem Zeitpunkt, als letztere als auffälligste und innovativste aller Sozialwissenschaften in Erscheinung tritt, wovon ihre Bedeutung innerhalb der ganz neu gegründeten sechsten Sektion der École pratique des hautes études, der künftigen École des hautes études en sciences sociales (EHESS), zeugt. (Lévi-Strauss selbst ist Mitglied der fünften Sektion, die den »Religionswissenschaften« gewidmet ist.)

Im Rückblick ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß die Veröffentlichung von Anthropologie structurale eine Schlüsseletappe bei dem Aufschwung und der Verbreitung des Strukturalismus darstellte. Dabei hat der wohlabgestimmte Aufbau des Buchs zweifellos eine zentrale Rolle gespielt. Er brachte den höchst innovativen Charakter der Reflexionen und theoretischen Ambitionen eines Vorhabens zur Geltung, das sich, gestützt auf sehr präzise ethnographische Befunde, zugleich den anderen Disziplinen (Linguistik, Geschichte, Psychoanalyse …) und den entsprechenden englischsprachigen Arbeiten öffnete. Er verschaffte dem Buch eine enorme Resonanz und Wirkung, die durch den gleichsam programmatischen Titel noch gesteigert wur9den. Dabei war die Wette keineswegs im voraus gewonnen. Gegen jene retrospektiven Erzählungen, die mit leichter Feder die unerbittliche Chronologie der verlegerischen und institutionellen Erfolge abspulen, muß daran erinnert werden, daß das Adjektiv »struktural« zunächst gleichsam ein Unwort darstellte und das Unternehmen riskant war: Die Geistesgeschichte ist übersät von derartigen, als Banner erdachten Neologismen, die für die Dauer eines Manifests lauthals geschwungen und dann, kaum geboren, auch schon wieder tot sind.

Anthropologie structurale war mithin mehr und anderes als eine Kompilation von künstlich unter einem Titel zusammengefaßten Beiträgen. Dies gilt ebenso für Anthropologie structurale deux,[3]  das 1973 erscheint und in seinem Aufbau dem des ersten Bandes nahesteht: Nach Ausblicke, die nach der Geschichte beziehungsweise Vorgeschichte der modernen Anthropologie fragen, finden sich zwei Abschnitte, betitelt mit Soziale Organisation und Mythologie und Ritual, schließlich der letzte (und längste) Teil, Humanismus und Humanität. Erneut folgt hier der Aufbau den Stufen der Reflexion, spielt die Chronologie keine Rolle. Das Werk endet sogar mit dem Wiederabdruck von Rasse und Geschichte, das 1952, also zwanzig Jahre vorher, separat erschienen war, da diese kleine Abhandlung über kulturelle Vielfalt und Evolution, so innovativ sie auch damals schon war (und heute noch immer ist), in der Architektur des ersten Bandes keinen Platz fand (der affirmativer und stärker disziplinär ausgerichtet war und dem es weniger darum ging, die Ethnologie in Reflexionen zu verorten, deren Thema das Schicksal 10der Menschheit war), dagegen wie gerufen Überlegungen zu den Begriffen Humanismus und Fortschritt ergänzte.

Regard éloigné[4]  nun, das 1983 erschien und das Lévi-Strauss gern Anthropologie structurale trois, Strukturale Anthropologie III, betitelt hätte, wäre das Adjektiv mittlerweile nicht abgenutzt gewesen und hätte es durch einen Effekt der intellektuellen Mode nicht bereits »alle Substanz eingebüßt«,[5]  folgt den gleichen Grundsätzen, unterscheidet sich aber im Aufbau von den beiden vorhergehenden Bänden. Das Buch ist weniger strikt ethnographisch ausgerichtet und begibt sich in einen direkteren Dialog mit den Theorien und Ideologien seiner Zeit, einen Dialog, der sich wesentlich um die Ausprägungen des Zwangs dreht, dem menschliches Handeln ausgesetzt ist.

Wie auch immer, zwei Schlußfolgerungen drängen sich auf. Zum einen: die Strukturalen Anthropologien sind durchaus als Bücher gedacht, das heißt als theoretische Eingriffe in einen Debattenraum, den sie neu zu definieren suchen, und nicht als bloße Sammelbände; zum anderen: die Konzeption der Anthropologie, ihrer Methoden und Gegenstände, erfährt während der Karriere von Lévi-Strauss kaum Veränderungen. Diese Beständigkeit ist ein hervorstechendes Merkmal seines Werks. Die einzige wirkliche Ausnahme betrifft sicher den Status der Unterscheidung von Natur und Kultur; erstmals (in Les Structures élémentaires de la parenté, 1949[6] ) als anthropologische Invariante in der Abfolge der 11Sozialwissenschaften seit Beginn des 18. Jahrhunderts dargelegt, wird sie in der Folge zu einer, wie es in einer Formulierung der Pensée sauvage von 1962 heißt, Unterscheidung mit »vor allem methodologische[m] Wert«.[7]  Mit Ausnahme dieser Verschiebung, die mit einer Neubestimmung des Symbolbegriffs einhergeht,[8]  zeugt Lévi-Strauss' Denken von großer Treue zu einigen Leitprinzipien, wie auch dessen Entwicklung mehr durch die Gegenstände, auf die es angewendet wird, als durch eine Veränderung der »einfachen Überzeugungen« – so seine Worte in den Traurigen Tropen –, die sein Unternehmen leiten, zu erklären ist.

Eine Vorgeschichte der Strukturalen Anthropologie

1957 gruppiert Lévi-Strauss also die siebzehn Artikel des künftigen Werks Anthropologie structurale, wobei er, wie er in seinem kurzen Vorwort sagt, das er zu diesem Anlaß verfaßt, unter »einigen hundert Texten, die ich in nahezu dreißig Jahren geschrieben habe«, eine Auswahl trifft.[9]  Außer zwei noch unveröffentlichten Beiträgen übernimmt er fünfzehn Texte, dessen ältester 1944 veröffentlicht worden war. Die Vermutung, wonach Lévi-Strauss seine »Jugend«-Texte zugunsten neuerer Schriften vernachlässigt habe, die größe12re intellektuelle Reife aufwiesen, ist folglich nicht haltbar. Das Inhaltsverzeichnis belegt, daß vielmehr eine Auswahl getroffen wurde. Das ist ein erster Befund in bezug auf den vorliegenden Band, Anthropologie structurale zéro,[10] Strukturale Anthropologie Zero, der siebzehn Texte vereint, die Lévi-Strauss bei der Zusammenstellung des Bands von 1958 ausklammerte. Warum einige aufgegeben wurden, ist leicht zu erklären, und Lévi-Strauss hat sich dazu geäußert: »[I]ch [habe] eine Auswahl getroffen und dabei die rein ethnographischen und beschreibenden Arbeiten von anderen, die zwar eine theoretische Weite haben, deren Substanz aber in mein Buch ›Traurige Tropen‹ eingegangen ist, getrennt.« Andere Texte, wie »Die Kunst der Nordwestküste im American Museum of Natural History« (Kapitel XII des vorliegenden Bandes), erschienen ihm vermutlich auch zu stark zeitgebunden: deren Zauber ist zwar nicht verflogen, doch zeugt die theoretische Aussage von Perspektiven (im betreffenden Fall von Fragen des Diffusionismus), die der Fortschritt der Disziplin hat obsolet werden lassen. Andere schließlich scheinen durch neuere überholt, so »Indian Cosmetics« (Kapitel XI), der 1942 den Lesern der amerikanischen surrealistischen Zeitschrift VVV eine minutiöse Beschreibung der Schminktechniken der Kaduveo bot, deren weitergehende Analyse allerdings erst in Traurige Tropen geliefert wurde. Ähnliches läßt sich zur langen Darstellung von »Die französische Soziologie« (Kapitel I) sagen, die, davon darf man ausgehen, in den Augen von Lévi-Strauss durch die erstmals 131950 auf französisch erschienene »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«[11]  überholt war.

