Das Orakel des Königs - Clive Cussler - E-Book

Das Orakel des Königs E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Vor 1500 Jahren besiegelte eine Schriftrolle den Untergang des Reichs der Vandalen – heute könnte sie das Leben unschuldiger Schülerinnen retten.

Eine Mädchenschule in Nigeria, die das Schatzjäger-Ehepaar Sam und Remi Fargo finanziert, hat dringend benötigte Hilfsgüter nicht erhalten. Sofort brechen die Fargos auf, um nach dem Rechten zu sehen. Doch kaum sind sie vor Ort, werden sie und mehrere Schülerinnen entführt. Dabei scheinen es die Kidnapper nicht auf Lösegeld abgesehen zu haben, sondern auf den neusten Fund der Schatzjäger. Aber wieso sind die nigerianischen Räuber auf eine alte Schriftrolle aus, die vor 1500 Jahren den Untergang des Königreichs der Vandalen besiegelte?

Die Romane um das Schatzjäger-Ehepaar Sam und Remi Fargo bei Blanvalet:
1. Das Gold von Sparta
2. Das Erbe der Azteken
3. Das Geheimnis von Shangri La
4. Das fünfte Grab des Königs
5. Das Vermächtnis der Maya
6. Der Schwur der Wikinger
7. Die verlorene Stadt
8. Der Schatz des Piraten
9. Jäger des gestohlenen Goldes
10. Das graue Phantom
11. Das Orakel des Königs
Die Bücher sind alle unabhängig voneinander lesbar. Weitere Bände in Vorbereitung.

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Seitenzahl: 584

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Buch

Eine Mädchenschule in Nigeria, die das Schatzjäger-Ehepaar Sam und Remi Fargo finanziert, hat dringend benötigte Hilfsgüter nicht erhalten. Sofort brechen die Fargos auf, um nach dem Rechten zu sehen. Doch kaum sind sie vor Ort, werden sie und mehrere Schülerinnen entführt. Dabei scheinen es die Kidnapper nicht auf Lösegeld abgesehen zu haben, sondern auf den neusten Fund der Schatzjäger. Aber wieso sind die nigerianischen Räuber auf eine alte Schriftrolle aus, die vor 1500 Jahren den Untergang des Königreichs der Vandalen besiegelte?

Autoren

Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein New York Times-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Best­sellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebt in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Robin Burcell befand sich beinahe drei Jahrzehnte im Polizeidienst von Kalifornien – zunächst als Police Officer, später im Rang eines Detective. Sie hat mit Geiselnehmern verhandelt und wurde vom FBI in Forensik ausgebildet. Sie lebt heute in Nordkalifornien.

Die Fargo-Romane bei Blanvalet

Das Gold von Sparta

Das Erbe der Azteken

Das Geheimnis von Shangri La

Das fünfte Grab des Königs

Das Vermächtnis der Maya

Der Schwur der Wikinger

Die verlorene Stadt

Der Schatz des Piraten

Jäger des gestohlenen Goldes

Das graue Phantom

Das Orakel des Königs

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Clive Cussler& Robin Burcell

DAS ORAKEL DES KÖNIGS

Ein Fargo-Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Oracle« bei Michael Joseph, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc., 551 Fifth Avenue, Suite 1613, New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Jörn Rauser

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (everst; Dmitry Molchanov; Anely Ruzhe; VLADJ55; volkova natalia; Stefan Sorean; Sascha Burkard)

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25060-7V001

www.blanvalet.de

HANDELNDE PERSONEN

KÖNIGREICHDERVANDALEN, NORDAFRIKA, 533 n. Chr.

Gelimer – der letzte König der Vandalen, der Usurpator

Zazo – Gelimers Bruder

Euric – Gelimers höchster Heerführer

Belisar – General der byzantinischen Armee

GELIMERSVORFAHREN

Hilderich – vorletzter König der Vandalen, von Gelimer ermordet

Geiserich – König der Vandalen, der Nordafrika unterwarf und Hippo Regius belagerte

GEGENWART

INLAJOLLA

Sam Fargo

Remi (Longstreet) Fargo

Selma Wondrash – Leitende Rechercheurin der Fargos

Professor Lazlo Kemp – Rechercheur und Kryptologe der Fargos

Rubin Haywood – Führungsoffizier bei der CIA

Zoltán – Deutscher Schäferhund der Fargos

INBULLAREGIA,

TUNESIEN

Dr. Renee LaBelle – Archäologin

Hank – Ausgrabungsleiter

Amal – tunesische Studentin und Doktorandin

José – spanischer Student

Osmond – ägyptischer Student

Yesmine – Amals Mutter

Warren – ehemaliger Ausgrabungsleiter

TUNESISCHEGANGSTERBANDE

Tarek

Hamida

Ben Ayed

Monsieur Karim – tunesischer Antiquitätenhändler

Leila – Karims Assistentin

INNIGERIA

GASHAKAGUMTI, FARGO’S SCHOOLFORGIRLS

Pete Jeffcoat – Selmas Assistent, Wendy Cordens Freund

Wendy Corden – Selmas Assistentin, Jeffcoats Freundin

Yaro – Schulhausmeister, Monifas Ehemann

Monifa – Schulhausmeisterin, Yaros Ehefrau

Okoro Eze – Teefarmer, Zaras Vater

Zara – Schülerin, Okoros Tochter

Jol – Schüler

Tambara – Schülerin

Maryam – Schülerin

Jonathon Atiku – Nashas Onkel

INJALINGO, NIGERIA

STRASSENDIEBE

Nasha Atiku

Chuk

Len

KALU-BROTHERS

Bako Kalu

Kambili Kalu

KRIMINELLEJUGENDBANDE

Makao Oni (alias Scarface) – Kopf der Bande

Jimi

Pili

Dayo

Den

Deric

Urhie

Joe

Was der Mensch sät,das wird er ernten.

GALATER 6, 7

PROLOGTEIL I

Die Asche fliegt dem ins Gesicht, der sie wirft.

– AFRIKANISCHESSPRICHWORT –

12. DEZEMBER 533 n. Chr.Bulla Regia, Königreich der Vandalen, Nordafrika

Der Wintermond lag hell auf den Pflasterblöcken, als Gelimer, König der Vandalen, und sein Bruder Zazo auf ihren Pferden durch den alten Triumphbogen galoppierten und danach das Theater, das Forum und die ehrwürdigen eleganten Stadtvillen passierten, die noch in tiefem Schlaf lagen. Als sie das Zentrum der Stadt erreichten, schwenkten sie nach links in Richtung der alten, mit heidnischen Grabmälern gesäumten Landstraße, die aus Bulla Regia heraus- und in die Berge hinaufführte. Sobald die stummen Häuser der Toten hinter ihnen lagen, bogen die Reiter auf eine lange Allee ab, die mit den verzerrten Schatten uralter Olivenbäume gefüllt war. Ihre Pferde scheuten, als sich die Umrisse des teilweise verfallenen Tempels – er war Saturn, dem römischen Gott der Aussaat und des Ackerbaus, geweiht – wie eine drohend aufragende Bastion vor ihnen aus dem Dunkel schälten. Es schien, als hielte ein dichtes Geflecht von Schlingpflanzen seine brüchigen, im Mondlicht silbern schimmernden Mauerreste zusammen, in deren Schatten sich der Eingang zum Tempel des Orakels in dem Hügel hinter den Ruinen befand.

Die beiden Männer zügelten ihre Pferde, stiegen ab und banden sie an einem der Bäume fest.

»Hier entlang«, sagte Gelimer zu Zazo, ging voraus zum Tempel und stieg die Treppe zum Portal hinauf. Dort wurden sie von einem maurischen Mädchen erwartet, das wie aus dem Nichts in dem Durchgang aufgetaucht war.

Das Mädchen geleitete sie über die Terrasse des Tempels und durch den mit geborstenen Säulen gesäumten Innenhof und verschwand in einer Höhle im Innern des Hügels hinter der Kultstätte. Öllampen hingen an der Decke des Felsenkorridors und warfen ihr flackerndes Licht auf Inschriften auf den Tunnelwänden. Als sie die Mitte der Höhle erreicht hatten, blieb das Mädchen vor einer dunklen Kammer stehen. Die beiden Männer blickten sich suchend um. »Wo ist das Orakel?«, fragte Zazo.

Das Kind hob eine mit Henna verzierte Hand und machte eine Geste, die Schweigen gebot. »Seht dort«, sagte das Mädchen, »das Zeichen des Saturns.«

Als sich ihre Augen an den Halbdämmer gewöhnt hatten, wurden sie eines Dreibeinständers mit einer eisernen Feuerschale gewahr, in der glühende Kohlen lagen. Darüber – mitten in der Luft unter der Höhlendecke – erschien ein magisch leuchtendes Quadrat. Körperlos und durchscheinend. Aber deutlich erkennbar.

S

A

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A

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E

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O

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A

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O

T

A

S

Für einen kurzen Augenblick flimmerten die Buchstaben, dann verschwanden sie, als Flammenzungen von der Kohlenglut hochloderten. In dem tanzenden Licht war ein Mädchen zu erkennen, nicht viel älter als das Mädchen, das sie hergeführt hatte. Es saß auf einem hohen Hocker und trug einen Turban auf dem Kopf. Bekleidet war es mit einem langen Gewand, das aussah, als sei es mit blutigen Smaragden besetzt, die im Schein der Flammen in der Eisen­wanne auf dem Dreibein funkelten. Als das Mädchen die dunklen Augen öffnete, war es, als blickte sie Gelimer direkt an, aber zugleich auch durch ihn hindurch.

