68,00 €
Die Türkei hat sich seit der Machtübernahme der AKP im Jahr 2002 signifikant verändert. Diese Veränderungen betreffen das politische System, die politische Kultur, das Rechtssystem aber auch das Alltagsleben der Menschen. Einhergehend mit dieser Systemtransformation ist eine starke Polarisierung der Gesellschaft zu beobachten. Dabei stellt sich die Frage, ob in der Republik Türkei ein eher konsensorientiertes, pluralistisches System geschaffen wurde oder eine eher autoritäre "Mehrheitsdemokratie". Bei der Untersuchung dieser Fragen beschäftigt sich der Autor insbesondere mit den Parteien, den gesellschaftlichen Gruppen, der politischen Kultur sowie den Ursachen, Hintergründen und möglichen Lösungswegen der politischen und sozialen Konflikte.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 545
Veröffentlichungsjahr: 2021
Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag
Reihe Politikwissenschaft
Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag
Reihe Politikwissenschaft Band 93
Hans Hermann Linscheid
Das politische System der Türkei unter dem Einfluss der AKP
Autoritäre Mehrheits- oder pluralistische Konsensdemokratie?
Tectum Verlag
Hans Hermann Linscheid
Das politische System der Türkei unter dem Einfluss der AKP
Autoritäre Mehrheits- oder pluralistische Konsensdemokratie?
Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe: Politikwissenschaft; Bd. 93
D 82 (Diss. RWTH Aachen University, 2021)
© Tectum Verlag – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2021
ePDF: 978-3-8288-7726-9
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4649-4 im Tectum Verlag erschienen.)
ISSN: 1861-7840
Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung der Abbildung # 1890322660 von Bilal Kocabas | www.shutterstock.com
Alle Rechte vorbehalten
Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis eines siebenjährigen Forschungsprozesses. Im Mai 2013, als die Gezi-Proteste begannen, wuchs in mir der Wunsch, die gravierenden Änderungen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben der Türkei zu untersuchen und die Ursachen, Hintergründe und Folgen dieses Transformationsprozesses zu analysieren. Als häufiger Besucher in der Türkei seit 1989, der das Alltagsleben miterleben durfte, nahm ich viele Änderungen aus einer Besucher- und Beobachterperspektive wahr. Dazu gehörten ganz unterschiedliche Wahrnehmungen, wie starke Erhöhungen der Benzin- und Lebensmittelpreise, ein Zunehmen des muslimischen Dress-Codes auf den Straßen, das Wiederaufleben des PKK-Terrors und eine zunehmende Vorsicht der Menschen, öffentlich ihre politische Meinung zu sagen. Auch meinte ich, eine zunehmende Verschuldung vieler Familien wahrzunehmen, die sich – in noch stärkerem Maße als in den neunziger Jahren – mit Ratenzahlungen und Kreditkarten von einem Monat in den anderen retteten. Zugleich bemerkte ich einen Bauboom, vor allem bei Hochhaussiedlungen in den Städten, Straßen, Flughäfen und Verkehrsinfrastrukturprojekten. Das Warensortiment in den Geschäften wurde seit den 2000er Jahren größer und vielfältiger. Dabei nahm auch die Anzahl internationaler Marken zu. Seit der zweiten Dekade waren auch deutlich mehr Discounter in den Geschäftsstraßen vertreten und in neuen Shopping Malls etablierten sich, neben türkischen Warenhäusern und Boutiquen, auch europäische Filialketten. Die Freiheiten und den „Wohlfühlfaktor“ habe ich in den neunziger Jahren als größer empfunden, als in der Zeit nach 2010.
Seit ich seit Ende der achtziger Jahre die Türkei besuche, ist mir das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land aufgefallen. Viele Landbewohner/innen wirkten zwar ärmer als die Mittelschicht in den Städten, aber nicht unzufriedener, da sie viele Agrarprodukte selbst anbauten, frisches Quell- oder Brunnenwasser nutzten und in einer weitläufigen und natürlichen Umgebung wohnten.
Gerade bei den „einfachen“ Familien wurde Gastfreundschaft großgeschrieben und der durchs Land reisende Gast aus Deutschland freundlich und neugierig begrüßt und eingeladen.
Das „Nebeneinander“ der eher westlich und säkular lebenden Menschen aus der Mittel- und Oberschicht und der eher konservativ, traditionell islamisch lebenden Menschen war auch in den neunziger Jahren offensichtlich. Es gab aber Berührungspunkte bei Einkäufen auf dem Markt und in Geschäften, bei Fahrten übers Land und in der traditionellen Gastronomie wie Suppenküchen (çorbacı), Pizzerien (pideci), Kebab-Imbissstuben (kebabçı), in der Bäckerei (fırın), kleinen Cafés (pastacı) und in den allgegenwärtigen „Tante-Emma-Läden um die Ecke“ (bakkal). Auf großen Wochenmärkten, auf Busbahnhöfen und in kleinen Teestuben und Büffets in Parkanlagen und Geschäftsstraßen traf und trifft man Menschen aus allen Schichten und Regionen. Reparaturen an Autos, Krafträdern und Maschinen kann man in kleinen Werkstätten in Gewerbegebieten (sanayı) direkt durchführen lassen.
In der Zeit von 1990 bis 2010 habe ich das Pflegen und Ausleben der Gegensätze selten erlebt. Es gab eine – zwar ungleiche – aber doch friedliche und tolerante Koexistenz. In der Zeit nach 2010 wurde nach meinem Empfinden die Polarisierung in der türkischen Gesellschaft größer, einhergehend mit einem Freund-Feind-Denken. Das führt zu der Frage, was sich nach der Regierungsübernahme der AKP geändert hat.
Mein großes Interesse an diesem Thema, meine Betroffenheit über die zunehmende Polarisierung und Gewalt, auch seitens des Staates, und ein erfolgreich abgeschlossenes Studium der Politischen Wissenschaft an der Universität Duisburg waren Grund und Motivation, in diesen Forschungsprozess einzusteigen und eine Promotion zu diesem Thema anzustreben.
Während meines Forschungsprozesses gab es in der Türkei nach den Gezi-Protesten weitere folgenreiche Entwicklungen, wie den gescheiterten Militärputsch im Jahr 2016 und die nachfolgenden „Säuberungsaktionen“, die Verfassungsänderung und die Umstellung auf das Präsidialsystem 2017, den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien und die Wirtschaftskrise der Türkei ab 2018. Die zunächst beobachtete Demokratisierung und Annäherung an die EU schien sich in der zweiten Dekade nicht fortzusetzen. Stattdessen war die Herausbildung einer eher autoritären, nationalistischen und islamistischen Politik zu erkennen. Das Ziel Erdoğans und der AKP, im Jahr 2023 zum 100-jährigen Bestehen der Republik Türkei eine der 10 führenden Wirtschaftsnationen zu sein und ähnlich bedeutsame Reformen wie vor 100 Jahren Atatürk zu erreichen, schien zunehmend zulasten von Freiheit, Rechten von Minderheiten und Rechtsstaatlichkeit zu gehen. Trotz dieser Beobachtungen und Befürchtungen war es mir wichtig, objektiv, vergleichend und nachvollziehbar wissenschaftlich zu überprüfen, ob es in der Türkei eine autoritäre Mehrheitsdemokratie oder ein prinzipiell offenes, pluralistisches und konsensuales System gibt. An dieser Fragestellung habe ich gründlich und geduldig sieben Jahre lang geforscht und soweit möglich, neue Entwicklungen aufgenommen und analysiert. Nun, im Frühjahr 2021 stelle ich die Ergebnisse dieser umfassenden und mehrdimensionalen Studie vor.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Emanuel Richter vom Institut für Politische Wissenschaft IPW an der RWTH Aachen, der mir 2016 die Zusage für die Betreuung meines Promotionsvorhabens machte und mich sehr motivierte, mein Projekt fortzusetzen und abzuschließen. Ich danke auch Herrn Professor Ralph Rotte, der mich als weiterer Gutachter motivierte und allen Kolleginnen und Kollegen des Arbeitskreises für Politikwissenschaftliche Forschung und Didaktik am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Meiner Schwester Frauke Linscheid danke ich für das Korrektorat und ihre Anregungen und Hinweise zur besseren Lesbarkeit. Ganz herzlich danke ich dem Tectum Verlag und seiner Lektorin Frau Sarah Bellersheim sowie der Herstellerin Tamara Kuhn für die Begleitung und Unterstützung der Publikation.
Ich widme diese Dissertation meinem Vater Dr. Josef Linscheid, Diplom-Agraringenieur aus Bonn, der mir ein Vorbild ist und noch zu Lebzeiten von meinem Projekt erfuhr und mich darin bestärkte.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine interessante, spannende und hoffentlich erkenntnisreiche Lektüre.
