Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein dunkles Geheimnis. Eine brutale Erpressung. Und ein Ex-Kommissar, der zwischen alle Fronten gerät. Sommer 1976: Vier Internatsschüler geraten in Panik und begehen ein folgenschweres Verbrechen, das nie aufgeklärt wird. Jahrzehnte später schlägt die Vergangenheit erbarmungslos zurück: Mikael Rantala, Unternehmer und einer der vier, wird von einem anonymen Erpresser ins Visier genommen. Zeitgleich wird sein Sohn Samu, ein weltbekannter Rockstar, bedroht. Der ehemalige LKA-Ermittler Marc Möller soll ihn schützen, doch der Auftrag eskaliert. Eine undurchsichtige Kette von Anschlägen, Einschüchterung und Gewalt reißt Möller tief in einen Fall hinein, der nicht nur alte Wunden aufreißt, sondern ihn in direkten Konflikt mit seinem früheren Chef beim LKA, Alexander Becker, bringt. Was als Bodyguard-Job beginnt, wird zu einem gnadenlosen Wettlauf gegen einen Gegner, der genau weiß, wie er seine Opfer brechen kann. Und der längst keinen Plan B mehr braucht. Ein hochspannender Thriller über Schuld, Macht und ein Verbrechen, das nicht vergessen wurde, sondern nur auf seinen Moment gewartet hat.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Nachdem er sich nach vierzig Jahren in der Werbung, in leitender Position in der Industrie und als Inhaber einer erfolgreichen Werbeagentur 2014 aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hatte, entdeckte Hans Bischoff seine Lust am Schreiben von Kriminalromanen und originellen Kurzgeschichten. Insgesamt sind mit diesem Krimi sieben Romane von ihm veröffentlicht. Geboren und aufgewachsen in Stuttgart, lebt Hans Bischoff heute als Autor, Fotograf und Filmer in Überlingen am Bodensee.
Leseproben, mehr zum Autor sowie weitere Titel von ihm gibt es auf der Autorenwebseite www.hans-bischoff.de
Lübeck, Juni 1976
Lübeck, Juni 1976
Lübeck, Juni 1976
Lübeck, Juni 1976
Rostock, 14. Juni 2016
Tampere, Finnland, 08. Juli 2016
Kemi, Finnland, 12. Juli 2016
Hamburg, 14. Juli 2016
München, 20. Juli 2016
Tampere, Finnland, 25. Juli 2016
Kemi, Finnland, 26. Juli 2016
Oulo, Finnland, 06. August 2016
Lübeck, 09. August 2016
Hamburg, 09. August 2016
Hamburg, 14. August 2016
Kemi, Finnland, 14. August 2016
Insel Rügen, 18. August 2016
Hamburg, 22. August 2016
Ingolstadt, 23. August 2016
Oulu, Finnland, 24. August 2016
Oulu, Finnland, 24. August 2016
Nürnberg, 27. August 2016
Kemi, Finnland, 24. August 2016
Kemi, Finnland, 27. August 2016
Helsinki, Finnland, 29. August 2016
Tampere, Finnland, 30. August 2016
Oulu, Finnland, 31. August 2016
Kemi, Finnland, 01. September 2016
Tampere, Finnland, 02. September 2016
Rostock, 02. September 2016
Meersburg/Bodensee, 06. September 2016
Kemi, Finnland, 06. September 2016
Kemi, Finnland, 07. September 2016
Nahe Oulu, Finnland, 08. September 2016
Nahe Tampere, Finnland, 09. September 2016
Oulu, Finnland, 16. September 2016
Hamburg, 23. September 2016
Nachwort und Dank
Er zitterte. Der mühsam gedrehte Joint entglitt seiner Hand als er über den Körper stolperte. »Voi paskaa – oh, Scheiße«, stammelte er und stierte mit weit aufgerissenen Augen den Toten an. Bergmann, Walter Bergmann, sein Klassenlehrer. Was tut der hier und warum steckt dieser Grillspieß in seiner Brust? Wobei eigenartigerweise nur wenig Blut zu sehen war. Mikael Rantala, kurz vor dem Abitur stehender finnischer Internatsschüler begriff nichts und starrte reglos auf dieses verhasste Arschloch, das jetzt als Leiche im Gras vor ihm lag. Im selben Moment kam der Schock, die Panik. Er sprang hektisch zwei Schritte zurück, stolperte über eine vom Boden abstehende Wurzel und knallte mit dem Rücken auf den steinigen Pfad, der durch das kleine Wäldchen zu diesem inoffiziellen Grillplatz hier führte.
»Der ist tot«, murmelte er leise wimmernd vor sich hin. »Tot! Wahnsinn!«
Ein leises Rascheln wenige Meter hinter ihm schreckte ihn auf, ließ ihn hochfahren und wieder in die Realität zurückkehren. Sein Blick irrte suchend zwischen den kleinen Tannen, die den Platz umgaben umher, aber da war nichts. Rantala machte zögernd einen Schritt auf den Leichnam zu. Der Mann war tot, das war offensichtlich zu erkennen. Selbst für einen 19-jährigen Gymnasiasten mit wenig Ahnung in Biologie. Mikael Rantala war alles andere als ein Musterschüler, aber er war clever. Ihm wurde urplötzlich bewusst, was dieser Tote und der mögliche Mord für ihn und die Clique bedeuten könnte. Sie hatten Bergmann gemobbt und mit den falschen Verdächtigungen ihrer letzten Aktion unter Druck gesetzt und in eine ganz üble, existenziell gefährliche Situation gebracht.
»Jetzt ist er tot und die verdächtigen sofort uns«, war ihm klar. Wer hatte den Typ umgebracht? Einer von ihnen? Er betrachtete grübelnd den toten Lehrer. Er musste mit der Clique reden. Was würde dieser Verdacht für ihr Abi bedeuten? Da dürfte doch jetzt, so kurz vor dem Abitur nichts passieren, sonst wären sie draußen. Scheiße, wir wären geliefert, dachte er. Rantala schaute noch einmal in die Runde, klaubte seinen Joint vom Boden auf und verließ auf dem selben Weg, auf dem er gekommen war, den Tatort. Die Stelle war so abgelegen, hier verirrten sich höchstens einmal ein paar Schüler zum Kiffen oder um an den Mädels rum zu schrauben. Die meisten waren jetzt jedoch im Nachmittagsunterricht, nur er hatte sich wegen einer Erkältung entschuldigt. Zehn Minuten später war er in seinem Zimmer zurück, er hatte es ungesehen geschafft. Rantala ließ sich auf sein Bett fallen und wartete auf die Clique. Nicht einmal die Bettdecke, die er sich um die Schultern legte, konnte die Schüttelfrostattacke, die ihn durchzog verhindern.
Der Junge war Rantala unbemerkt gefolgt, seit dieser durch die schmale, von Efeu umrankte Pforte in der alten Parkmauer geschlüpft war. Er wusste, wie man sich unsichtbar machte. Sie ließen ihn nicht in die Clique rein, »Assi« nannten sie ihn nur. Für die Clique war er so etwas wie der Fußabtreter. Je heftiger sie ihn mobbten, desto mehr wurde er zu ihrem Schatten. Die vier waren so auf sich selbst fixiert, wenn sie sich zum Kiffen trafen, dass sie ihn nie entdeckten. Der Rest der Mitschüler ließ ihn in Ruhe, inzwischen hatte sich jedoch der Spitzname in der ganzen Abiturklasse durchgesetzt.
Das Zimmer teilte er sich mit einem Jungen aus Frankfurt, Jürgen, sie gingen sich weitgehend aus dem Weg. Für ihn war das ok. Er wusste, dass es für ihn ohnehin nichts mit dem Abitur werden würde. Sein Vater war pleite, seit fünf Monaten hatte er das Schulgeld nicht mehr überwiesen und die Verwaltung des Internats war nicht mehr bereit mitzuspielen. Für ihn war Schluss, zwei Monate vor dem Abitur. Heute war Dienstag, am Freitag würde ihn sein Vater abholen. Dessen Versuche, das Schulgeld noch aufzutreiben, waren erfolglos geblieben.
