Von Montaigne zu Montaigne - Claude Lévi-Strauss - E-Book

Von Montaigne zu Montaigne E-Book

Claude Lévi-Strauss

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Beschreibung

Der Band versammelt zwei bisher unveröffentlichte Vorträge von Claude Lévi-Strauss, die im Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert gehalten wurden: der erste 1937, der zweite 1992, beide haben Montaigne zum Gegenstand. Sie lassen den zentralen Platz erkennen, den Montaigne im Denken von Lévi-Strauss einnimmt, und eröffnen damit eine neue Perspektive auf das Werk des großen französischen Anthropologen. Im Zeichen Montaignes, seinem lebenslangen Begleiter, wird ihm die Ethnologie zu einer revolutionären Wissenschaft.

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3Claude Lévi-Strauss

Von Montaigne zu Montaigne

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Emmanuel Désveaux

Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Emmanuel Désveaux Vorwort

Eine revolutionäre Wissenschaft: Die Ethnographie

Rückkehr zu Montaigne

Biographischer Abriss Lévi-Strauss (1908-2009)

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7Emmanuel Désveaux Vorwort

9Das diffusionistische Moment bei Lévi-Strauss

Die beiden im vorliegenden Band versammelten Vorträge, im Abstand von einem halben Jahrhundert gehalten, entsprechen einander: Sie umgrenzen einen sehr langen Zyklus, den des öffentlichen Worts des berühmtesten französischen Anthropologen.[1] Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wurde der erste im Januar 1937 gehalten und der zweite im April 1992. Erinnern wir daran, daß dieses Jahr für Lévi-Strauss ein besonderes Zusammentreffen aufweist: die Fünfhundertjahrfeier der Entdeckung Amerikas und die Feier zu Montaignes vierhundertstem Todestag – ein Kontinent und ein Autor, die ihm ganz besonders am Herzen lagen.

Zufällig haben wir nun aber im selben Jahr unsererseits einen Text mit dem Titel »Un itinéraire de Lévi-Strauss. De Rousseau à Montaigne« in der Zeitschrift Critique veröffentlicht.[2] Es handelte sich hierbei um einen Kom10mentar, der von der Lektüre der im Herbst zuvor erschienenen Luchsgeschichte[3] inspiriert war. Wir steckten einen Weg ab, der von einer auf dem Austausch beruhenden Irenik unter den Auspizien Rousseaus zu einer sehr viel desillusionierteren Sicht der menschlichen Natur führte, Synonym einer entschiedenen Melancholie, bei der Montaigne Pate stand. Damals sahen wir den Ursprung von Lévi-Strauss’ anthropologischem Denken in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Damit griffen wir einen Gemeinplatz der Exegese auf, der von dem Betroffenen selbst hartnäckig verfochten wurde. Dennoch täuschten wir uns. Allerdings wußten wir nichts von der Existenz des Vortrags von 1937, den wir erst kürzlich in den Archiven der Bibliothèque nationale de France ausgegraben haben. Und er gebietet uns, unsere Sicht von Lévi-Strauss’ ersten Schritten in der Anthropologie zum großen Teil zu revidieren. Dank diesem auf den ersten Blick recht verwirrenden Text kommt ein unerwartetes Moment seines Denkens wieder zum Vorschein: dasjenige, in dem er einen orthodoxen Diffusionismus vertrat. Doch insofern der Diffusionismus eine Variante – oder, wie wir sehen werden, vielmehr die Matrix – des kulturellen Relativismus ist, scheint es uns nunmehr richtiger zu sein, Lévi-Strauss’ Weg ausgehend von Montaigne und bei Montaigne endend zu beschreiben, was uns natürlich nicht daran hindert, die eminente Bedeutung der 11rousseauistischen Etappe in seinem Werk anzuerkennen. Zumal, wie wir sehen werden, der Vortrag von 1937 auch deren Anfänge enthält.