Aachen, im März 2021
Hans Hermann Linscheid
Inhalt
Vorwort
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1. Fragestellung und methodischer Zugang
1.1 Fragestellung
1.1.1 Ausführungen zur Fragestellung
1.1.2 Zentrale Hypothesen
1.2 Forschungsinteresse
1.3 Begründung der wissenschaftlichen Relevanz des Themas
1.4 Zentrale Begriffe und Konzepte
1.5 Theoretischer Bezugsrahmen
1.5.1 Das Modell von Lipset und Rokkan
1.5.2 Das Modell von Richard S. Katz und seinen Mitautoren
1.5.3 Das Modell von Arend Lijphart
1.6 Untersuchungsdesign
1.7 Methodenauswahl
2 Das politische System der Republik Türkei
2.1 Verfassung und Staatsorgane (Polity-Ebene)
2.1.1 Die Verfassung von 1982 und ihre Änderung 2017
2.2 Die politische Willensbildung (Politics-Ebene)
2.2.1 Parteien
2.2.2 Interessenverbände
2.2.3 Ethnische und religiöse Minderheiten
2.3 Der politische Islam in der Türkei
2.3.1 Zur Rolle der Frauen im politischen Islam
2.4 Die Hizmet-Bewegung Fetullah Gülens
2.5 Die Medienlandschaft und die Pressefreiheit in der Türkei
2.6 Analyse der Cleavage-Strukturen
2.6.1 Die Konfliktlinie zwischen Zentrum und Peripherie bei Şerif Mardin
2.6.2 Aktuelle wissenschaftliche Beiträge zur Cleavage-Theorie in der Türkei
2.6.3 Die Kritik Michael Wuthrichs am Zentrum-Peripherie-Modell Șerif Mardins
3 Analyse der Wahlergebnisse, des Systemzustands und des Systemtyps
3.1 Chronologie und politische Entwicklung seit der Regierungsübernahme durch die AKP
3.2 Analyse der Wahlergebnisse und Mehrheitsverhältnisse auf nationaler Ebene
3.3 Analyse und Interpretation der Wahlergebnisse
3.4 Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
3.5 Repräsentanz wichtiger Wählergruppen durch die Parteien
3.5.1 Die Position der AKP bezüglich der Partizipation und Gleichberechtigung von Frauen
3.5.2 Die Position der CHP bezüglich der Partizipation und Gleichberechtigung von Frauen
3.5.3 Vergleich der Positionen der AKP und der CHP zur Gleichstellung der Geschlechter
3.5.4 Die Positionen der AKP zur Repräsentation der Arbeitnehmer
3.5.5 Die Positionen der CHP zur Repräsentation von Arbeitnehmern
3.5.6 Repräsentation der Aleviten durch die AKP
3.5.7 Die Repräsentation der Aleviten durch die CHP
3.5.8 Zur Repräsentation der Unternehmer durch die AKP234
3.5.9 Zur Repräsentation der Unternehmen durch die CHP
3.5.10 Die Repräsentation benachteiligter Schichten durch die AKP
3.5.11 Zur Die Repräsentation benachteiligter Schichten durch die CHP
3.5.12 Die Repräsentation der mittleren Bevölkerungsschichten durch die AKP
3.5.13 Die Repräsentation der mittleren Bevölkerungsschichten durch die CHP
3.6 Die Außenpolitik der Türkei unter der AKP-Regierung
3.7 Zum aktuellen Stand der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei
3.8 Bestimmung des Systemzustands und des Systemtyps
3.8.1. Bestimmung des „Demokratietyps“ nach Lijphart
3.8.2 Bestimmung der Eigenschaften des Parteiensystems nach Katz und Sjöblom
3.8.3 Struktureller gesellschaftlicher Friede
3.9 Konkretisierung der Cleavage-Strukturen
3.10 Folgerungen zum Typ des Parteiensystems und des „politischen Systems“
4 Schlussfolgerungen und mögliche Zukunftsperspektiven
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Das modifizierte A-G-I-L-Schema Lipsets und Rokkans
Abbildung 2: Quadranten des A-G-I-L-Schemas für die Türkei
Abbildung 3: Darstellung der beiden „Haupt-Cleavages“
Abbildung 4: Ergebnisse der Parlamentswahlen von 2011 bis 2018 und der Kommunalwahlen im Mai 2019
Abbildung 5: Wählerbewegungen Juni 2015
Abbildung 6: Wählerbewegungen zwischen dem 7. Juni 2015 und dem 1. November 2015
Abbildung 7: Cleavage-Modell Lipsets und Rokkans als Grundlage der Analyse
Abbildung 8: Erweitertes Cleavage-Modell der vorliegenden Untersuchung
Abkürzungsverzeichnis
ANAP Anavatan Partisi; Mutterlandspartei
AKP Adalet ve Kalkınma Partisi, AK Parti; Partei für Gerechtigkeit und Aufbruch
bzw. beziehungsweise
CHP Cumhuriyet Halk Partisi; Republikanische Volkspartei
CUSİAD Cumhuriyetçi Sanayici ve İşadamları Derneği; Republikanischer Industriellen- und Geschäftsleuteverband
EU Europäische Union
FP Fazilet Partisi; Tugendpartei
HAK-İȘ Türkiye Hak İşçi Sendikaları Konfederasiyonu; Verband der wahren Arbeitergewerkschaften der Türkei
HDP Halkların Demokratik Partisi; Demokratische Partei der Vöker
İyiP İyi Parti; Gute Partei
Kamu-Sen Türkiye Kamu Çalıșanları Sendikaları Konfederasiyonu; Türkischer Verband der im Öffentlichen Dienst Beschäftigten
KESK Kamu Emekçileri Sendikaları Konfederasyonu; Konföderation der Gewerkschaften der Arbeitnehmer im Öffentlichen Dienst
Memur-Sen Memur Sendikaları Konfederasiyonu; Konföderation der Beamtengewerkschaften
MENA Region Middle East and North Africa
MHP Milliyetçi Hareket Partisi; Partei der Nationalen Bewegung
MİSİAD Memlektçi Sanayıcı İș Adamları Derneği; Verband Nationalistischer Industrieller und Geschäftsleute
MİSK Türkiye Milliyetçi İşçi Sendikaları Konfederasyonu; Nationalistischer Gewerkschaftsbund der Türkei
MÜSİAD Müstakil Sanayici ve İşadamları Derneği; Unabhängige Vereinigung der Industriellen und Geschäftsleute
PKK Partiya Karkerên Kurdistanê; Arbeiterpartei Kurdistans
RP Refah Partisi; Wohlfahrtspartei
SAADET Saadet Partisi; Partei der Glückseligkeit
TBB Türkiye Barolar Birliği; Vereinigung der Anwaltskammern der Türkei
T.C. Türkiye Cumhuriyeti; Republik Türkei
TOBB Türkiye Odalar ve Borsalar Birliği; Union der Handelskammern und Warenbörsen der Türkei
TÜRK-İȘ Türkiye İşçi Sendikaları Konfederasyonu; Konföderation der Arbeitergewerkschaften der Türkei (Türkischer Gewerkschaftsbund)
TÜSİAD Türk Sanayicileri ve İşadamları Derneği; Verband der türkischen Industriellen und Geschäftsleute
TUSKON Türkiye İşadamları ve Sanayiciler Konfederasyonu; Konföderation der Geschäftsleute und Industriellen in der Türkei
TZOB Türkiye Ziraat Odaları Birliği; Union der Landwirtschaftskammern der Türkei
YPG Yekîneyên Parastina Gel; Kurdische Volksverteidigungseinheiten Nordsyrien
Einleitung
Die politische Entwicklung in der Republik Türkei seit der Jahrtausendwende beschäftigt nicht nur die politischen Entscheidungsträger in Europa und den Vereinigten Staaten, als wichtigste Bündnis- und Handelspartner, und die politikwissenschaftliche Forschung, sondern ist im öffentlichen Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger der „westlichen Demokratien“ ein sehr aktuelles, präsentes und kontrovers diskutiertes Thema. So finden sich in der deutschen Öffentlichkeit die Themen „Islamisierung der Türkei“, die Menschenrechte dort, Verhaftungen deutscher Staatsbürger, die mögliche Ausweitung des Nahost-Konflikts, die Beherbergung und mögliche Weiterleitung von Millionen von Flüchtlingen in der und durch die Türkei, die Sicherheit in der Türkei als eines der beliebtesten Reiseziele, für manche Bürgerinnen und Bürger auch die Frage der „ethischen“ Vertretbarkeit einer Urlaubsreise in die Türkei und besonders die Auswirkungen der Entwicklungen in der Türkei auf die große Gruppe der Bürgerinnen und Bürger mit türkischen Wurzeln. Ob im privaten, im geschäftlichen oder im Arbeitsleben sind die Zusammenarbeit, der tägliche Kontakt mit oder die Freundschaft zu Menschen, deren Familien ursprünglich aus der Türkei einwanderten, selbstverständlich und unspektakulär. In diesem Rahmen wird natürlich auch über die Situation in der Türkei gesprochen. Dabei vertreten Menschen mit „türkischen Wurzeln“ nicht selten die folgenden, sehr unterschiedlichen Standpunkte, die ich hier etwas reduziert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit gegenüberstelle:
„Die Türkei hat sich unter Erdoğan sehr gut entwickelt. Den meisten Menschen dort geht es wirtschaftlich besser, das Land hat sich modernisiert und an Einfluss und Ansehen gewonnen. Die Türken können stolz auf ihre Nation, ihre Religion und ihre Regierung sein. Nie war die Situation in der Türkei so gut wie heute.“
„Die Türkei hat durch Erdoğan ihre Freiheit verloren. Die Stimmung in der Gesellschaft ist konservativer, der Islam spielt eine große Rolle und die bürgerlichen Freiheiten wurden stark beschnitten. Als fortschrittlicher, säkular eingestellter Mensch kann ich in der Türkei nicht mehr gut leben. Die Fortschritte und Reformen Atatürks werden zerstört und das Land entwickelt sich zu einem islamischen Staat.“
Daneben gibt es zahlreiche weitere Ansichten und Meinungen, die je nach Standpunkt der Diskutierenden, stark divergieren. Dies gilt unter anderen für die Nachkommen von Minderheiten in der Türkei, zum Beispiel Menschen mit „kurdischen Wurzeln“.