Ungeachtet dessen gab es einen Verlust, den der vorliegende Band wieder wettmachen möchte. Verlust zunächst deshalb, weil mehrere Gedankenstränge durch die Auswahl faktisch ausgegrenzt wurden. Beispielsweise einige Passagen von »Die Theorie der Macht in einer primitiven Gesellschaft« (Kapitel VIII), deren sich Lévi-Strauss freizügig in Traurige Tropen bedient hat, allerdings um den Preis, bemerkenswerte Schlußbetrachtungen zum Begriff der »natürlichen Macht« unter den Tisch fallen zu lassen; so auch die sehr dichte Diskussion des Werks von Durkheim in »Die französische Soziologie«, die 1950 in der Studie zum Werk Marcel Mauss' keinen Platz fand – ein wichtiger, schwieriger Text, »Bibel des Strukturalismus«, den die Seiten von 1945 über Durkheim nachträglich zu erhellen helfen.[12]  Verlust auch deshalb, weil Lévi-Strauss Artikel ausklammerte, die sich zwar in die von der Strukturalen Anthropologie entworfenen Marschroute nicht integrieren ließen, aber eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Überlegungen spielten, die abseits des Strukturalismus geführt wurden. Das trifft auf »Krieg und Handel bei den Indianern Südamerikas« (Kapitel VII) wie erneut auf »Die Theorie der Macht 14in einer primitiven Gesellschaft« (Kapitel VIII) zu. Beide Texte bilden wesentliche Referenzgrößen für jene sozialen und politischen Theorien, denen die indianischen Gesellschaften Südamerikas als Beispiele für Gesellschaften gelten, die über keinen Reichtum verfügen und eine minimale politische Organisation aufweisen, für soziale Formationen vor der Staatlichkeit und der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals also. Für diese Reflexionen zur politischen Anthropologie bieten die Arbeiten Pierre Clastres' die eindrucksvollste Illustration.[13]  Analoges wäre zum Artikel »Der soziale Gebrauch der Verwandtschaftsbegriffe bei den Indianern Brasiliens« (Kapitel XIII) zu sagen. Während Lévi-Strauss ihn nur zum Teil in seiner Thèse secondaire, La Vie familiale et sociale des Indiens nambikwara, aufnahm, wurde der Artikel in den 1990er Jahren von brasilianischen Spezialisten wieder publik gemacht und ist, zusammen mit weiteren ethnographischen Schriften der 1940er Jahre, zu einer zentralen Referenz für eine der wichtigsten Entwicklungen der jüngeren Anthropologie geworden, nämlich der Rekonstruktion der amerindianischen Ontologien anhand der Erweiterung des Begriffs der Affinität auf die nichthumane Welt: »Anfangs als ein innerer Mechanismus der Bildung lokaler Gruppen betrachtet, [ist] Affinität in der Folge als relationales Dispositif [erschienen], das die außerlokalen Beziehungen organisiert, indem es Personen oder Personengruppen jenseits der Verwandtschaft verbindet, und letztlich als eine Sprache und ein relationales Schema zwischen Selbst und Anderem, Identität und Differenz.«[14] 

15Zu vermuten ist schließlich, daß der gleichermaßen spaßig-verspielte wie tiefgründige Artikel »Die Technik des Glücks« (Kapitel VI), dessen Thema die moderne US-amerikanische Gesellschaft war, so wie sie Lévi-Strauss in den 1940er Jahren von innen kennengelernt hatte, im theoretischen Sammelband, den er 1957 im Auge hatte, nicht recht paßte. 1944 geschrieben, 1945 in der Zeitschrift L'Âge d'or veröffentlicht, dann ein Jahr später in der dem »Amerikanischen Menschen« gewidmeten Sondernummer der Zeitschrift Esprit nochmals abgedruckt, stand dieser Artikel bei der Neuerscheinung neben Beiträgen amerikanischer Schriftsteller und Denker (Kenneth Burke, Margaret Mead) sowie denen weiterer während des Zweiten Weltkriegs in die Vereinigten Staaten emigrierter Intellektueller (Georges Gurvitch, Denis de Rougement). Im Ton ist er bereits in dem bestimmter »freierer« Überlegungen der 1970er und 1980er Jahre gehalten (man denke an »New York – post- und präfigurativ« in Der Blick aus der Ferne[15]  oder an Texte aus dem postumen Werk Wir sind alle Kannibalen[16] ), doch im Unterschied zu letzteren zeugt der Artikel von 1945 von einer gewissen Verstörung, ja Beunruhigung, die von Ambivalenzen herrührt, die jede teilnehmende Beobachtung auslöst. Darin entfaltet sich eine Mischung aus fasziniert sein und abgestoßen werden durch die amerikanische Gesellschaft, eine zu jener Zeit recht allgemeine Kombination, mit allerdings besonders originellem Gehalt. Wie in den von Entsetzen geprägten Seiten aus Traurige Tropen über Südostasien sieht man hier den Ethnologen im Kampf mit den eigenen Antipathien (gegen16über dem allmächtigen Imperativ sozialer Harmonie, dem allgemeinen Infantilismus, der Unmöglichkeit des Alleinseins …) und beim Versuch, letztere zugunsten eines theoretischen Vergleichs mit den europäischen Gesellschaften neu zu bewerten. Ist der Abscheu auch weniger viszeral als in der Beschreibung der Massen in Kalkutta, so verrät sich in diesem Text doch auch eine Subjektivität, die mit ihren eigenen Beschwerden kämpft und die, im Bestreben, sich von einem ausschließlich reaktiven (oder herablassenden) Antiamerikanismus abzusetzen, bestimmte grundlegende Merkmalszüge der nordamerikanischen Gesellschaft aus nächster Nähe zu umreißen und mit zuweilen recht kraftvollen Formulierungen zu bezeichnen sucht: die innerliche Inhomogenität einer Gesellschaft, deren »Gerüst […] noch äußerlich [ist]« (»bald verzaubert, bald erschreckt entdeckt sie sich jeden Tag von außen«); die Zurückweisung des Tragischen durch eine »verbissene« Geselligkeit, das Ideal einer »Kindheit ohne Boshaftigkeit«, einer »Jugend ohne Haß« und einer »Menschheit ohne Ranküne« – wobei dann die Verleugnung der Widersprüche des sozialen Lebens zuweilen durch die Rückkehr des Verdrängten gleichsam zu äußerst heftigen Konflikten zwischen Gemeinschaften führt (S. 180).[17] 

Trotz wiederholter Äußerungen des Lobs und des Danks für das Land, das ihm »sehr wahrscheinlich das Leben gerettet« hat, und Würdigungen seiner Universitäten und Bibliotheken, offenbart sich ein echter und tiefgreifender Vorbehalt gegenüber den Vereinigten Staaten, der einige Jahre später mit der unumstößlichen Ablehnung der Angebote Talcott Parsons und Clyde Kluckhohns (nachdrücklich unterstützt von Roman Jakobson), die ihn nach Harvard zu holen suchen, seine Bekräftigung erfährt. »Ich wußte nur, 17daß ich mit allen Fibern der Alten Welt angehörte, unwiderruflich.«[18]  Wie beim Lesen der Kapitel von Traurige Tropen über Pakistan und den Islam (die, obwohl ihnen Aufzeichnungen von 1950 zugrunde liegen, die Massaker und massiven Umsiedlungen von Bevölkerungsteilen im Gefolge der Teilung Indiens nur flüchtig erwähnen) könnte der heutige Leser von »Die Technik des Glücks« überrascht sein über das Beschweigen bestimmter Phänomene und die der Epoche und der Stellung dieses Beobachters eigenen Blindheit, der, aufgerufen, sich zur amerikanischen Gesellschaft zu äußern, sich über die Undurchlässigkeit der »Generationen, Geschlechter und Klassen« wundert, aber die Rassentrennung und die Rassenkonflikte kaum anspricht.[19] 

Wie auch immer, der vorliegende Band will wichtige, oft unbekannte Texte wieder verfügbar machen, die in der Mehrzahl erstmals auf englisch in verschiedenen und heute für viele fast unauffindbaren Zeitschriften erschienen sind.[20]  Neben dem intrinsischen Interesse an ihnen zeichnen sich diese von Lévi-Strauss 1958 beiseite gelegten Artikel dadurch aus, 18daß sie eine Vorgeschichte der strukturalen Anthropologie skizzieren; im Zusammenspiel mit Gegenproben ermöglichen sie, zugleich das theoretische Projekt und den Sinngehalt besser zu erfassen, den das Unternehmen Mitte der 1950er Jahre für den Menschen Claude Lévi-Strauss hatte.