Die Priesterin atmete die Dämpfe ein, die von der dreibeinigen Eisenpfanne aufstiegen. Mit einer Stimme, die so dünn und sanft wie der Wind war, der flüsternd durch die Olivenbäume strich, verkündete sie ihre Prophezeiung. »Saturn hält die Räder fest. Er wahrt das Gleichgewicht zwischen Rhea, Wohlstand und Überfluss, und Lua, Vernichtung und Verfall … Aber höre, o König der Vandalen, die Räder sind aus der Spur. Lua regiert.«

Eine eisige Hand legte sich um Gelimers Herz. »Sage mir, Seherin, was bedeuten deine Worte?«

»Es ist, wie es geweissagt wurde. So wie Gamma auf Beta folgte, folgt jetzt Beta auf Gamma.«

»Vollkommener Unsinn«, sagte Zazo. »Reinstes Kindergeschwätz.«

Die Priesterin atmete tief ein. »Zwei gingen bereits verloren – am zehnten Meilenstein.«

Es war am zehnten Meilenstein, wo ihr Bruder und ihr Neffe bei dem Versuch, das byzantinische Heer vor den Toren Karthagos abzufangen und zu schlagen, den Tod gefunden hatten. Zazo war keineswegs beeindruckt. »Sie könnte die Nachricht auf dem Marktplatz aufgeschnappt haben. Oder einer von Belisars Spionen hat es ihr erzählt. Sprich von meinem Tod, Seherin, damit ich ihn verhindern kann.«

Die Priesterin wandte den Kopf in seine Richtung, ihre Augen waren so schwarz wie Kohle, die darauf wartete, angezündet zu werden. »Hüte dich vor dem dritten Angriff.«

»Die Hexe ist verrückt«, murmelte Zazo. »Was meint sie damit? Was soll es bedeuten?«

Der leere Blick der Seherin kehrte zu Gelimer zurück. »Wisse, o König, die Saturnalien kündigen sich an. Um den Fluch zu brechen, muss die Schriftrolle von jemandem zurückgebracht werden, der von königlichem Blut ist. Ist er es nicht, erwartet ihn der Tod.«

»Wie?«, fragte Gelimer. »Wie und wo finde ich diese Schriftrolle?«

»Der vorletzte König sieht sie aus der Unterwelt. Der Usurpator ist geblendet. Er wird verlieren, was er für wert und teuer hält, bis es von tiefen Schatten verdunkelt wird und nichts als Eitelkeit übrig bleibt.« Dann aber, als hätten ihre Weissagungen sämtliche Kraft in ihrer zierlichen ­Gestalt aufgezehrt, sank die Priesterin in ihrem Sessel in sich zusammen, sodass es schien, als würde sie verschwinden.

Gelimer und Zazo waren mit ihrer jungen Führerin in der Dunkelheit allein.

»Sie ist eine Maurin«, sagte Zazo zu Gelimer, nachdem das Mädchen sie hinausgeführt hatte. Die beiden Männer ließen die Tempelruinen hinter sich und gingen zu ihren Pferden. »Sie verehrt die alten Götter. Wie kannst du dich derart täuschen lassen, indem du auch nur ein einziges Wort ernst nimmst, das aus ihrem Mund kommt?«

»Ich lasse mich täuschen? Du wirst der Nächste sein, der stirbt, wenn ich diese Schriftrolle nicht finde und zurückbringe.«

»Was für ein Fluch ist das überhaupt, von dem du da ständig redest?«

»Er ist als Rache von der Priesterin ausgesprochen wor­den, die Geiserich half, seinen Eroberungsfeldzug erfolgreich zu beenden«, sagte Gelimer. »Geiserich stahl die Schriftrolle, versteckte sie und befahl, die Priesterin zu töten. Und dann hat er geschworen, die Schriftrolle zu zerstören, falls jemand die Waffen gegen die Vandalen erheben würde.«

Zazo blieb abrupt stehen. »Glaubst du ernsthaft, dass Dinge, die vor über hundert Jahren geschahen, hier und heute von Bedeutung sein können? Du solltest nicht vergessen, lieber Bruder, dass diese so genannten Orakel es meisterhaft verstehen, sich vage und in Rätseln auszudrücken. Man hört, was man hören will.«

»Dieses Orakel sagte Hilderichs Tod voraus, sofern es ihm nicht gelänge, die Schriftrolle noch vor den Saturnalien zu finden und nach Hippo Regius zurückzubringen.«

»Der einzige Grund, weshalb er sterben musste, ist der, dass Kaiser Justinian ihn wieder auf den Thron setzen wollte. Sein Tod hat überhaupt nichts mit Prophezeiungen zu tun, es ging einzig und allein darum, dein Reich zu schützen.«

»Und was ist mit dem Geständnis, das der vorletzte König auf seinem Totenbett machte? Wie konnte sie wissen, dass Hilderichs letzte Worte der Landkarte galten?«

»Sie hörte, wie Diener sich darüber unterhielten.«

»Dort war aber niemand außer Ammatas, der ihm das Messer auf mein Geheiß hin in den Leib gestoßen hat. Und außer mir erzählte er niemandem davon. Wenn ich diese Schriftrolle finde und den Fluch brechen kann, ehe wir in die Schlacht ziehen, dann rette ich dir vielleicht sogar das Leben.«

Zazo band sein Pferd los, ordnete die Zügel und schwang sich in den Sattel. »Na schön. Dann zeige mir diese Karte.«

Die beiden Männer ritten nach Bulla Regia zurück und dort zu dem königlichen Haus, in das Gelimer eingezogen war, nachdem er seinen Cousin Hilderich vom Thron gestoßen hatte. Vor ihm hatte auch Geiserich in dem Haus residiert, nachdem er die Schriftrolle gestohlen hatte.

Und nun, ein Jahrhundert später, musste Gelimer dafür sorgen, dass die Schriftrolle wieder an ihren angestammten Ort zurückkehrte.

Als sie das königliche Bauwerk erreichten, erhob sich ein Diener, der auf den Eingangsstufen gesessen und ein Schläfchen gehalten hatte, und ergriff die Zügel ihrer Pferde, während sie abstiegen. Die beiden Männer eilten die Treppe hinauf, schritten durch den breiten und hohen Eingang und gelangten ins Atrium, wo Gelimer eine lodernde Fackel aus ihrer eisernen Wandhalterung nahm. Das flackernde Licht entlockte den Mosaiken auf dem Boden ein Funkeln, als ob sich Diamanten unter den Füßen der Brüder befänden, während sie durch die große Halle auf eine Marmortreppe zugingen. Sie führte in einen langen, labyrinthartigen Korridor hinab, der sich in einem unterirdischen Geschoss befand, in dem die Vandalenherrscher vor der sommerlichen Hitze geschützt waren.

Schließlich gelangten die Brüder in den Raum, der früher einmal Geiserichs und, Jahre später, Hilderichs inneres Heiligtum gewesen war. In dem flackernden Licht waren ein Tisch und ein Sessel aus Elfenbein und Ebenholz zu erkennen. Der Boden darunter bestand aus einem ­Mosaik, das eine Szene aus der alten heidnischen Mytho­logie zeigte – Echo, die sich hinter einem der beiden Olivenbäume versteckte, die den Tempel flankierten, und den jungen, gutaussehenden Narcissus beobachtete, der am Fuß der Treppe auf dem Bauch lag, nach unten blickte und dem blau-weißen Muster des Wasserbeckens vor dem Tempel eine Hand entgegenstreckte.

»Ich habe diesen Raum und dieses Haus mindestens eintausend Mal durchsucht«, sagte Gelimer. »Hier gibt es keine Karte.«

»Vielleicht war dies Hilderichs letzte Rache. Dich etwas suchen zu lassen, das gar nicht existiert. Was genau hat er zu Ammatas gesagt?«

»Dass ich, wenn ich meine Eitelkeit nicht erkenne, das nicht sehen könne, was sich genau vor meinen Augen befindet.«

Zazo nahm ihm die Fackel aus der Hand und richtete sie auf den Boden. »Narcissus bewundert sein Spiegelbild. Dort hast du die Lösung deines Rätsels.«

Gelimer betrachtete die Schatten, die von der tanzenden Flamme auf das Mosaik geworfen wurden. Echo blickte zu Narcissus hinüber, der offenbar nicht wusste, dass sie in der Nähe war. Hinter ihm befand sich ein Gebäude, das wie der Tempel des Saturn aussah. »Sein Spiegelbild«, sagte Gelimer, während er die Worte der Seherin in Gedanken wiederholte. Er wird verlieren, was er für wert und teuer hält, bis es von tiefen Schatten verdunkelt wird und nichts als Eitelkeit übrig bleibt. Er sah zu seinem Bruder hinauf. »Eitelkeit. Das ist die Karte. Narcissus deutet darauf.«

»Eine Karte von was?«, fragte Zazo und fixierte stirnrunzelnd das Muster des blau-weißen Mosaiks unter Narcissus.

PROLOGTEIL II

Der Krieg hat keine Augen.

– SWAHILISCHESSPRICHWORT –

15. DEZEMBER 533 n. Chr.Tricamarum (50 Kilometer westlich von Karthago),Königreich der Vandalen, Nordafrika

Mit einer Handbewegung gebot Gelimer seiner Armee anzuhalten, ehe er und sein Bruder Zazo allein zur Kuppe des Hügels hinaufritten, um einen Blick auf das römische Heerlager in der Ferne zu werfen. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Endgültigkeit überwältigte Gelimer, als sein Blick über die Reihen seiner Feinde, fünfzehntausend an der Zahl, wanderte. Die Schuppenpanzer der römischen Kavallerie und Infanterie funkelten in der Sonne, während sich die Männer um die Feuer vor ihren Zelten drängten und ihre Mahlzeit zubereiteten. »Es ist fruchtlos«, sagte er zu Zazo.