Für die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger auf politischer Ebene stehen, exemplarisch dargestellt, Fragen wie die Bündnistreue der Türkei in der NATO, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Sicherheitslage im Nahen und Mittleren Osten, auch unter Berücksichtigung der Einflüsse Russlands und des Iran, das Management der Flüchtlingskrise oder die – zurzeit vollständig eingefrorenen – Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU im Fokus.
Aus sozialwissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Sicht sind zum Beispiel Fragen wie die Auswirkungen der Politik Erdoğans auf die Nahostpolitik der EU und der USA, der aktuelle Zustand der Demokratie in der Türkei, oder die Frage, wie weit die Systemtransformation fortgeschritten ist und ob sie umkehrbar ist, relevant. Die beiden letzten Fragestellungen möchte ich aufgreifen und analysieren. Dabei ist es mir wichtig, die Gesellschaft der Türkei in ihrer Diversität einzubeziehen.
Meine Forschungsarbeit und Analyse umfasst dabei die Bereiche der Demokratieforschung, der vergleichenden Analyse (als Einzelfallstudie), und einer makrosoziologisch orientierten Erforschung der relevanten gesellschaftlichen Gruppen. Diese Dimensionen versuche ich, unter Einbeziehung der Cleavage-Theorie Lipsets und Rokkans, in Beziehungen zu setzen, und dann den aktuellen Zustand des demokratischen und politischen Systems zu bestimmen, um anschließend in einem weiteren Schritt Schlussfolgerungen zu ziehen und mögliche Lösungswege zu skizzieren.
Mein persönliches Interesse liegt darüber hinaus in der Tatsache, dass ich die Gesellschaft und das Alltagsleben in der Türkei recht gut kenne, und – über meine persönlichen Erfahrungen und Kenntnisse hinaus – nun objektiv und intersubjektiv nachvollziehbar das politische und gesellschaftliche System der Türkei eingehend erforschen und analysieren möchte.
Dabei wähle ich bewusst eine methodisch qualitativ und hermeneutisch herangehende Untersuchungsweise, mit der ich die schriftlich und mündlich getroffenen Aussagen und Positionen der Akteure erfasse und analysiere, dabei die aktuellen Forschungsbeiträge eingehend betrachte, und in die Analyse einbeziehe.
Besonders wichtig ist mir eine breite Behandlung des Themas. Daher beziehe ich zahlreiche Akteure und Institutionen in meine Arbeit ein. Das Ergebnis ist – nach einem siebenjährigen Forschungsprozess – interessant, aufschlussreich, sowie sehr relevant, und bietet einen aktuellen und umfangreichen Status des politischen Systems und der gesellschaftlichen Kräfte.
Vielleicht trägt diese Arbeit dazu bei, einen guten und durchaus detaillierten Gesamtüberblick zu ermöglichen, und eventuell die Untersuchung einiger Teilaspekte, wie zum Beispiel islamistische Frauen und Aktivistinnen in der Türkei, weiter zu erforschen.
Wie bereits im Vorwort erwähnt, ist es mir wichtig, gewissermaßen als „praktischen Output“ meiner Arbeit, den politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, soweit sie das möchten und annehmen, auch ein paar Ratschläge für die Lösung der derzeit schwierigen und polarisierten Situation zu geben.
1.Fragestellung und methodischer Zugang
1.1Fragestellung
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautet: Befindet sich das politische System der Republik Türkei, welches in einem deutlichen Wandel begriffen ist, auf dem Weg in eine konservativ-islamisch dominierte Mehrheitsdemokratie oder in eine pluralistische, konsensorientierte Mehrparteiendemokratie, und entspricht das System noch den Anforderungen einer westlich orientierten Demokratie?
1.1.1Ausführungen zur Fragestellung
Seit ihrer Gründung im Jahr 1923 bis kurz nach der Jahrtausendwende war das politische System der Türkei eine zentral regierte und verwaltete, von den Prinzipien des Kemalismus geprägte „autoritäre“ Republik, mit einer oligarchischen Machtelite. Während in der Gründungszeit das Einparteiensystem der kemalistischen CHP bestand, gab es seit den 50er Jahren ein Mehrparteiensystem, zunächst mit Alleinregierungen der jeweils dominanten Partei, seit den 60er Jahren zunehmend Koalitionsregierungen. Das Militär als Hüter der kemalistischen Staatsordnung hatte und nutze die Möglichkeit, durch Interventionen bis hin zum Staatsstreich, die Prinzipien des nationalen und laizistischen Zentralstaats zu erhalten. Seit der Übernahme der Regierung durch die AKP unter Recep Tayyip Erdoğan befindet sich das System in einem raschen und signifikanten Wandel. In der Zeit der ersten Regierung Erdoğan schien sich das System hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, wirtschaftlicher Öffnung und Annäherung an die Europäische Union zu entwickeln. Die Stärkung des Islam schien durch Toleranz gegenüber und Garantie der Rechte von ethnischen und religiösen Minderheiten im verfassungsmäßigen Rahmen zu bleiben. Mehrere Verfassungsänderungen schienen zur Stärkung der Bürgerrechte und der parlamentarischen Demokratie beizutragen. Seit der zweiten Amtszeit Erdoğans ist jedoch eine forcierte Institutionalisierung konservativ-islamischer Regeln, eine Machtkonzentration auf die Person Erdoğans und ein zunehmend autokratischer Regierungsstil zu registrieren. Mit den Ereignissen im Gezi Park im Mai/Juni 2013 wird deutlich, dass signifikante Teile der türkischen Gesellschaft nicht mit der Politik und der Machtfülle Erdoğans einverstanden sind. Den Demonstranten der „Taksim-Bewegung“ gelang es, in der Gesellschaft Unterstützung zu gewinnen, und das etablierte System einer neuen, konservativ-islamistischen Machtelite zu erschüttern. Der Korruptions-Ermittlungs-Skandal, welcher Mitte Dezember 2013 mit Ermittlungen gegen führende Regierungsmitglieder und ihre Familien begann, zum Rücktritt mehrerer Minister und zu einer „Säuberungsaktion“ bei der Polizei und den Staatsanwaltschaften führte und der darauf folgende Machtkampf mit der islamistischen Gülen-Bewegung zeigen sehr deutlich, dass die AKP-Regierung, vor allem aber der inzwischen zum Präsidenten gewählte Erdoğan, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln daran arbeiten, die Kontrolle über die Justiz, die Polizei, den Geheimdienst, die Medien sowie die Internet-Dienstanbieter und sozialen Medien zu gewinnen. Aufgrund dieser aktuellen Entwicklung und der rigiden Eingriffe der Regierung in die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit warnen Kritiker in der Türkei, in der EU und in weiteren befreundeten Staaten davor, dass das politische System der Türkei sich von den Idealen einer pluralistischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung entfernt. Die Ergebnisse der Parlaments- und Präsidentenwahlen im Juni 2018 bestätigen, dass, trotz Stimmenverlusten der AKP, derzeit mehr als 50 Prozent der türkischen Wählerinnen und Wähler die konservativ-nationalistisch-islamische Wahlkampfallianz aus AKP und MHP unterstützen. Mit der Umwandlung des politischen Systems von einer parlamentarischen in eine präsidiale Demokratie ist es Erdoğan gelungen, seine Macht auszubauen und zu zementieren.
Ziel dieser Arbeit soll es sein, den derzeitigen Wandel des politischen Systems der Türkei hinsichtlich der Demokratisierung von Staat und Verfassung, Repräsentanz der Parteien, Macht und Einfluss der Eliten sowie der Umsetzung von Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zu analysieren. Die Schwerpunkte liegen dabei in der Untersuchung des Parteiensystems sowie relevanter Akteure aus den Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft, Gerichtsbarkeit und Verfassungsorgane. In diesem Zusammenhang hat sich die politische Kultur im Verlauf der Untersuchung als eine wichtige Dimension erwiesen und ist daher auch ein zentraler Gegenstand dieser Untersuchung.