New York, 1941 bis 1947

Doch das ist nicht alles. Denn der vorliegende Band besteht nicht nur aus Resten, odds and ends, so die englische Wendung, die Lévi-Strauss gefiel. Seine Einheit ist nicht nur negativ bestimmt. Es ist zunächst die eines Orts und einer Zeit: New York, 1941 bis 1947. Die folgenden Texte hat Lévi-Strauss alle im Laufe dieser amerikanischen, ja New Yorker Jahre geschrieben, zunächst als geflüchteter Jude – scholar in Exil, mit Hilfe des Rettungsplans der europäischen Universitäten, den die Rockefeller-Stiftung finanzierte –, dann als Kulturattaché der französischen Botschaft. Sie erschienen zwischen 1942 und 1949, das heißt vor den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Deren Veröffentlichung stellt einen einfachen chronologischen Orientierungspunkt dar: mit ihr datiert (auf oberflächliche, aber bequeme Weise) der Anfang des Strukturalismus und zugleich bezeichnet sie für ihren Autor den Zeitpunkt seiner endgültigen Rückkehr nach Frankreich und der Wiedereingliederung anhand des Rituals der Thèse und der Erlangung einer Stelle als Maître de recherche am CNRS – auch wenn in persönlicher und beruflicher Hinsicht das Ende der 1940er Jahre und der Beginn der 1950er Jahre eine unruhige Periode bilden.

Diese siebzehn Texte zeugen mithin von einem zugleich biographischen und historischen Moment. Der junge Eth19nologe macht seine ersten Erfahrungen mit der amerikanischen Anthropologie – älter und stärker etabliert als in Frankreich – und integriert sich in ihr als Spezialist für Südamerika, insbesondere für jene Populationen, die im Unterschied zu den großen Andenzivilisationen, die bis in die 1930er Jahre den Hauptforschungsbereich bildeten, als die der »unteren Länder« bezeichnet wurden. Am Schluß des vorliegenden Bandes finden sich fünf ethnographische Texte, darunter drei, die in dem von Julian H. Steward herausgegebenen bedeutenden sechsbändigen Handbook of South American Indians erschienen (einem Werk, von dem Lévi-Strauss noch 2001 sagte, daß es ungeachtet seiner Unzulänglichkeiten keineswegs durch neuere Veröffentlichungen veraltet sei[21] ). Diese Texte erlauben es, endlich mit dem Lévi-Strauss häufig gemachten Vorwurf eines »theoretischen Bias« aufzuräumen, wurde der als Philosoph Ausgebildete doch oft beschuldigt, sich mit einem zu abstrakten und zu wenig empirisch gehaltvollen Ansatz im Hinblick auf die indianischen Gesellschaften zu begnügen.

In diesen Texten der 1940er Jahre erweist sich Lévi-Strauss ganz im Gegenteil als ein gestrenger Ethnograph und keineswegs als Theoretiker. Von der Philosophie herkommend und einem Zwischenstadium in der Soziologie, interveniert 20er jetzt als Experte für die Ethnien des brasilianischen Hochlands, zu einer Zeit, als die Disziplin sich in erster Linie auf Fragen der Identifizierung der Stämme, der Kartographie ihrer Territorien und der Beschreibung ihrer Gebräuche in einer wenn nicht diffusionistischen, so doch vorrangig an der Geschichte der Migrationen und der Besiedlung Südamerikas interessierten Perspektive konzentriert. Zugleich erscheint Lévi-Strauss darin ganz ohne Zweifel als ein Ethnologe seiner Zeit: Er hat die gesamte vorliegende Literatur gelesen, verfügt aber über eine begrenzte empirische Erfahrung auf ethnographischem Gebiet (einige Wochen bei den Bororo und den Nambikwara, später in Traurige Tropen geschildert). Die Würdigung von Bronisław Malinowski und mehr noch die von Curt Nimuendajú (Kapitel I und V), ausgewiesene Feldforscher, denen gegenüber er nicht mit Bewunderung geizt, zeigen allerdings, daß er um den Wert längerer ethnographischer Erfahrung weiß; im übrigen ahnt er, daß derartige Aufenthalte – von längerer Dauer, solitär, »eingetaucht« in die untersuchten Gesellschaften – zur Norm der Disziplin werden, denn ganz richtig prophezeit er, man werde »zukünftig vermutlich ethnologische Arbeiten je nach Grad des persönlichen Engagements ihres Autors als ›vor-malinowskianisch‹ oder ›nach-malinowskianisch‹ unterscheiden« (S. 126). Dennoch hat er selbst (der, seinen eigenen Worten nach, sich in den Vereinigten Staaten »eher als Schreibtischtyp denn als Feldarbeiter« entdeckt[22] ) seine Sporen im Verlauf von Untersuchungen erworben, denen ein anderes, älteres Modell zugrunde lag – kollektive Expeditionen, bei denen es vor allem um Sammeln von Informationen ging, mit nur kurzen Aufenthalten bei den Populationen –, was 21bei der Lektüre der Beiträge im Handbook erkennbar ist, die alle nach demselben Muster gestrickt sind. In diesen Texten wie in seinem ersten Artikel über die Bororo-Indianer 1936 (der Robert Lowies Aufmerksamkeit erregt hatte und indirekt dazu führte, daß er in den Rettungsplan der Rockefeller-Stiftung aufgenommen wurde) geht es in erster Linie um Beschreibung, wenn auch aus erster Hand; sein Hauptinteresse gilt den empirischen Gegebenheiten (materielle Kultur, Technologien, Lebensalter), die Überlegungen zur sozialen Organisation oder zu den Formen von Religion und Magie sind knappgehalten. Wert gewinnen diese Artikel vor allem durch die vorgeschlagene kenntnisreiche Synthese erratischer und heterogener, durch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte getrennter Quellen.

Sichtbar wird auch die initiatorische Dimension einer solchen Arbeit für den jungen französischen Ethnologen, der zu einer Zeit in ein kollektives disziplinäres Projekt eingebunden ist, in der ethnographische Erfassung und Bestandsaufnahme noch immer die Hauptbeschäftigungen der amerikanischen Anthropologie sind, zugleich aber auch ein Gefühl der Dringlichkeit vorherrschte in bezug auf die vom demographischen und kulturellen Zusammenbruch bedrohten Populationen; Julian H. Steward selbst konzipierte das Handbook in einer Perspektive der angewandten Anthropologie mit dem Ziel der Integration der traditionellen Indianergesellschaften in die neuen Nationalstaaten des Kontinents. Diese Texte zeugen also von der Einbindung in die der amerikanischen Anthropologie jener Zeit eigenen Problemstellungen; weshalb manchmal auch ein leicht veraltetes Vokabular zu finden ist, etwa der damals häufige Begriff des cultural level oder level of culture (was nur unzulänglich mit »kulturellem Niveau« oder »kulturellem Grad« übersetzt wurde), der die mehr oder weniger große Komplexität der jeweils untersuchten sozialen Organisation oder den mehr oder weni22ger rudimentären Charakter der in Frage stehenden materiellen Kultur bezeichnet. Lévi-Strauss wird in der Folgezeit diese Begrifflichkeit aufgeben, wegen der in ihr konservierten evolutionistischen Konnotationen selbst noch bei den amerikanischen Anthropologen, die doch bemüht waren, sich von allem Evolutionismus abzusetzen.