»Denk nicht mehr an die Worte dieser Hexe im ­Tempel.«

Doch genau diese Prophezeiung wollte Gelimer nicht aus dem Kopf gehen. Obwohl er Männer ausgesandt hatte, um zu durchsuchen, was von dem nunmehr trockenen widerspiegelnden Wasserbecken im Tempel des Saturn noch übrig war, waren sie mit leeren Händen zurückgekommen. Ein Mann stürzte von seinem Pferd und starb, die anderen weigerten sich aus Angst vor dem Fluch, noch einmal dorthin zurückzukehren. Gelimer hatte sie sogar ein weiteres Mal aufgesucht, aber als sie den Raum hinter dem Tempel betraten, war er verlassen. »Ich darf dich nicht verlieren, Zazo …«

Verärgert musterte ihn sein Bruder. »Wie ist es möglich, dass du heidnischen Prophezeiungen Glauben schenkst?«

»Ich bitte dich, geh nicht in diese Schlacht. Kehre in die Garnison zurück und beschütze deine Frauen und Kinder. Ihnen solltest du mit deinem Mut zur Seite stehen.«

»Und vor meiner Kavallerie das Bild eines Feiglings abgeben? Außerdem ist es mein Tod, der vorausgesagt wurde. Dann überlass doch auch mir die Entscheidung, ob ich mich ihm stelle oder nicht.« Er zückte sein Schwert, stieß es über dem Kopf in die Luft und drehte das Pferd zu seiner Truppe um. Dabei rief er: »Vorwärts!«

Als Antwort ertönte ein vielstimmiger Kampfruf, während die Reiter der Kavallerie ihre Schwerter zogen und Zazo in die Schlacht folgten, ehe Gelimer noch Gelegenheit hatte, den Befehl zu widerrufen. Sie überquerten den Fluss und richteten ihren Vorstoß gegen das Zentrum von Belisars Streitmacht. Gelimers Truppen an der rechten Flanke hielten sich zurück.

Euric, sein Stellvertreter und Heerführer, lenkte sein Pferd neben ihn. »Mein König«, sagte er. »Eure Männer warten auf Eure Befehle.«

Gelimer ritt zu den wartenden Soldaten hinüber, und hier hob er sein Schwert und wiederholte Zazos Schlachtruf. »Vorwärts!«

Euric reckte seine Klinge in die Höhe. »Heil dem König!« Sie ritten los und brachten die rechte Flanke nach vorn, während Zazo das Zentrum in Marsch setzte. Ein Regen aus Pfeilen flog ihnen von den Römern entgegen, aber die Vandalen hoben ihre Schilde und fingen die meisten Geschosse auf. Nur wenige fanden ihr Ziel, und die getroffenen Krieger stürzten zu Boden. Aber die Lücken wurden schnell wieder aufgefüllt, während die Vandalen ihren Schlachtruf erneut anstimmten und sich den römischen Reitern entgegenwarfen.

Schwerter prallten aufeinander, ihr stählernes Klirren hallte überlaut in Gelimers Ohren wider. Ein römischer Reiter griff an. Seine Lanze war auf Gelimers Brust gerichtet. Gelimer parierte den Lanzenstoß mit seinem Schild, zwang sein Pferd mit einem kraftvollen Schenkeldruck zu einer Drehung, brachte sein Schwert nach unten und schlug dem Römer die Lanze aus der Hand. Der Römer versuchte, sein eigenes Schwert zu ziehen, aber Gelimer holte bereits zum tödlichen Streich aus, bohrte ihm die scharfe Spitze seiner Waffe in die Achselhöhle und fegte ihn aus dem Sattel. Dann machte der König sofort kehrt und nahm den zweiten Reiter ins Visier.

Noch mehr römische Pfeile prasselten in die Reihen der Vandalen. Gelimer wirbelte mit seinem Pferd herum, entdeckte die berittenen Bogenschützen hinter der römischen Kavallerie und war schon im Begriff, die Flanke auf seiner Seite in den Kampf zu schicken, als Belisar plötzlich den Befehl zum Rückzug der römischen Armee gab.

Die Vandalen brachen in lauten Jubel aus, und Zazo lachte triumphierend, während er zu Gelimer hinübergaloppierte. »Das sind Feiglinge«, sagte er. »Wie du siehst, haben wir nichts zu befürchten.«

»Lass dich nicht zu einem vorschnellen Urteil verleiten«, warnte Gelimer und ließ den Blick über das Schlachtfeld schweifen.

»Sie haben doppelt so viele Tote wie wir zu verzeichnen.« Zazo wendete sein Pferd, ritt zu seinen Männern und bedeutete ihnen mit einem Wink, erneut anzugreifen.

Gelimer, der seine durch das Orakel geweckten düsteren Vorahnungen nicht verdrängen konnte, beobachtete, wie Zazo und seine Kavallerie die fliehenden Feinde verfolgten, die nicht nur einmal, sondern zweimal versuchten, sich neu zu formieren und ihren Verfolgern standzuhalten. Bei ihrem dritten Versuch ignorierten die römischen Reiter die rechte und die linke Flanke und richteten ihren Angriff ganz auf das Zentrum des Geschehens, wo Zazo und seine Männer kämpften.

Hüte dich vor dem dritten Angriff …

»Alle zu meinem Bruder!«, feuerte Gelimer seine Männer an. »Beschützt meinen Bruder um jeden Preis!«

Seine Kavallerie galoppierte in geschlossener Phalanx vorwärts und zerstreute römische Soldaten in alle Richtungen. Die vandalischen Krieger – bei weitem die besseren Reiter und seit jeher brillante Schwertkämpfer – trieben den Feind zurück, während sich Zazo mit einem Riesen von einem Mann einen mörderischen Zweikampf lieferte.

Wuchtig schlugen sie aufeinander ein, das Klirren ihrer Schwerter hallte über das Schlachtfeld. Der Riese führte einen geraden Stoß aus, verfehlte Zazo jedoch. Er versuchte, den Angriff zu wiederholen, aber Zazo bohrte sein Schwert in die Schulter seines Feindes und hebelte ihn damit aus dem Sattel. Als der Mann in den Staub stürzte, rutschte das Schwert aus seiner Hand. Zum ersten Mal hatte Gelimer das Gefühl, als sei seine Vandalenarmee im Begriff, die Oberhand zu gewinnen.

Sogar Zazo konnte sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Während er das Schlachtfeld überschaute, entdeckte er Gelimer. Als sich ihre Blicke trafen, hob Zazo sein Schwert, winkte ihm und rief: »Heil dem König!«

Hinter ihm raffte sich der Riese auf und griff nach seinem Schwert.

»Zazo!«, stieß Gelimer als Warnruf aus.

Zazo zog sein Pferd herum. Doch es war zu spät. Das Schwert des Riesen beschrieb einen Bogen, und seine Spitze fand die schmale Lücke zwischen den Platten der Rüstung. Zazo schwankte. Seine Augen weiteten sich voller Überraschung, als der Riese abermals zustieß und dann die Klinge aus Zazos Brustkorb wieder herauszog. Zazo konnte sein Schwert nicht mehr festhalten. Es entglitt seinem Griff. Er presste die freie Hand kraftlos auf die Brustwunde und starrte ungläubig auf das Blut, das zwischen seinen Fingern hervorquoll. Sein Pferd nahm den geschwächten Zustand seines Reiters wahr, bäumte sich auf und warf ihn aus dem Sattel.

»Zazo!«, rief Gelimer, während sich sein Bruder auf die Füße kämpfte. Ein Schub frischer Kraft trieb Gelimer vorwärts. Mit wirbelnder Klinge wühlte er sich durch die Reihen des Feindes und hinterließ eine blutige Schneise gefallener Römer. Der Riese grinste triumphierend, als er Gelimer auf sich zukommen sah. Mit beiden Händen packte er sein Schwert und holte zu einem wuchtigen Hieb auf den Hals Zazos aus.

Gelimers Herz krampfte sich in seiner Brust zusammen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er trieb sein Pferd zu höchster Eile, versenkte das Schwert in der Brust des Riesen, der zurückgeworfen wurde und bereits tot war, ehe er krachend auf dem Boden aufschlug.

Gelimer stieg vom Pferd und starrte wie gelähmt auf den blutüberströmten Leichnam seines Bruders. Um ihn herum tobte die Schlacht weiter, aber der Lärm drang nur noch gedämpft an seine Ohren. Die Welt ringsum verdunkelte sich.

»Herr«, rief Euric. »Was sollen wir tun?«

Gelimer hörte ihn nicht.

»Mein König!« Euric packte ihn bei den Schultern. »Ihre Männer warten auf Befehle!«

»Alles was bleibt, ist Schatten …« Er sank auf die Knie. Das Schlachtfeld war mit toten Vandalen übersät. Seinen Männern. Zazos Männern. »Nichts bleibt zurück als Eitelkeit …« Er hatte Mühe zu atmen. »Zazo …«

»Er ist tot«, sagte Euric. »Und Euch droht das gleiche Schicksal, wenn wir uns nicht schnellstens zurückziehen.« Euric half ihm auf die Füße.

Später konnte sich Gelimer nicht mehr daran erinnern, was weiter geschehen war. Irgendwie gelangte er wieder auf den Rücken seines Pferdes und folgte Euric blindlings, während sich die Reste seiner Armee in alle vier Windrichtungen zerstreuten.

KAPITEL EINS

Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt.

