Das Nest - Sophie Morton-Thomas - E-Book

Das Nest E-Book

Sophie Morton-Thomas

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Beschreibung

An einem einsamen englischen Küstenort, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Freude findet sie nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann. DochFrans stilles Leben wird plötzlich erschüttert, als die Lehrerin ihres Sohnes verschwindet und Roma in der Nachbarschaft ihr Lager aufschlagen. Zwischen Gerüchten und Anschuldigungen kommen Geheimnisse ans Licht, denen Fran verzweifelt zu entfliehen versucht. Als die Lehrerin tot aufgefunden wird, droht alles auseinanderzubrechen. Langsam, ruhig und bedrohlich entfaltet sich in diesem Krimi Noir ein Familiendrama vor beeindruckender Kulisse.

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Seitenzahl: 330

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sophie Morton-Thomas

DASNEST

Aus dem Englischen

von Lea Dunkel

Prolog

Sie werden es bald erfahren.

Wir haben alles dafür getan, damit die Sache ein gutes Ende findet. Der Plan schien zunächst absurd, idiotisch, schlecht durchdacht. Zugegeben, er war nicht unbedingt ein Geniestreich. Es kam aber auch alles so plötzlich. Ich weiß noch, wie ich nach Luft schnappte, wie mein Atem stockte, als würde jeden Moment etwas aus meinen Lungen hervorbersten. Bei dem rasanten Tempo verlor ich fast den Halt, noch zusätzlich behindert durch das Gewicht in meinen Händen. Heftiger Wind peitschte mir vom Meer aus ins Gesicht, beinahe als wolle er mir befehlen, anzuhalten. Doch das kam nicht infrage. Er war es nicht, auf den ich hören musste. Es waren die Stimmen der Möwen. Sie riefen mir zu, dass es keinen anderen Weg gab.

Man sollte immer auf die Vögel hören.

Fran

3. Januar

Der Basstölpel geht in den Sturzflug und durchschlägt die Wasseroberfläche wie ein Pfeil. Das Farbenspiel auf den Wellen zieht meinen Blick auf sich und mich selbst aus meinen Gedanken. Nach ein paar Sekunden taucht der Vogel wieder auf. Für die silbrig schillernde Beute im Schnabel hat es sich gelohnt, den eisigen Wogen zu trotzen. Ich sinke tiefer in die Allwetterjacke, deren viel zu lange Ärmel ich umständlich hochgekrempelt habe. Dom hat bestimmt nichts dagegen, dass ich sie ausgeliehen habe.

Fast alle Mobilheime auf dem Platz stehen gerade leer, nur in einem wohnt ein Typ, der wohl Frau und Kindern entfliehen will. Ich schließe die Tür hinter mir und gehe über den schmalen Weg zum nächsten Stellplatz. Es ist während dieser Monate normal, dass wir wenig Gäste haben. Kaum jemand wagt es, die gemütlich-besinnliche Weihnachtszeit an der rauen Küste zu verbringen. Erst im April, wenn der Boden langsam zu tauen beginnt, trauen sich wieder Familien her. Beim zweiten Mobilheim, das ich kontrolliere – Nummer 31, das von dem Familienflüchtigen – klemmt die Tür. Ich muss heftig an ihr reißen, wobei ein brennender Schmerz durch meine eisigen Finger zuckt. Als sie endlich nachgibt, stecke ich den Kopf durch die Öffnung. Drinnen scheint es noch einigermaßen sauber zu sein. Bloß der Teppich, das erkenne ich sofort beim Eintreten, ist leicht abgewetzt. Läufer, wir müssen dringend Läufer kaufen. Noch etwas für die Liste. Als ich wieder rausgehe und hinter mir zuziehe, überlege ich kurz, bei meiner Schwester in Nummer elf vorbeizuschauen. Sie ist jetzt an die sechs Monate hier.

Doch es ist bereits spät am Nachmittag. Die Sonne hat sich vor einer Weile verabschiedet und uns mit einem pastellfarbenen Schein am Himmel zurückgelassen. Mit einer Erinnerung an etwas, das einst war.

Dom und Bruno sitzen vor dem Fernseher, die Füße samt Schuhen auf dem Tisch. Oben in den Zimmerecken hängen immer noch letzte Lamettareste. Weihnachten ist in einem Gewirr aus Zweifeln vergangen. Mir ist es recht, dass die Festlichkeiten vorüber sind. Alle Jahre wieder sind sie auslaugend, unnatürlich und gestellt. Ich finde die Tage jetzt nach Neujahr viel angenehmer, die bei anderen eher unbeliebt sind. Kurz erwäge ich, Dom von dem Basstölpel zu erzählen, tue es dann aber doch nicht. Es passiert nicht oft, dass sie uns hier besuchen, und dass ich tatsächlich einen gesehen habe, ist etwas Besonderes für mich.

Auf die Frage, warum wir eigentlich hergezogen sind und dann auch noch die Wohnwagensiedlung gekauft haben, obwohl wir vorher nie auch nur über die Möglichkeit geredet haben, lautet die Antwort: Wegen der Vögel. Na ja, jedenfalls meine Antwort. Natürlich sind die Vögel mein Grund. Auch, wenn ich es meinem Ehemann noch nie so direkt gesagt habe. Selbst mein zehnjähriger Sohn zeigt mehr Interesse an meiner ornithologischen Obsession als Dom, wobei das natürlich auch an seinem Alter liegen könnte. Und wer weiß, wie lange es noch so bleibt, denn normalerweise orientiert er sich eher an den Vorlieben seines Vaters. Ich sammle die schmutzigen Teller ein und gehe in die Küche, wo meine Gedanken wieder zu meiner Schwester Ros schweifen.