Diese Erfahrung der Einbindung in einen fremden disziplinären Reflexionszusammenhang wird Lévi-Strauss – den früheren Soziologieprofessor an der Universität von São Paulo, der von Célestin Bouglé nach Brasilien geschickt worden war – dazu bringen, die theoretische Tradition, der er entstammt, in eine neue Perspektive zu rücken. Mehrere Texte des vorliegenden Bandes suchen in diesem Sinne die französische Sozialwissenschaft zu verorten und ihre Besonderheit gegenüber den anderen nationalen Traditionen herauszuarbeiten. Dafür bietet sich kein besseres Beispiel als die auf Bitten von Georges Gurvitch für dessen Sammelband Twentieth Century Sociology zunächst auf englisch verfaßte energische Synthese »Die französische Soziologie« (Kapitel I). In dieser langen Studie macht sich Lévi-Strauss – nach einer Darstellung der globalen Ausrichtungen der Disziplin und einiger randständiger Figuren – an eine minutiöse Interpretation des Werks von Durkheim. Scharfsinnig zeigt er, daß es unentschieden zwischen »historischem Standpunkt« und »funktionellem Standpunkt« schwankt, zwischen der Erforschung originärer, aber erklärende Stringenz entbehrender Tatsachen und der Sozialtheorie, die Ziele vorgibt, aber sich von der empirischen Beobachtung entbindet; zugrunde liegt diesem Zaudern das implizite Postulat einer Diskontinuität zwischen »psychologischem und soziologischem Standpunkt«, zwischen der Analyse der Vorstellungen und die der Institutionen. Marcel Mauss' Rolle wird es sein, so Lévi-Strauss weiter, dieses Dilemma aufzulösen, indem er symbolisches Handeln nicht als Ergebnis, sondern als Voraussetzung 23des sozialen Lebens konzipiert und zugleich individuelles Bewußtsein, kollektive Vorstellungen und soziale Organisationen wieder in eine Kontinuität stellt. Dann dringt Lévi-Strauss zum Kern seiner Argumentation vor, nämlich der Antwort auf die Kritik des bedeutenden amerikanischen Ethnologen Alfred Kroeber, der der französischen Soziologie Mangel an methodischer Strenge ankreidet und ihr zugleich vorwirft, zu abstrakt zu sein und zu wenig auf die konkreten Realitäten jeweils vor Ort zu achten. Diese alte Leier der amerikanischen Anthropologie seit den 1920er Jahren und bis heute – mit Lévi-Strauss übrigens als herausragender Zielscheibe – kann diesen jungen Ethnologen nicht gleichgültig lassen, der zudem gerade dabei ist, Diplomat zu werden und aktiver an der »kulturellen Ausstrahlung« seines Landes teilzunehmen, das noch nicht den Krieg hinter sich gelassen hat (der Text ist 1944 oder ganz zu Anfang 1945 geschrieben). Lévi-Strauss gibt zunächst Kroeber recht und hebt hervor, daß der »philosophische Ursprung« der Gruppe der Année sociologique sie dazu geführt hat, die Feldforschung zu vernachlässigen (S. 124). Um doch sogleich zu vermerken, daß der daraus erwachsene Rückstand gerade aufgeholt werde: »Die jüngere Generation französischer Soziologen, jene, die ihre Reife um 1930 erreichten, hat während der letzten fünfzehn Jahre nahezu vollständig darauf verzichtet – wenn sicher auch nur temporär –, theoretisch zu arbeiten, um diese Lücke zu füllen.« (S. 101) Zur Stützung dieser Behauptung zitiert er die jüngeren ethnographischen Arbeiten von Marcel Griaule, Michel Leiris, Jacques Soustelle, Alfred Métraux, Roger Bastide, Georges Devereux, Denise Paulme sowie seine eigenen.

Besonders an Kroebers Kritik von Mauss stößt sich Lévi-Strauss. Die Kritik zeugt, so er weiter, von zahlreichen »Mißverständnissen«, aber wirft »wesentliche Fragen« auf, und sie führt ihn zu einer entschiedenen theoretischen Richtig24stellung. Kroebers Argument ist klassischer Natur: Er wirft Durkheim und Mauss vor, Kategorien wie »Selbstmord« oder »Gabe« zu verwenden, die weder indigene Begriffe sind noch rigorose Konzepte, von denen aus sich ein wissenschaftlicher Diskurs entwickeln könnte. Lévi-Strauss' Antwort darauf lautet, daß, soll nicht aus Prinzip auf jede wissenschaftliche Untersuchung verzichtet werden, irgendwo angefangen werden muß, eben mit dem, was sich der Beobachtung anbietet; aber er unterstreicht, daß diese Kategorien keineswegs das Ende der Analyse darstellen: sie werden vielmehr im Laufe der Untersuchung fortschreitend aufgelöst und dienen nur dazu, zu einer tieferliegenden Realität vorzudringen, die der einfachen Beobachtung nicht zugänglich ist, aber von größerem explikativem Wert ist – Integration des Individuums in die Gruppe im Fall des Selbstmords, Erfordernis der Reziprozität im Fall der Gabe. Gegen Kroeber, der der Anthropologie echten Wissenschaftsstatus absprach, und allgemeiner gegen die amerikanische kulturalistische Anthropologie bekräftigt Lévi-Strauss also erneut sowohl die Geltung der methodologischen Prinzipien Durkheims (»Wir unsererseits bleiben überzeugt, daß die sozialen Tatsachen wie Dinge untersucht werden müssen«, schreibt er noch 1948 [S. 159] – Durkheims atomistische und mechanistische Auffassung dieser »Dinge« dagegen bleibt in seinen Augen unzulänglich) als auch die zugleich erklärende und universalistische Ambition der Anthropologie.[23]  In diesem Text (und weiteren aus dieser Zeit) kommt auch erstmals eine tiefsitzende Sorge zum Ausdruck, nämlich daß die (legitime) Kri25tik des Evolutionismus des 19. Jahrhunderts am Ende die Anthropologie auf einen Haufen monographischer Untersuchungen reduziert, ohne jeden vergleichenden Horizont und ohne allgemeine Zielsetzung: »Sind wir, modernen Danaiden gleich, dazu verdammt, endlos und vergeblich Monographie auf Monographie in ein Gefäß ohne Boden zu schütten, ohne je ein stichhaltiges und dauerhaftes Ergebnis zu erhalten?« (S. 212) Im Rückblick wird denn auch für ihn der primäre positive Effekt seines Aufenthalts in Amerika darin bestanden haben, daß ihm die eingefahrene Gewohnheit bewußtgemacht wurde, in die die Disziplin zu verfallen drohte: die ziellose Akkumulation. Und mit nahezu wahnsinniger Ambition, Intelligenz und Arbeitskraft wird er sich zur Aufgabe setzen, die Anthropologie aus diesem Trott herauszuführen und ihr das Ziel vorzugeben, »zu universell gültigen Wahrheiten zu gelangen« (S. 212).