»Frage bitte bei Mikaels Vater nach, der ist Millionär«, hatte der Junge den Vater gebeten. Der alte Rantala, schwerreicher finnischer Unternehmer in der Stahlbaubranche ließ durch seine Sekretärin mitteilen, dass der Junge besser einen ordentlichen Beruf lernen solle. »Nicht jeder braucht Abitur und Studium!«
Der Junge selbst hatte Mikael angebettelt. »Kannst du nicht mit deinem Vater reden? Bitte Mika!«
Umsonst. »Mein Alter ist doch keine Bank, Assi!«, war die Antwort. »Such dir einen Job!« Dann drehte sich Mikael Rantala grinsend um. »Assi!«
Er folgte im Abstand von etwa fünfzig Metern seinem finnischen Mitschüler durch den Wald zwischen den niedrigen Tannenbäumen durch. Wenn der weiterläuft wird er den Toten finden, durchzuckte es ihn. Er blieb kurz unschlüssig stehen, Mikael verschwand aus seinem Blickfeld, Sekunden später folgte er ihm jedoch wieder.
So was Ähnliches wie ›Voipasa‹ stieß der Verfolgte plötzlich hervor. Der Junge konnte beobachten, wie er auf den Leichnam starrte. Er hielt den Atem an. Was würde jetzt passieren? Mikael zuckte zurück, stürzte auf den Weg, war jedoch sofort wieder oben. Der Junge trat kurz auf einen trockenen Ast, Mikael fuhr herum, entdeckte ihn jedoch nicht. Ein, zwei Minuten blieb Mikael noch vor Bergmanns Leiche stehen, dann wandte er sich um und rannte den Weg durchs Wäldchen zurück.
»Warum reagiert der so panisch?«, grübelte Assi. »Hat der Angst?« Im selben Moment verstand er, die Clique musste Angst haben wegen der Sache in den letzten Tagen. »Klar, die wären verdächtig, das läuft großartig!«, murmelte er und kauerte noch kurz in seinem Versteck. Er würde heute Abend auf dem Posten sein, wie so oft, wenn er die Clique unbemerkt beim Kiffen beobachtete. Vorsichtig stand er auf und betrachtete von seinem Standort aus, vielleicht zehn Meter entfernt, den toten Lehrer. Bergmann war streng, aber ok. Er hatte nie Probleme mit ihm gehabt. Bis vor drei Tagen. Da hatte er sie gesehen, Arm in Arm mit Bergmann, den sie küsste. Er war geschockt. Seine heimliche Liebe, nur für die es sich zu leben lohnte. Er würde es ihr nie sagen können. Frau von Ronnstädt. Seine Französischlehrerin. Frieda. Sie gehörte ihm. Nur ihm, nicht Bergmann.
»Du hast es verdient!«, flüsterte er triumphierend in Richtung des Toten. »Und der Clique kann man es vielleicht anhängen.« Er drehte sich um und schlich unbemerkt in sein Zimmer zurück. Dort schlug er den Einband seines Französischbuches zurück, zog das kleine Foto heraus und küsste es. Frieda. Er hatte sie heimlich beim letzten Schulfest fotografiert. Er legte das Bildchen auf die Bettdecke, öffnete die Hose und holte sich einen runter.
»Jetzt gehörst du wieder zu mir«, stöhnte er.
»Hey Alter, was hängst du hier so belämmert rum?«
Alex knallte die Tür hinter sich zu und warf mehrere Bücher auf sein Bett. Alexander Becker war Mikael Rantalas Zimmergenosse und schlug sich so recht und schlecht durch den Lehrplan der Oberstufe im stockkonservativen ›Privaten Internatsgymnasium Schloss Schönberg‹, nahe Lübeck gelegen. Dem in knapp zwei Monaten fälligen Abitur sah er dennoch einigermaßen gelassen entgegen. Alex, wie ihn alle nannten, hatte für die drei Jahre im Internat ein Stipendium bekommen. Aus welchen Gründen war ihm bis heute nie klar geworden. Sein Vater war ein hohes Tier bei der Hamburger Polizei, aber das konnte nicht der Grund dafür gewesen sein. Mit den Worten »vielleicht bin ich eben doch ein Genie«, hatte er das Stipendium gegenüber der Clique begründet.
Alex war der Jüngste der Clique, im Dezember achtzehn geworden. Als sie alle im April 1973, vor genau drei Jahren, hier im Internat angekommen waren, hatten sich Mikael und Alex inmitten der rund 320 Mitschülerinnen und Mitschüler sofort als Kumpels gefunden. Der Millionärssohn und das »Bullenkind«. Zu den beiden stießen schon nach kurzer Zeit Simon Franke, ebenfalls aufgrund eines Stipendiums, und Maren Sommer.
»Eine geile Tussi«, meinte Mikael damals sofort.
Maren, einzige Tochter eines Hoteliersehepaars, war der Typ »Lolita«, der vor allem auf ältere Männer recht scharf wirkte. Sie war sich dessen wohl bewusst. Für die drei Jungs war sie der Kumpel. Von Anfang an war klar, wir drei lassen die Finger von ihr, auch wenn’s schwerfällt. Nur Simon, dessen familiärer Hintergrund etwas schwammig war – es gab nur einen Vater, der ihn nie besuchte – hatte es beim Start der Clique mal kurz versucht, allerdings gab es dafür von Maren eine Ohrfeige und von den beiden anderen Jungs Dresche. Ab dann funktionierte die Clique als in sich geschlossene Gemeinschaft, die sich zunehmend dem »Establishment der Diktatur dieser alten konservativen Kaderschmiede« entgegen stemmte, wie sich Maren auszudrücken pflegte.
»Die einfach immer wieder Scheiße baut«, nannte es Simon ganz einfach.
Rein schulisch betrachtet waren Maren und Simon den beiden anderen zwar etwas voraus. So kurz vor dem Abitur hatten jedoch alle vier unterschiedlich große Wissensdefizite. Was die schwierige Situation nicht einfacher machte. Erstens galten sie alle vier als problematisch. Immer mal wieder Alkohol, der Verdacht auf Drogenkonsum und ihre dauernde Aufsässigkeit machten ihre Einschätzung bei der Lehrerschaft nicht besser. Dazu wurden sie bei vergangenen Klausuren öfter bei Betrugsversuchen erwischt. Vor allem ihr beinharter Klassenlehrer Walter Bergmann hatte sie kritisch im Blick und drohte offen damit, sie im Abi beim kleinsten Versuch raus zu werfen und durchfallen zu lassen.
»Die nächsten Wochen ohne das kleinste Problem sind eure einzige Chance, diese Schule erfolgreich abzuschließen!«, hatte er unmissverständlich klargemacht, als er die Clique vor drei Tagen zu sich gerufen hatte. »Ich spiele bei euren Eskapaden nicht mehr mit und lasse mir von euch nicht meinen guten Ruf ruinieren! Leider konnte ich euren Schulausschluss nicht durchsetzen. Ihr habt Glück gehabt, dass die Schulleitung noch einmal Gnade vor Recht hat walten lassen! Nur noch eine einzige Schweinerei und ich werde Anzeige bei der Polizei erstatten! Ohne weitere Warnung! Ihr seid zu weit gegangen. Habt ihr das kapiert? Und jetzt raus!«
»Wir haben überzogen. Ich hatte gleich vor dem Scheiß gewarnt!« Simon Franke brachte es auf den Punkt, als die vier nach Bergmanns Predigt an ihrem Lieblingsplatz im Park saßen und einen Joint rundum laufen ließen.