Später gehen wir zum Strand. Entlang des Pfades, der von unserem Häuschen aus erst an der Wohnwagensiedlung vorbeiführt und dann weiter runter zur Kirche. Der letzte Hauch Pink ist längst vom Himmel vertrieben worden. Nun sind es einzig die Straßenlaternen, die uns den Weg die Hauptstraße entlang zur Küste leuchten. Auf der einen Seite hält Dom meine Hand, auf der anderen Bruno. In mir kommt eine Wärme auf, die ich lange nicht gespürt habe. Bruno hopst auf und ab; ob er die Kälte vertreiben oder seiner Freude über den gemeinsamen Spaziergang Ausdruck verleihen möchte, weiß ich nicht. Dabei plappert er in einer Tour über den Schulanfang. Seine Aufregung lässt mich in meinen riesigen Schal schmunzeln, den ich mir mehrfach um den Hals geschlungen habe. Ich werfe Dom einen verstohlenen Blick zu, um zu sehen, ob auch er den Moment genießt, doch seine Augen sind starr geradeaus gerichtet, die Brauen zusammengezogen. Früher oder später wird Bruno Sadie erwähnen und Fragen stellen, da bin ich mir sicher. Aber noch tut er es nicht.

Von links strahlen uns die Laternen an, mein Kind zerrt mich in Richtung Sand.

Ellis ist seit ein paar Wochen wieder da. Er tut mir leid. Mir gefällt seine offensichtliche Begeisterung für seine Tochter, diese Beinahe-Besessenheit. Im kühlen Morgennebel laufe ich vor der Tür auf und ab, unentschlossen, ob ich klopfen soll. Hinter mir im Baum gurrt es und ich frage mich, wieso es hier an der Küste eigentlich genauso viele Tauben wie Möwen gibt.

Ich sollte wirklich nachschauen, ob bei Ros alles in Ordnung ist. Doch als ich mich endlich dazu durchringe zu klopfen, kommt keine Reaktion. Erst nach einer ganzen Weile, als ich schon zum Hämmern übergegangen bin, taucht ein Gesicht hinter der vergilbten Gardine des Badezimmerfensters auf. Sadie. Ich lächle. Sie ist noch halb vom Schlaf benebelt und braucht einen Moment, um auch ein Lächeln zustande zu bringen.

Die Tür klappert und dann steht sie da, mit ihren ganzen elf Jahren.

»Mum ist noch nicht wach«, verkündet sie, und scheint die Tür schon wieder schließen zu wollen.

»Moment, Sadie.« Erneut lächle ich, während ich sanft die Hand gegen die Tür drücke. »Ist dein Vater denn auch zu Hause?«

Sie überlegt kurz, schaut nach oben und schüttelt dann den Kopf. »Er war letzte Nacht unterwegs. Keine Ahnung, ob er wieder da ist.«

»Kannst du nachschauen?«

Wortlos geht sie nach hinten in Richtung Schlafzimmer und ich höre, wie sich eine Tür öffnet und schließt. Als sie zurückkommt, wirft sie mir einen kritischen Blick zu und schüttelt den Kopf.

»Okay …« Der Zweifel juckt. »Alles klar, dann sag deiner Mum einfach, dass ich da war.«

Als ich mich schon umdrehen will, ertönt plötzlich eine Stimme. »Fran.«

Ich habe fast schon Angst, sie anzusehen. Ros ist bleich, mit dunklen Ringen unter den verquollenen Augen. Sorge flammt in mir auf.

»Du hast geklopft?«

Ich zwinge mich, ihren Blick zu erwidern. »Ich wollte nur fragen, ob bei dir alles in Ordnung ist.«

Sie blinzelt und zeigt den Anflug eines Lächelns. »Bei mir ist alles okay. Das weißt du doch.«

»Stimmt.« Ich habe keine Ahnung, was ich sonst sagen soll. Ich muss nur sicher sein, dass es ihr gut geht. »Ist Ellis da?«

Sie zuckt beiläufig mit den Schultern. »Der ist unterwegs.«

»Dad kommt bald wieder.« Sadie steht noch immer in der Tür, überzeugt davon, ein Teil der Unterhaltung zu sein.

»Hatte er diese Nacht irgendwo zu tun?«, frage ich meine Schwester.

Sie richtet sich auf und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Viel mehr als zwei Stunden Schlaf kann sie nicht abbekommen haben.

»Okay, Fran, ich weiß, du meinst es gut, aber du hast versprochen, dass du damit aufhörst.« Sie macht eine kurze Pause. »Er ist kein schlechter Mensch, okay? Und wir sind dir ja auch dankbar, dass du uns hier wohnen lässt.«

Ich nicke. Es geht mir nicht um Dankbarkeit, und ich weiß sehr wohl, dass er kein schlechter Mensch ist. Er ist einer von den Guten.

»Du hast bestimmt zu tun.« Ohne irgendwelche Abschiedsworte schließt Ros die Tür. Ob sie an diesem Morgen noch etwas Schlaf finden wird? Es hätte Mum und Dad traurig gemacht, sie so zu sehen. Ich versuche, nicht weiter darüber nachzudenken. Sadies Gesicht taucht erneut im Fenster auf, doch sie lächelt nicht mehr und zieht rasch die Gardinen zu.

Als ich zurück zu unserem kleinen Haus gehe, bahnen sich Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Wolken. Licht im Dunkel.

Es ist Doms erster Tag zurück auf der Arbeit. Er hetzt durch die Tür und spielt überrascht, als wir uns auf dem Pfad vor dem Haus plötzlich gegenüberstehen. Ich überlege, ob ich ihm einen Kuss auf die Wange geben soll, tue es dann aber nicht und gehe an ihm vorbei.

»Bis dann, Fran«, kommt es von hinter mir.

Ich drehe mich zu ihm. »Ja, bis dann.« Noch einmal zögere ich. Vielleicht eine Umarmung? Stattdessen überspiele ich meine Unentschlossenheit, indem ich mich hinknie und meinen Schuh binde. Er geht nicht weiter, sondern tritt so dicht vor mich, dass ich seine Wärme spüren kann.

»Bruno muss heute noch nicht zurück zur Schule, oder?«

Ich schaue auf.