Zwei Punkte sind also festzuhalten. Zum einen, viele dieser Texte sind dem Anschein nach anekdotischer Natur, tatsächlich aber Anlaß zu einer gewichtigen theoretischen Reflexion. Zum anderen, diese Reflexion ist selbst unmittelbar gebunden an Lévi-Strauss' Lage als Exilierter zu dem Zeitpunkt, als er die Texte schreibt. Auf den ersten Blick scheinen mehrere der hier versammelten Texte – historische Synthesen, Rezensionen oder Würdigungen – ohne größeren argumentativen Wert; doch selbst die Würdigung Malinowskis hält nicht mit »ernsthaften Zweifeln« hinterm Berg, den der theoretische Teil seines Werks auslöst, und noch vor der verheerenden Kritik in »Geschichte und Ethnologie« (dem ersten Kapitel der Strukturalen Anthropologie) wird ersichtlich, wie das kritische Urteil über den malinowskischen Funktionalismus und dessen tautologischen Charakter im Laufe der Jahre an Vehemenz gewinnt (siehe hier Kapitel I und besonders Kapitel V). Ähnliches ließe sich im Hinblick auf die unerwartete und auf den ersten Blick verwunderliche 26Rehabilitierung des finnischen Soziologen Edward Westermarck sagen (Kapitel III). Dessen Versuche zur Erklärung des Inzestverbots in seinem Buch von 1891, The History of Human Marriage (Geschichte der menschlichen Ehe), war tatsächlich weitgehend in Verruf geraten, nicht zuletzt durch Durkheim und umfassender durch die Kritiken von seiten des britischen Evolutionismus des 19. Jahrhunderts. In seinem Nekrolog, den er 1945, sechs Jahre nach dem Ableben von Westermarck, verfaßt (der Krieg begründet eine solche Verspätung), kommt Lévi-Strauss auf die Kritiken an dessen Buch zu sprechen, hebt zugleich aber auch seine Verdienste hervor (den theoretischen Ehrgeiz, die Gelehrsamkeit, »sein[en] Anspruch auf eine umfassende erklärende Soziologie«, das aufrechterhaltene Band zwischen Soziologie und Psychologie, sein »Mißtrauen gegenüber historischer oder lokaler Erklärung«) und schlägt eine Neuformulierung des Problems vor, das in der Folgezeit eine entscheidende Rolle in seinem Werk spielen wird: »[D]as Verbot gründet weder im physiologischen Band der Verwandtschaft noch im psychologischen Band der Nähe, sondern im Band der Fraternität oder Paternität in seinem ausschließlich institutionellen Aspekt.« (S. 140) Mit anderen Worten, die moralische Regel des Inzestverbots findet ihre Quelle und Erklärung in einem umfassenden sozialen Imperativ – wir stehen ganz kurz vor der durchschlagenden Wende, mit der die Elementaren Strukturen der Verwandtschaft eröffnet werden, und deren Plädoyer, den Inzest nicht als Verbot zu lesen, sondern als eine Verpflichtung zur Exogamie.

Ähnlich bieten so technische oder anekdotische Texte wie »Zur dualistischen Organisation in Südamerika« (Kapitel XIV) oder »Der Name der Nambikwara« (Kapitel IV) Gelegenheit zu theoretischen Klarstellungen, dort die historische Verfaßtheit der Formen sozialer Organisationen betreffend (und den Status der historischen Hypothese in der 27Anthropologie); hier die Frage der Benennung der Stämme, die häufig ein falsches Problem ist und die Anthropologie in sterile scholastische Streitereien zu verstricken droht. Beim ersten Lesen mag der Titel »Reziprozität und Hierarchie« (Kapitel IX) etwas trügerisch klingen, aber hinter diesen minutiösen Betrachtungen zur Bezeichnung der Hälften innerhalb der Bororo-Organisationen geht es wesentlich um das Fortbestehen des dem sozialen Leben zugrundeliegenden Reziprozitätsprinzips bei scheinbarer Vorherrschaft von Unterordnungsbeziehungen.

In den Rezensionen wird der Dialog mit der amerikanischen Anthropologie aufs schärfste fortgesetzt. Die hier aufgenommenen fünf Besprechungen (Kapitel V) sind kaum bekannt und doch alle von enormer Tragweite (und auch siebzig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung von fortdauernder Aktualität). Verfaßt für L'Année sociologique (der von Durkheim gegründeten Zeitschrift, die nach dem Krieg gerade wieder zu erscheinen begann), waren sie alle in den USA verlegten Werken gewidmet, womit Lévi-Strauss sich zum Importeur einer damals in Frankreich noch weitgehend unbekannten amerikanischen anthropologischen Tradition machte. Zwei dieser Besprechungen waren zwar bereits auf englisch erschienen, aber deren von Lévi-Strauss vorgelegte französische Fassungen sind oft weniger moderat als das Original und bieten ihm Gelegenheit, scharf mit dem umzugehen, was er als Sackgassen begriff, in die die englischsprachige Anthropologie sich gerade verstrickte, ob es sich um den Funktionalismus und dessen »providentialistische« Ableger handelte oder jene amerikanische Schule, die im Begriff stand, sich unter der Bezeichnung »Kultur und Persönlichkeit« zur Geltung zu bringen, mit der Folge, die Beziehungen zwischen individueller Psychologie und Kultur unmäßig zu vereinfachen und den Autobiographien der Indigenen einen übertriebenen Platz einzuräumen.

28Noch entschiedener nimmt er sich die sogenannten »Akkulturations«-Studien zur Zielscheibe, die sich in den Vereinigten Staaten zu entwickeln beginnen und deren Thema die Umwandlung der indigenen Gesellschaften ist, welche unter dem Einfluß der vorherrschenden modernen Zivilisation ihre überkommenen Lebensweisen verlieren. Nachdrücklich weist er das ökumenische funktionalistische Postulat zurück, das diese im demographischen und kulturellen Verfall begriffenen Gruppen zu traditionellen Gesellschaften vergleichbaren Gegenständen erhebt, mit dem Argument, es handele sich um »funktionierende« Kollektivitäten. Lévi-Strauss' Gegenposition ist pessimistisch – er zeichnet ein höchst düsteres Bild dieser verfallenden Gesellschaften und spart auch die Individuen nicht aus – und zugleich anklagend, denn die Äquivalenz-Annahme, wonach »jede menschliche Kollektivität allein dadurch, daß sie besteht und vom ersten Augenblick ihrer Existenz an funktionieren muß, einen soziologischen Gegenstand konstituiert« (S. 165), verbreitet zwar den Schein der epistemologischen Toleranz und der Wertneutralität, kaschiert im Grunde aber das Gewaltsame der Konfrontation; Lévi-Strauss liest hier die Verleugnung eines Schuldgefühls von seiten einer Zivilisation heraus, die einer anderen Zivilisation Wege aufzwingt, die diese nicht gewählt hat. Hier dämmern zwei gegensätzliche Formen von Geschichte auf: eine Geschichte der Entlehnungen und des Austauschs zwischen Gesellschaften und der damit einhergehenden und sich wechselseitig beeinflussenden Entwicklungen, und eine von außen eindringende verheerende Geschichte, die tragische Chronik der Zerstörung alter sozialer Formen durch eine maßlose westliche Zivilisation. Die erstgenannte kann Gegenstand der Wissenschaft werden und ist für die Anthropologie von zentraler Bedeutung; die zweite hat keinen anderen Grund als das Ungleichgewicht der vorliegenden Kräfte und die Hybris einer zerstörerischen Modernität 29gegenüber den anderen Kulturen und gegenüber einer Natur, die sie unwiderruflich beschmutzt.