»Hinterher spielst du jetzt den Schlaumeier. Aber du steckst genauso drin wie wir, also halte die Klappe, und gib die Kippe her!« Alex zeigte Franke den Mittelfinger. Wobei auch er inzwischen zu der Einsicht gekommen war, dass es vor zwei Wochen eine blöde Idee gewesen war, Maren auf den Alten anzusetzen.
Es war Mikaels Geistesblitz gewesen. »Mach doch mal den Bergmann an, der steht sicher auch auf junge Weiber wie dich. Und dann packen wir ihn bei den Eiern, dann fliegt er raus und wir haben das Arschloch los!« Er blickte Beifall heischend in die Runde.
»Du spinnst, das funktioniert doch nicht. Wenn’s rauskommt …«
Alex unterbrach Simon sofort.«Was soll denn da rauskommen? Der wird ganz schön die Klappe halten.«
Sie diskutierten damals noch eine ganze Weile, wie die Sache laufen sollte, bis Maren aufstand und provozierend mit den Händen über ihre Brüste hoch fuhr. »Meint ihr nicht, dass ich den scharf machen kann?«
Damit war der Plan durch und Maren machte sich auf, zu Bergmanns Lieblingsschülerin zu werden. Sie versuchte, ihn nach der Stunde alleine anzusprechen, knöpfte ihre Bluse weiter auf als sonst, Bergmann reagierte nicht.
»Ist der Kerl schwul oder was?«, fragte sie nach mehreren vergeblichen Annäherungen. »Jetzt besuche ich ihn zuhause.«
Am selben Abend klingelte sie, in der Hand eine Flasche Rotwein, an Bergmanns Wohnung. Er bewohnte, ebenso wie drei andere Lehrer, eine kleine Zweizimmerwohnung in einem der Nebengebäude des Internats.
»Maren, was soll das?« Bergmann starrte sie an.
»Guten Abend Herr Bergmann«, Maren schmachtete ihn lasziv an. »Ich dachte, Sie sind immer so alleine und ich möchte Ihnen ein wenig«, sie zögerte kurz, »etwas besonders nette Gesellschaft leisten. Darf ich reinkommen?« Sie strich dem Lehrer leicht über den Arm.
Bergmann brauchte ein paar Sekunden, um die Situation zu verdauen und wieder in den Griff zu bekommen. »Maren, du gehst jetzt sofort wieder in dein Zimmer zurück und ich habe nichts gesehen! Hast du mich verstanden?«
»Sind Sie doch nicht so, ich fühle mich zu Ihnen hinge…«
»Dreh auf der Stelle um, oder ich melde das Verhalten umgehend der Schulleitung. Ich schließe jetzt die Tür und du verlässt sofort den Vorraum hier!«
»Aber ich wollte doch …«
»Keine Diskussion, verschwinde!« Bergmann packte Maren am Arm und schob sie von der Tür weg. »Es reicht jetzt, und wir sprechen uns noch!«
»Fick dich, Blödmann«, zischte Maren bei ihrem Abgang.
Zwei Tage später begann sich ein Gerücht zu verbreiten. Bergmann hätte was mit einer Schülerin. Er würde öfter Mädchen anmachen und hätte dazu noch Verhältnisse mit Lehrerinnen. Bergmann wurde sehr schnell zur Schulleitung zitiert. Bei diesem Gespräch verlangte er von sich aus eine neutrale Untersuchung, um seinen Ruf wieder rein zu waschen. Die Kollegen verhielten sich abwartend, lediglich Frau von Ronnstädt, die Französischlehrerin unterstützte Bergmann aktiv.
»Da wird ein integrer, anständiger Mensch und Kollege durch üble Gerüchte schlecht gemacht!«, empörte sie sich in der Lehrerkonferenz. Zwei Tage später war Walter Bergmann durch eine offizielle Stellungnahme der Schulleitung voll rehabilitiert: »Das sind unhaltbare, böswillige Anschuldigungen einiger Schüler, die durch nichts belegt werden konnten. Jede weitere Verbreitung ähnlich lautender Gerüchte wird strafrechtlich verfolgt. Herr Walter Bergmann hat als Mensch und Lehrer unser vollstes Vertrauen. Den beschuldigten Schülern droht beim nächsten Verstoß der sofortige Ausschluss aus unserer Bildungsstätte.«
Vor allem für Mikael Rantala wäre ein Ausschluss zur absoluten Katastrophe geworden, Enterbung wäre die Folge gewesen. Er entstammte einer schwerreichen finnischen Unternehmerfamilie und hatte knallharten Druck durch seinen Vater. Er musste das Abi unbedingt bestehen. »Schließlich habe ich dich deswegen auf dieses stinkteure Internat geschickt, dass sogar du es packst«, hatte ihm der alte Rantala in seiner typisch geradlinigen Art auf den Weg gegeben. Aber auch für die anderen drei, Alexander, Maren und Simon, wäre es ein großes Problem geworden, beim Abitur durchzufallen. Alle vier wussten, »wir stehen unter Beobachtung, es darf nichts mehr passieren bis zum Abi.«
Alex schaute unschlüssig auf seinen Freund. »Bist du wirklich krank oder was ist los? Hängst hier rum?«
Mikael starrte zurück. »Ich … ich habe …«
»Hey, hast du deine Tage?«, feixte Alex und drehte sich zu seinem Kleiderschrank um. »Ich geh noch mal raus«, sagte er und griff nach einem Pulli.
»Der Bergmann ist tot!«
»Hä?« Alex fuhr herum. »Was?«
»Bergmann ist tot, umgebracht. Ich habe ihn gefunden, ein Grillspieß steckt in ihm.« Mikael richtete sich dabei im Bett auf. »Er liegt im Wäldchen.«
»Hast du sie noch alle? Was redest du für einen Quatsch? Bergmann tot? Ermordet?«
»Ich sag’s dir doch. Mann, ich war völlig fertig, als ich fast über die Leiche gestolpert bin. Ich wollte mir nur eine reinziehen, und dann lag der da.«
Alexander Becker schaute fassungslos auf Mikael. »Wer hat den umgebr…?«
Rantala starrte an die Decke und zuckte mit den Schultern. »Keinen Schimmer. Und schrei nicht so laut!« Plötzlich wandte er sich Alex zu. »Vielleicht war es einer von euch?«
»Hast du den Arsch offen? Du hast ja einen Knall!«, keifte Alex zurück.
»Soll es jeder mitkriegen da draußen? Dann schrei ruhig weiter!« Mikael sprang auf und kam auf Alex zu. »Egal, wer es war. Wir müssen etwas unternehmen! Die kommen doch gleich auf uns nach der Sache. Und dann rauschen wir hier alle ab, fliegen raus und landen sogar im Knast! Geht das vielleicht in deine Birne rein?«
Alex setzte sich auf die Bettkante und schüttelte den Kopf. »Du spinnst doch! Die können uns das doch nicht anhängen. Die Kripo wird das schon machen.«
»Ja, ja, nur weil dein Alter Bulle ist. Scheißegal was da rauskommt, zuerst mal haben sie uns auch in Verdacht und dann sind wir fällig. Denk einfach mal nach!« Mikael trommelte mit den Fingern auf ein herumliegendes Buch. »Wir müssen gleich die anderen einweihen und hoffen, dass inzwischen keiner die Leiche findet.« Mikael ging zur Tür. »Ich hole Maren und Simon. Wir treffen uns gleich am Platz!«
Alex nickte nur.
Zehn Minuten später war die Clique an ihrem Platz im Park versammelt. Mikael, Alex, Maren und Simon. Mikael hatte unterwegs die beiden Freunde informiert, die auf die Nachricht und seine Befürchtungen völlig geschockt waren und regelrecht panisch reagierten.
»Ihr glaubt doch wohl nicht, dass es einer von uns war?«, fragte Maren zitternd.