»Morgen, stimmts?«, fragt er weiter, bevor ich den Mund aufmachen kann. »Er ist schon richtig aufgeregt.«

»Stimmt.«

Im Haus kontrolliere ich erst, ob im Wohnzimmer bei Bruno alles in Ordnung ist, bevor ich mich daran mache, die Wäsche von meiner Schwester und dem Kerl aus Nummer 31 zu waschen. Es ist eine undankbare und anstrengende Arbeit, das ganze Zeug in einem unserer freien Zimmer aufzuhängen. Es macht mir weniger aus, die getrockneten Sachen später zu falten. Von unten höre ich Motoren aufheulen. Brunos Rennspiel. Dom hat recht, er kann es kaum erwarten, dass die Schule wieder losgeht. Und ich weiß auch genau, warum. Klar, die neue Lehrerin ist spannend, doch für ihn ist es hauptsächlich wegen Sadies Versprechen, dass sie ab jetzt neben ihm sitzen wird. Vom Verliebtsein kann man dabei aber nicht reden. Das wäre angesichts ihrer Verwandtschaft auch ein wenig fragwürdig.

Mit einem Stöhnen lasse ich mich aufs Sofa fallen und muss erst einmal wieder zu Atem kommen. Ich habe nicht mehr die Kondition von früher, geschweige denn die von Ros, die schon bei Sonnenaufgang laufen geht. Kaum sitze ich, steht Bruno auch schon auf und geht in den Flur. Gequält raffe ich mich wieder auf und folge ihm geräuschlos, auch wenn er mich sowieso nicht hören wird. Dafür ist er zu abgelenkt. Konzentriert starrt er aus dem kleinen Fenster neben der Eingangstür. Wartet. Auf sie.

Tad

Sie sagen, ich bin der Leichtgläubigste von uns. Keine Ahnung, warum. Immerhin gehöre ich zu den Ältesten, und die müssen sich in unserer Familie normalerweise nicht rechtfertigen. Wir haben zu viel erlebt, zu viele Erfahrungen angesammelt. Auch wenn ich nicht weiß, ob das wirklich auf mich zutrifft. Ich habe eine Tochter. Meine Frau liegt drüben auf der öffentlichen Fläche der Commons unter der Erde. Ein Bestattungsunternehmen haben wir dafür nicht angeheuert, nein danke. Wir haben sie selbst beerdigt. Und lange getrauert.

Meine Familie ist gleichzeitig mein Freundeskreis, aber ich mag es auch, neue Leute kennenzulernen. Es ist nett, dass mein Bruder mit uns teilt, wenn er einen Vogel oder zwei auftreibt und brät, doch ansonsten habe ich auch kein Problem damit, einfach was im Laden zu kaufen. Denn natürlich kaufen wir in Läden, bezahlen mit Kreditkarten und eröffnen Bankkonten.

Fast ein ganzes Jahr lang haben wir auf den Commons gewohnt, jetzt ziehen wir weiter. Man könnte vermuten, wir wurden wegen der Unordnung, dem Lärm oder den Tieren vertrieben – wir haben noch ein paar Collies und einen Mischling, die Pferde und Schwäne sind längst weg – aber das stimmt nicht. Nein, vielmehr zieht es uns weiter. Und zwar schnell. Ach, und außerdem gibt es Jobangebote unten an der Küste. Einer der Jungs hat sich direkt eines gesichert. Ich wäre zwar gerne geblieben, habe mich aber nach der Mehrheit gerichtet.

Also ist sie nach diesem Zwischenstopp wieder unterwegs, unsere kleine Familie. Das Land gehört dem allmächtigen Gott im Himmel und niemandem sonst. Gras, Erde, Wind und Regen, alles gehört dazu. Das haben jedenfalls meine Alten gesagt. Ich? Mir reicht es schon, wenn ich für ein paar Nächte irgendwo unterkomme und mich ausruhen kann. Alles andere ist ein netter Bonus.

Fran

5. Januar

Die Schule ist in einem viktorianischen Gebäude aus dunklem Stein, das stolz im blassen Morgenlicht aufragt. Unter dem Schmutz und den Salzablagerungen scheinen Erinnerungen an bessere Zeiten durch. Wir stehen mit gesenkten Köpfen davor, während uns die steife Meeresbrise unerbittlich entgegenpeitscht.

Bruno wirkt jünger, als er es ist, wie er da auf seinen Fußballen wippt und sich von dem starken Wind nicht die gute Laune verwehen lässt. Er hört auf, auf seiner Lippe zu kauen, und ruft: »Sie ist da! Da ist sie!«

Ich hebe den Kopf und nicke meiner Schwester zu. Ros kann sich ein Lächeln abringen, dass ihre Augen nicht erreicht. Sadie sieht an uns vorbei und bemerkt Brunos Aufregung gar nicht.

»Sag Hallo, Sadie«, weist meine Schwester sie an.

Sadie blinzelt zu mir empor. »Hi.«

Ros lacht und stupst ihre Tochter an. »Bruno sollst du Hallo sagen.«

Schon steht Bruno vor ihr, und zum ersten Mal zeigt sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht. Sadie ist eine richtige Schönheit, wenn sie sich freut.

»Alles in Ordnung?«

Ich höre die Frage meiner Schwester wie einen Windzug an meinem Ohr und drehe mich langsam zu ihr, die Hände tief in den Taschen vergraben. Kurz kommt mir der Spaziergang am Strand in den Sinn. Die Laternen am Straßenrand, kaum mehr als ein unauffälliges Detail im Hintergrund, und das ebenso beiläufige Interesse meines Ehemannes an den Themen, über die ich redete. Kurz vor Weihnachten haben wir uns noch so gut verstanden. »Klar.«

Ros tritt näher zu mir und sieht plötzlich etwas wacher aus. »Bei ihm ist auch alles gut, weißt du? Er ist fast wie eine andere Person.«

Ich weiß, dass ich zu viel blinzle. Als könnte ich ihre Worte mit Wimpernschlägen abwehren. Aber sie redet über ihren eigenen Partner, nicht über meinen, sage ich mir. Ros ist größer als ich und schwankt leicht hin und her. Sie hat mich schon immer an ein Schilfrohr erinnert, das dem Wind wenig entgegenzusetzen hat. Ich bin die Starke von uns beiden, wie es sich für eine große Schwester gehört. Ros ist sanfter. Freundlicher. Unser Vater hat sie oft mit Butter verglichen, leicht zu formen. Ich sehe sie nicht direkt an und konzentriere mich auf den Wind, der in meinen ungeschützten Ohren pfeift. »Wir wollen nur, dass du glücklich bist, Ros.«