Wichtig zu begreifen indes ist, daß diese Reflexionen in engstem Zusammenhang stehen mit Lévi-Strauss' Ausbürgerung und der besonderen New Yorker Erfahrung während und kurz nach dem Krieg.[24]  Tatsächlich ist all diesen Texten gemeinsam, entweder in einer Exilsituation verfaßt worden zu sein oder im Laufe einer diplomatischen Karriere, die zwar kurz war und von Lévi-Strauss in späteren Interviews und Gesprächen auch immer kleingeredet wurde, aber keineswegs wirkungslos war,[25]  also in einem Verhältnis doppelter Fremdheit: gegenüber den intellektuellen Traditionen des Herkunftslands wie denen des Gastlands. Diese Jahre sind nun für ihn Jahre der Professionalisierung und weitergehend der Rekonstruktion seiner intellektuellen und sozialen Identität – wie auch seines Privatlebens: Am Vorabend des Krieges hat sich Lévi-Strauss von seiner ersten Ehefrau getrennt. Abgestützt wird dieser Prozeß durch familiäre Bande, die er in New York besitzt und die seine Integration erleichtern und ihn befähigen, sich zwischen mehreren heterogenen Welten zu bewegen,[26]  und zugleich ist er getragen von einer immensen Fähigkeit zur Arbeit und zur Aneignung fremden Stoffs. Sichtbar wird das an seiner systemati30schen Durchforschung der anthropologischen Literatur in der New York Public Library und dem Erlernen des Englischen (mit Hilfe seiner in den Vereinigten Staaten ansässigen Tante) sowie dem sehr frühen Verfassen seiner ersten Texte in dieser Sprache.[27]  In dieser Hinsicht unterscheidet sich seine Exilerfahrung stark von der anderer, älterer Intellektueller wie etwa Georges Gurvitch, ganz zu schweigen von André Breton, mit dem Lévi-Strauss in New York verkehrte und der darauf hielt, nur Französisch zu sprechen.[28]  Durch seine Lage als Ausländer und der noch unsicheren beruflichen Zukunft (er hat noch nicht seine Thèse verteidigt) gewissermaßen dazu genötigt, muß er zu seiner eigenen intellektuellen Tradition finden und seine eigenen Grundsätze ausbilden. Dies ist ein weiterer Grund, diese Textsammlung vorzulegen, nicht nur als Würdigung einer individuellen Erfahrung und einer singulären historischen Konstellation, sondern auch als Zeugnis für geistige Erfindung und als Lehrstück über deren historische und soziologische Voraussetzungen.

31Tabula rasa

Diese Texte aus den 1940er Jahren, die Lévi-Strauss in der Folge beiseite legt, bieten die Gelegenheit, den Strukturalismus historisch zu erfassen, gegen die leichthändigen und oberflächlichen Erzählungen, die ihn lediglich als intellektuelle Mode der 1960er Jahre begreifen können. Der Strukturalismus erscheint damit als eine in den Vereinigten Staaten entstandene europäische Bewegung, als Antwort auf eine Krise des Funktionalismus und zugleich auf die Sackgassen des amerikanischen Nominalismus, der auf der Ablehnung des Vergleichs von kulturellen Entitäten gründete, die als aufeinander nicht zurückführbar, als singulär wahrgenommen wurden. Wenn auch nicht alle Lehrenden und Forscher der École libre des hautes études Strukturalisten wurden, so war der komparative Impetus doch allen diesen exilierten und häufig jüdischen Intellektuellen gemeinsam. Innerhalb dieser allgemeinen Bewegung wird das spezifische Projekt des Strukturalismus denn auch lauten: dem interkulturellen Vergleich wieder einen wissenschaftstheoretischen Status verleihen.[29]  Wie sich zeigt, verlief diese Genese keineswegs als ein linearer Prozeß. Noch zu häufig wird die Entstehung der strukturalen Anthropologie als ein »Durchbruch« präsentiert, als Abschluß einer glorreichen Sequenz, die auf die fehlende Anerkennung bei der Rückkehr nach Frankreich (das zweifache Scheitern am Collège de France 1949 und 1950, das anfangs nur verhaltene Echo, auf das Les Structures élémentaires de la parenté bei seinem Erscheinen trifft), dann die Veröffentlichung von Tristes tropiques 1955, von Anthro32pologie structurale 1958, schließlich vor der Wahl ans Collège de France 1959 folgt. Die Rückwendung auf diese alten Texte zeigt vielmehr, daß diese Sequenz nicht das Ergebnis einer dem Strukturalismus innewohnenden theoretischen Kraft ist, die sich trotz der Hindernisse und Widerstände schließlich durchsetzte; sie war im Gegenteil möglich geworden durch eine Arbeit der Rekonstruktion, Auswahl und des »Vergessens« bestimmter reflexiver Dimensionen durch Lévi-Strauss selbst. Dieses Vergessen betrifft insbesondere einen wesentlichen Aspekt dieser Texte, nämlich die Einbettung der anthropologischen Reflexion in eine politische Perspektive – ein Anliegen, das ab Anthropologie structurale völlig aus den Arbeiten des Anthropologen verschwindet. Darin besteht vielleicht das eigentliche und auffallendste Merkmal der hier versammelten Texte.

Wir wissen heute, daß der politische Aktivismus im Leben des jungen Lévi-Strauss einen zentralen Platz einnahm. Mit achtzehn Jahren eingetragenes Mitglied der SFIO,[30]  Sekretär der sozialistischen Studentengruppe ab 1927, gründet er 1931, zusammen mit zehn Genossen, die ebenfalls ihre Agrégation hatten, die Gruppe Révolution constructive, die sich die intellektuelle Erneuerung der Partei zum Ziel setzt. 1930 Assistent des SFIO-Abgeordneten Georges Monnet, bewirbt er sich erfolglos um einen Posten bei den Kantonalwahlen, während er 1933 seinen ersten Posten als Agrégé am Lycée von Mont-de-Marsan bekleidet. Das Bild von Lévi-Strauss als eines weltabgewandten melancholischen Anthropologen, der sich dem Studium verschwundener Zivilisationen widmet, ist folglich ein spätes Konstrukt. Die in den 331980er und 1990er Jahren unternommenen Arbeiten zur intellektuellen Geschichte, die seine diversen Engagements in der Jugend wiederentdeckten, konnten dieses Bild nicht radikal verändern, wobei Lévi-Strauss selbst das Ende seiner politischen »Karriere« auf sein Wahldebakel datiert, das im Scherz einem Autounfall zugeschrieben wird. Die für die Wahlkampagne gekaufte Citroën-»Ente« landet im Straßengraben, was im nachhinein als Vorzeichen einer Wende gesehen werden kann: Wenige Monate später wird Lévi-Strauss als Soziologieprofessor nach Brasilien geschickt, und dort beginnt die Karriere als Ethnologe ohne jeden Bezug zu den politischen Ambitionen seiner Jugendzeit. Und doch offenbart eine aufmerksame Lektüre der Texte aus den 1940er Jahren, daß Lévi-Strauss mit Eintritt ins »Mannesalter« durchaus noch nicht seine »politischen Illusionen« aufgegeben hatte, er seine wissenschaftliche Arbeit noch nicht von einer politischen Reflexion trennt, die bereits auf die Nachkriegszeit vorbereitet. Davon zeugen nicht zuletzt seine Aktivitäten im Rahmen von Zirkeln sowohl der École libre des hautes études als auch der internationalen intellektuellen Netzwerke. Seine frühzeitige Rückkehr nach Frankreich – der Krieg ist noch nicht beendet – und seine Ernennung zum Kulturattaché signalisieren im übrigen, daß der gaullistische Apparat ihn bereits als einen Mann ausgemacht hatte, auf den zu bauen war.

Diese politische Dimension ist zunächst an einigen beiläufigen Bemerkungen ablesbar. So rückt der finalistische Bias, den Lévi-Strauss an Durkheim wahrnimmt, den Begründer der Soziologie paradoxerweise in eine Nähe des Reaktionärs Louis de Bonald, woraus sich die beunruhigte Beobachtung ergibt: »Jede soziale Ordnung könnte sich auf eine derartige Doktrin berufen, um jede individuelle Spontaneität im Keim zu ersticken.« (S. 114) Und im Anschluß daran: »Die moralischen, gesellschaftlichen wie intellektuellen 34Fortschritte wurden in erster Linie durch die Revolte des Individuums gegen die Gruppe ausgelöst.« (ebd.) Das ist ein Grund mehr zur Zurückweisung des malinowskischen Funktionalismus, der von Durkheim eben genau nur diese Allmacht der Gruppe zurückbehält und deshalb als ein »Interpretationssystem« erscheint, »das in gefährlicher Weise die Legitimation jedweden Regimes ermöglicht« (S. 126). Die Kritik ist epistemologischer Natur (der Funktionalismus führt zu zirkulären Behauptungen), gewinnt ihre Schärfe aber aus den politischen Konsequenzen, die aus der kritisierten These gezogen werden könnten. Umgekehrt wird Westermarck aus theoretischen Gründen rehabilitiert, doch die Stringenz seiner Analysen »verleiht seinem Werk […] einen kritischen und militanten Wert, dessen er sich auch bewußt war«. »Für ihn besaß die Moralentwicklung einen Sinn: Sie sollte die Menschheit einem Ideal des Liberalismus und Rationalismus näherbringen und sie von Irrtümern und Vorurteilen befreien.« (S. 146) Und weiter: »Er betrachtete die relativistische Kritik als ein Instrument der geistigen Befreiung.« (S. 147)