1.1.2Zentrale Hypothesen
Die zentralen Hypothesen meiner Arbeit sind:
1. Die Gesellschaft der Türkei ist strukturell eine plurale
2. Das Parteiensystem der Türkei ist vom Typ her ein Mehrparteiensystem. Die jeweils regierende Partei versucht ihre Machtbasis auszubauen, vor allem durch Vernetzung von Politik und Wirtschaft und Kontrolle von Verwaltung, Bildungswesen, Justiz, Polizei und Militär
3. Dadurch werden Rechtsstaat, Pluralismus und Meinungsfreiheit eingeschränkt
4. Das Parteiensystem der Türkei konnte bisher nicht die unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Richtungen repräsentieren
5. Das politische System der Türkei kann sich dennoch langfristig in die Richtung einer pluralistischen Demokratie weiterentwickeln
6. Das Parteiensystem kann diese Entwicklung adaptieren und über die Machtverhältnisse im Parlament widerspiegeln (Wahlergebnisse)
1.2Forschungsinteresse
Die Türkei ist weiterhin „Eckpfeiler“ Europas und der NATO, und zugleich Brücke in den Nahen Osten und nach Asien. Die Türkei ist ein wichtiger Handelspartner Europas, insbesondere der Bundesrepublik. Hier ist auch die größte Migrantengruppe die der türkischstämmigen Einwanderer. Die Republik Türkei ist das einzige Land, dessen Bevölkerung in der überwiegenden Mehrheit islamisch ist, und dessen politisches System in seinen Grundzügen parlamentarisch-demokratisch ist. Somit ist der weitere Weg der Türkei entscheidend für die Stabilität in der Region, ebenso wie für einen möglichen Beitritt in die Europäische Union. Besonders aktuell und relevant ist das Thema durch die Massenproteste am Taksim Platz in Istanbul und in weiteren Städten, den Korruptionsskandal, den gescheiterten Putschversuch 2016, die Zerschlagung der Gülen-Bewegung in der Türkei und die Einführung des präsidialen Systems. Werden die AKP und das „System Erdoğan“ sich weiter behaupten können? Werden die Oppositionsparteien und oppositionelle gesellschaftliche Gruppen an Einfluss gewinnen? Erfolgt eine weitere Polarisierung oder kommt es zum Ausgleich? Die Rolle der Türkei in der Region, insbesondere hinsichtlich des Bürgerkriegs in Syrien, der „Kurdenfrage“ und der Beziehungen zu den nachrevolutionären Staaten des Arabischen Frühlings, ist dabei noch offen. Das im Oktober 2013 beschlossene Demokratisierungspaket, die Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten und im Öffentlichen Dienst, die personelle Umstrukturierung in Justiz, Verwaltung und Schulen und die erfolgte Verfassungsänderung sind Indikatoren des weitergehenden Wandels. Die Gesetzesänderungen über die Regulierung der Internetprovider, die Aufgaben und Kontrolle des Geheimdienstes (MIT) und das Oberste Komitee der Richter und Staatsanwälte (HSYK) gehen eher in Richtung Kontrolle und Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit. Nach der Einführung des präsidialen Systems 2017 haben sich die Machtkonzentration Erdoğans und sein autokratischer Regierungsstil weiter verstärkt.
Nach der Niederschlagung des Militärputschs 2016 wurde bereits die umfassende Entmachtung der kemalistischen Eliten und die Besetzung aller Schlüsselpositionen in Militär, Verwaltung und Rechtsprechung abgeschlossen.
Mein Forschungsinteresse liegt darin, diesen Transformationsprozess eingehend zu betrachten, und seine Ursachen, Hintergründe, Begleitumstände und Auswirkungen möglichst objektiv zu analysieren. Dabei ist es mir wichtig, neben dem politischen System auch die gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte zu betrachten, die in allen Phasen der politischen Entwicklung soziologisch Bestandteil der Ursachen, Akteure im Prozess der Gestaltung der türkischen Demokratie, und Betroffene der jeweils vorherrschenden Policy sind. Diesen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Politik möchte ich differenziert analysieren und damit die Ursachen und Zusammenhänge der heutigen Entwicklung sozialwissenschaftlich erklären helfen. Schließlich möchte ich noch über den aktuellen Zustand hinausdenken und reflektieren, und Ideen und Vorschläge für eine weitere Entwicklung anbieten. Das halte ich für wissenschaftlich und methodisch legitim, da die Wissenschaft die Politik berät. Förderlich für die Rolle als „Berater“ in den letzten beiden Kapiteln dieser Arbeit sind, nach meiner Einschätzung, meine guten Kenntnisse der türkischen Gesellschaft und zugleich meine Position als „außenstehender“ Beobachter, der nicht persönlich in die Ereignisse in der Türkei einbezogen ist.
1.3Begründung der wissenschaftlichen Relevanz des Themas
Die wissenschaftliche Relevanz des Themas liegt in seiner politischen Relevanz. Die politische Situation in der Türkei dominiert – ohne größere Unterbrechungen – die Beratungen der Regierungen und Parlamente der gesamten „westlichen Welt“, der meisten supranationalen Organisationen, die Titelseiten der Zeitungen und politischen Magazine, und die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Ohne dabei „zu übertreiben“, gehört die Entwicklung in der Türkei spätestens seit 2013 zu den „Top Ten“ der Nachrichten und politischen Problemlagen unserer globalisierten Welt. Wichtige Aspekte dieser Beschäftigung mit und Betroffenheit von der Politik der AKP sind die Menschenrechte in der Türkei, die Zuverlässigkeit der Türkei als Bündnispartner in der NATO, die Instabilität der politischen, ethnischen und militärischen Lage im Nahen Osten, die „Flüchtlingsfrage“, der Konflikt der Türkei mit bewaffneten kurdischen Gruppen im Irak und in Syrien, und der Einfluss Erdoğans auf viele Bürgerinnen und Bürger der Schengen-Staaten mit türkischen Wurzeln. Zugleich haben auch viele Staaten „Kerneuropas“ große Gruppen kurdisch stämmiger Einwohner. Daher ist die wissenschaftliche Untersuchung und Aufarbeitung der sehr schnellen und gravierenden Entwicklung im politischen System der Türkei bedeutsam und dringlich. Bei meiner Forschungsarbeit bin ich auf viele gute, aktuelle und wertvolle Aufsätze und Studien gestoßen, die sich jedoch zumeist mit einem Aspekt der politischen und sozialen Entwicklung der Türkei beschäftigen. Beispiele sind Arbeiten über den Islamismus in der Türkei, den Kemalismus, die Situation der Kurden, der Frauen, der Aleviten, die Geschichte der islamistischen Parteien, die wirtschaftliche Entwicklung und viele weitere. Eine große Anzahl von Publikationen beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung vor 2002, um dann auf die weitere Entwicklung unter der AKP kaum einzugehen. Eine umfassende Studie über die aktuelle Entwicklung nach der Jahrtausendwende habe ich nicht gefunden. Das Ziel meiner Arbeit ist es deshalb auch, ganz aktuell die Entwicklung der letzten Jahre zu analysieren und breitere gesellschaftliche Zusammenhänge herauszuarbeiten, ohne mich dabei zu sehr im Detail zu verlieren. Dabei erhebt meine Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eher geht es mir darum, die wichtigen gesellschaftlichen und politischen Gruppen und Zusammenhänge darzustellen und herauszufinden, wo die system- und gesellschaftsimmanenten Prozesse und Schnittstellen nicht „funktionieren“. Diese „Defizite“, ob nun psychologisch, ideologisch oder systembedingt, sollen Ihren Platz in meiner Analyse finden. Damit möchte ich einen Beitrag zum Erkennen und Verstehen des politischen und gesellschaftlichen Systems in der Türkei vorlegen und auch Hinweise für mögliche Lösungen liefern.
1.4Zentrale Begriffe und Konzepte
Regierungssystem (Polity)
Institutionen, die an der Gesetzgebung und Verwaltung, sowie der Normenkontrolle beteiligt sind (Staatsorgane). Die Untersuchung dieser Dimension ist entscheidend, um den strukturellen und normativen Aufbau des Regierungssystems, also der Verfassung, der Verfassungsorgane und der Gewaltenteilung darzustellen1.
Verfassung
Unter vielen Definitionen des Begriffs der Verfassung verwende ich die aus dem Gabler Wirtschaftslexikon: als die „Rechtliche Grundordnung eines Staates, Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtssätze über die Bildung, den Aufgabenkreis und die Organisation der obersten Staatsorgane, das Verhältnis der einzelnen Staatsorgane zueinander, die staatlichen Aufgaben, den staatsrechtlichen Aufbau des Staates und die Rechte des Bürgers gegen den Staat (Grundrechte).“2
In Artikel 5 der Verfassung der Republik Türkei vom 7. November 1982 werden die Grundziele und Aufgaben des Staates definiert:
„Die Grundziele und -aufgaben des Staates sind es, die Unabhängigkeit und Einheit des Türkischen Volkes, die Unteilbarkeit des Landes, die Republik und die Demokratie zu schützen, Wohlstand, Wohlergehen und Glück der Bürger und der Gemeinschaft zu gewährleisten, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse zu beseitigen, welche die Grundrechte und -freiheiten der Person in einer mit den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates und der Gerechtigkeit nicht zu vereinbarenden Weise beschränken, sowie sich um die Schaffung der für die Entwicklung der materiellen und ideellen Existenz des Menschen notwendigen Bedingungen zu bemühen.“3
Diese Verfassungsnorm stellt wichtige Grundsätze einer rechtsstaatlich und sozial ausgerichteten Demokratie dar, welche in allgemeiner Form aufgeführt sind. Zugleich ist zu erkennen, dass einige Ziele noch nicht erreicht oder in Entwicklung begriffen sind, z. B. die Beseitigung der „wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse“ und „Grundrechte und Freiheiten der Person“
Im Laufe der Arbeit wird zu untersuchen sein, inwieweit diese und andere Verfassungsnormen der politischen Realität entsprechen bzw. „gelebt werden“ und ob es einen politischen Konsens der wichtigen Parteien zu diesen Grundwerten gibt.
Wichtige Akteure des politischen Systems sind die Verfassungsorgane, darunter der Staatspräsident, die Große Nationalversammlung, der Nationale Sicherheitsrat, die Regionalverwaltung, die Gerichte sowie die Parteien, letztere als einer der zentralen Untersuchungsgegenstände dieser Arbeit.
Die politische Willensbildung (Politics)
Diese wird als erweitertes Politisches System betrachtet und dabei untersucht, welchen Einfluss die folgenden relevanten Akteure haben:
Parteien
Verbände
Gesellschaftliche Gruppen
Religionsgemeinschaften
Regionale soziale und ethnische Gruppen
Dabei werden vor allem institutionalisierte Akteure, kollektive Akteure und gesellschaftliche Subsysteme betrachtet4, 5, 6.