Ihr Lächeln wird etwas natürlicher. »Ich weiß, und ich bin dankbar. Bei uns ist wirklich alles gut. Ich habe für die nächsten Wochen etwas Arbeit in Aussicht. Natürlich werde ich dir dann das Geld geben, du bist ja nicht mein Goldesel.«

Wir sehen dabei zu, wie die Lehrerinnen und Lehrer aus dem Schulgebäude kommen, um ihre Schützlinge zu begrüßen. Eine Frau mit roten Haaren, die im Ansatz grau und zu einem Dutt zusammengebunden sind, steht vor Brunos und Sadies Gruppe. Ich würde sie auf Anfang 40 schätzen, mit dürren Bleistiftbeinen in hohen Absatzschuhen und einer passenden schwarzen Leggings. An ihren Fingern erkenne ich zwei zu große Ringe. Dann wird mir klar, dass ich sie anstarre und wende den Blick schnell ab. Den zieht Bruno sofort auf sich und formt mit den Lippen den Satz: Das ist unsere neue Lehrerin. Neben mir hebt Ros eine Braue und ich glaube, auch die Kinder haben etwas anderes erwartet. Vielleicht eher eine junge Frau, frisch von der Uni. Mir macht es nichts aus. Ich mag ihren selbstsicheren, strengen Ausdruck, als würde sie sich von niemandem auf der Nase herumtanzen lassen. Es könnte auch sein, dass sie die Augen nur so verengt hat, um sie gegen die starken Böen zu schützen. Mein Blick wandert unweigerlich weiter zu Sadie und ich frage mich, was sie wohl von ihrer neuen Lehrerin halten mag.

»Ein ziemlicher Drachen, oder?«, wispert Ros mir ins Ohr. Der Wind peitscht so stark, dass ich so tun kann, als hätte ich sie nicht gehört. Das Lachen verkneife ich mir auch. Jetzt lächelt die Lehrerin der Klasse zu, doch ich erkenne da noch etwas anderes in ihrem Ausdruck – Sorge? Nervosität? Verständlich, wenn man von 30 kritischen Blicken begutachtet wird. Und das schließt nicht einmal die Kinder ein.

»Wenn sie irgendwas gegen Sadie hat, wird Ellis ein Wörtchen mit ihr reden müssen«, sagt Ros.

Ellis ist immer schnell zur Stelle, wenn es darum geht, seine Tochter in Schutz zu nehmen. Ich verscheuche das Bild, wie er wütend durch die Schultore stürmt, aus meinen Gedanken. Auch wenn es etwas Beeindruckendes, Einnehmendes an sich hat. Mir gefällt nun Mal sein Beschützerinstinkt. In ein paar Monaten wird Sadie auf die weiterführende Schule kommen, und dann muss er sie loslassen. Für so einen großen Sprung wird mein eigenes Kind nie bereit erscheinen.

Später dann, beim Abholen, ist Ellis derjenige, der auftaucht. Er sollte eigentlich auf der Arbeit sein, aber vielleicht ist aus dem Auftrag nichts geworden. Ich frage nicht nach. Als er mir zunickt, scheint er beinahe etwas zu lächeln. »Ich habe gehört, du hast vor ein paar Tagen nach mir gefragt?«

Ich habe ganz vergessen, wie er spricht. Was für ein Rauhals, hat Dom nach dem ersten Treffen gesagt. Manchmal ist es fast schon schwer, ihn zu verstehen. Nicht, dass seine Stimme unangenehm ist, einfach nur sehr tief.

Ich realisiere, dass er auf eine Antwort wartet und nicke schon mal, während ich fahrig nach Worten suche. »Ich wollte nur schauen, ob alles in Ordnung ist. Bei euch dreien.«

Wäre ich nur nicht so früh aufgebrochen. Es ist gerade erst 15:06 Uhr und der Unterricht endet um viertel nach. Anschließend müssen die Kinder dann noch einen Moment lang hinter ihren Stühlen stehen, bevor sie rausgelassen werden. Bruno ist meistens der Letzte, weil ihm das Stillsein schwerfällt.

»Na, das ist es auf jeden Fall – in Ordnung. Und danke, dass ihr für mein Programm bezahlt. Das bedeutet mir viel, und wir zahlen es auch auf jeden Fall zurück.« Er sieht etwas verlegen aus, wie er mich mit seinen langen dunklen Wimpern anblinzelt. Meine Schwester meint, er sähe aus, als würde er Make-up tragen. Er ist ein anständiger Kerl, denke ich und vergleiche ihn bewusst nicht mit meinem eigenen Ehemann. Mein Ehemann, mit dem ich gerne zusammen bin. Mein Ehemann, der mir, seit wir 20 sind, immer zur Seite steht.

Ich hoffe, mein Lächeln sieht echt aus.

»Ros und ich brauchen einfach ein bisschen Zeit für uns. Und für Sadie, natürlich. Als Familie«, sagt Ellis.

Fast genauso hat meine Schwester es auch formuliert.

Er erzählt von seiner Tochter, wie fröhlich sie an Weihnachten war und dass sie Bruno vermisst hat. Ich erwähne nicht, dass Dom und ich der Meinung sind, ein wenig Abstand würde den beiden guttun. Jedenfalls glaube ich, dass wir es so sehen. Dom vertritt diese Meinung vielleicht etwas zu stark. Ich denke daran zurück, wie die kleine Familie vor unserer Tür stand, damals zwischen Oktober und November. Ich glaube, sie brauchten einfach einen Tapetenwechsel von ihrem kleinen Mobilheim, und dabei kamen die Wärme und der Platz in unserem Häuschen gerade recht. Dom war nicht begeistert; er öffnete die Tür mit einem knappen ›Hi‹ und ging direkt wieder rein, um mir den Rest zu überlassen. In letzter Zeit ist er allerdings etwas offener ihnen gegenüber geworden. Oder versucht es zumindest. Ich hätte sie damals gerne zum Essen reingebeten, was sie bestimmt nicht abgelehnt hätten. In solchen Momenten wünsche ich mir Mum und Dad zurück. Doch jetzt ist nicht die Zeit für Trübsal. Es ist immerhin schon sechs Jahre her, dass die beiden im Abstand von drei Monaten gestorben sind.