Simon breitete nur die Hände aus, sagte nichts. Alex stierte vor sich hin und zog nervös an seiner Kippe. Mikael reagierte als erster.
»Wir müssen Bergmann verschwinden lassen. Unsere einzige Chance!«
Die anderen drei schauten ihn verständnislos an.
»Was glotzt ihr so blöd? Die schnappen sich uns, dann fliegen wir. Und ich kann Stahl kochen in Vaters Firma. Ich werde um mein Erbe gebracht, das hat mein Alter unmissverständlich festgelegt.« Er schaute auf die Runde. »Millionär oder Arschloch, das habe ich nicht vor! Wenn ihr nicht kapiert, dass ihr genauso am Arsch seid, dann mache ich das halt alleine. Der Typ muss weg!«
»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Simon kleinlaut. »Eine Scheißidee!«
»Mika hat zu viel Krimis gesehen«, meinte Maren. »Das geht doch gar nicht.«
»Jetzt hört mir mal alle gut zu. Ich bin hier der Älteste, und ich lasse den verschwinden, auf ewig!« Er zeigte hintereinander auf seine drei Gegenüber. »Und das läuft heute nacht, falls die Leiche dann noch da ist und nicht schon die ganze Gegend hier von Bullen wimmelt. Wer ist dabei?«
»Mika hat recht«, warf plötzlich Alex in die Runde ein. »Es muss sein. Die Bullen kommen sonst an uns überhaupt nicht vorbei. Wir haben ihn in die Scheiße geritten und ihn brutal bloßgestellt. Jetzt ist er tot. Da sind wir doch die ersten Verdächtigen.« Er holte tief Luft. »Es darf keinen toten Bergmann geben! Die Leiche muss endgültig verschwinden, wo keine Leiche, da keine Mordermittlung. Das weiß ich von meinem Alten. Dann ist Bergmann nur ganz einfach verschwunden. Weg! Dann sucht höchstens die Vermisstenstelle nach ihm. Er darf nur niemals gefunden werden, also schaltet mal alle euer Hirn ein!« Alex stand auf und deutete auf jedes einzelne Mitglied der Clique. »Am wichtigsten ist jedoch, dass jeder von uns hier die Schnauze hält! Wir wissen von gar nichts, wenn uns jemand fragen sollte. Keiner von uns hat Bergmann weggehen sehen. Wir konnten ihn zwar nie leiden und haben ihm das Leben schwer gemacht, das geben wir zu. Aber wir sind genauso ratlos, wie alle anderen. Wir haben nie mitgekriegt, dass er verschwinden will. Das Ganze ist völlig unverständlich. Wegen der Untersuchung kann es ja nicht gewesen sein, er wurde ja rein gewaschen. « Er hob den Arm. »Und das gilt für ewig! Für alle Zeiten! Capito?«
Mikael klopfte Alex auf die Schulter. »Du hast es begriffen! Und ihr zwei? Seid ihr dabei? Wir …«
»Euch bleibt doch gar nichts anderes übrig!«, unterbrach ihn Alex mit Blick auf Simon und das Mädchen. »Es ist auch völlig gleich, ob es einer…«, er deutete auf Maren, »… oder eine von uns war, für uns hat das keine Bedeutung. Bergmann muss weg! Das ist das Einzige, was zählt. Und jetzt, wohin mit ihm, und wann?«
»Die können uns doch keinen Toten anhängen. Aber wenn die uns bei diesem Scheiß erwischen, dann sind wir doch erst recht verdächtig?«, versuchte Maren zu bremsen. »Und ich habe ihn nicht umgebracht, falls du das andeuten wolltest.«
Simon verdrehte die Augen. »Die brauchen uns gar nichts anzuhängen. Allein der Verdacht würde doch schon reichen, uns näher in Augenschein zu nehmen. Mit blöden Fragen. Dann kann’s eng werden mit dem Abi! Mika hat recht. Auch wenn’s bescheuert klingt!« Er kicherte. »Wir dürfen uns eben nicht erwischen lassen. Ich schlage vor, wir treffen uns hier wieder um zehn? Da ist es stockdunkel. Du weißt doch genau, wo er liegt? Hast du eine Ahnung, wie und wohin mit dem Typ?« Er schaute auf Mikael. »Und ich bin dabei.«
Mikael schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung! Wir sollten das aber früher machen, auch wenn es noch nicht ganz dunkel ist. Sollte uns einer nach zehn erwischen, gäbe es Zoff. Und so um acht kommen wir noch unverdächtig raus, dämmrig ist es da auch schon.«
»Ok, das ist besser«, bestätigte Alex. »Hier um acht und passt bloß auf, dass euch keiner bemerkt oder folgt. Falls doch, dann lasst euch was einfallen. Und bewegt euch ganz normal!« Er wandte sich an Mikael. »Sollen wir zwei noch schauen, ob er überhaupt noch da ist? Vielleicht war er noch gar nicht tot?«
»Ich mache das alleine«, antwortete Mikael leise. »Alex, wir müssen uns was einfallen lassen!«
»Ich weiß.«
Nur wenige Minuten später, die Gruppe ließ noch einen Joint kreisen, trennten sich Maren und Simon von den beiden anderen und schlenderten zum Schulgebäude zurück, einem hässlichen Klassizismusbau aus dem 19. Jahrhundert. Mikael und Alex blieben noch kurz sitzen.
»Sag mal!«, Alex stieß seinen Kumpel von der Seite an. »Kannst du dir vorstellen, dass es doch einer von uns war? Vielleicht war da mit Maren und Bergmann doch mehr, als sie uns gesagt hat?«
»Hey, Mann! Kombiniere hier nicht rum, das ist Quatsch. Was sollte sie für einen Grund haben, jetzt plötzlich, nachdem alles vorbei ist, den Typen abzustechen? Genauso Simon. Er ist zwar schon ein komischer Vogel, aber er ist ok.«
Alexander kickte einen Stein weg. »Ich glaube es ja auch nicht.« Er grinste. »Vielleicht warst es ja du? Von wegen Leiche gefunden! Du bist der Grund für die Leiche! Du hattest Schiss wegen deines Alten.«
»Arschloch!« Mika sprang auf, riss Alex hoch und packte ihn am Hals. »Halte in Zukunft besser die Fresse, du Pfeife! Du könntest es genauso gewesen sein, also, Schluss mit dem Schwachsinn. Überleg dir lieber, wo wir den Alten loswerden können.«
»Ich glaube, ich weiß, wo.« Alex riss sich los und zog Mikael am Arm. »Komm!«
Kurz nach acht kamen sie. Der Junge war bereits kurz vor sieben auf seinen Beobachtungsposten geschlichen. Er hatte die Clique nicht so früh erwartet, was ihn nicht unbedingt überraschte. Jetzt konnten die noch legal und unverdächtig aus dem Haus, was für die Clique wichtig war, um einen möglichen, und dann endgültigen Verweis zu verhindern.
Die Vier liefen in Richtung ihres üblichen Treffpunkts, sahen sich verstohlen um und bogen dann plötzlich auf den Trampelpfad zum Wäldchen ab. Die suchen die Leiche, wurde dem Jungen klar. Er folgte in sicherem Abstand. Außer den Schritten der Verfolgten war nichts zu hören, Assi achtete auf jedes noch so kleine Ästchen, das auf dem Pfad liegen könnte. Die Gruppe vor ihm stoppte, sie hatten den Fundort des Toten erreicht. Maren stieß einen leisen Schreckenslaut hervor.
»Pst, sei ruhig!«, hörte er Mikael zischen. Dann kotzte Simon.