Policy oder politischer Output
„Der politische Output, also das Ergebnis der formalen Verarbeitung des Willensbildungsprozesses oder die materielle Dimension von Politik, wird durch den Begriff Policy gekennzeichnet“.7
Politisches System
Als politisches System betrachte ich „die Gesamtheit jener staatlichen und außerstaatlichen Einrichtungen und Akteure, Regeln und Verfahren […], die innerhalb eines abgegrenzten Handlungsrahmens von Politikstrukturen an fortlaufenden Prozessen der Formulierung und Lösung politischer Probleme sowie der Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher politischer Entscheidungen beteiligt sind“.8
Das politische System setzt sich zum einen aus den oben beschriebenen Teildimensionen polity, politics und policy zusammen. Zum anderen umfasst es, je nach Untersuchungsinteresse, weitere Bereiche von Staat und Gesellschaft9. Beispiele sind die Medien und politische Eliten ebenso wie Verbände und organisierte gesellschaftliche Gruppen.
1.5Theoretischer Bezugsrahmen
Als theoretischen Rahmen für die Analyse des politischen Systems der Türkei verwende ich die Modelle von Lipset und Rokkan der Analyse von Spaltungsstrukturen und Konfliktlinien (Cleavage Structures)10 und das Konzept von Richard S. Katz über die Machtausübung von Parteien, deren Effektivität und deren gesellschaftlicher Akzeptanz in verschiedenen westlichen Demokratien.11
Ergänzend versuche ich die Einordnung in die Typologien einer Mehrheits- oder einer Konsensdemokratie nach dem Modell von Lijphart.12
1.5.1Das Modell von Lipset und Rokkan
Ich habe mich für das Modell von Lipset und Rokkan entschieden, weil es die Möglichkeit bietet, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure und Subsysteme in ihrer wechselseitigen Beziehung zum Regierungssystem (Polity) darzustellen und zu analysieren und dabei eventuelle gesellschaftliche Konfliktlinien und ihre Auswirkungen zu identifizieren. Dieser Ansatz hat sowohl eine historische Dimension als auch eine systemtheoretische.
Lipset und Rokkan entwickeln – basierend auf dem AGIL-Schema Talcott Parsons – ein funktionales Modell der Gegensätze (Dichotomien)13:
Abbildung 1: Das modifizierte A-G-I-L-Schema Lipsets und Rokkans
Anhand dieses Modells werde ich versuchen, die Konfliktlinien im politischen System der Republik Türkei herauszustellen und zu analysieren. Dazu verwende ich das modifizierte A-G-I-L-Schema eines Systems im Transformationsprozess der nationalen und industriellen Revolution14.
Abbildung 2: Quadranten des A-G-I-L-Schemas für die Türkei
Die Republik Türkei zählt laut Definition der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zu den Schwellenländern. Sowohl die Wirtschaft als auch Politik und Gesellschaft befinden sich in einem Entwicklungsprozess. Dadurch treten jene Konfliktlinien, die während der Phase der Industrialisierung und der Bildung eines Nationalstaats im Vordergrund stehen, stärker zutage als in weiter entwickelten industriellen oder postindustriellen Gesellschaften. Dabei zeigen sich vier kritische Linien von Spaltungen:
1. Der Konflikt zwischen der zentralen, „Nation-bildenden“ Kultur und dem zunehmenden Widerstand der ethnisch, sprachlich oder religiös verschiedenen eingegliederten Bevölkerungsgruppen in den Provinzen und den Peripherien (siehe 1 in Abb. 2)
2. Der Konflikt zwischen dem zentralisierenden, standardisierenden und mobilisierenden Nationalstaat und den historisch etablierten Gemeinschaftsrechten der dominanten Religionsgemeinschaft (sunnitischer Islam), (siehe 2 in Abb. 2)
Diese beiden „Cleavages“ sind laut Lipset und Rokkan Produkte der „Nationalen Revolution“.
Die beiden anderen Konfliktlinien sind Produkte der industriellen Revolution:
3. Der Konflikt zwischen den Interessen der „Landbesitzer“ und der aufsteigenden Klasse der industriellen Unternehmer (siehe 3 in Abbildung 2)
4. Der Konflikt zwischen Eigentümern und Unternehmern auf der einen und Mietern, Landarbeitern, Hilfsarbeitern und Industriearbeitern auf der anderen Seite (siehe 4 in Abb. 2)15
Der Konflikt Nr. 1 entstand mit der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 als zentralem, nationalen und kemalistisch-laizistisch orientierten „kleintürkischem“ Nationalstaat. Die Paradigmen der zentralistischen türkischen Nation setzten sich in weiten Teilen über die Interessen und Identitäten der Minderheiten wie zum Beispiel Kurden, Araber, Armenier und Griechen hinweg. Zu den Minderheiten zähle ich auch religiöse Minoritäten wie Aleviten und Christen, welche sich zum Teil mit den oben genannten ethnischen Minderheiten überschneiden. Dieser Konflikt dauert auch nach der Regierungsübernahme durch die AKP an und bestimmt relevante Bereiche der türkischen Tagespolitik.
Die Rolle der Minderheiten während des Osmanischen Reichs sei hier ausgeklammert, da diese zwar zu den historischen Ursachen der multiethnischen Gesellschaft, jedoch nicht zu den Variablen der aktuellen politischen Situation zählt.
Konflikt Nr. 2 betrifft die Gegensätze und unterschiedlichen Ideologien des kemalistischen Nationalstaats und des sunnitischen Islam als gelebte Religion der Bevölkerungsmehrheit und des Anspruchs des Islam als universale Moral und Lebensphilosophie. Dieser Konflikt wurde durch Politik und Gesetzgebung der AKP-Regierungen abgeschwächt und die Interessen der Muslime in Staat und Gesellschaft legalisiert. Dennoch bleibt zum einen der Verfassungsgrundsatz der Republik Türkei als demokratischer, laizistischer Staat, welcher dem Islam als „Staatsreligion“ einen Riegel vorschiebt, zum anderen die Interessen und der Widerstand der nun benachteiligten Kemalisten und des westlich orientierten liberal-fortschrittlichen Bildungsbürgertums. Dabei entstehen Wechselwirkungen und Schnittmengen mit Konflikt Nr. 1.
Der Konflikt Nr. 3 zwischen den ländlichen Eliten und dem industriellen Unternehmertum hat sich mit dem Ausbau der Wirtschaft in allen Sektoren (produzierende, verarbeitende und Dienstleistungsbetriebe) weitgehend nivelliert. An seine Stelle ist der Interessengegensatz zwischen dem „anatolischen Mittelstand“ (Handwerker, Ladenbesitzer, Bauern und weitere Kleinunternehmer) und den auf Gewinnmaximierung orientierten, international agierenden Großunternehmen, welche sich teilweise im Besitz großer ausländischer Konzerne befinden. Als Beispiel sei der Einzelhandel genannt. Die noch vor wenigen Jahren dominanten Familienbetriebe in allen Einzelhandelsbranchen werden, vor allem im städtischen Raum, von großen Handelsketten verdrängt. Hier finden sich sowohl Handelsketten türkischer Großunternehmer (Koç, Sabanci, Migros Türk, BİM A.Ş.) als auch europa- und weltweit agierender Unternehmen (METRO Group, Carrefour, Tesco). Auch deutsche Einzelhandelsunternehmen wie Deichmann, Media Markt, Bauhaus, Tchibo und Rossmann haben sich auf dem türkischen Markt etabliert.
Der Konflikt Nr. 4 zwischen Eigentümern, Vermietern, Arbeitgebern auf der einen und Mietern, Pächtern und abhängig Beschäftigten auf der anderen Seite besteht auch in der modernen Türkei. Hier ist auf klassisch kapitalistische Weise eine Anhäufung von Geld und Grundbesitz bei einer kleinen Gruppe von Unternehmern, Mittelständlern und Landbesitzern zu verzeichnen, einhergehend mit einer fortschreitenden Verarmung und/oder Verschuldung der unteren Mittelschichten namentlich Arbeitern, Angestellten und Kleinbauern. Besonders signifikant ist die Armut bei Arbeitslosen und Gelegenheitsarbeitern, da das türkische Sozialsystem Menschen, die nie versicherungspflichtig beschäftigt waren, keine Unterhalts- und Versicherungsleistungen bietet. Dieser Konflikt hat zum einen mit zu den hohen Wahlergebnissen der AKP und den großen Stimmenverlusten der zuvor etablierten Parteien, zum anderen zu einer enorm hohen Pro-Kopf-Verschuldung der türkischen Privathaushalte geführt.
Diese „Cleavage-Strukturen“ sollten sich im Parteiensystem der Türkei widerspiegeln. Ein funktionierendes Parteiensystem sollte diese Konfliktlinien durch Repräsentation der betroffenen Gruppen artikulieren und möglichst zum Ausgleich bringen. Lipset und Rokkan schlagen als Variablen zur Messung der Entscheidungsfindung, Artikulationsmöglichkeiten von Protest, der Möglichkeiten, Nutzen und Kosten von Parteienbündnissen sowie der Möglichkeiten, Bedeutungen und Grenzen einer Mehrheitsregierung vier Schwellen (Thresholds) vor.