Sadie kommt aus der Schule gerannt und schlingt die Arme um ihren Vater. Er dreht sich dramatisch auf der Stelle und zieht an ihren Flechtzöpfen.

»Mach sie raus, Dad!«, ruft sie und zerrt an den Gummis. Die Schleifen, die ihre Mutter darum gewickelt hat, flattern unbeachtet zu Boden. »Ich bin doch zu alt für Zöpfe!«

Merkwürdig, dass ihr das gerade jetzt einfällt. Ich sehe zu, wie die anderen Kinder eines nach dem anderen aus dem Gebäude kommen. Und da ist er, schlurft ganz hinten drein und lässt dabei seine Tasche über den Boden schleifen. Er bemerkt meinen Blick und lächelt. Es ist kein überzeugendes Lächeln.

Tad

Am besten bricht man auf, bevor es die Sonne tut. Auch wenn die Tage dadurch besonders lang erscheinen, verbringt man sie zumindest nicht in Staus. Jetzt im Winter könnten wir uns morgens etwas Zeit lassen. Den anderen scheint es mehr auszumachen als mir, dass es wieder auf die Straße geht. Ich bin den Großteil meines Lebens umhergezogen, während sich einige der Jüngeren bereits daran gewöhnt haben, mehrere Monate am Stück irgendwo zu verweilen. Manche würden sich gerne permanent niederlassen. Sie mögen die Beständigkeit und ihnen gefällt es, an den Schultoren neue Leute kennenzulernen. Sie fangen an, über Häuser zu reden, über Sesshaftigkeit. Muss ja jeder selbst wissen. Ich würde es ihnen jedenfalls nicht verübeln. Auch wenn ich finde, dass man bei uns in der Familie eigentlich schon seinen festen Platz in der Welt gefunden hat. So gesehen sind wir auch sesshaft.

Aber ich mag das Abenteuer. Sich treiben zu lassen und abzuwarten, wo man ankommt. Ich glaube allerdings, mittlerweile stehe ich damit ziemlich allein da. Vielleicht bin ich einfach hoffnungslos nostalgisch und vermisse es, dem Hinweis einer anderen Familie zu folgen und die Sache durchzuziehen. Ich weiß, dass sich einige von meinen Schwestern und Cousinen wünschen, wir wären mehr wie die örtlichen Gemeinden. Sie sind offener als früher. Was ja nichts Schlechtes ist.

Vielleicht fragt ihr euch jetzt, warum wir überhaupt wieder aufgebrochen sind. Das liegt hauptsächlich an einem kleinen Problem, das sich jemand eingehandelt hat. Wobei ›klein‹ es nicht wirklich trifft – es ist ein riesiges Problem. Mein Bruder Charlie hat etwas ausgefressen. Wir sind alle schwer enttäuscht. Was er getan hat, hat uns alle gleichmütig und kalt aussehen lassen. Aber das sind wir nicht. Ein Teil von mir wollte ihn zurücklassen, um ihm einzubläuen, dass es so bei uns nicht läuft, doch das war unmöglich. Nicht Charlie.

Da, wo wir jetzt hingehen, werden sie uns nicht finden. Hauptsächlich, weil es am anderen Ende des Landes ist. Wir haben uns noch nie an der Küste niedergelassen. Das Meer ist sicherlich beeindruckend. Vor allem für die Kinder. Ich habe gehört, da unten gibt es wunderschöne Vögel – nicht, dass ich Interesse daran hätte, mir einen zu fangen. Ich mag es lediglich, sie zu beobachten, mit ihren kräftigen Farben und eleganten Bewegungen. Wenn sich ihre kleinen Köpfe drehen, als würden sie genau wissen, dass sie betrachtet werden. Manche Leute mögen vor allem die seltenen Vögel, aber Charlie und sich sind uns einig: Wir mögen sie alle. Wobei es ihm ganz besonders die Räuber angetan haben, die über ihrer Beute kreisen.

Fran

11. Januar

Diesen Morgen bin ich schon früh am Strand. Meine Kapuze habe ich tief in die Stirn gezogen und kann weit über mir, hoch am Himmel, die Möwen hören. Sie kreischen mich an, als würde ich ihre ganz besondere Jagdstunde unterbrechen, obwohl sie doch selten etwas anderes tun. Es sind zum Großteil Silbermöwen, doch ich meine, zwischen ihnen auch eine Mantelmöwe erkennen zu können. Die jagen eigentlich nicht mit anderen Möwenarten, also ist irgendwas am heutigen Tag anders. Die dünnen Handschuhe, die ich zu Weihnachten bekommen habe, schützen meine Finger kaum vor der Kälte und sie werden langsam taub. Das hält mich allerdings nicht davon ab, zu dem Teil des Strandes hinüberzuwandern, der an das weitläufige Feld angrenzt, das niemandem gehört. Mit meiner Polaroidkamera und dem Fernglas im Anschlag halte ich Ausschau nach den Vogelarten, die ich schon seit Wochen suche. Eine davon interessiert mich besonders. Ich habe gehört, dass sie nur wenige Meilen entfernt in Sheringham gesichtet wurde.

So früh am Morgen ist die Sonne kaum mehr als ein leuchtendes Versprechen am Horizont. Ich kann von meiner knienden Position im Sand unser Häuschen nicht sehen, genauso wenig wie die alte Kirche oder den weitläufigen Friedhof, der mit seinen Betonkreuzen und Grabsteinen den Großteil der Hügellandschaft in Anspruch nimmt. Manchmal frage ich mich, ob der leicht morbide Anblick unsere Gäste stört, aber es hat sich noch niemand beschwert.