Der Junge lächelte schadenfreudig und bezog das Versteck, von dem aus er am Nachmittag Mikael beobachtet hatte. Dieser, Alex, Maren und Simon tuschelten miteinander, sie berieten, stellte er sich vor. Mikael zeigte dabei mehrfach auf Simon und Alex, beide nickten. Maren blickte unsicher von einem zum anderen. Was haben die vor, fragte sich der Junge. Wenige Sekunden später wurde seine Frage beantwortet. Mikael zog zwei transparente gelbe Regencapes aus seiner Umhängetasche und reichte sie an Simon und Alex weiter. Die billigen Dinger gab’s beim letzten Schulausflug, als sie am einzigen Regentag des vergangenen Juli unterwegs waren. Die beiden zogen die unförmigen Plastikhüllen über und schlüpften mit den Händen in dünne Latexhandschuhe, die er von den Putzfrauen kannte. »Kompliment«, dachte Assi, als die beiden gelben Gestalten jetzt den Toten vorsichtig anpackten und hochhoben. Die wollen keine Spuren an der Leiche hinterlassen.
Alex und Simon mussten sich ganz schön mühen, um den Toten einigermaßen in den Griff zu bekommen. Sofort danach setzte sich die kleine Kolonne in Bewegung. Mikael vorne draus, dann die beiden Leichenträger. Den Schluss machte Maren, die den Grillspieß trug und ständig nervös nach hinten schaute.
»Wo wollen die hin und was wird das alles?« Der Junge flüsterte sich selbst Mut zu. Die Gruppe war inzwischen aus seinem Blickfeld verschwunden, er musste wohl oder über folgen. Ständig den Blick vom Boden nach vorne und wieder zu Boden richten zu müssen, machte ihn langsam. Eine knappe Minute später sah er sie wieder. Die zwei Jungs taten sich erkennbar schwer mit Bergmann, er hing bis fast zum Erdboden zwischen ihnen durch. Sie mussten laufend stehen bleiben, um ihre Last wieder besser aufnehmen zu können. Mikael trieb sie an, er winkte nervös.
Das Wäldchen grenzte den Park des Internats gegen östlich davon gelegene Felder ab und ging auf der Nordseite in eine sumpfartige Wiesenlandschaft über, die nach gut drei Kilometern auf die vorbeiführende Kreisstraße stieß. Das Moor wurde nicht bewirtschaftet und war weitgehend unzugänglich. Dorthin wendete sich die Clique. Inzwischen war die Dämmerung dabei, in die Nacht überzugehen. Gleichzeitig erreichte Assi die letzten Bäume des Wäldchens, die ihm noch etwas Schutz bieten konnten. Seine Verfolgung war beendet. Er konnte nur noch vage erkennen, wie die kleine Gruppe in den Sumpfwiesen verschwand. Aber er hatte genug gesehen.
»Die trauen sich gegenseitig nicht und halten einen der ihren für den Mörder«, kam ihm in den Sinn. Oder sie sind nur vorsichtig. Als »Kollektiv« dachte er und musste fast lachen dabei. Ein solches Risiko in Kauf zu nehmen, um Bergmanns Leiche zu verstecken? Warum machen die das? Einen Mord zu vertuschen, den sie nicht begangen hatten?
Das wusste er ja schließlich.
Alex ließ sich völlig kaputt auf sein Bett fallen.
»Zieh wenigstens die dreckigen Schuhe aus, sonst gibt’s wieder Ärger!«, fuhr ihn Mika an.
»Sonst gibt’s wieder Ärger«, äffte ihn Alex nach. »Hast du die Klamotten richtig entsorgt? Und das Blut auf dem Weg verwi…«
»Logisch! Der Weg ist wieder lupenrein, ganz natürlich. Und das ganze Regenzeug ist beim Plastikmüll«. Er lachte kurz auf. »Und der wird morgen abgeholt. Gut, was?«
»Mann, Mann! War das ein Trip! Mir tut alles weh, dieser Typ war dermaßen schwer. Du hättest auch mal helfen können, aber der Herr ist ja …«
»Hey, du Memme, ich musste den Weg finden. Einer von euch muss ja denken. So, und ab jetzt halten wir alle miteinander die Klappe! Es ist erledigt, er hat sich heute irgendwo hin verpisst, keinen Schimmer, warum. Er ist einfach abgehauen. Wir sind raus!“
Alex bohrte in der Nase und musste niesen. »Meinst du wirklich, der bleibt unten?«
»Da sind die Steine drauf, und das Moorloch wächst gerade zu. Nach diesem Sommer ist der Tümpel verlandet. Da ist nichts mehr zu sehen und drüber laufen, kann auch keiner. Auch kein Hund, der ihn vielleicht schnuppern könnte.« Er zog die Nase hoch. »Der ideale Platz. Sicherer und endgültiger geht nicht!«
Alexander zuckte mit den Schultern. »Wenn du das sagst. Hoffentlich machen die beiden keinen Fehler. Simon ist, glaube ich, nicht das Problem. Der redet sowieso nur, wenn er gefragt wird. Aber Maren?«
Mikael schüttelte den Kopf. »Das ist die Cleverste von uns allen. Die weiß, was angesagt ist. Und nun machen wir alle vier einen auf ordentliche Schüler, lernen fürs Abi die letzten paar Wochen, und in zwei Monaten sind wir alle auf und davon.«
Alex schaute, als wäre er nicht ganz überzeugt. »Ich hoffe, du hast recht! Gute Nacht.« Er setzte sich noch einmal auf und schielte zu Mika. »Würde mich aber schon interessieren, wer ihn umgelegt hat. Vielleicht …?« Er gab ein Grunzen von sich. »Wird doch nicht die Ronnstädt gewesen sein? Die beiden haben in letzter Zeit verdächtig oft und eng die Köpfe zusammengesteckt. Das wäre …«
»Du spinnst doch, die hat nie und nimmer was mit dem Depp von Bergmann. Hör bloß auf!« Er lachte leise. »Ausgerechnet die Ronnstädt! Aber warum eigentlich nicht?«
»Kinoreif!«, bestätigte Alexander und gab ein hässliches Lachen von sich.
»Übrigens, schau mal raus!«, forderte Mika den Mitschüler auf. »Es pisst. Adieu Spuren!«
»Walter«, hatte sie ganz sanft gerufen, als Bergmann um die Ecke des historischen Pavillons gebogen war. Es wirkte fast noch etwas scheu, als sie ihn in die Arme nahm und auf die Wange küsste.
Bergmann schien unsicher zu sein. »Liebe Frieda, es ist schön, mit dir … Hast du niemanden gesehen?«
Frieda von Ronnstädt, seit sechs Jahren Lehrerin für Französisch und Geschichte hier im Internat Schloss Schönberg, schüttelte leicht den Kopf und lächelte Bergmann verliebt an. Aus ihren Augen strahlte pures Glück.
Der Junge hockte hinter einer immergrünen Lorbeerhecke und starrte auf die beiden Liebenden. Warum küsst sie ihn? Sie gehört doch zu mir! Er war völlig aufgewühlt, als er die beiden hier stehen sah. Ich lasse aus meiner Liebe keinen Hass werden, dachte er. Das lasse ich nicht zu, vorher … Er verdrängte den Gedanken. »Das wird schon wieder«, flüsterte er.
Von vielen Mitschülern gemobbt, hatte er sich schon seit mehreren Monaten, genau seit Oktober letzten Jahres, in Frieda von Ronnstädt verliebt. Er wusste, dass sie 35 geworden war, eine ruhige, zurückhaltende Frau. Immer freundlich zu Schülern und Kollegen. Sie kleidete sich fast immer in Hosenanzüge in dunklen Farbtönen. Fast etwas androgyn, was ihn anmachte. Ihrer beider Lieblingsbereiche in Geschichte waren die Römer. Frieda hatte ihn zweimal nachmittags eingeladen, sein Wissen über diese Epoche über den Unterricht hinaus zu vertiefen. Sie waren jeweils in der Mensa gesessen, er mit Flugzeugen im Bauch. Seitdem hatten sich seine Besitzansprüche immer mehr verfestigt. Und jetzt das.