Allgemeiner betrachtet, zeigen die Umstände, unter denen diese Texte verfaßt wurden, daß sie häufig in einer kollektiven politischen Reflexion eingebettet waren. So bildet »Die Theorie der Macht in einer primitiven Gesellschaft« (Kapitel VIII) die textliche Vorlage eines Referats an der École libre des hautes études im Rahmen einer Serie von »Vorträgen« zu den »modernen politischen Doktrinen« nach Referaten über die Menschenrechte, die unterschiedlichen Staatskonzeptionen oder das politische Denken von Louis de Bonald und Charles Maurras. Wie der Jurist Boris Mirkine-Guetzévitch in seinem Vorwort zu dem Band, der alle diese Beiträge versammelt, vergegenwärtigt, ging es um die Fortsetzung einer Reihe von Wortbeiträgen, die dem Ende der Dritten Republik gewidmet waren, und er betont auch, daß, um sich den Problemen der Stunde zu stellen, Teamarbeit 35und die Koproduktion von Wissenschaftlern aus diversen Fachrichtungen notwendig war. So erscheint auch »Die Außenpolitik einer primitiven Gesellschaft« (Kapitel X) ursprünglich in der Zeitschrift Politique étrangère, die ab den 1930er Jahren durch Untersuchungen auf sich aufmerksam gemacht hatte, die die Illusionen der Wirtschafts- und internationalen Politik Nazi-Deutschlands anprangerten. 1939 eingestellt, begann sie gerade wieder zu erscheinen, als Lévi-Strauss ihr 1949 einen Artikel gibt, der im Inhaltsverzeichnis neben Untersuchungen zum »Problem der Flüchtlinge«, zu »Die USA, die UdSSR und das chinesische Problem« oder zur Lage eines bald zweigeteilten Deutschlands stand. Die Originalität des Textes von Lévi-Strauss beruht nicht im – bereits andernorts vorgelegten – Bericht über die Tauschbeziehungen zwischen Nambikwara-Horden, die er im August und September 1938 auf dem brasilianischen Hochland beobachtet hatte (und der auch in den siebten Teil von Traurige Tropen Eingang findet). Wie der Schluß des Artikels verständlich macht, geht es darum, die »Außenpolitik« der Nambikwara als ein Modell zu verwenden, weil diese Kollektivität »eine der elementarsten Formen sozialen Lebens weltweit darstellt« und ihr Beispiel allgemeinen Überlegungen zu den Beziehungen zwischen fremden Gruppen als Grundlage dienen kann.[31]  Am weiteren Horizont dieses Textes, der dem Anschein nach lediglich die besondere Situation dieser Indianer des Mato Grosso schildert, erscheint mithin der Wunsch, zur Neugestaltung der internationalen Beziehungen in einer 36Welt beizutragen, die durch den Zweiten Weltkrieg in ihren Grundfesten erschüttert worden war und bald in den Kalten Krieg eintreten sollte.

In dem Text wimmelt es mithin von affirmativen Aussagen, die beim Leser von 1949 nachklangen, aber heute kaum noch derart lebhaft nachvollzogen werden können. Das gilt für die Zeilen gegen Ende, wo er die Blauäugigkeit dessen anprangert, »was uns gegenwärtig gedanklich so in Anspruch nimmt und uns dazu verleitet, die Menschheitsprobleme in Begriffen offener oder immer offenerer Gesellschaften zu denken«. Es handelt sich um eine Anspielung auf Überlegungen Henri Bergsons, die Karl Popper in seinem – ursprünglich 1945 erschienenen – Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde übernommen hat und aus denen Lévi-Strauss den Exzeß des »moderne[n] christliche[n] und demokratische[n] Denken[s]« herausliest, das, indem es die »Grenzen der Menschengruppe« stetig erweiterte, die Notwendigkeit vernachlässigt hat, die Menschheit als eine Gesamtheit konkreter Gruppen zu denken und vorherzusehen, daß deren Neigungen zu maßloser Aggression oder Zusammenarbeit reguliert werden müssen (S. 263). Und auf welche Resonanz ein Gedankengang wie der nachfolgende stoßen konnte, vier Jahre nachdem die Welt von den Todeslagern Kenntnis genommen hatte, läßt sich durchaus ermessen, wenn es heißt: »[V]on einem gewissen Punkt ab wird einem bestimmten Mensch abgesprochen, an den wesentlichen Attributen der Menschheit teilzuhaben.« Doch in den sogenannten primitiven Gesellschaften hat »diese Leugnung des Menschseins […] keinen aggressiven Charakter, oder doch nur selten. Von dem Moment an, von dem anderen Gruppen das Menschsein abgesprochen wird, bestehen diese nicht mehr aus Menschen, und folgerichtig benimmt man sich ihnen gegenüber nicht mehr so, wie man sich gegenüber Menschen verhalten würde.« (S. 260) Darin besteht 37die zentrale These des Artikels: die Gewalt einer Gruppe gegenüber einer anderen kommt der Anerkennung einer Möglichkeit der Partnerschaft gleich; die reine, einfache Negation schlägt sich lediglich in Desinteresse und einer »Technik des Ausweichens« nieder. Die Aggressivität zwischen zwei Gruppen muß also als »Funktion einer anderen antithetischen Situation: der Kooperation« gedacht werden (S. 262). Mit anderen Worten, diejenigen, die gestern unsere Feinde waren, waren es nicht von Natur aus, aufgrund einer angeborenen, der Bildung einer jeden Kollektivität inhärenten Aggressivität: sie können morgen innerhalb einer geregelten Praxis internationaler Kooperation unsere Partner werden. Wider die Suche nach universellen Prinzipien (die Krieg oder Kooperation zu genuinen »Instinkten« einer jeden Gruppe erheben würden) zeigt das Beispiel der Nambikwara, daß Krieg wie Handel Erscheinungsformen eines einzigen, aus einem Gradienten zwischen Aggression und Zusammenarbeit gebildeten Tauschprinzips sind – womit es die These von Mauss bestätigt, wonach die Gabe logisch dem Markt vorhergeht. »Wir stehen hier vor einer kontinuierlichen Skala oder institutionellen Kette, die es ermöglicht, von Krieg zu Handel, von Handel zu Heirat und von Heirat zur Fusion der Gruppen überzugehen.« (S. 254)

Darin bestand bereits die zentrale These von »Krieg und Handel bei den Indianern Südamerikas«, nämlich »daß in Südamerika die kriegerischen Konflikte und die wirtschaftlichen Tauschbeziehungen nicht nur zwei koexistierende Beziehungsarten bilden, sondern vielmehr zwei gegensätzliche und nicht voneinander zu trennende Aspekte ein und desselben sozialen Prozesses« (S. 208). Erkennbar wird in diesem 1943 in Renaissance, der Zeitschrift der École libre des hautes études, veröffentlichten Artikel die Notwendigkeit, die Nachkriegszeit zu antizipieren und die Grundlagen zu schaffen für das künftige nationale und europäische politische Le38ben – eine Sorge, die von zahlreichen nach New York emigrierten französischen Intellektuellen geteilt wurde.[32]  Im nachhinein kann man nur verblüfft sein über den Optimismus dieser manchmal recht jungen Leute (Lévi-Strauss ist keine vierzig Jahre alt), die mitten im Krieg, aber fernab der europäischen Schrecken, als »Team zusammenarbeiten« wollen, um die Welt danach neu zu erfinden – man denke nur an die Konnotationen eines Titels wie Renaissance (der 1942 gegründeten Zeitschrift) oder an das massenhafte Erscheinen ab 1945 von allgemeinen Periodika mit verheißungsvollen Titeln, deren Thema »Zivilisation« bzw. »Kultur« ist, zum Beispiel Chemins du Monde oder L'Âge d'or (der ebenso ambitionierten wie ephemeren Zeitschrift von Calmann-Lévy, der Lévi-Strauss anfangs »Die Technik des Glücks« angeboten hatte). Auch in diesem Sinne kann von Strukturale Anthropologie Zero gesprochen werden, um nicht nur auf die Vorgeschichte von Strukturale Anthropologie I und II hinzuweisen, sondern auch auf das Gefühl von Tabula rasa, das seinen Autor und das – mit anderen geteilte – Projekt eines zivilisatorischen Neuanfangs auf neuen Grundlagen beseelte.