Aus den Augenwinkeln bemerke ich Bewegung im Schilf, der die Felder von den Sanddünen trennt. Ich halte instinktiv die Luft an und atme erst wieder aus, als ich erkenne, dass es bloß unser Kater Fergus ist. Normalerweise wagt er sich nicht bis runter zum Sand, wo der ständig drehende Wind aus der falschen Richtung durch sein Fell bürstet. Er scheint gerade auf der Jagd zu sein, vielleicht nach einer Maus oder einem Krebs. Mein Anflug von Zuneigung für den alten Kater wird schon bald von Missmut abgelöst, als mir klar wird, dass er meine geliebten Vögel verscheucht. Ich lege mir das Fernglas, über das sich mein Mann so liebevoll lustig macht, an die Augen und lasse den Blick durch die Landschaft schweifen. Nichts regt sich. Ich bin völlig allein. Man könnte meinen, es würden Hunderte von Augenpaaren auf mir liegen, aber ein schneller Blick über die Schulter bestätigt das Gegenteil. Dennoch habe ich ein flaues Gefühl im Magen. Stehen hinter den Fenstern der Mobilheime nicht doch dunkle Silhouetten, die Gesichter verschwommen und unkenntlich? Ich starre in die Richtung. Nichts. Bloß reflektierendes Glas, in dem sich das schwache Licht der aufgehenden Sonne bricht.

Die Möwen kreisen nicht länger über mir, nur das ungute Gefühl bleibt. Es lässt mich Fernglas und Kamera zurück in den Rucksack stopfen, bevor ich zurück über den Strand haste. Es hat sowieso angefangen zu nieseln. Vielleicht ist heute nicht der Tag, eine Zwergseeschwalbe zu finden.

»Sie sagt zu Ms. McConnell, dass sie lieber noch länger Weihnachten hätte, weil sie die Schule hasst!« Brunos Worte stolpern übereinander, so schnell wollen sie herauskommen. »Sie sagt, sie vermisst den alten Lehrer!«

Ich drehe mich zu Dom und ziehe eine Braue hoch. Er ist auf sein Essen konzentriert, doch als er meinen Blick bemerkt, muss er lächeln.

»Dann sagt Ms. McConnell, ›wenn du nicht in meiner Klasse sein willst, dann kann ich dich gerne in eine andere versetzen lassen!‹« Er lacht, doch zwischen all der Aufregung zeichnet sich auf seinem Gesicht eine Spur Unsicherheit ab. Er blinzelt schnell, während er auf meine Reaktion wartet.

»Ich kann nicht glauben, dass Sadie so frech zu ihrer neuen Lehrerin ist.« Es ist Dom, der reagiert. Als er spricht, sehe ich halb gekautes Essen in seinem Mund. Bruno hat sich wahrscheinlich mehr erhofft, aber ich belasse es dabei. Sie ist ein kleines Mädchen, ein verunsichertes Kind, meine Nichte. Meine gekreuzten Füße unter dem Tisch verkrampfen und ich versuche, sie zu entspannen. Es will mir nicht gelingen. Manchmal wünsche ich mir, Dom würde die Sachen ein wenig sanfter ausdrücken, vor allem Bruno gegenüber.

»Sie kann so nicht weitermachen«, fährt er fort und wuschelt unserem Sohn durch die Haare. Ich frage mich oft, ob Bruno Sadie irgendwann nacheifern wird. Es gibt Tage, da folgt er ihr wie ein dressierter Hund. Aber es ist gut, dass er zumindest diese eine enge Freundschaft hat.

»Meint ihr, sie bekommt zu Hause Ärger?«

Ich schüttle den Kopf. »Wohl kaum. Da ist es wahrscheinlicher, dass die Schule Ärger bekommt. Du weißt, wie ihr Vater Sadie immer in Schutz nimmt.«

Morgen werden wir erfahren, ob Ros und Ellis sich tatsächlich beschwert haben. Ich könnte sie anrufen, fragen wie es heute lief. Aber ich kenne die Antwort auch so. Alles in Ordnung. Trotzdem mache ich mir Sorgen. Ich will nicht, dass sie in der Schule als Helikoptereltern abgestempelt werden. Vielleicht ist Sadie tatsächlich auffällig im Unterricht. Manchmal ist es fast so, als würde sie etwas verbergen. Etwas, das ihre Eltern nicht bemerken. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein, weil sie mich manchmal so ansieht … als würde sie etwas wissen. Oder ahnen. Als könne sie mir in die Seele blicken.

»Sie bekommt nie Ärger«, sagt Bruno niedergeschlagen. »Und ich werde andauernd angeschrien, obwohl ich gar nichts gemacht habe.«

Ich verdrehe die Augen und hoffe, man erkennt, dass es nur im Spaß ist. »Du bist ein vernünftiger Junge. Und wir schreien dich nicht an.« Ich lehne mich rüber, um sein Bein zu tätscheln. Dom nickt und legt Messer und Gabel zusammen auf den Teller. Er hat sein Essen runtergeschlungen und sieht sich nach etwas anderem um.

Am nächsten Morgen sind sowohl Ros als auch Ellis an der Schule. Sie winken Sadie zu, die sich gerade in die Schlange vor ihrer Klasse einreiht. Bruno ist schon da, ganz vorne. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie das Paar in meine Richtung kommt.

Ellis räuspert sich lautstark, bevor er spricht. »Die Lehrerin ist ein richtiger Drachen. Hat es direkt auf Sadie abgesehen.« Er sieht mich dabei nicht an. »Erst schien sie echt in Ordnung zu sein, da mochte Sadie sie auch noch.«

Ich schlucke. Was soll man dazu sagen? »Du musst ihr wahrscheinlich einfach nur ein bisschen Zeit geben. Sadie wird sich schon wieder mit ihr anfreunden.«

Meine Schwester steht schweigend da, aber ich kann ihren Blick spüren. Ich würde sie gerne umarmen und fragen, ob ich irgendwas für sie tun kann, doch mein Mund ist trocken, als wäre er voll Sägespäne.

Sie blockieren den Weg, den ich nehmen muss. Ellis hat die Hände in die Hüften gestemmt, und die strenge Haltung will so gar nicht zu seinem Jogginganzug passen. Manchmal macht er sich schick für eine Beschwerde und zieht seine Tweedjacke an. Sie steht ihm nicht. Lässt ihn aussehen wie jemanden, der einen Zweitwohnsitz im spießigen Wells-next-the-Sea hat. »Wir werden jedenfalls heute Abend ein ernstes Wörtchen mit der Lehrerin reden.«

»Das ist gut«, sage ich.