»Gehen wir ein Stück?«, fragte Bergmann, »bevor noch jemand hier auftaucht.“
Sie hängte sich bei ihrem Begleiter ein und sie verließen den Pavillon. Der Junge folgte unbemerkt, er wusste sich unsichtbar zu machen. Einige Minuten verlor er die beiden aus den Augen, wusste jedoch, wohin Frau von Ronnstädt und Walter Bergmann wollten. Sie hatten den schmalen Weg durch das Törchen in Richtung des kleinen Waldes eingeschlagen, der an den Park grenzte. Dort konnte er sich wieder anschleichen. Dann hörte er sie. Das ist kein Glück, das ist Streit, erkannte er sofort.
»Es kann nicht weitergehen, wir müssen aufhören!«, hörte er Bergmann mit eindrücklichem Unterton sagen. Frau von Ronnstädt weinte leise.
»Es geht einfach nicht, denke doch auch an unsere Karrieren!«, meinte Bergmann und wollte dabei nach ihrer Hand greifen. Sie entzog sich ihm jedoch.
»Karriere! Aha. Das ist es also. Liebe vorspielen und dann sausen lassen, wenn’s ernst werden könnte!« Ihre Stimme zitterte. »Ich habe dir geglaubt, ich habe mir Gedanken über unser gemeinsames Leben gemacht, von dem du anfangs so geschwärmt hast.« Sie schluchzte. »Oder gibt es schon eine Neue?«
Bergmann reagierte kühl. »Nein, gibt es nicht. Aber Frieda, lass uns einfach realistisch sein, das Ganze war eine Schwärmerei, eine Liebelei, …«
»Das war es also für dich, eine Schwärmerei, nur eine Affäre!«, unterbrach sie ihn. »Das ist so entwürdigend. Du hast mich so getäuscht!« Frieda drehte Bergmann den Rücken zu und starrte in den dunklen Tannenwald. »Ich bin schwanger!«
Bergmann packte sie heftig am Ellenbogen und zog sie an sich ran. »Was redest du da?«
Sie wehrte sich und riss sich stolpernd los. »Ja, du hast richtig gehört, schwanger!“
Der Junge zitterte, schloss kurz die Augen und hielt sich die Ohren zu. Er wollte das nicht mehr hören. Das Schwein hatte sie geschwängert, seine Liebe. Er starrte auf die beiden. Bergmann stand mit verzerrtem Gesicht vor ihr.
»Das ist eine Lüge, das geht nicht! Nicht von mir! Ich bin gar nicht zeugungsfähig, das habe ich schon vor zehn Jahren erfahren, als sich meine Frau von mir getrennt hat.«
Von Ronnstädt wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. »Du lügst! Du willst es nur nicht wahrhaben. Lügner! Ich werde es allen sagen, hört her, ich bin von ihm schwanger und er will es nicht wissen.« Sie lief wenige Meter zur Seite zwischen die niedrigen Tannenbäume hinein, die sie für Assi verschluckten.
Bergmann hastete hinter her und entzog sich ebenfalls dem Blick des Jungen. Er konnte die beiden jetzt nur noch hören.
»Du gibst ein dermaßen erbärmliches Bild ab«, hörte er Bergmann herausstoßen. »Ich werde mich von dir trennen! Das ist nichts mit uns beiden. Du bist es nicht wert!« Kurze Pause. »Ich lasse mich von dir doch nicht erpressen! Zumal mit einer Schwangerschaft, die gar nicht sein kann. Wenn doch, dann hattest du gleichzeitig noch einen anderen. Das ist es. Die so besonders korrekte Frau Lehrerin treibt es mit mehreren. Würde sich doch gut anhören.«
Der Junge konnte hören, wie einer der beiden auf einen trockenen Ast trat und seine Lehrerin schluchzte. Er hasste Bergmann.
»Du bist ein solch niederträchtiges Schw…!«
Bergmann unterbrach sie. »Lass mich in Ruhe, verdammtes Weib!«
Der Junge glaubte zu träumen. »Meine geliebte Frieda ist wieder frei, wieder mein.« Er fühlte sich wie im siebten Himmel. »Das konnte nichts werden!«
Er versuchte, wieder etwas erkennen zu können, aber die jungen Tannen waren zu dicht.
»Verschwinde aus meinem Leben!« Das war erneut Bergmann, dann war es ruhig.
Nur Sekunden später wurde die Stille von einem Schrei Bergmanns zerrissen. Dann Stöhnen und Ronnstädts Schluchzen. Im selben Moment stürzte die Lehrerin, panisch um sich blickend, zwischen den Bäumen hervor, erreichte wieder den kleinen Pfad und rannte strauchelnd am Versteck des Jungen vorbei Richtung Internat. Ihm stockte der Atem. Was war da passiert? Als er sicher war, dass die Lehrerin genügend weit entfernt war, schob er sich aus seinem Versteck und schlich vorsichtig auf den Treffpunkt der beiden belauschten Personen zu. Bergmann lag verkrümmt auf dem unebenen Waldboden. Tot. Der Junge schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. »Sie hat ihn getö…« Er erstarrte mitten im Wort, es war unfassbar. Ein metallener schwarzer Spieß, wie von einem Grillplatz, steckte in seiner Brust. Er wollte soeben nach dem vermeintlichen Mordwerkzeug greifen, als der totgeglaubte Bergmann ein hohles Stöhnen von sich gab.
Der Junge erschrak und fuhr zusammen. »Oh Gott, was hat sie getan?« Sie durfte nie erfahren, was er hier miterlebte. Niemals! »Ich werde dich schützen! Bis zuletzt!« Er schwor sich selbst, niemals ein Wort über die vergangenen Minuten verlauten zu lassen.
In diesem Augenblick wusste er, was zu tun war.
Mikael hatte mal wieder verpennt und kam gerade aus dem Waschraum heraus, als Alex auf dem Flur vorbei lief. »Was ist los? Bin ich zu früh?« Er grinste verschlafen.
»Franz fällt aus, die Ronnstädt ist krank.«
»Super, bin eh noch nicht wach.« Er zog das Handtuch, das er sich umgeschlungen hatte und das dabei war, in die Kniekehlen zu rutschen, mit einer obszönen Bewegung wieder hoch und lachte. »Der wird doch nicht etwa die Muffe …«
Alex knallte ihm die flache Hand auf den nackten Rücken. »Halte bloß die Schnauze!«
Mikael gab einen Schrei von sich und winkte ab. »Ist ok!«
»Hey ihr beiden, wartet mal!«. Maren mit Simon im Schlepptau erreichte die zwei Jungs. »Die Ronnstädt. Was das wohl bedeutet?«
»Jetzt redest du auch noch so einen Scheiß. Haltet endlich die Klappe. Die gnädige Frau ist einfach krank. Hat ihre Tage. Oder ist die schon zu alt? Basta!«
Maren nickte ertappt, Simon grinste nur blöd.
»Willste nicht mitkommen? Ich hab’ noch nichts an!« Mikael rieb seinen Hintern an Maren und war wie üblich der Erste, der entstehende Spannungen in der Clique mit seinem Gequatsche auflöste.
»Verpiss dich! Vorher mache ich es mir lieber selber.«
Simon zog hörbar die Nase hoch. »Hör dir die Alte an!« Er boxte Maren leicht in die Seite. »Der ist doch sowieso schwul!«
»Du blöder Hund!« schrie Mikael und stürzte sich auf den schmächtigen Simon, Alex fuhr dazwischen und trennte die beiden.
»Zieh dich an! Wir könnten doch eine rauchen?«
»Ok, ich komme nach«, meinte Mika und trollte sich in sein Zimmer. Die anderen setzten sich in Richtung ihres Treffpunkts in Bewegung.