Als Lévi-Strauss 1935 in Begleitung seiner Ehefrau[4] nach Brasilien aufbricht, ist er als Dozent der Soziologie eingeladen worden. Er ist weder Anthropologe noch Ethnologe, auch wenn er in Paris durch einige Begegnungen und Lektüren bereits Bekanntschaft mit der exotischen Ethnographie gemacht hatte. Doch verwundert stellt man fest, daß seine Lektüren, wenn nicht seine Begegnungen bereits eine starke Neigung für den Amerikanismus erkennen lassen, ob nun mit Jean de Léry, dem Ahnherrn aus dem 16. Jahrhundert, oder mit Robert Lowie, dem Zeitgenossen, der ihm sieben Jahre später helfen sollte, in New York Fuß zu fassen.[5] Doch in Wirklichkeit befaßt sich Lévi-Strauss in São Paulo, in der Aufregung vor seinen Expeditionen, ernsthaft mit der Anthropologie (oder der Ethnologie oder der Ethnographie, drei Termini, die wir vorläufig nahezu für Synonyme halten werden, wie er selbst es übrigens in seiner Rede tut), und zwar als Autodidakt.[6] Allerdings hatte damals die französische Universität im Vergleich zu dem, was andernorts der Fall war, in diesem Bereich kaum etwas zu bieten, abgesehen von einigen vereinzelten brillanten Geistern wie Marcel Mauss und oder Marcel Granet. Die Humangeographie 12nach Paul Vidal de La Blache, der damals hohes Ansehen genoß, beherrschte das Feld mit einer umfassenden Kenntnis der Welt und behinderte infolgedessen den Aufschwung der Disziplin. Daher wurde die Anthropologie in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und in Deutschland betrieben, und es steht außer Zweifel, daß die sukzessiven Lieferungen des American Anthropologist, des Journal of the Royal Anthropological Institute oder auch des Anthropos an die Universität von São Paulo eine wesentliche Rolle spielten und den exilierten jungen Dozenten in beschleunigtem Tempo über die großen Themen und die methodologischen Anfangsgründe der Disziplin informierten. Nun wurde diese in den 1920er - 1930er Jahren aber durch eine große Debatte erschüttert, die dem Neuling nicht hatte entgehen können. Es handelte sich um die Kontroverse, bei der zwei Sichtweisen der kulturellen Vielfalt einander zuweilen erbittert entgegenstanden – Sichtweisen, zwischen denen der Funktionalismus als Schiedsrichter fungierte. Ein 1927 in New York erschienenes kleines Werk, an dem die besten Geister der Epoche mitwirkten, vermittelt uns ein recht eindrucksvolles Bild dieser Polemik.[7] Es stellt sich heraus, daß sich beide Lager gleichermaßen auf den Begriff der Diffusion beriefen, ihm jedoch nicht dieselbe Funktion beimaßen.

Die erste Sichtweise stellt die übersteigerte Seite des Evolutionismus dar. Sobald ihr zufolge in einer mensch13lichen Gruppe irgendein Fortschritt erfolge, zum Beispiel die Einführung der Töpferei, resultiere er zwangsläufig aus einem Import. Es gebe nur eine einzige Quelle menschlicher Innovation, nämlich das alte Ägypten und das Abendland im weiteren Sinne, von wo aus sich jeder Fortschritt in der Welt verbreitet habe, wenn auch mehr oder weniger schnell oder erfolgreich, was die Rückständigkeit einiger Populationen erkläre. Dem gegenüber vertritt man die Ansicht der gleichzeitigen Erfindung. Anders gesagt, es gebe mehrere »zivilisatorische« Orte, Brennpunkte der Kreativität, von denen aus sich die Innovationen, allgemeiner aber auch die Kulturmerkmale regional, ja sogar über ganze Kontinente ausbreiten. Doch hier ist eine Präzisierung geboten. Auf dem Höhepunkt der Polemik konnte die erste Sichtweise von ihren Opponenten insofern als »diffusionistisch« bezeichnet werden, als ihr zufolge alles dazu bestimmt ist, sich auszubreiten.[8] Doch insofern diese Position ganz und gar vom Evolutionismus abhängt, wurde der Terminus Diffusionismus letztlich eher der gegnerischen Sicht vorbehalten, für die die Ausbreitung ein regelrechter theoretischer Gegenstand wird. Denn angesichts eines von der Ethnographie beobachteten – oder von der Archäologie zutage geförderten – Kulturmerkmals wird hier das, was der Endogenese untersteht, nicht von vornherein unter das subsumiert, was von außerhalb kommt. Die Ausbreitung als solche wird zum Indiz und nicht zum ehrenrührigen Zeichen schöpferischer Unfähigkeit. Sie befreit sich von der Obsession des Fortschritts und seiner ursprünglichen 14Lokalisierung, indem sie vielmehr dazu auffordert, den Raum zu erkunden, um sowohl die Ausdehnung wie die Grenzen bei der Verteilung der Kulturelemente ausfindig zu machen. So verstanden hat der Diffusionismus mehrere Konsequenzen. Er nimmt eine Art Indexierung der Kulturmerkmale vor, anders gesagt eine Aufblätterung des ethnographischen Materials, die den Abstand zwischen Unterbau und Überbau verwischt. Zudem erlaubt er es nicht nur, sich gelassen eine Vielzahl von Orten vorzustellen, an denen »Innovationen« auftauchen, sondern er geht so weit, die Gleichwertigkeit zweier Formen von »Fortschritt« in Frage zu stellen, insofern er das Fehlen eines Kontakts zwischen ihnen konstatiert. Wie bereits Spinden bemerkte,[9] hat die Landwirtschaft nicht zwangsläufig den gleichen Status und die gleichen Auswirkungen, je nachdem ob sie auf dem Weizen beruht wie im Mittleren Osten, auf dem Reis wie im Fernen Osten, auf dem Mais wie in Mittelamerika oder auf dem Maniok wie im südamerikanischen Tiefland. In dieser Hinsicht erweist sich der Diffusionismus als eine Strömung der Analyse, die geeignet ist, Phänomene in all ihrer Komplexität zu erfassen – aber auch, die Grundlagen des historischen Materialismus zu untergraben.