Besagte Lehrerin begrüßt gerade die Klasse. Heute trägt sie einen Schafsfellmantel. Ihre Brille hat sie in die Haare geschoben, die frisch gefärbt sind: Der graue Ansatz ist einem pastelligen Pink gewichen. Die anderen Eltern beäugen es auf dieselbe kritische Weise wie die gestreifte Leggings. Mir persönlich gefällt sie ja. Pink, weiß, grün. Erinnert mich an meine alte Strawberry-Shortcake-Puppe. Und für einen kurzen Augenblick auch an meine Zeit in Brighton. Hier, in dem beschaulichen Dorf in Norfolk, ist diese Art der Individualität eher selten. Keiner will herausstechen. Wir sind wie einheitliche Pappaufsteller, steif und zweidimensional.

Ich habe es an den beiden vorbeigeschafft. Beim Laufen drücke ich die Zehen an die Oberseite meiner zu großen Schuhe, damit sie mir bei dem Tempo nicht vom Fuß rutschen.

»Hast du es eilig?«, fragt Ros, die versucht, Schritt zu halten.

»Ein bisschen.«

Sie holt mich ein. »Hör zu, Fran, ich weiß du machst dir Sorgen um mich. Und um Geld, und überhaupt. Aber …« Sie holt tief Luft. »Es ist alles in Ordnung bei uns.« Ich stimme in ihr Lachen mit ein und denke kurz darüber nach, ob ich meinen Kopf auf ihre Schulter legen soll. Die Angst vor Abweisung hält mich davon ab.

Ellis ist in einigem Abstand hinter uns, und meine Schwester bleibt stehen, um auf ihn zu warten. Er ruft ihr etwas zu, doch der Wind ergreift die Worte und trägt sie davon.

Tad

Im Winter passiert es manchmal, dass die Reifen im Schlamm feststecken und zufrieren. Ein paar kräftige Stöße und wir haben es geschafft – es sind ja nicht diese riesigen Holzräder wie damals in den Staaten. Unsere Fahrzeuge sind eine Art Camper Van, aber nicht die klassischen aus den Sechzigern, mit großen weißen Blumen auf den Lack geklebt. Nein, unsere sind größer, häuslicher, mit richtigen Zimmern, einer Eingangstür und Fenstern. Die Kinder bleiben drinnen und schauen von dort aus zu.

Man könnte meinen, dass wir hier draußen ein besonders traditionelles Leben mit einer klaren Rollenverteilung führen. Aber so ist es nicht. Bei uns packen alle mit an. Hier kommt es auf die Menschen, nicht auf die Geschlechter an. Manche sind eben fauler als andere, aber generell bestärken wir auch die Kinder darin, zu helfen. Es ist erfreulich zu sehen, dass sie trotz ihres Alters schon Tricks und Kniffe lernen. Wie man so hört, haben sie den Kindern aus den richtigen Häusern dabei einiges voraus. Es ist keine Seltenheit bei uns, dass Paare schon mit 16 oder 18 heiraten, aber es gibt auch welche, die es nie tun. Bleibt eben jedem selbst überlassen. Nur, weil man nicht verheiratet ist, heißt das nicht, dass man weniger wert ist.

Manchmal fühle ich mich einsam bei dem Gedanken, dass auf andere Männer Ehefrauen warten, während ich allein bin. Obwohl ich nicht wirklich allein bin. Unsere Familie hat so viele Mitglieder, dass ich kaum noch alle aufzählen kann. Und mehr brauche ich nicht. Ich könnte nie in einem richtigen Haus leben, nur mit meiner Tochter. Und auch Jade braucht andere Gesellschaft als ihren alten Dad. Wir haben sie bekommen, als wir schon dachten, uns würden die Freuden von Nachwuchs verwehrt bleiben. Damals waren wir die Einzigen in der Gruppe ohne Kind. Es war eine große Überraschung, als die frohe Botschaft doch noch kam. Meine Frau war sechs Monate schwanger, als wir es bemerkten. Ein betagtes Paar haben sie uns damals genannt. Wir sind vor der Geburt nur zwei, drei Mal bei einem Doktor gewesen, und der war direkt besorgt, dass meine Frau zu alt sei und mit dem Kind etwas nicht stimmen könne. Ich bin noch immer nicht sicher, ob er damit recht hatte.

Wir sollten unsere nächste befristete Heimat weit vor Mitternacht erreichen, trotz der viel zu langen Pause, die wir auf dem Parkplatz eingelegt haben. Die Kinder wollten unbedingt herumlaufen. Doch jetzt sind wir wieder auf Achse. Der Verkehr entschleunigt uns ein wenig, aber das ist kein Problem.

Fran

19. Januar

Das Meer ist ruhig heute. Als hätte es sich meiner Stimmung angepasst. Bei jedem Schritt zeichnet das Wasser Kreise um meine Knöchel. Ich muss verrückt aussehen, mitten im Januar ohne Schuhe und Socken, aber das eisige Meerwasser auf bloßer Haut ist der beste Weg, um richtig wach zu werden. Wenn Dom mich dabei ertappt, lacht er meistens, schaudert übertrieben und vergräbt seine Hände tiefer in den Taschen seiner Jeans. Es ist noch recht früh morgens, aber Bruno ist bereits in der Schule. Ich habe ihn nicht zehn Minuten früher weggebracht, um mehr Zeit mit den Vögeln am Strand zu haben – jedenfalls rede ich mir das ein. Weil es lächerlich wäre. Das Fernglas habe ich trotzdem in meine Tasche gepackt, auch wenn ich noch nicht weiß, ob ich es heute brauchen werde. Dom hat mein Angebot auf einen Spaziergang abgelehnt, obwohl er heute im Homeoffice ist. Es wundert mich nicht, er kann ein ziemlicher Stubenhocker sein.