Diese sind die Legitimation, die Einbindung, die Repräsentation und die Mehrheitsmacht. Aus der jeweiligen Ausprägung dieser 4 Variablen (high – medium – low) lässt sich das daraus resultierende Parteiensystem ableiten. Dieses werde ich für das Parteiensystem der Republik Türkei anwenden, um den Typ des Parteiensystems zu identifizieren.
1.5.2Das Modell von Richard S. Katz und seinen Mitautoren
In Band 2 „European and American Experiences“ des von Richard S. Katz herausgegebenen Werks „Party Governments: European and American Experiences“ untersuchen Katz und seine Mitautoren die Parteiensysteme von acht ausgewählten Ländern. Der zentrale Begriff ist „Party Government“, also das Modell der repräsentativen Demokratie, in der die Parteien den Willen der Wähler repräsentativ und legitim in politisches Handeln umsetzen. Gleich zu Anfang weisen die Autoren darauf hin, dass ein reines „party government model“ ein Idealtyp, wenn nicht ein Mythos zur Legitimation einer repräsentativen Demokratie ist. In der Praxis, so Katz, wird die Legitimität einer Parteiendemokratie durch die Akzeptanz der Wahlen, den Umgang der Mehrheiten mit Minderheiten sowie die Kontrollmechanismen in Massendemokratien bestimmt.
Bezogen auf den Idealtyp des Party Government stellt Katz drei wesentliche Elemente heraus:
• freie Wahlen unter konkurrierenden Parteien
• jede Partei repräsentiert ein zusammenhängendes Ganzes
• die Partei, die die Wahlen gewinnt, kann tatsächlich, die Regierung kontrollieren16
Da sich dieser Idealtyp in modernen Massendemokratien kaum findet, entwickelt Katz das Konzept der „partyness of government“ als Variable zur Messung des Grades, zu dem ein System die Anforderungen des Idealtyps „party government“ erfüllt17. Mit dieser Variable lässt sich „ der Grad der Parteienkontrolle über den formalen Regierungsapparat messen“.18
Die Messung der Partyness of Government erfolgt über 5 Komponenten oder Teildimensionen:
1. Der Grad der Entscheidungsmacht durch gewählte Politiker, also die direkt und indirekt ausgeübte Kontrolle durch Amtsinhaber
2. Der Grad der Entscheidungsfindung und -durchsetzung in den Parteien (policy-making)
3. Der Grad des Zusammenhalts, also der Parteidisziplin, bei der Umsetzung der Entscheidungen
4. Der Grad der Rekrutierung der Amtsinhaber durch die Parteien
5. Der Grad, zu dem Amtsinhaber als Repräsentanten der Parteien (identifiziert) und verantwortlich gemacht werden
Weitere Variablen sind die „Party Governmentness“ als Maß des Einflusses von Parteien auf gesellschaftliche Themen und Entscheidungen (social power) innerhalb des politischen Systems, sowie die „Partyness of Society“ als Maß der Rolle und des Einflusses von Parteien auf gesellschaftliche Themen außerhalb des politischen Systems, zum Beispiel auf Interessenverbände, Gewerkschaften, Medien, religiöse und soziale Bewegungen. Mit Hilfe dieser Variablen werde ich untersuchen, wie nah das Parteiensystem der Türkei dem Idealtyp des Party Government kommt, um welches Subsystem es sich handelt (z. B. Zweiparteiensystem oder pluralistisches System), und inwieweit die Parteien gesellschaftliche Themen bestimmen oder gesellschaftliche Gruppen repräsentieren.
1.5.3Das Modell von Arend Lijphart
Das Modell von Arend Lijphart analysiert Muster majoritärer und konsensualer Regierungsformen. Dazu stellt Lijphart die „Idealtypen“ des Westminster-Modells und des Konsensmodells vor und versucht, die analysierten 21 Staaten zunächst anhand von 9 typischen, miteinander korrelierenden Dimensionen als eher majoritär oder eher konsensuale Systeme einzustufen. Lijphart untersucht auch die Unterschiede zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen und stellt neun Cluster demokratischer Regime vor.19
1.6Untersuchungsdesign
Das Untersuchungsdesign meiner Arbeit ist eine Fallstudie als qualitativer, linearer Forschungsprozess. Dabei sollen die folgenden Zwischenziele erreicht werden:
• Bildung eines Modells über die vermuteten Bedingungen und Zusammenhänge
• Aufnahme des aktuellen Wissensbestands
• Bildung der Hypothesen
• Operationalisierung, Bildung der Variablen
• Erhebung, Auswertung und Analyse des Forschungsgegenstands
• Überprüfung der Ergebnisse mit Hilfe der oben genannten Theorien und Modelle (Katz, Lipset/Rokkan, Lijphart)
• Verifizierung bzw. Falsifizierung der Hypothesen
• Prognose der weiteren Entwicklung
Die Überprüfung der Eingangshypothesen und Analyse des Forschungsgegenstands erfolgt mit Hilfe qualitativer Methoden, vor allem der Inhaltsanalyse. Ergänzend werde ich einzelne quantitative Datenquellen auswerten, insbesondere Wahlergebnisse und Wirtschaftsstatistiken.
Neben dem Basisdesign der Fallstudie werden Elemente der Vergleichsstudie (z. B. Vergleich unterschiedlicher Parteien oder Vergleich mit Fallgestaltungen der verwendeten Literatur) sowie der Längsschnittstudie (zwecks Erhebung und Analyse der Veränderungen im politischen System) verwendet.
Als Untersuchungsebenen habe ich die Wahlergebnisse der Parteien, die Machtverteilung im Parlament, die Repräsentanz gesellschaftlicher Gruppen im Parteiensystem, strukturelle Veränderungen im Verfassungs- und Parteiensystem, sowie weitere Gruppen und Organe inner- und außerhalb des Regierungssystems ausgewählt.
Der Untersuchungszeitraum ist der „Erhebungszeitraum“ im engeren Sinne, welcher sich auf die Zeit von Mai 2013 bis Juni 2020 erstreckt. Darüber hinaus untersuche ich den Systemwandel seit der Regierungsübernahme der AKP im November 2002. Dort, wo es erforderlich ist, werde ich die historische Entwicklung des politischen Systems einbeziehen, was einem erweiterten Untersuchungszeitraum von 1923 bis heute entspricht.
1.7Methodenauswahl
Die Arbeit ist konzipiert als Mehrebenen-Analyse des Regierungssystems in Form einer Einzelfallstudie.20
Die Untersuchung des einen Falls Republik Türkei trägt einerseits der Tatsache Rechnung, dass ich ein sehr komplexes System sehr intensiv betrachten und analysieren werde, und somit die Details und der Umfang des Materials beträchtlich sind, andererseits, dass ein Vergleich der Türkei mit anderen Ländern (sowohl Europas als auch des Nahen Ostens) aufgrund der unterschiedlichen Systeme problematisch ist.21
Als Forschungsmethode wähle ich die qualitative Auswertung verbaler Daten, wie zum Beispiel Zeitungsartikel, Interviews politischer Akteure, Parteiprogramme, wissenschaftliche Fachbeiträge, Verfassungs- und Gesetzestexte sowie visueller Daten (TV-Beiträge und Sequenzen im Internet).
Um dabei die aktuellen politischen Ereignisse und Veränderungen zu beobachten, werte ich unter anderen die Medien „Hürriyet Daily News“ und „Today’s Zaman“ (bis Sommer 2016) und „Daily Sabah“ in ihrer Online-Version aus.
Dabei sollen zunächst die Deskription der Aussagen ausgewählter Akteure, prozessuale Muster, Interaktionsmuster und dann eine Typologisierung im Rahmen der oben genannten Modelle bis hin zur Theoriebildung (Mehrheits- oder Konsensdemokratie) erzielt werden. Ergänzend beziehe ich quantitative Daten, vorwiegend auf ein- zweidimensionaler Ebene, wie zum Beispiel Wahlergebnisse, Statistiken zur Wirtschaftsentwicklung oder Matrizes zum Entscheidungsverhalten oder zur Typologisierung einzelner (Sub-)Systeme ein.
Diese Methodenauswahl entspricht der Theorie der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring22, 23, 24.
Mayring stellt in seinem Buch „Qualitative Inhaltsanalyse“ einige Grundsätze für die Entwicklung einer solchen Inhaltsanalyse dar:
„Grundsätze zur Entwicklung einer qualitativen Inhaltsanalyse
1. Die wissenschaftliche Orientierung am Alltag, an alltäglichen, unter natürlichen Bedingungen ablaufenden Prozessen des Denkens, Fühlens und Handelns bezieht sich auch auf das methodische Vorgehen: qualitative Inhaltsanalyse muss anknüpfen an alltäglichen Prozessen des Verstehens und Interpretierens sprachlichen Materials
2. Ein Ansatz der Analyse muss die Übernahme der Perspektive des anderen, also des Textproduzenten sein, um eine „Verdoppelung“ des eigenen Vorverständnisses zu verhindern
3. Eine Interpretation sprachlichen Materials auch durch qualitative Inhaltsanalyse ist immer prinzipiell unabgeschlossen. Sie birgt immer die Möglichkeit der Re-Interpretation.“25
In Kapitel 3.2 desselben Buches erklärt Mayring, dass eine Überwindung des Gegensatzes „qualitativ – quantitativ“ möglich ist. So kann aus seiner Erkenntnis während des Forschungsprozesses eine quantitative Analyse hinzugezogen werden. Dabei erfolgt „die Anwendung des Analyseinstrumentariums je nach Gegenstand und Ziel der Analyse gegebenenfalls unter Zuhilfenahme quantitativer Verfahren.“26
Dieser „Methodenmix“ ist für mich das geeignete Mittel, um die Aussagen der Parteien, Akteure, des Gesetzgebers und gesellschaftlicher Gruppen tiefergehend zu untersuchen und gleichzeitig Fakten wie Wahlergebnisse, Bevölkerungszahlen und Wirtschaftsdaten mit einzubeziehen. Eine Herausforderung ist es sicherlich, die vorwiegend als quantitative Analysen vorliegenden Modelle von Lipset und Rokkan sowie von Katz et al. durch qualitative Indikatoren zu ergänzen.