»Haben Sie nach Bergmann geschaut?«, rief Direktor Weizäcker durch die Tür zu seinem Büro im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes seiner langjährigen Sekretärin, Frau Müllerschön, zu. Stand dann aber auf und machte die drei Schritte in sein Vorzimmer, wo Frau Müllerschön kopfschüttelnd an ihrem Schreibtisch saß.
»Er ist nicht in seiner Wohnung, nicht in der Klasse – er hätte eigentlich Deutsch in der 7 B – und nicht im Lehrerzimmer. Ich habe überall rumgefragt, den Hausmeister und zwei Kollegen, die ich erwischt habe, nichts! Er ist definitiv nicht im Haus. Nirgends, wo er sein sollte. Ich kann mir keinen Reim darauf machen.«
Friedrich Weizäcker schüttelte den Kopf. »Er ist doch die Zuverlässigkeit in Person. Das ist mir schleierhaft. Bleiben Sie bitte dran!« Damit schloss er die Tür. Nur um sie wenige Sekunden später wieder aufzuziehen. »Der Hausmeister soll auch im Park nachschauen, nicht dass etwas passiert ist.«
»Ich veranlasse das gleich. Aber meinen Sie, ihm könnte etwas zugestoßen sein?«
Der Direktor hob nur die Schultern und zog sich endgültig in sein Büro zurück. Frau Müllerschön griff nach dem Telefon. »Ausgerechnet Bergmann! Der hat noch nie eine Stunde gefehlt, hoffentlich ist nichts passiert.«
»Was soll passiert sein?« Der junge Sportlehrer, sie konnte sich nie korrekt seinen Namen merken, Scwarkowsky oder so ähnlich, war eingetreten und stellte sich fragend vor ihren Schreibtisch.
»Ah, guten Morgen Herr Swarosky«, grüßte Frau Müllerschön freundlich. »Denken Sie nur, Herr Bergmann ist nicht zum Unterricht erschienen und auch sonst nirgends.«
»Sie unterschlagen immer das K in meinem Namen, liebe Frau Müllerschön. Nennen Sie mich doch einfach Schwarzi, das tun alle Schüler.« Er blickte sie erstaunt an. »Nirgends zu finden, sagen Sie? Ich habe ihn auch nicht gesehen heute früh, war allerdings schon früh draußen zum Laufen. Bergmann? Der ist doch das absolute Vorbild. Vielleicht hat er etwas in Lübeck zu erledigen?«
Die Sekretärin schüttelte energisch den Kopf. »Das würde er niemals tun. Ich mache mir Sorgen. Jetzt muss ich aber den Hausmeister anrufen, der soll im Park nachschauen.« Sie stöhnte. »Was für ein fürchterlicher Morgen! Und dazu ist auch noch Frau von Ronnstädt krank. Jetzt fällt heute Französisch, Geschichte und Deutsch aus. Mathe auch noch. Bin gespannt, was der Tag noch so bringt.«
»Dann störe ich Sie nicht weiter, mein Anliegen hat Zeit. Tschüss, Frau Müllerschön!«
»Vielen Dank, Herr …« Sie zögerte kurz, lächelte dann. »Herr Schwarzi!«
Nirgendwo entstehen Gerüchte schneller, als wenn viele Menschen zusammenkommen. Die Schülerinnen und Schüler hingen in der Aula, in der Mensa und auf dem Hof herum und steckten während der entstandenen Freistunden die Köpfe zusammen. Wobei selten etwas Gescheites dabei heraus kam. »Habt ihr gehört, der Bergmann ist weg?« »Der Bergmann fehlt, die suchen ihn.« »Die Ronnstädt ist auch krank.« »Ist da was?« Die Clique hatte sich rechtzeitig abgesondert, der Junge saß auf der Freitreppe in der Aula. Lass die ruhig spekulieren, dachte er. Lediglich Friedas Krankheit machte ihm etwas Sorgen. Wobei ihm schon einleuchtete, dass sie sich miserabel fühlen müsste, mit dem Gedanken, einen Menschen umgebracht zu haben. Den die Clique entsorgt hat, was für ein Glück für meine Frieda, dachte er. Und entschied sich, für immer zu schweigen. Dass er damit die einmalige Chance auslassen würde, diesen Arschlöchern eine rein zu würgen, machte ihn unglücklich. Aber das Wohl seiner großen Liebe war wichtiger.
»He, Assi, was grübelst du hier rum?«, unterbrach ihn sein Zimmergenosse, der an ihm vorbei die Treppe runter hüpfte. »Deutsch fällt aus, perfekt, ich habe meinen Aufsatz noch nicht fertig.«
»Ich weiß, ist mir egal. Lass mich in Ruhe!«
Zur gleichen Zeit zündete sich Simon die zweite Zigarette an. »Bin gespannt, wie die Geschichte weiterlaufen wird.«
»Was für eine Geschichte denn? Dass Herr Bergmann heute früh nicht aufzutreiben ist, wie es heißt? Was geht dich das an?«, fragte Alex provozierend.
»Ok, ok. Ist ja gut, ich meine ja nur.«
»Am besten, du hast in Zukunft überhaupt keine Meinung mehr!«, ergänzte Maren lachend. Mika klatschte Beifall, Alex zog die Augenbrauen hoch, schaute auf Simon und tippte sich an die Stirn.
»Leute, wir müssen was tun, wir haben nur noch wenig Zeit bis es losgeht.« Maren versuchte, die Situation zu glätten. »Ich bin am Wochenende in Lübeck, meine Mutter hat einen Nachhilfelehrer für Mathe gefunden. Der nimmt …«
»Dich ran!«, feixte Mika, die Kumpels brüllten vor Lachen.
Maren verdrehte die Augen. »Das ist wenigstens ein richtiger Kerl gegenüber euch Jungchens.«
»Hör dir die Zicke an. Reines Wunschdenken, endlich mal richtig durchge…«
»Weil da nichts dran ist!«, ätzte Maren und griff Simon blitzartig in den Schritt.
»Hey…!«
Mika und Alex bogen sich vor Lachen, Maren setzte ihren Schlafzimmerblick auf. »Wer weiß? Vielleicht machen wir auch Mathe!«
Mika schaute auf die Uhr. »Leute, Abmarsch, keine Pornos mehr. In fünf Minuten ist Physik. Und …« Er schaute jeden Einzelnen durchdringend an. »Wir haben von nichts eine Ahnung. Wie alle anderen. Uns interessiert nichts. Verstanden?«
»Jawoll Boss!«, meinte Alex, Maren und Simon nickten.
Um 19 Uhr ging bei der zuständigen Polizeidirektion in Lübeck die Vermisstenanzeige der Internatsdirektion ein. Direktor Weizäcker hatte es sich nicht nehmen lassen, selber bei der Vermisstenstelle vorstellig zu werden. Den ganzen Tag über war Frau Müllerschön damit beschäftigt gewesen, Kollegen, den Hausmeister und einzelne Schüler nach dem Verbleib Walter Bergmanns zu befragen. Nichts. Niemand hatte ihn gesehen. Er frühstückte, wie die meisten der alteingesessenen Lehrkräfte zuhause in seiner Wohnung. Kein Mensch hatte ihn vermisst. Er lebte ja auch sehr zurückgezogen. Lediglich mit Frau von Ronnstädt hatte sie ihn schon mal in der Mensa diskutieren sehen. Aber das war schon vor einigen Monaten. Einmal. Laut der Personalakte war er geschieden oder Witwer, das ging nicht genau daraus hervor. Er lebte wirklich alleine. Frau Müllerschön war mit ihm über Dienstliches hinaus nie groß ins Gespräch gekommen. Er war freundlich, korrekt, mehr nicht. Und jetzt ist er verschwunden, dachte sie sich, bevor sie zu ihrem Chef ging. »Herr Direktor, wir müssen etwas unternehmen. Der Mann kann nicht einfach verschwinden!«
Sie holten sich noch zwei ältere Lehrer dazu und diskutierten, was zu tun sei.