In diesem Zusammenhang ist der Vortrag zu sehen, den Lévi-Strauss im Januar 1937 vor einem Publikum sozialistischer und pazifistischer Führungskräfte der CGT (Confédération du travail, Arbeitergewerkschaft) hält. Er findet während seines kurzen Pariser Aufenthalts im Winter 1936-1937 statt, der wiederum zwischen seinen 15beiden ethnographischen Missionen liegt, von denen Traurige Tropen berichtet, das heißt zwischen der Expedition zu den Caduveo und den Bororo und dem primitivistischen Trugbild, dessen bevorzugte Vermittler die Nambikwara sein werden.[10] Wir werden unten auf seine lange Einführung zurückgekommen, die dem »revolutionären« Charakter der Ethnographie gewidmet ist; halten wir im Augenblick fest, daß der Kern der Rede auf einen regelrechten Angriff auf jede Argumentation evolutionistischer Art hinausläuft, und zwar gerade zugunsten dessen, was wir soeben als Diffusionismus beschrieben haben.

Zunächst befaßt sich Lévi-Strauss mit der Exegese des Terminus »primitiv«, mit dem die traditionellen exotischen Populationen bezeichnet werden. Sie sind nicht deshalb primitiv, weil sie dem Ursprung der Menschheit näherstünden, im Vergleich zu uns sogar zurückgeblieben wären, sondern einfach deshalb, weil es bei ihnen keine Entwicklungen gegeben hat, die ihre 16Natur verdunkeln. Daher ihr innerer Wert. Bekanntlich ist Lévi-Strauss dieser Auffassung sehr lange treu geblieben, bis zur Abfassung der Mythologica. Was hier jedoch für eine typisch diffusionistische kleine Musik sorgt, liegt an der Behauptung, daß in diesen Gesellschaften jedenfalls parallele Entwicklungen stattgefunden haben können, das heißt Entwicklungen, die sich völlig von denen unterscheiden, die die Vergangenheit unserer eigenen Gesellschaften geprägt haben. Er führt diese Idee weiter aus und prangert die evolutionistische Theorie in ihren Hauptbegründungen an, diejenige, die die fortgeschrittenen Völker von den zurückgebliebenen trennt, und diejenige, in seinen Augen weit gefährlichere (in Anbetracht seiner primitivistischen Neigung versteht man, warum), die eine Unilinearität der menschlichen Evolution postuliert und meint, daß jede Kultur notwendigerweise dieselben Stadien durchlaufe wie jene, von denen sie überholt wurde. Anhand von Beispielen, von denen einige der physischen Anthropologie entlehnt sind (was zu tun er später ablehnen sollte), zeigt Lévi-Strauss die Haltlosigkeit dieser Sichtweise auf, indem er abwechselnd auf das Gebiet der Techniken verweist, sie entweder als solche oder in direktem Kontakt mit der Soziologie betrachtet. Die Chronologie, die von der Steinzeit zur Bronzezeit und dann zur Eisenzeit führt, versagt in Afrika, da man dort vom Stein direkt zum Eisen übergeht. Die Jagd auf die großen Säugetiere, die eine stärkere Zusammenarbeit erfordert, kann nicht dieselben sozialen Auswirkungen haben wie diejenige, die sich auf kleine Tiere beschränkt. Das gleiche gilt für die Landwirtschaft: Es gibt diejenige, die darin besteht, 17