Wohlfahrtsstaat und internationale Zusammenarbeit

Lévi-Strauss' politische Spekulationen im Verlauf dieser Jahre kreisen wesentlich um zwei Themen. Zum einen sind es Reflexionen zu den Formen des Verbundenseins der Indivi39duen mit der Gruppe, die es für die liberalen Demokratien neu zu denken gilt, und dies in Absetzung gleichermaßen von der Klassenzugehörigkeit wie der nationalen Zugehörigkeit – von ersterer, weil sie auf die Sackgassen des sowjetischen Modells zurückweist, von der zweiten, weil die jüngste Vergangenheit belegt, daß sie sich nur in Aggressivität äußern kann und zum Krieg führt. Eine aufmerksame Lektüre der Artikel erweist, daß Lévi-Strauss' Texte, ohne daß er sich dessen zwangsläufig bewußt wäre, englischsprachigen Arbeiten der Zeit nahestehen, die insbesondere Begriffe wie »Sozialbürgerschaft« und Sozialstaat entwickeln, die das Band zwischen Individuum und Kollektivität in den Massendemokratien sicherstellen sollen.[33]  Vom Beispiel der Nambikwara-Gesellschaft, in der Großzügigkeit das wesentliche Instrument der Macht des Häuptlings darstellt, behält Lévi-Strauss also dies zurück, daß die Gruppe mit ihrem Häuptling (der selbst keine Autorität besitzt und über keine Zwangsgewalt verfügt) durch ein Band der Reziprozität verknüpft ist, das beide Seiten zu Verpflichtenden macht, die »Weigerung zu geben« mithin analog ist der »Vertrauensfrage«, die eine Regierung in einem parlamentarischen System stellt. Damit wird Macht nicht allein durch bloße Zustimmung konstituiert (eine Treue zu Rousseau, die Traurige Tropen erneut vehement zur Geltung bringen wird), sondern durch die Zustimmung der Gruppe als Gruppe (und nicht als Ansammlung von Einzelnen). Lévi-Strauss schließt daraus, »daß die Auffassung des Staats als eines Systems von Sicherheiten, wie sie unlängst in den Diskussionen über ein nationales Versicherungsregime (wie den Beveridge-Plan und weitere) 40auf die Tagesordnung gesetzt wurde, keineswegs nur modernen Ursprungs ist. Es ist eine Rückkehr zur grundlegenden Beschaffenheit der sozialen und politischen Organisation.« (S. 234)[34]  Selbst wenn die Betrachtungen zu den USA der 1940er Jahre weit davon entfernt scheinen, bestehen doch engere Berührungspunkte mit diesen Fragen. Zeugt der Titel »Die Technik des Glücks« sicher von einer gewissen europäischen Ironie gegenüber einer Gesellschaft, die sich anscheinend völlig der materiellen und seelischen Befriedigung der Einzelnen verschrieben hat, welche ihrerseits nur als große Kinder in den Blick geraten, zeugt er doch auch von aufmerksamer Beobachtung »sozialer Techniken«, deren Ziel es ist, Konflikte abzubauen und eine Zivilisation zu schaffen, »in der Masse und Elite gleichermaßen auf ihre Kosten kommen«: Genauso wie das Kollektiv der Nambikwara stellt das zeitgenössische Amerika ein originelles und fruchtbares soziologisches Experiment dar, das verdient, daß man es mit »leidenschaftlichem Interesse« verfolgt. (S. 183)

Der zweite Bereich der politischen Reflexion von Lévi-Strauss betrifft nicht mehr das Verhältnis von Individuum und Kollektivität, sondern das der Kollektivitäten untereinander. Beide Punkte sind übrigens verbunden, sind sie doch beide – und auch darin bilden diese Texte Zeugnisse ihrer Zeit – einer Überzeugung eingeschrieben, die von zahlreichen Autoren der Epoche geteilt wird, nämlich der Obsoleszenz des Modells des Nationalstaats. Für Lévi-Strauss geht es also darum, seinen Beitrag zu leisten zur Neuentwicklung der internationalen Beziehungen, wobei der föderale Weg nach dem Beispiel der Vereinigten Staaten und der So41wjetunion, aber auch Brasiliens und Mexikos offenbar unvermeidlich ist. Auch da erscheint Reziprozität als primärer Grundsatz, auch wenn er durch Unterordnungsbeziehungen zwischen den betreffenden Gruppen diskreditiert scheint (S. 241). Auf internationaler Ebene bindet dieser Grundsatz nicht allein die Gesellschaften untereinander durch wechselseitige Leistungen, sondern auch die jeweils einzelnen an das Gesamtgefüge, das sie zusammen bilden, denn die Menschheit ist keine abstrakte Realität, deren Einheit durch Prinzipien sichergestellt werden kann, sondern »eine Gesamtheit konkreter Gruppen […], zwischen denen sich ein konstantes Gleichgewicht herstellen muß zwischen Wettstreit und Aggression mittels vorgängiger Mechanismen, um mögliche extreme Ausschläge in die eine oder andere Richtung abzufangen« (S. 263). Lévi-Strauss ist Kulturattaché, als er diese Zeilen schreibt, und man darf wetten, daß sie von jenem Gedankenaustausch geprägt sind, den er damals mit Henri Laugier hatte (durch dessen Vermittlung er den Posten erhalten hatte), der selbst stellvertretender Generalsekretär der neuen und von ihm mitgegründeten »Organisation der Vereinten Nationen« ist. In »Die Außenpolitik einer primitiven Gesellschaft« haben die Fähigkeit der Indigenen, »die Flüsse […] als internationale Wasserwege« anzuerkennen, und die Strategien, die sie entwickeln, um die Antagonismen »auf sicher aggressive, aber doch auch nicht zu gefährliche Weise« beizulegen, mithin Vorbildcharakter. Desgleichen ist die Beschreibung der »handwerkliche[n] und kommerzielle[n] Spezialisierungen« der Stämme des Xingu ein diskreter Aufruf zu einer Form der internationalen Arbeitsteilung, die von Diplomaten gefördert würde, die jenen polyglotten Vermittlern ähneln, die man in jedem Dorf findet. Doch das fruchtbarste Beispiel für das politische Denken jener Zeit dürfte die Auffassung des Territoriums der Nambikwara bieten, da die Indianer »Territorium« und »Boden« grundsätzlich 42voneinander trennen und damit einer immateriellen Definition der Kollektivitäten den Weg eröffnen, deren Einheit nicht mehr durch Grenzen festgelegt ist, sondern durch miteinander geteilte Werte: »Für uns bildet das Nambikwara-Territorium eine bestimmte, durch Grenzen festgelegte Fläche. Für sie ist es eine Realität, die sich von unserer genauso unterscheidet wie das Röntgenbild eines Körpers von dem eines realen Körpers bei Tageslicht. Das Territorium an sich besagt nichts; es ist nichts als ein Gesamt von Modalitäten, ein System von Situationen und Werten, die für den Fremden bedeutungslos erscheinen und sogar unbemerkt bleiben können.« (S. 257)