– CHINESISCHESSPRICHWORT –

GEGENWART

La Jolla, Kalifornien

Sam Fargo kontrollierte die Zahlen ein zweites Mal. Es stand außer Zweifel. Die Abrechnung der Gelder, die von der Fargo Foundation für ein archäologisches Ausgrabungsprojekt in Tunesien bestimmt waren, wies zahlreiche Unstimmigkeiten auf. »Das sieht nicht gut aus.«

Seine Frau Remi beugte sich zum Bildschirm vor. Als sie die Zahlenkolonnen überflog, lag ein besorgter Ausdruck in ihren grünen Augen. Sie klemmte sich eine Locke ihres kastanienbraunen Haars hinter das rechte Ohr, erhob sich abrupt von ihrem Stuhl und ging hinter Sam im Büro auf und ab. »Wie konnte das passieren? Renee LaBelle ist eine meiner besten und ältesten Freundinnen. Da kann ich doch nicht einfach zum Telefonhörer greifen, sie anrufen und mit Fragen überschütten. Es würde ja klingen, als wollte ich sie beschuldigen.«

Sam drehte sich mit seinem Sessel zu ihr um. Remi und Dr. Renee LaBelle hatten sich damals im Boston College ein Zimmer geteilt und waren seitdem eng befreundet. »Wenn ich bedenke, wie lange ihr euch schon kennt, bezweifle ich eher, dass sie es dir übelnehmen würde. Aber wenn wir unsere Zahlen nicht mit ihren in Einklang bringen, werden wir mit dem Finanzamt Ärger bekommen.«

Remi blieb stehen und blickte auf den Monitor. »Im­­merhin kann sie sämtliche Geldbewegungen belegen. Ich kann mich erinnern, dass sie davon gesprochen hat, sie hätten einige Probleme mit ihrem neuen Buchhaltungsprogramm. In dieser Phase kam es zu den Fehlbuchungen. Vielleicht hat es auch an einem Programmfehler gelegen. Oder irgendetwas wurde falsch eingegeben.«

Wenn es ein Programmfehler war, dann ein kapitaler. Und noch einiges mehr musste schiefgelaufen sein, dachte Sam. Ein Jahr zuvor, als Remi den Vorschlag gemacht hatte, dass die Fargo Foundation Renee LaBelles archäologisches Ausgrabungsprojekt in Bulla Regia unterstützen solle, hatte er sich von Anfang an dagegen ausgesprochen. Zwar hatten er und Remi diese Stiftung ins Leben gerufen, um damit wissenschaftliche Unternehmungen wie diese zu unterstützen, aber er wusste aus teilweise leidvoller Erfahrung, dass selbst gute Freundschaften durch das schlampige Finanzmanagement eines der Partner ziemlich schnell in die Brüche gehen konnten. Seinerzeit hatte er diese Bedenken zwar geäußert, aber Remi hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihrer Freundin zu helfen, und ihm versichert, dass Renee LaBelles frühere Ausgrabungen regel­mäßig bedeutende Funde zutage gefördert hätten.

Leider ließ der Erfolg diesmal auf sich warten. »Wir wissen nichts Genaues, ehe wir uns nicht zusammengesetzt haben, um die Zahlen mit ihr durchzugehen«, sagte er. »Mach Renee klar, dass die kritischen Fragen von unserer Buchhaltung gestellt werden. Es gebe einige steuerliche Probleme. Was ja auch tatsächlich der Fall ist.« Sam warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach zehn Uhr am Vormittag. »Wie spät ist es bei ihnen? Sie sind uns um acht Stunden voraus, nicht wahr?« Er angelte Remis Smartphone vom Schreibtisch und reichte es ihr.

Sie zog sich einen Sessel neben Sam heraus. »Telefon oder Video? Video«, entschied sie, bevor er antworten konnte. »Das ist ein bisschen persönlicher. Komm aber nicht zu nah. Wenn sie dich sieht, könnte sie meinen, wir wollten sie einschüchtern.«

Sam lehnte sich zurück, während sie die Telefonnummer wählte. Das Gesicht ihrer Freundin zeigte einen Ausdruck leichter Überraschung, als es den Bildschirm füllte. »Remi! Warte einen Moment. Ich geh schnell nach draußen, wo es ruhiger ist. Wir sitzen nämlich gerade beim Abendessen.«

»Bleib sitzen und iss zu Ende. Ich kann warten. Ich habe nur einige Fragen zur Buchhaltung. Wir bereiten die Steuererklärung gerade vor.«

»Nein. Nein. Ich wollte dich sowieso anrufen …«

»Wer ist es, LaBelle?«, erklang eine männliche Stimme im Hintergrund.

»Remi Fargo«, antwortete die Archäologin. »Es geht um die Buchhaltung.«

Das Gesicht eines Mannes erschien neben Renee auf dem Bildschirm. »Ich habe LaBelle schon öfter daran erinnert, einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren.«

Ihre Freundin nickte bestätigend. »Das hat er wirklich«, sagte sie, dann fiel ihr offenbar ein, dass Remi keine Ahnung hatte, wer der Mann neben ihr war. ­»Entschuldige. Das ist Hank, unser neuer Betriebsleiter. Hank, Remi Fargo. Sie und ihr Mann leiten die Fargo Foundation. Ich nehme an, Sam ist sicherlich nicht weit entfernt.«

»Er sitzt neben mir«, sagte Remi und drehte den Bildschirm mit der Kamera, sodass Sam ins Bild kam. Er nickte grüßend.

Hank lächelte. »Was meinen Sie? Ich denke an eine Videokonferenz in ein oder zwei Tagen. Wir haben uns schon gedacht, dass Sie einige Fragen haben werden.«

Wenn es sich um geringfügige Unregelmäßigkeiten gehandelt hätte, wäre Sam einverstanden gewesen. Es ging jedoch um zu hohe Geldbeträge, deren Verbleib seiner Meinung nach unzureichend belegt war, um die strittigen Punkte lediglich während einer Videokonferenz zu bereinigen. »Zufälligerweise«, sagte Sam, »kommen wir am nächsten Montag nach Nigeria. Es würde uns nichts ausmachen, ein oder zwei Tage früher zu fliegen und in Tunis einen Zwischenstopp einzulegen. Es würde alles vereinfachen, wenn wir die Gelegenheit nutzten und uns zusammensetzten.«

Renee LaBelle schüttelte den Kopf. »Da gibt es nur ein kleines logistisches Problem. Wir sind in Kenia. Dort findet eine archäologische Konferenz statt. Für wie lange kommt ihr denn nach Nigeria? Vielleicht könnt ihr nachher hierherfahren.«

»Schwer zu sagen«, erwiderte Sam. »Eine Woche, viel­­leicht länger.« Er und Remi wollten einen Abstecher zur südlichen Grenze des Gashaka-Gumti-Nationalparks machen, wo zwei ihrer Angestellten – Wendy Corden und Pete Jeffcoat – während der letzten Monate ihr Lager aufgeschlagen hatten und den Bau und die Einrichtung einer Mädchenschule beaufsichtigten, die sich auf lange Sicht selbst versorgen sollte. Auch wenn die Arbeiten nahezu abgeschlossen waren, hinkten sie terminmäßig ein wenig hinterher und mussten sich beeilen, alles unter Dach und Fach zu bekommen, bevor die Regenzeit einsetzte. »Wir wollen uns über den Stand eines der Stiftungsprojekte informieren.«

Renees Miene hellte sich auf. »Meinst du diese Schule da draußen im Busch? Habt ihr schon Schülerinnen für diese Einrichtung?«

»Haben wir«, sagte Remi.

»Ich habe eine Idee«, sagte Renee. »Wir könnten die Konferenz einen Tag früher verlassen und euch in Jalingo treffen, anstatt den weiten Weg nach Tunis zurückzufliegen. Wir gehen die Bücher durch, fahren zur Schule raus …« Sie lächelte entwaffnend. »Das ist typisch für mich, dass ich mich selbst einlade. Ich glaube, das Letzte, was ihr brauchen könnt, sind neugierige Besucher, die euch im Weg herumstehen, während ihr arbeitet.«

Das war es, was auch Sam in diesem Moment dachte. Um zu vermeiden, dass das Ganze den Charakter eines touristischen Freundschaftsbesuchs annahm, nickte er bekräftigend. »Wir werden ganz bestimmt sehr beschäftigt sein.«

Offensichtlich war Hank der gleichen Meinung und sagte: »Es wäre ein bisschen viel verlangt, wenn Sie noch so viel Arbeit vor sich haben. Vergessen Sie nicht, dass wir auch noch unser gesamtes Team im Schlepptau haben.« Er deutete mit einem Kopfnicken hinter sich.

Renee drehte ihr Telefon um, sodass die Kamera eine Personengruppe einfing, die an einem Tisch saß. »Warren kennst du ja schon.« Der grauhaarige Ausgrabungsleiter hob und senkte den Kopf kaum merklich, griff nach seinem Bierglas und trank einen Schluck. »Und dies ist eine meiner Studentinnen. Amal, sagen Sie Hallo zu den Fargos.« Eine junge Frau Anfang zwanzig mit langem dunklem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft hatte, hob eine Hand und winkte.

»Tatsächlich«, sagte Remi, »ist es sogar noch besser. Nicht wahr, Sam?«

Offenbar war ihm die Kontrolle über das Gespräch völlig entglitten – falls er sie überhaupt jemals innegehabt haben sollte. »Warum? Was meinst du?«

»Dass nicht nur eine, sondern zwei Frauen mitkommen, die mit den Mädchen sprechen können. Eine Professorin und eine ihrer Studentinnen. Das ist doch eine brillante Gelegenheit.«

Sam hatte nicht den leisesten Schimmer, wie seine Frau auf eine solche Idee hatte kommen können. »Hast du den Schlafsaal vergessen, den wir eigentlich bauen wollten?«

Es überraschte ihn nicht im Mindesten, dass Dr. LaBelles Verstand genauso funktionierte wie der seiner Frau. Sie drehte sich halb zu ihren Kollegen um und meinte: »Wir können doch Hank mitbringen. Er ist als Baustellenleiter die Idealbesetzung.«

»Und was ist mit Warren?«, fragte Hank.