1Vgl. Abromeit/Stoiber (2006), S. 20
2Gabler Wirtschaftslexikon online, Springer Gabler, Stand 15.09.2013. Quelle: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/verfassung.html
3Verfassungen der Türkei, online http://www.verfassungen.eu/tr/
4Vgl. Münch, Richard, Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften. Frankfurt/M. 1984
5Scharpf, Fritz W: Interaktionsformen. Akteurszentrierter Institutionalismus in der Politikforschung. Opladen 2000
6Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz W.: Der Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus. In: Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz W. (Hrsg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt, New York 1995, S. 39–72
7Zitiert aus: von Bandemer/Cordes 1989, S. 290
8Vgl. Abromeit/Stoiber (2006), S. 21
9Vgl. Rudzio, Wolfgang. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2006, S. 381 ff.
10Lipset, Seymour M. /Stein Rokkan (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, New York/London 1967
11Katz, Richard S.: Party Government and its Alternatives. In: Katz, Richard S. (Hrsg.): Party Governments: European and American Experiencies, Berlin, New York 1987
12Lijphart, Arend, Democracies: Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty- One Countries (1984)
13Vgl. Lipset/Rokkan (1967) S. 14
14Ebd.
15Lipset/ Rokkan (1967) S. 14 (Übersetzung und Adaption des Verfassers)
16Katz (1987), S. 4
17Katz (1987), S. 7
18Sjöblom, Gunnar: The Role of Political Parties in Denmark and Sweden, 1970–1984, in: Katz (1987) S. 156 ff
19Lijphart, Arend: Democracies: Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-One Countries New Haven and London 1984
20Siehe dazu Abromeit/Stoiber (2006), S. 30 f.
21Vgl. Lauth, Hans-Joachim, Gert Pickel und Susanne Pickel: Vergleich politischer Systeme, Paderborn 2014, S. 52 „archetypische Fallstudie“
22Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. 11. Auflage Weinheim/Basel 2010
23Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch. Reinbek 2003, 468–475
24Vgl. auch Flick, Uwe: Qualitative Sozialforschung, Reinbeck 1995, S 48 ff. (Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methoden)
25Mayring (2010) S. 38
26Ebd. S. 21
2Das politische System der Republik Türkei
2.1Verfassung und Staatsorgane (Polity-Ebene)
2.1.1Die Verfassung von 1982 und ihre Änderung 2017
Die Verfassung der Republik Türkei in der aktuellen Fassung vom 16. April 2017 kodifiziert die verfassungsrechtlichen Normen des politischen Systems im Rahmen der allgemeinen rechtlichen Grundlagen.27
In der Präambel sind die Grundsätze einer nationalen, souveränen, demokratischen und rechtsstaatlichen, auf dem Prinzip der Gewaltenteilung basierenden Republik festgeschrieben:
„Diese Verfassung, die die ewige Existenz des türkischen Vaterlandes und der türkischen Nation sowie die unteilbare Einheit des Großen Türkischen Staates zum Ausdruck bringt, wird, um entsprechend der Auffassung vom Nationalismus, wie sie Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, der unsterbliche Führer und einzigartige Held, verkündet hat; mit der Entschlossenheit, die ewige Existenz, die Wohlfahrt, das materielle und geistige Glück der Republik Türkei als ehrenvolles und gleichberechtigtes Mitglied der Völkerfamilie der Welt entschlossen auf das Niveau moderner Zivilisation zu heben; in dem Gedanken, dem Glauben und der Entschlossenheit,
– dass der absolute Vorrang des Volkswillens, die Souveränität uneingeschränkt und unbedingt der Türkischen Nation zustehe und keine Person oder Institution, welche diese im Namen des Volkes auszuüben zuständig ist, von der in dieser Verfassung bestimmten freiheitlichen Demokratie und der von ihren Erfordernissen bestimmten Rechtsordnung abweichen werde,
– dass die Gewaltenteilung nicht eine Vorrang gewährende Reihenfolge der Staatsorgane bedeutet, sie aus dem Gebrauch bestimmter Zuständigkeiten des Staates und damit in einer begrenzten zivilisierten Arbeitsteilung und Zusammenarbeit besteht und ein Primat nur der Verfassung und den Gesetzen zukommt, dass kein Gedanke und keine Erwägung gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit des Staatsgebiets, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geschützt wird und heilige religiöse Gefühle, wie es das Prinzip des Laizismus erfordert, auf keine Weise mit den Angelegenheiten und der Politik des Staates werden vermischt werden;
– dass jeder türkische Staatsbürger gemäß den Erfordernissen der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit die Grundrechte und -freiheiten dieser Verfassung genieße und von seiner Geburt an das Recht und die Möglichkeit habe, innerhalb der nationalen Kultur-, Zivilisations- und Rechtsordnung ein würdiges Leben zu führen und seine materielle und ideelle Existenz in diesem Sinne zu entfalten;
– dass die türkischen Staatsbürger insgesamt in nationalem Stolz und nationalem Leid, in nationaler Freude und nationalem Schicksal, in ihren Rechten und Pflichten gegenüber der nationalen Existenz, in Segen und Mühsal sowie in jeglicher Manifestation des Nationallebens geeint seien, in den Gefühlen der entschiedenen Achtung der Rechte und der Freiheiten des anderen und der gegenseitigen herzlichen Liebe und Brüderlichkeit sowie im Verlangen und Glauben an ‚Frieden im Lande – Frieden in der Welt‘ ein Leben voll Heil zu führen das Recht haben.“28
Damit werden in der Präambel die Souveränität des Volkes, die Gewaltenteilung, der Nationalismus, die Wahrung der Prinzipien Atatürks und der Säkularismus hervorgehoben.
Artikel 6 der Verfassung legt die Ausübung der Souveränität durch die Verfassungsorgane fest:
„Die Souveränität gehört uneingeschränkt und unbedingt dem Volk.
Das türkische Volk übt seine Souveränität durch die zuständigen Organe gemäß den in der Verfassung festgesetzten Prinzipien aus.
Das Recht zur Ausübung der Souveränität darf auf keine Weise irgendeiner Person, einer Gruppe oder einer Klasse übertragen werden. Keine Person oder Behörde darf irgendwelche staatliche Autorität ausüben, die nicht in der Verfassung gründet.“29
Dabei liegt die Zuständigkeit der Gesetzgebung bei der Türkischen Großen Nationalversammlung (Türkiye Büyük Millet Meclisi). Diese ist das nationale Parlament in Ankara, welches aus einer Kammer besteht und seit 2017 600 Abgeordnete umfasst.
Dazu legt Artikel 75 der Verfassung fest. „Die Türkische Große Nationalversammlung besteht aus 600 vom Volk in allgemeiner Abstimmung gewählten Abgeordneten.“30
Eine Legislaturperiode dauert 5 Jahre. Das Parlament ist die zentrale Legislative und hat eine Kammer.
Nach Artikel 87 und 88 hat die Nationalversammlung die Aufgaben und Kompetenzen, Gesetze zu erlassen, zu ändern und aufzuheben, die Gesetzentwürfe zu Haushalt und Haushaltsabrechnung zu verhandeln und anzunehmen, über den Druck von Geld und über einen eventuellen Kriegseintritt zu entscheiden, die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge zu billigen, über die Verkündung einer allgemeinen oder besonderen Amnestie zu entscheiden und die in den übrigen Vorschriften der Verfassung vorgesehenen Kompetenzen und Aufgaben auszuüben und zu erfüllen.
Der Präsident der Republik hat bei der Gesetzgebung ein Veto- bzw. Redelegationsrecht.
Weiterhin hat die Nationalversammlung gemäß Artikel 98 ein „Auskunftsrecht“ gegenüber dem Präsidenten und den Ministern, die es in Form einer parlamentarischen Untersuchung, einer Plenarverhandlung, einer Interpellation und eines parlamentarischen Ermittlungsverfahrens ausüben kann.
Der Präsident der Republik wird seit der Verfassungsänderung vom 16. April 2017 laut Artikel 101 direkt vom Volk gewählt. Davor wurde er aus den Reihen der Nationalversammlung von dieser gewählt. Nach der Verfassungsänderung wird der Präsident „aus den Reihen der türkischen Staatsbürger, welche das vierzigste Lebensjahr vollendet, eine abgeschlossene Hochschulausbildung haben und die Voraussetzungen für die Wählbarkeit zum Parlamentsabgeordneten erfüllen, gewählt.“31 Die Amtszeit des Präsidenten beträgt 5 Jahre, wobei eine Person höchstens zwei Mal gewählt werden darf. Ein Kandidat muss in der ersten Abstimmung mindestens 50 Prozent der Stimmen erhalten. Erhält er/sie diese nicht, wird nach 2 Wochen eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen durchgeführt, bei der die einfache Mehrheit ausschlaggebend ist.