Ich gehe, bis meine Füße langsam taub werden, stapfe dann aus dem Wasser und setze mich in den Sand. Mit einem Handtuch aus meiner Tasche rubble ich mir die Füße trocken. Dabei schaue ich hinüber zu dem Mobilheim, in dem Ros und Ellis leben. Es macht mir nichts aus, dass sie nicht bezahlen. Nicht wirklich. Ich habe von hier einen guten Blick auf die Tür und würde sehen, ob sich Ellis heute zu einem Job aufmacht. Es ist ungewöhnlich, dass er gestern zum Abholen an der Schule war. Nachdem ich es endlich geschafft habe, Socken und Turnschuhe wieder überzustreifen, entschließe ich mich, zurück zur Wohnwagensiedlung zu gehen. Dann könnte ich auch direkt nachsehen, ob bei Ros alles gut ist. Und bei Sadie.

Der Weg durch die Dünen, die den Strand vom Platz trennen, hat eine Steigung, die ich jedes Mal aufs Neue unterschätze. Als ich oben ankomme, bin ich außer Atem, muss mich auf dem Zaun abstützen und tief Luft holen. Ich bin etwas übergewichtig. Wenn man meine Schwester neben mir sieht, könnte man meinen, sie würde überhaupt nichts essen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke; Sadie sieht auch ein bisschen dürr aus. Meine Sorge um sie, vorher eher ein helles Pink, wird zu kräftigem Rot. Sie ist nur ein kleines Mädchen.

Ich öffne das Tor zum Feld und gehe in Richtung Nummer elf. Aus unerfindlichen Gründen bin ich nervös. Sogar mein Herz rast, aber ich tue es als Folge der kurzen Wanderung über die Dünen ab. Wann gehe ich sonst schon bergauf? Als ich klopfe, kommt wieder keine Reaktion. Also klopfe ich lauter. Der Kerl in Nummer 31 zieht eine Gardine zur Seite und späht hinaus. Ich bin versucht, ihm zuzurufen, er solle zu seiner Familie zurückkehren. Bestimmt vermisst seine Frau ihn und hat keine Ahnung, wie sie dem Kind beibringen soll, warum der Vater nicht da ist.

Als sich immer noch nichts regt, drücke ich die Klinke runter. Zu meiner Überraschung schwingt die Tür einfach auf. Das Wohnzimmer ist verlassen und völlig zugemüllt. Aufgerissene Verpackungen und Essensbehälter stapeln sich auf dem Tisch. Einen davon erkenne ich – ich habe ihn Ros schon vor Wochen gebracht. Der Inhalt ist mittlerweile verdorben. In meinem Hals bildet sich ein Kloß. Ich schlucke schwer und krächze ihren Namen, doch wieder antwortet mir nur Stille. Also gehe ich sie suchen. Zuerst im kleinen Schlafzimmer. Sadies. Ihr Bett ist leer und ungemacht. Eine Decke liegt achtlos darauf, viel zu dünn, als dass sie ein kleines Mädchen im Winter warmhalten würde. Mir bleibt nichts anderes übrig, als auch im großen Schlafzimmer nachzusehen. Dort bietet sich mir derselbe Anblick: ein leeres, ungemachtes Bett.

Zurück im Wohnbereich bemerke ich die Flasche, die aus dem Mülleimer ragt. Ich drücke den Kippdeckel auf. Eine gläserne Schnapsflasche, kopfüber in den Eimer gestopft. Daneben ein paar zerdrückte Bierdosen in Papiertüten. Ich schlucke schwer und sage mir, dass es vielleicht nicht das ist, was ich denke, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Doch es ist zu spät. Es geht um meine Nichte.

Ein eisiger Windhauch streift meinen Nacken und ich sehe mich nach dem Ursprung um. Die Kälte ist wie vielbeiniges Getier, das meine Wirbelsäule hochkrabbelt. Irgendwas stimmt nicht. Ich ziehe mir den Schal fester um den Hals und versuche, das ungute Gefühl in meinem Magen zu ignorieren. Es dauert nicht lange, bis ich die Quelle des Luftzuges ausgemacht habe. In einem Fensterrahmen, in dem eigentlich eine Glasscheibe eingelassen sein sollte, klebt braune Pappe. Wieder fängt mein Herz an zu rasen, als ich fieberhaft darüber nachdenke, wieso Ros mir nichts von so einem Schaden erzählen würde. Die andere Seite des Doppelfensters ist unbeschädigt und lässt Licht rein. Ich blinzle gegen den blendenden Schein, während ich das braune Paketband abziehe, mit dem die Pappe befestigt wurde. Als ich den provisorischen Schutz komplett abnehme, kommt zersplittertes Glas zum Vorschein. Spitz und scharfkantig. Bei dem Gedanken daran, mit dem Finger darüberzufahren, läuft mir wieder ein Schauer über den Rücken. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wieso Ros das Glas nicht ordentlich hat entfernen lassen. Ich sehe sie vor mir, in heftigem Streit mit Ellis, der eine Flasche gegen die Wand schleudert, weil er über den Durst getrunken hat. Ich schüttle den Kopf. So etwas würde der sanfte Ellis nicht tun, auch nicht im Streit. Er trinkt, ja, aber es macht ihn nicht gewalttätig. Das Loch im Glas muss eine andere Ursache haben. Außer dem flüchtigen Kerl gibt es keine anderen Gäste und ich weiß, dass Ros und Sadie meine »Keine Bälle-Regel« respektieren. Vielleicht ist gar nichts nach draußen geflogen, sondern das genaue Gegenteil. Vielleicht wurde etwas reingeworfen. Als ich mir die zersplitterte Scheibe genauer ansehe, fällt mir etwas an den scharfen Kanten auf. Dunkelrot und rissig. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass es getrocknetes Blut ist.

Ich gehe zurück nach Hause, es gibt schließlich noch viel zu tun. Auf halbem Weg kommt mir meine Schwester entgegen, Sadie im Schlepptau. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass meine Gedanken schon wieder zur Zwergseeschwalbe geschweift sind.

»Sadie meint, sie hätte dich gerade aus unserem Haus kommen sehen. Alles okay?«

»Ich habe nur nachgeschaut, ob es warm genug ist.«