»Was soll denn mit mir sein?« Warren war offenbar überrascht, dass sein Name überhaupt genannt wurde. »Ich bin ein bisschen zu alt für schwere körperliche Arbeit. Außerdem muss hier jemand die Stellung halten.«

»Moment«, sagte Renee. »So funktioniert das gar nicht. Die gesamte Buchhaltung liegt in Tunesien.«

»Kein Problem«, erwiderte Remi. »Wir holen euch in Tunesien ab und fliegen zusammen zur Schule.«

»Eine großartige Idee. Meinen Sie nicht auch, Hank?«

»Was? Ja. Aber auch wir haben einen engen Zeitplan. Ich wüsste nicht, wie wir …«

»Glücklicherweise«, schnitt Renee ihm das Wort ab, »bin ich hier der Boss.« Sie blickte direkt in die Kamera und grinste. »Ruf mich an und nenn mir die Details. Wir halten uns dann bereit.«

Remi beendete das Gespräch, legte das Telefon auf den Schreibtisch und lehnte sich mit hochzufriedener Miene zurück. »Das lief doch bestens.«

»Ist mir etwas entgangen? Wollten wir nicht über die fehlenden Geldbeträge sprechen?«

»Wir sehen uns die Bücher in Tunesien an, bevor wir dann zur Schule hinausfliegen. Ich bin sicher, dass es für alles eine einleuchtende Erklärung gibt.«

Er hoffte, dass sie recht hatte, denn seiner Frau nachher zu sagen, »ich habe dich rechtzeitig gewarnt« kam meistens nicht so gut an.

KAPITEL ZWEI

Gehe zu den alten Wasserstellen für mehr als Wasser zurück; Freunde und Träume sind da, um dich zu treffen.

– AFRIKANISCHESSPRICHWORT –

Bulla Regia, Tunesien

Eine leichte Brise kam auf, während sich Sam und Remi an den gemieteten Audi RS lehnten, den sie am Rand der Ausgrabungsstätte geparkt hatten. Sam warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war wenige Minuten nach elf. »Bist du sicher, dass Dr. LaBelle zehn Uhr dreißig sagte?«

»Absolut.« Remi holte ihr Smartphone hervor und wählte. »Anrufbeantworter. Was meinst du, sollen wir ein bisschen herumfahren und nach ihr Ausschau halten? Ich bin sicher, dass dies genau der Ort ist, wo sie uns treffen wollte.«

Sam legte einen Arm um ihre Schultern. »Wir können noch etwas warten. Wie oft bietet sich einem Mann die seltene Chance, mit einer bildschönen Frau an seiner Seite unter einem strahlend blauen Himmel zu stehen.«

»Das ist ein schlagendes Argument, Fargo«, sagte sie und schmiegte sich an ihn.

Etwa zehn Minuten später näherte sich ein mittelgroßes blaues SUV und hielt an.

Renee stieg aus und winkte ihnen. »Entschuldigt bitte. Normalerweise beaufsichtigt Warren unsere studentischen Hilfskräfte während des Vormittags, aber er ist einfach nicht zur Arbeit erschienen, und ich habe nicht auf die Uhr geschaut.« Sie überwand die Distanz mit schnellen Schritten und fiel Remi um den Hals. »Rem-rem. Wie schön, dich wiederzusehen. Ich schwöre, du siehst keinen Tag älter aus als damals an eurem Hochzeitstag.«

»Nee-nee«, sagte Remi lächelnd. »Wann haben wir zum letzten Mal diese Namen gehört?«

»Bei der College-Abschlussfeier«, sagten sie wie aus einem Mund und brachen in schallendes Gelächter aus.

Beide Frauen hatten Magisterdiplome in Anthropologie und Geschichte erworben, wobei sich Remi für Handelsrouten in der Antike interessiert und Renee sich der Archäologie zugewandt hatte. Abgesehen davon, dass sie beide schlank waren, ähnelten sie einander jedoch in keiner Weise. Remi mit ihren grünen Augen und dem kastanienbraunen Haar war einen halben Kopf größer als die zierliche blonde, blauäugige Renee. Mit ihren Vornamen hatten sie jedoch bei ihren unglücklichen Professoren – und den meisten ihrer Freunde – einige Verwirrung gestiftet, weil sie einfach unzertrennlich waren und beide Namen nahezu gleich klangen. Als jemand sie Rem-rem und Nee-nee taufte, um Verwechslungen zu vermeiden, waren die Spitznamen an ihnen hängen geblieben, bis Renee das Boston College verließ, um in Archäologie zu promovieren.

Remi hakte sich bei Renee unter. »Es ist schon viel zu lange her«, sagte sie und fühlte sich wegen des eigentlichen Anlasses ihres Zusammentreffens noch immer ein wenig unbehaglich. »Hast du wirklich kein Problem, deine Arbeit für einige Zeit ruhen zu lassen? Und uns zur Schule zu begleiten?«

»Das Timing ist ideal. Niemand wird uns für ein paar Tage vermissen.« Renee lächelte Sam an. »Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht, wenn wir mitkommen, Sam?«

»Ich freu mich schon darauf.«

Renee lachte, als sie den Blick bemerkte, den er Remi zuwarf. »Aber bestimmt nicht genauso.«

Sam zwinkerte ihr zu. »Ist die Frau glücklich, freut sich ihr Gatte.«

»Du hast einen klugen Mann geheiratet, Remi.« ­Renee kicherte verhalten, dann deutete sie mit einem Kopfnicken auf die Hügellandschaft und den blauen Himmel in einiger Entfernung. »Dort liegt unser Ziel. Ich dachte, dass ihr euch vielleicht, bevor wir losfahren, noch einige der älteren Ausgrabungen ansehen möchtet. Ich hoffe, so viel Zeit habt ihr.«

»Wir haben nichts Besonderes geplant«, sagte Sam.

»Ausgezeichnet. Sie haben nämlich bei der Wiederherstellung der Mosaike seit unserer Studienzeit erstaunliche Fortschritte gemacht.« Sie holte ihre Schultertasche aus dem SUV und ging zum Eingang voraus.

Weil ein schweres Erdbeben den größten Teil der antiken Stadt zerstört hatte, war von den Gebäuden nur noch wenig übrig geblieben. Hier und da eine Säule, geborstenes Mauerwerk und ein Teil des Amphitheaters, in dem Bischof Augustinus früher einmal den Bürgern von Bulla Regia wegen ihres lasterhaften Lebens heftig die Leviten gelesen hatte. Die Ruinen der zweistöckigen römischen Luxusvillen boten einen wenig einladenden Anblick. Während des Winters wurde üblicherweise der oberirdische Teil des Hauses genutzt, sodass seine Bewohner in den Genuss der wärmenden Sonnenstrahlen kamen. Im Sommer zogen sie sich dann in die unterirdischen Räumlichkeiten zurück, wo sie vor der sengenden Hitze geschützt waren. Zahlreiche dieser Gewölbe hatten das Erdbeben ohne gravierende Schäden überstanden.

Renee führte sie über das antike Straßenpflaster, erläuterte die Geschichte und die Bedeutung der Ausgrabungsstätte und blieb gelegentlich stehen, um sie auf Details der Mosaike aufmerksam zu machen, über die sie gerade schritten. Renee geleitete sie an den antiken Kunstwerken vorbei, als Remi anhielt und auf eine Menschengruppe in einiger Entfernung deutete. »Sind das nicht Warren und Amal?«

Sam blickte in die angegebene Richtung, während die Frau und drei Männer hinter den Mauerresten eines Patrizierhauses verschwanden.

Renee überschattete die Augen und schaute ebenfalls in die Richtung. »Das müsste Amal gewesen sein. Sie veranstaltet manchmal Führungen, um sich ein bisschen Taschengeld für ihr weiteres Studium zu verdienen. Allerdings wüsste ich keinen Grund, weshalb auch Warren hier sein sollte. Zumal er ja wusste, dass ihr hierherkommt und ich ihn heute Vormittag bei der Ausgrabung brauchte.« Sie warf einen letzten Blick in Richtung der verschwundenen Gruppe, dann steuerte sie auf eine rechteckige schachtähnliche Vertiefung zu, die durch ein Geländer gesichert wurde. »Nehmt euch bloß in Acht«, warnte sie, während sie in ein mit sechs Granitsäulen umgebenes Peristyl in etwa sieben Meter Tiefe hinabblickte. Über den Säulen befanden sich große sechseckige Fensteröffnungen, durch die Licht in den unterirdischen Korridor drang. »Dies ist einer meiner liebsten Funde«, sagte sie, während sie auf einer Treppe ins Herz der Villa hinunterstiegen. Sie trat zur Seite, damit ihre Begleiter das Bodenmosaik in seiner ganzen farbenfrohen Pracht betrachten konnten.