»Wir lassen ihn suchen. Ich gehe zur Polizei und stelle eine Vermisstenanzeige. Wir müssen wissen, was los ist.«
Die weiteren Teilnehmer stimmten zu.
20:15 Uhr. Seit fünfzehn Minuten saß der Direktor vor einem Beamten in Uniform. Er erläuterte die Situation sowie die erfolgten Suchmaßnahmen im Internat, legte die Personalakte vor und bat um Hilfe.
»Sie wissen sicherlich, dass laut Statistik der größte Teil aller Vermissten nach wenigen Stunden oder nach ein paar Tagen wieder auftaucht. Sie sind irgendwo versackt, was meist keiner mitkriegen soll. Oder sie brauchen einfach mal eine Auszeit. Vielleicht gibt es ja doch eine Verwandtschaft, die Sie nicht kennen.« Der Beamte wirkte wenig überzeugend auf Direktor Weizäcker, der prompt widersprach.
»Ich kenne unseren Kollegen. Er ist die Zuverlässigkeit in Person, der würde niemals in zwielichtigen Etablissements enden oder sich unentschuldigt entfernen. Es gibt keinen korrekteren Menschen als Walter Bergmann«, entgegnete der Direktor mit voller Überzeugung. »Es muss etwas passiert sein! Ergreifen Sie bitte die nötigen Maßnahmen, wir alle an der Schule stehen zu Ihrer vollen Verfügung.«
Der Beamte nickte, während er in der Personalakte blätterte. »Klingt alles überzeugend. Wir werden die üblichen Maßnahmen ergreifen. Ich schicke Ihnen morgen früh zwei erfahrene Kollegen vorbei, die sich alles mal anschauen sollen und Fragen stellen. Haben Sie noch ein besseres Foto von dem Vermissten?«
Weizäcker nickte. »Ich denke schon, ich lasse es heraussuchen, bis Ihre Leute kommen.«
Damit war das Gespräch beendet, die Suche war in die Wege geleitet.
»Mika«, flüsterte Alex seinem Nebenmann zu. »Da unten sind die Bullen. Jetzt geht’s los.«
Mikael schaute ihn zweifelnd an. »Echt?«
Alex nickte.
»Wollen Sie uns alle an Ihrem Dialog beteiligen, meine Herren?« Frieda von Ronnstädt war heute wieder im Dienst und kam langsam auf die beiden zu, die im Klassenzimmer in der letzten Reihe saßen. Sie lächelte fragend. »Nun? Sprachlos?«
Einige Mitschüler feixten. Mika lächelte sie charmant an.
»Frau Ronnstädt, unser kurzes Gespräch ist selbstverständlich für die Öffentlichkeit geeignet.« Er machte eine kurze Pause. »Es regnet, hat mir Alex mitgeteilt. Il pleut!«
Von Ronnstädt ließ den Blick über die beiden vor ihr gleiten und drehte sich dann um. »Tres bien, Mikael, tres bien! Aber machen Sie doch gleich mal weiter mit der Übersetzung des Absatzes auf Seite 184!«, forderte sie ihn auf.
Mika schlug umständlich die Seite auf, während Alex gedanklich bei den Polizisten im Hof war. Jetzt geht es los, dachte er und erinnerte sich an die Behauptung seines Vaters, dass leider viele Kollegen bei der Polizei unmotiviert ihrem Dienst nachgehen. »Hoffen wir mal das Beste!«, murmelte er praktisch unhörbar.
Die beiden Beamten gingen systematisch und logisch vor. Zuerst ließen sie sich vom Hausmeister Bergmanns Wohnungstür öffnen.
»Geht das denn so einfach ohne Durchsuchungsbeschluss, oder wie das genau heißt?«, fragte der Hausmeister.
»Gefahr in Verzug! Er könnte ja drin liegen.«
Die Wohnung war jedoch leer. Das Bett war unbenutzt, es war kein Frühstück vorbereitet. Die beiden Polizeibeamten durchsuchten, einigermaßen oberflächlich kam es dem Hausmeister vor, die Wohnung. Bergmann hatte erkennbar keine Kleidung eingepackt, im Bad sah es nicht so aus, als ob Körperpflegeartikel fehlten, zwei Koffer lagen leer in einem Schrank. Nur die Brieftasche war weg.
»Wissen Sie, ob er die Brieftasche immer mit sich trug?«, wollte der jüngere der beiden vom Hausmeister wissen.
»Ich glaube, die hat er meist dabei. So, wie sein kleines Notizbuch, in das er alles einträgt, was ihn stört. Ein Pedant!«
»Also, verreist ist der nicht«, meinte der zweite Beamte. »Jetzt fangen wir halt mal mit den Befragungen an.« Er wandte sich an den Hausmeister. »Gibt es einen zentral gelegenen Raum, in dem wir die Lehrer und Mitarbeiter ungestört vernehmen können?«
»Am besten, im großen Besprechungsraum. Ist im ersten Stock, ich bringe Sie hin.«
»Ok, gehen wir es an«, antwortete der jüngere Beamte und wies zur Tür. »Die Schüler befragen wir jeweils in den Klassenzimmern. Mit wem müssen wir uns da abstimmen?«
»Ich gebe Frau Müllerschön Bescheid, vielleicht ist es am besten, wenn sie dabei ist.«
»Also dann, los geht’s!«
Die Befragung der Lehrerinnen und Lehrer war schnell beendet. Die Sekretärin holte diejenigen, die gerade keine Unterrichtsstunde hatten, jeweils aus dem Lehrerzimmer.
»Die Kollegen, die im Moment unterrichten, sollten Sie in der Pause bringen!«, bat der ältere Beamte.
Heraus kam nicht viel bei den kurzen Gesprächen: Ein strenger Lehrer, Autoritätsperson, sehr zurückgezogen, reserviert, nicht besonders kollegial, korrekt, stockkonservativ. Keiner der Befragten hatte jedoch ein persönliches Problem mit ihm. Lediglich die Aussage von Frau Müllerschön brachte einen interessanten Aspekt hervor.
»Es gab eine interne Untersuchung gegen Herrn Bergmann«, sie überlegte kurz. »Das war vor gut zwei Wochen. Stimmt, Dienstag vor zwei Wochen.«
»Und weshalb?«
Frau Müllerschön zögerte kurz. »Es wurde ein Gerücht lanciert, dass er etwas mit einer Schülerin gehabt hätte. Und eventuell früher schon grenzwertig auf Schülerinnen zugegangen wäre. Aber da war nichts dran, die Schülerin hatte das erfunden, weil …« Sie zögerte erneut kurz. »Scheinbar hatte ein Mädchen aus einer problematischen Clique ihn provoziert, was aber nicht geklappt hat. Sie stand anscheinend spät abends vor seiner Tür und wollte ihn anmachen. Sie ist so ein Lolitatyp, wenn Sie wissen, was ich meine.« Sie schaute entschuldigend auf die Beamten, beide nickten. »Er selber hat um diese Untersuchung gebeten, um jeglichen Verdacht auszuräumen.«
»Polizei kam dabei nicht ins Spiel?«, fragte der ältere Beamte.
»Nein, um Himmelswillen! Nein, das war alles intern und er wurde vollständig rehabilitiert. Die Schülerin hat den Versuch zugegeben, die drei anderen Schüler und sie wurden streng verwarnt. Die letzte Verwarnung vor dem Rauswurf. So kurz vor dem Abitur …, furchtbar.«
Sie gab die vollständigen Namen der vier Schüler weiter.
»Können wir dann gleich mal in die Klasse der Vier …?«
Sein Kollege unterbrach ihn. »Lass uns die Jungs und das Mädchen hier her holen! Frau Müllerschön würden Sie das für uns übernehmen?«
»Selbstverständlich«, antwortete sie und war erkennbar froh, endlich wieder den Raum und die Befragung verlassen zu können.