Remi ließ sich auf ein Knie sinken, um die detailreich gestalteten Meereskreaturen und zwei Putten, die rittlings auf Delfinen saßen, genauer in Augenschein zu nehmen. Eine der Putten trug einen Korb voller Edelsteine auf den Armen, die andere hielt einen Spiegel in den Händen – Geschenke für eine Venus, die von zwei Zentauren auf Händen getragen wurde und deren Kopf von einem Heiligenschein umgeben war. »Erstaunlich.«

»Das denke ich auch, wenn ich hierherkomme, um zu arbeiten.« Renee seufzte, während sie sich umschaute, dann begann sie, die Treppe hinaufzusteigen. »Wer hätte vor all den Jahren wohl gedacht, dass unsere Träume in Erfüllung gehen würden?«

»Wir hatten es gedacht«, sagte Remi. Sam lachte. Ganz bestimmt gingen ihm in diesem Augenblick all die gefährlichen Situationen durch den Kopf, in die sie geraten waren und aus denen sie sich hatten befreien können. »Allerdings nicht ganz so, wie Sie es geplant hatten. Oder, Mrs. Fargo?«

Sie sah ihn an und ergriff seine Hand. »Aber auch nicht annähernd.«

Renee wartete am oberen Ende der Treppe auf sie. »Was für euch beide ein Spaß ist, finden wir normalen Menschen ein bisschen extrem.« Plötzlich fuhr sie herum, und ihre Augen weiteten sich, als jemand sie die Treppe hinunterstieß und ihr gleichzeitig die Schultertasche entriss.

KAPITEL DREI

Ein Baum bewegt sich nicht, es sei denn, es weht ein Wind.

– NIGERIANISCHESSPRICHWORT –

Sam fing Renee auf, als sie ihm auf den Stufen entgegenstürzte. Sobald sie wieder sicheren Stand hatte, rannte er die Treppe hinauf. Der Mann, der sich Renees Tasche geschnappt hatte, wühlte sie gerade durch, als Sam auf der Treppe auftauchte. Er schaute hoch, dann ergriff er die Flucht. Sam verfolgte ihn über die schmalen Wege des Archäologieparks bis hinaus zu dem Platz, auf dem ihre Autos parkten, als ein dunkles SUV über die Schotterfläche kurvte und eine dichte Wolke aus Staub und Sand in die Luft wirbelte, während es eine Vollbremsung ausführte. Sam holte zügig auf, während der Mann hinter dem Lenkrad sich zur Seite lehnte und die Beifahrertür aufstieß. Der Dieb wandte den Kopf, entdeckte Sam und schleuderte ihm die Tasche entgegen.

Sam wischte sie mit einer Handbewegung beiseite, bekam dafür das Hemd des Mannes zu fassen, verlor es jedoch gleich wieder aus dem Griff, als der Mann in das SUV hechtete. Der Geländewagen startete sofort durch und entfernte sich. In den wenigen Sekunden, die Sam brauchte, um zu erkennen, dass das hintere Nummernschild des Wagens fehlte, kurbelte der Dieb das Seitenfenster herunter und warf Renees Brieftasche hinaus.

Sam erreichte sie, hob sie auf und ging zurück, um die Tasche aufzunehmen, während Remi und Renee eilig herbeigerannt kamen.

Er reichte Renee die beiden offenbar verschmähten Beu­­testücke. »Du bist doch nicht verletzt, hoffe ich? Oder doch?«

»Nein, nein. Mehr als alles andere bin ich verärgert«, sagte sie und klappte die Brieftasche auf, um nachzusehen, was fehlte. »Die Häufigkeit der Taschendiebstähle hat erheblich zugenommen, vor allem in der näheren Umgebung unseres Ausgrabungsfeldes. Wäre ich ein bisschen klüger gewesen, hätte ich die Tasche im Wagen gelassen.«

»Ist denn irgendetwas gestohlen worden?«, fragte Remi.

»Ein paar Dinar, aber das ist es auch schon. Wenn ihr mich fragt, dann haben sie mich für eine reiche Touristin gehalten und hatten keine Ahnung, dass ich hier bin, um zu arbeiten.« Sie ließ die Brieftasche in ihre Schultertasche fallen, dann tastete sie ihre Hosentasche ab. »Die Schlüssel sind dort, wo sie hingehören … Ich würde empfehlen, dass wir uns auf den Weg machen.«

»Willst du nicht die Polizei benachrichtigen?«, fragte Sam.

»Wenn sie etwas Wichtiges erbeutet hätten – wie meine Schlüssel oder meinen Pass –, dann würde ich das sicherlich tun. Aber wegen ein paar Geldscheinen? Das lohnt doch die Mühe nicht.«

Als sie zu ihren Wagen kamen, folgten sie Renee am Archäologiepark vorbei in Richtung der Berge und parkten hinter ihr, als sie schließlich anhielt und aus ihrem Wagen ausstieg.

»Dies ist unser Ausgrabungsfeld«, erklärte sie, während sie, Remi und Sam sich einen Hügelabhang hinuntertasteten bis zu einer Stelle, wo Hank zwei jüngere Männer beobachtete, die in einem durch Schnüre markierten Bereich knieten und mit Pinseln Sand und Staub aus einem Abschnitt der Ausgrabungsstätte entfernten. »Von hier aus gibt es nicht viel zu sehen, aber wenn man nahe herangeht, ist es absolut außergewöhnlich.«

Hank bemerkte sie und kam zu ihnen herüber. »Ah, die Fargos. Freut mich, Sie endlich auch persönlich kennenzu­lernen.«

»Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite«, erwiderte Sam und schüttelte ihm die Hand.

»Ist Warren schon zurück?«, fragte Renee LaBelle.

»Nicht dass ich wüsste.« Hank runzelte die Stirn. »Sie sehen ein bisschen angegriffen aus, LaBelle. Ist alles okay?«

»Man hat mir die Handtasche klauen wollen. Es hat aber nicht geklappt, sollte ich hinzufügen. Sam ist hinter dem Kerl hergerannt und hat die Tasche zurückgeholt.«

Hank warf einen Blick auf die Tasche, die über ihrer Schulter hing. »Da es hier seit einiger Zeit wieder von Taschendieben wimmelt, sollten Sie besonders gut aufpassen.«

Sam nickte in Richtung der beiden jungen Männer auf dem Ausgrabungsfeld. »Was gibt es da draußen zu sehen?«

»Dies«, antwortete Renee, »ist die neue Fundstätte, die sich möglicherweise als eine weitere Villa entpuppt. Im vergangenen Jahr haben wir uns einen topografischen Überblick verschafft, einige Bohrungen durchgeführt und mehrere Probeschächte ausgehoben. Noch haben wir mit den eigentlichen Ausgrabungen gar nicht begonnen, aber auch in den oberen Schichten sind wir schon fündig geworden.«

Hank öffnete den Schraubverschluss seiner stählernen Wasserflasche. »Was wir gefunden haben, war nicht ganz so aufregend wie die unterirdischen Räume, die wir zurzeit freilegen. Sie sollten mit Ihren Besuchern runtersteigen, damit Sie alles zu sehen bekommen. Es ist einfach phan-tastisch. Und da wir dort mittlerweile über elektrischen Strom verfügen, können wir auch nachts arbeiten.«

»Das kann noch warten. Ich möchte die Fargos erst noch mit meinen Studenten bekannt machen«, sagte die Archäologin und deutete auf die beiden jungen Männer draußen auf dem Grabungsfeld. »José ist Spanier, und Osmond kommt aus Ägypten. Ich habe ihnen schon von euren … Eskapaden erzählt. Josés Hobby ist ebenfalls die Schatzsuche. Für ihn wird es sicher ein besonderes Erlebnis sein, euch kennenzulernen.«

»Sie sollten das Tageslicht nutzen«, sagte Hank. »Die beiden laufen ja nicht weg.«

»Das ist natürlich ein Argument.« Renee LaBelle lä­chelte Sam und Remi an. »Sollen wir?«

Sam schaute zu den Männern hinüber, die es offenbar kaum erwarten konnten, den Besuchern vorgestellt zu werden. »Ich mache mich mit ihnen bekannt und komme gleich nach.«

»Ich begleite Sam«, sagte Hank zu Renee. »Nehmen Sie einen Eimer Wasser mit, wenn Sie richtig Eindruck schinden wollen.«

»Das werden wir.« Renee sah Remi mit einem verheißungsvollen Lächeln an. »Das musst du dir unbedingt an­­­schauen … Hatte ich schon erwähnt, dass der Ort mit einem Fluch belegt wurde?«

KAPITEL VIER

In der Eile ist kein Segen.

– SWAHILISCHESSPRICHWORT –

»Mit was für einem Fluch denn?«, wollte Remi wissen, während Renee zu der Villa vorausging.

»Nicht dass ich an diese Dinge glaube, aber es heißt, dass der Bruder des letzten Vandalenkönigs deswegen einen grausamen Tod gefunden habe.« Renee blieb ohne Vorwarnung wie angewurzelt stehen. Ein Grinsen lag auf ihrem Gesicht. »Angesichts der steigenden Diebstahlsrate in der Umgebung ist mir gerade eingefallen, dass ich Warnschilder aufstellen sollte. Dieses Gelände ist mit einem Fluch belegt und für die allgemeine Öffentlichkeit gesperrt. Unbefugte müssen mit einem gewaltsamen Tod rechnen.«

Sie lachten, und dann gingen sie einige Minuten lang weiter den Trampelpfad hinunter zu einem mit Maschendraht abgesperrten Areal. Ein Vorhängeschloss mitsamt Kette hing an dem offenen Tor, und gelbe Warnschilder, die rund um das Gelände platziert waren, verkündeten Achtung! Ausgrabungsarbeiten.

Renee deutete nach links. »Wir vermuten, dass irgendwo dort drüben die Treppe ist. Verschüttet unter Tonnen von Geröll und dem Staub von Jahrhunderten.«

»Ich dachte, man habe so gut wie alles ausgegraben, was hier zu finden war, und dass die wesentliche Aufgabe jetzt das Konservieren der Fundstücke sein würde.«

»Genau das hatte ich auch erwartet, bis ich Amal kennenlernte.« Sie lächelte verschwörerisch. »Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch von dem Fluch. Er war nämlich das Thema ihrer Doktorarbeit. Aber der Hinweis, dass die Stadt wesentlich größer und bedeutender gewesen sein muss, ergab sich aus umfangreichen mündlichen Überlieferungen über Bulla Regia, die durch die Frauen ihrer Familie von Generation zu Generation weitergetragen wurden. Seht ihr das Haus dort oben?«, fragte sie und deutete auf die andere Seite des Grabungsfeldes. »Da wohnt sie zusammen mit ihrer Mutter. Der Olivenhain, der den gesamten Berghang bedeckt, und das Land dahinter – all dies ist seit Generationen im Besitz ihrer Familie. Die Universität hat die Häuser am Fuß des Hügels gemietet. Dort sind unsere Leute untergebracht.«

Ein Windstoß fuhr durch die ehrwürdigen Bäume und schüttelte die knorrigen Äste. »Das ist eine Warnung – ganz sicher«, raunte Remi mit todernster Miene, als einige lose Laubblätter durch die Luft segelten und zu Boden sanken.

»Das will ich doch nicht hoffen«, erwiderte ihre Studienfreundin. »Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist, mich mit den Auswirkungen eines jahrhundertealten Fluchs herumzuschlagen. Weiß der Himmel, diese Geschichte hat während der vergangenen Monate schon ge­­nug Probleme verursacht.«

»Welche Probleme denn?«

»Bei unserer Suche nach Helfern. Irgendwie muss das Gerücht von dem Fluch die Runde gemacht haben, und schon mussten wir erleben, dass niemand mehr bereit war, auch nur einen Fuß auf unsere Ausgrabungsstätte zu setzen.« Sie entfernte die Sperrkette und drückte das Tor auf. »Aber zum Glück sind unsere Studenten nicht abergläubisch. Sie waren wirklich fleißig und haben die Zeit aufgeholt, die wir bei unserer vergeblichen Suche nach Arbeitskräften verloren hatten.«

»Mal abgesehen von dem Fluch, was in Amals Geschichte hat euch überhaupt auf die Idee gebracht hierherzukommen?«

»Ihr Foto von einem Kohlenbrenner – oder, genauer gesagt, von dem Deckel eines solchen Gefäßes, der auf dem Kaminsims im Haus ihrer Mutter lag. Laut Amals Schilderung fand ihre Großmutter ihn, als sie noch ein junges Mädchen war, gar nicht weit von der Stelle entfernt, an der wir zurzeit graben.« Sie reichte Remi einen Schutzhelm. »Die Grabungsstätte ist zwar mit Verstrebungen und Stützen gesichert, aber es besteht immer die Gefahr, dass Mauerwerk oder Gipsverzierungen von der Decke herabfallen.«

Remi verstaute ihre Sonnenbrille in der Brusttasche ihrer Leinenbluse, dann setzte sie den Schutzhelm auf. Sie folgte Renee auf eine aus Holzbohlen gezimmerte Plattform, die eine Öffnung einrahmte, von der eine Aluminiumleiter in die Tiefe führte. Neben der Leiter lag ein Seil, an dem ein Zinkeimer befestigt war. »Wie tief geht es hin­unter?«, fragte Remi, während sie in den Schacht blickte.

»Sechs bis sieben Meter.« Renee betrat die Leiter als Erste und kletterte an einem Gewirr von Plattformen, Gerüsten und Flaschenzügen vorbei abwärts. »Du wirst staunen, wenn du das Bodenmosaik siehst.«

Die Temperatur sank spürbar, während sie abstiegen, und es dauerte einige Zeit, bis sich Remis Augen auf die gedämpfte Beleuchtung in den unterirdischen Räumen ein­­gestellt hatten. Schließlich konnte sie aber auch die staubigen Wände aus dünnen, breiten Ziegeln erkennen, die für Bauten des Römischen Reichs im zweiten Jahrhundert so typisch waren. An einem Ende der Kammer, die sich vor ihnen erstreckte, befand sich ein hoher gewölbter Durchgang, hinter dem sich geborstenes Mauerwerk auftürmte, wo stellenweise die Decke eingebrochen war. Am Geländer der ersten Plattform hatte man eine Arbeitslampe befestigt. Ihr dickes orangefarbenes Stromkabel schlängelte sich bis dicht über dem Schuttberg an der Schachtwand hinab. »Das sind die Spuren des Erdbebens.« Renee schaltete den Scheinwerfer ein und richtete ihn auf einen Bereich, der mit gelb-schwarzem Plastikband abgetrennt war, das sich zwischen dem Stützgerüst und einem Sägebock spannte. »Wir können uns glücklich schätzen, dass noch so viel von der Bausubstanz erhalten ist.«

Dann schaltete sie die Lampe wieder aus, und die beiden Frauen gelangten an das Ende der Leiter. Dort schraubte Renee ihre Feldflasche auf und schüttete auf einen Teil des Mosaiks Wasser. Als die Flüssigkeit die Gesteinsreste auf dem Boden der Kammer wegspülte, schimmerte das Mosaik, das zum Teil aus Halbedelsteinen bestand, durch und gewann an erstaunlicher Tiefe. Es zeigte einen Tempel, auf dessen unterer Treppenstufe eine männliche Gestalt lag. »Ist das nicht phantastisch?«

»Wunderschön.«

»Der Mann, der auf der Tempeltreppe liegt und ins Wasser hinabblickt, müsste Narcissus sein. Echo ist hinter dem Baum auf der anderen Seite des Tempels zu sehen. Sie ist wunderbar getroffen.« Renee versuchte, den Rest Wasser ihrer Flasche auf dem Boden zu verteilen. Es trocknete sehr schnell. »Leider ist es nicht allzu deutlich zu erkennen. Man braucht eine ganze Menge Wasser, um sich einen vollständigen Eindruck zu verschaffen. Ich sollte den Eimer oben füllen und herunterholen.«

»Ich begleite dich«, sagte Remi.

»Bis zum Wassertank ist es nicht sehr weit. Lass dir Zeit und schau dich gründlich um. Aber bleib auf jeden Fall auf dieser Seite der Absperrung.«

Renee stieg die Leiter durch das Labyrinth von Gerüstbalken und Plattformen hinauf, dann erreichte sie die Erdoberfläche und verschwand durch die Schachtöffnung.

Remi suchte sich einen Weg zwischen den Verstrebungen des Gerüsts, das den größten Teil des Vorraums ausfüllte, betrachtete die kunstvollen Mosaikmuster und versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen sein muss, Jahrhunderte zuvor in dieser Region zu wohnen. Einige Teile des Mosaiks hatten sich entlang einer Spalte gelockert, die unter den Trümmern bis zum anderen Ende des Raums verlief. Sie bückte sich, um mehr Einzelheiten zu erkennen, als ein weiterer Windstoß in die Kammer drang und bewirkte, dass Gerüst und Plattformen erzitterten und knarrten, als wären es die Planken im Laderaum eines altertümlichen Segelschiffs. Der aufgewirbelte Staub zwang sie, die Augen zu schließen und abzuwarten, bis sich alles beruhigt hatte. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mosaik zu, bewunderte die Sorgfalt, mit der es geschaffen worden war, und fragte sich, wie lange es wohl gedauert hatte, jedes der winzigen farbigen Steinchen genau in seiner vorgesehenen Position zu platzieren.

»Bist du noch da unten?«

Remi schaute hoch und entdeckte die Silhouette ihrer Freundin am Rand der Öffnung der oberen Plattform. »Ich konnte mich nicht losreißen.«

»Du solltest lieber ein Stück zur Seite aus dem Schacht herausgehen, falls der Eimer schaukelt und Wasser herausschwappt und dich trifft. Die Anlage ist ziemlich primitiv, aber ich versuche, den Eimer so weit zu steuern, dass er nicht auf dem Mosaik landet, wenn er unten ankommt.« Sie hängte den Eimer an einen Haken, und das Seil lief knarrend durch die Rolle, als sie die Kurbel drehte. Der Eimer hatte nur wenige Meter zurückgelegt, als ein lautes Knacken ertönte und sie erschrocken innehalten ließ.

»Was war das?«, fragte Remi. Wassertropfen trafen sie, als der Eimer über ihrem Kopf hin- und herschwang.

Es dauerte einen Moment, ehe Renee antwortete. »Ich glaube, es war die Seilrolle.«

»Was immer es gewesen sein mag, gut war es sicher nicht. Vielleicht sollten wir auf das Wasser verzichten.«

Renee, die das Seil festhielt, an dem der Eimer hing, nickte. Aber als sie versuchte, es wieder auf die Rolle zu bugsieren, erklang ein weiteres Knacken, und der mit Wasser gefüllte Eimer rauschte abwärts. Um ihn aufzuhalten, stellte sie einen Fuß auf die Seilschlingen auf der Plattform. Eine Schlinge rutschte unter dem Fuß hervor, wickelte sich um ihr Bein und riss sie über den Rand der Plattform. Plötzlich war sie es, die in die Tiefe stürzte, während der Eimer mit dem gleichen Tempo in die Höhe schoss. Remi wappnete sich, den Sturz ihrer Freundin zu stoppen. Aber das Seil straffte sich, und die Archäologin kam mit einem heftigen Ruck zum Stillstand und schwang über Remis Kopf hin und her, zu weit entfernt, um sie mit den Händen zu erreichen.

»Bist du okay?«

»Heilige …«

Erst als sich Renee um die eigene Achse zu drehen begann, erkannte Remi, dass nur das Seil, das sich um ihr Bein geschlungen hatte, sie vor dem Absturz bewahrte. »Halt dich am Gerüst fest!«, rief Remi.

Renee streckte eine Hand aus, bekam eine der röhrenförmigen Verstrebungen zu fassen und bremste ihre Pendelbewegung. Mehrere Sekunden verstrichen, ehe sie einen Laut von sich gab, der wie ein verhaltenes Kichern klang. »Erinnerst du dich noch an die Party in unserem ersten Studienjahr? Im Moment fühle ich mich genauso wie damals, als ich einen Mordskater hatte.«

»Du wirst dich noch viel schlimmer fühlen, wenn du von dort oben runterfällst.« Remi angelte ihr Smartphone aus der Tasche, um Sam anzurufen. Keine Verbindung.

»Was meinst du, ist diese Verlängerungsschnur stark genug?«

Remi betrachtete prüfend das orangefarbene Kabel, das von dem Gerüst herunterhing. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Halt dich fest. Ich komme zu dir. Vielleicht kann ich dich auf die Plattform ziehen und das Seil kappen.« Aber als sie einen Fuß auf eine Leiterstufe setzte und ihr Gewicht darauf verlagerte, hörte sie ein Knirschen, während Sand und Geröll von oben auf sie herabprasselten.

Sie erstarrte zur Salzsäule. Nur ein weiterer Schritt, und sie brächte das gesamte Gerüst zum Einsturz.

KAPITEL FÜNF

Wenn das Glück nicht anklopft, dann bau ihm eine Tür.

– AFRIKANISCHESSPRICHWORT –

Als Sam das durchdringende Knirschen hörte, fuhr er herum. »Was war das?«

»Keine Ahnung«, sagte Hank.

Sam rannte den Berghang hinab, vorbei am Wassertank, von wo er bereits die Überreste einer Aussichtsplattform erkennen konnte, die über einer großen Schachtöffnung errichtet worden war. »Remi?«

»Hier unten«, rief sie. »Renee hat sich im Seil verheddert. Gleichzeitig hat die Plattform nachgegeben und hat Schlagseite bekommen.«

Er atmete erleichtert auf, als er die Stimme seiner Frau hörte. Als er die Plattform erreichte, prüfte er mit einem Fuß ihre Stabilität. Sie veränderte ihre Lage nicht, und er beugte sich vor, um einen Blick in den Schacht zu werfen. Mehrere Balken und Bretter in der Nähe des Eingangs waren geborsten. Ein zerbeulter Eimer hatte sich in einem Rollensystem verkeilt. Das dicke Seil verschwand in der Kammer am Fuß des Schachts. Was er nicht erwartet hatte, war der Anblick von Remis Freundin, die an diesem Seil hing, die Arme zwischen dem Seil und der Leiter ausgestreckt wie eine Trapezartistin.

»LaBelle!«, rief Hank und eilte zur Plattform.

Sam hielt ihn mit einer Handbewegung auf. »Stopp. Ich weiß nicht, welches Gewicht die Konstruktion trägt.«

Hank blieb am Rand stehen. »Ist sie okay?«

»Bis jetzt ja. Haben Sie vielleicht irgendein Seil?«

Hank nickte.

»Dann holen Sie es.«

Hank rannte zu seinem Wagen, öffnete eine Reisetasche im Kofferraum und kam mit einem aufgeschossenen Seil zurück. Er reichte es Sam und fragte: »Was kann ich tun?«

»Parken Sie Ihren Wagen so dicht wie möglich am Rand der Plattform«, antwortete Sam, während er das eine Ende des Seils zu einem Gurtgeschirr flocht.

Hank befolgte die Anweisung, dann kam er zu Sam zurück. »Können wir sie nicht einfach mit dem Seil auf der Rolle hochziehen?«

»So ist es sicherer«, sagte Sam und vergeudete keine Zeit, um zu erklären, welche Folgen sich aus Hanks Vorschlag ergeben konnten. Das Seil, das sich um ihr Bein gewickelt hatte, die Schäden am Gerüst, die nicht allzu viel Vertrauen erweckende Verankerung der Leiter – und ganz zu schweigen davon, was alles während des Rettungsversuchs den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen konnte – all das würde Remi nur in Gefahr bringen.

Er befestigte das Seil an dem Abschlepphaken unter der vorderen Stoßstange des Wagens, schlüpfte ins Gurtgeschirr und tastete sich bis zur Schachtöffnung vor. Der Querbalken über der Plattform mit dem Flaschenzug war zusammengebrochen. Zum Glück waren ein Tragebalken der Plattform und die Aluminiumleiter noch intakt. Beide schienen ausreichend stabil, um den Absturz des Eimers zu verhindern, der zwischen den Rollen eingeklemmt war, und Renee LaBelle gleichzeitig in der Schwebe zu halten. »Remi, halt dich zurück. Ich komme runter.«

Er trat über den Rand der Schachtöffnung und hangelte sich vorsichtig abwärts, bis er sich auf Renees Höhe befand. Ein dünner Blutfaden sickerte aus ihrem Haar über ihre Stirn. »Bist du verletzt?«

»Nein, wenn man meinen lädierten Stolz nicht mitzählt.«

»Schaffst du es, dich an meinen Schultern festzuhalten und dich an mich zu klammern, während wir hochgezogen werden?«

»Keine Frage.«

Sam ergriff ihr Handgelenk, während sie einen Arm um seinen Oberkörper schlang, und hielt es fest, ehe er seinen Griff am Gerüst löste. Er sah Remi unter sich, die sich an die Wand des Schachtes drückte und seine Rettungsaktion verfolgte.

Sie entspannte sich, sobald er und Renee die Schachtöffnung erreichten, und rief zu ihm hinauf: »Du denkst doch hoffentlich daran zurückzukommen, um mich hier rauszuholen.«

»Habe ich dich jemals im Stich gelassen?«

»Es gab mal eine Situation vor …«

Sam wartete, bis Hank seiner Chefin geholfen hatte, sich auf der Plattform in Sicherheit zu bringen, ehe er wieder zu seiner Frau hinuntersah. »Ich habe dich niemals ohne triftigen Grund zurückgelassen.«

»Ich bin sicher, dass du damals eine einleuchtende Erklärung hattest.«

Sam befreite sich aus dem Gurtgeschirr und ließ es zu seiner Frau hinab. Sie schlüpfte hinein, und er hievte sie hoch. »Kannst du mir verraten, welchen Grund ich damals genannt habe?«, fragte er, sobald sie wohlbehalten neben ihm stand.

»Meine Erinnerung ist ein wenig verschwommen.«

»Passenderweise, würde ich meinen.«

Sie gab ihm einen Kuss. »Warum sollen wir alte Geschichten aufwärmen?«

Arm in Arm gingen sie zum Wagen. Renee LaBelle saß auf dem Beifahrersitz und untersuchte ihr linkes Bein, das angeschwollen war. Ein Bluterguss zeichnete sich als dunkler Fleck auf der Haut ab. Sie lächelte Remi an. »Zwei Mal an einem Tag. Ich glaube, an dieser Geschichte mit dem Fluch ist doch was dran.«

Hank beugte sich besorgt zu ihr hinunter. »Sind Sie ganz sicher, dass wir Sie nicht ins Krankenhaus bringen sollen?«

»Mir geht es gut. Ich habe mir nur den Kopf an der Leiter gestoßen. Es blutet schon gar nicht mehr. Remi, sag ihm, dass ich okay bin.«

Remi nahm den Kopf ihrer Freundin näher in Augenschein. »Ich glaube, die Wunde sollte genäht werden. Wann bist du zum letzten Mal gegen Tetanus geimpft worden.«

»Ich habe keinen Schimmer. Und was ist mit dem Mittagessen? Wir wollten doch die Gelegenheit nutzen und die Buchhaltung durchgehen.«

»Die Bücher können warten«, sagte Remi.

»Das denke ich auch, Mrs. Fargo.« Hank sah Renee be­­sorgt an. »Sie gehören ins Krankenhaus, LaBelle. Erst wenn man Sie dort sachgerecht versorgt hat, können wir zur Tagesordnung übergehen und uns darüber unterhalten, was hier wirklich passiert ist.«

Hank fuhr mit Renee voraus, während Sam und Remi in ihrem Mietwagen folgten. Etwa eine Viertelstunde nachdem sie das Krankenhaus betreten hatten, kam eine junge dunkelhaarige Frau in die Lobby gestürmt, schaute sich suchend um und kam auf Renee zu. »Dr. LaBelle!«

Renee lächelte sie beruhigend an. »Amal, Sie hätten sich den weiten Weg sparen können.«

»Ich musste mich vergewissern, dass Ihnen nichts Ernstes zugestoßen ist«, erwiderte die Frau atemlos.

»Mir geht es gut. Wahrscheinlich hab ich mir nur den Knöchel verstaucht.«

»Oder angebrochen«, meinte Hank. »Aber das wissen wir erst, nachdem das Bein geröntgt wurde.«

Amal ergriff Renees Hand und ließ sie gleich wieder los, als sie Sam und Remi bemerkte. »Mr. und Mrs. Fargo. Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe. Ich bin Amal.«

»Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen«, sagte Remi. »Wir glaubten, Sie vorhin mit einigen Leuten bei einer Führung gesehen zu haben.«

Amal war sichtlich irritiert. »Nein. Das bin ich nicht gewesen.«

»Dann war es ein Irrtum«, sagte Remi. »Wie dem auch sei, wir sind jedenfalls froh, dass Sie sich bereit erklärt haben, uns in die Schule zu begleiten.«

»Das ist alles nicht nur aufregend, sondern geradezu überwältigend.« Sie wandte sich zu Sam um und lächelte ihn an, während sie ihm eine Hand entgegenstreckte. In dem Moment, als ihre Finger einander berührten, zuckte sie zurück, dann fasste sie sich plötzlich an den Hals und rang nach Luft, als könnte sie nicht mehr atmen.

KAPITEL SECHS

Ein Freund ist jemand, der alles von dir weiß und trotzdem dein Freund bleibt.

– AFRIKANISCHESSPRICHWORT –