Nach der Umstellung auf das Präsidialsystem erhielt der Präsident noch weitreichendere Kompetenzen (da u. a. das Amt des Ministerpräsidenten entfiel). Diese Aufgaben und Kompetenzen sind in Artikel 104 der Verfassung festgelegt.
Danach ist der Präsident der Republik zugleich Staatsoberhaupt und Chef der Exekutive.
Er vertritt die türkische Republik, gewährleistet die Anwendung der Verfassung und die ordnungsgemäße Tätigkeit der Staatsorgane. Der Präsident verkündet die Gesetze. Er kann Gesetze zur erneuten Verhandlung an die Nationalversammlung zurückverweisen. Er erhebt Anfechtungsklage gegen Gesetze oder die Geschäftsordnung des Parlaments oder Teile davon, wenn er diese für nicht verfassungskonform hält.32
Der Präsident ernennt und entlässt seine Stellvertreter, die Minister und die leitenden Beamten. Zu den Grundsätzen der Ernennung und Entlassung der Spitzenbeamten kann er Präsidialverordnungen erlassen. Der Präsident vertritt die Türkei im Ausland, er entsendet die diplomatischen Vertreter der Türkei ins Ausland und akkreditiert die ausländischen Diplomaten in der Türkei. Ebenso genehmigt und verkündet er die völkerrechtlichen Verträge.
Die starke Position des Präsidenten wird in der Verfassung durch sein Recht, verfassungsändernde Gesetze einer Volksabstimmung zu unterziehen und zur Ausübung seiner Exekutivgewalt Präsidialverordnungen zu erlassen, bestimmt. Diese Präsidialverordnungen dürfen zwar keinen Verfassungsgeboten oder geltenden Gesetzen widersprechen, können jedoch die Ausführung der Gesetze definieren und regulieren und im Notstandsfall sogar die Freiheits- und Grundrechte einschränken. Dies war nach dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 für 2 Jahre der Fall.
Der Präsident der Republik ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte und entscheidet über deren Einsatz. Den Verteidigungs- oder Kriegsfall ruft jedoch die Nationalversammlung aus.
Durch diese Verfassungsbestimmungen erhält der Präsident der Republik sehr weitreichende Vollmachten. Er ist Staatsoberhaupt und Regierungschef, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, er ernennt und entlässt die stellvertretenden Präsidenten und Minister. Er kann Gesetze zurückweisen und verfassungsrechtlich überprüfen lassen und jederzeit Gesetzesvorlagen einbringen. Er ist Chef der Exekutive und somit oberster Dienstherr aller Beamten. Er kann Präsidialverordnungen erlassen, die allerdings keine Gesetze aufheben dürfen.
Das Parlament kann gegen den Präsidenten ein Ermittlungsverfahren wegen einer Straftat einleiten. Auch ein Amtsenthebungsverfahren kann durch das Parlament eingeleitet werden. Beide unterliegen jedoch hohen Hürden, darunter ein Untersuchungsausschuss und eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen.33
Ein Staatskontrollrat, der an das Präsidialamt angeschlossen ist, soll die Rechtmäßigkeit aller Verwaltungsentscheidungen überwachen. Diese Aufsicht erfolgt über die Verwaltung, die öffentlich-rechtlichen Körperschaften und diejenigen Betriebe, die mehrheitlich im Staatsbesitz sind34
Das Amt des Ministerpräsidenten wurde mit der Verfassungsänderung im April 2017 aus der Verfassung gestrichen und nach der Übernahme der vollen präsidialen Gewalt durch Erdoğan 2018 nicht mehr besetzt. Der Ministerpräsident war bis 2017 der Regierungschef und Vorsitzender des Ministerrats. Er schlug die Minister dem Parlament vor und bestimmte die Richtlinien der Regierung und der Exekutive. Er war vor allem dem Parlament Rechenschaft schuldig.35
Artikel 109 über die Aufgaben des Ministerrats wurde nach der Verfassungsänderung 2017 aufgehoben.
Der Nationale Sicherheitsrat, ehemals ein Gremium, in dem der Generalstab und die Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte großen Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung hatten und in dem bis 2017 auch der Ministerpräsident mitarbeitete, wurde bereits 2001 teilweise „entmachtet“ und 2017 zu einem reinen beratenden Gremium des Präsidenten gemacht.
Große Bedeutung für die Kompetenzen des Präsidenten hat auch Artikel 119, der das Verfahren in „Fällen der Notstandsverwaltung“ regelt. Dazu zählen der Kriegsfall, die Mobilmachung, ein Aufstand oder Gewalthandlungen gegen den Staat oder die Verfassung, schwere Störungen der öffentlichen Ordnung und Naturkatastrophen, Seuchen oder eine schwere Wirtschaftskrise. Der Notstand wird vom Präsidenten für die Dauer von höchstens 6 Monaten ausgerufen. Vor der Veröffentlichung im Amtsblatt muss das Parlament seine Zustimmung erteilen.
Im Falle einer Verlängerung des Notstands ist ebenfalls die Zustimmung des Parlaments erforderlich.
Durch die spezifische Situation der letzten 18 Jahre, in der die AKP die Mehrheit im Parlament hatte (Ausnahmen 2015 und seit 2018), ist diese Kontrollbefugnis der Nationalversammlung faktisch stark eingeschränkt. Der insgesamt 2 Jahre dauernde Notstand nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 zeigt, welche Handlungsmöglichkeiten Erdoğan und seine Regierung im Krisenfall haben.
In dieser Zeit kam es zu Massenverhaftungen, Entlassungen von Staatsbediensteten mit stark eingeschränkten Revisionsmöglichkeiten, Verbleib der Verdächtigten im Gewahrsam oder Untersuchungshaft ohne Erhebung einer Anklage über Monate und Jahre, verspätete Prozessbeginne und zahlreiche Anklagen, Amtsenthebungen in Verwaltung, Militär, Justiz, in Schulen und Universitäten wegen des Verdachts auf Unterstützung einer Terrororganisation, Beleidigung des Präsidenten oder Geheimnisverrats36. Die Freiheit der Presse wurde weiter eingeschränkt und oppositionelle Zeitungen und Fernseh- und Rundfunksender geschlossen37
Die Aufgaben der Verwaltung werden durch die Artikel 126 und 127 definiert.
Der Aufbau der Verwaltungen ist stark zentralisiert. Unter der Zentralregierung liegt die nach geografischen Kriterien aufgebaute Ebene der Provinzen, darunter die Kreise sowie die Stadtverwaltungen und Dörfer.38
Grundsätzlich sollen laut Verfassung die Aufgaben, der Aufbau und die Kompetenzen der lokalen Verwaltungen durch das Prinzip der Selbstverwaltung erfolgen. Faktisch sind jedoch die Provinzen und die Zentralregierung in Ankara entscheidungsbefugt, die oberste Dienstaufsicht hat der Innenminister.39
Die Provinzgouverneure werden vom Präsidenten der Republik ernannt und entlassen. Trotz der erweiterten Zuständigkeiten der Provinzverwaltungen sind diese an Weisungen der Regierung in Ankara gebunden.
Die Türkei besteht aus sieben Verwaltungsregionen (bölge), die in 82 Provinzen (il) aufgeteilt sind. Die Provinzen werden von einem Provinzgouverneur (vali) als Vertreter der Regierung in Ankara verwaltet. Die Provinzen sind in Landkreise (ilçe) unterteilt, denen ein Landrat (kaymakam) vorsteht. Die Städte werden von einer Kommunalverwaltung (belediye) administriert, die aus dem Stadtrat, dem Verwaltungskomitee und dem Bürgermeister besteht. Die Dörfer werden durch die Dorfverwaltung organisiert und verwaltet. Die Kommunalverwaltungen haben eigene Haushalte, vor allem für die Stadtverwaltung, soziale Dienstleistungen, Verkehr und Infrastruktur. Da aber viele Straßen unter die Zuständigkeit der Provinzen fallen, ebenso wie Finanzmittel aus Ankara, sind die Kommunen nur teilautonom und oft vom Wohlwollen der Provinz- und der Zentralregierung abhängig.
Zur Gründung und Aufgabe der politischen Parteien enthält die Verfassung nur 2 Artikel, welche nicht sehr detailliert sind. Diese sind Artikel 68 und 69. Artikel 68 sagt aus, dass die Staatsbürger das Recht haben, politische Parteien zu gründen und verfahrensgemäß in die Parteien einzutreten und aus den Parteien auszuscheiden. Für die Mitgliedschaft in einer Partei ist die Vollendung des achtzehnten Lebensjahres Voraussetzung. Die politischen Parteien sind laut Verfassung unverzichtbare Bestandteile des demokratischen politischen Lebens. Die Parteien müssen sich an die Verfassung und die Grundsätze des Staates halten. Die Parteien erhalten vom Staat Zuschüsse.
Artikel 69 beschäftigt sich ausführlich mit den möglichen Gründen für die Schließung von Parteien. Diese erfolgt, wenn Parteien verfassungs- oder gesetzwidrig handeln, aber auch, wenn sie mit Organisationen, Verbänden oder öffentlichen Einrichtungen Beziehungen unterhalten oder von diesen finanziell unterstützt werden. Das gilt auch für finanzielle Unterstützung aus dem Ausland.
Gemäß Artikel 9 der Verfassung wird die Zuständigkeit der Rechtsprechung „im Namen des türkischen Volkes von unabhängigen und unparteiischen Gerichten ausgeübt“.40
Die Bindungswirkung und das Primat der Verfassung werden in Artikel 11 herausgestellt: „Die Verfassungsvorschriften sind rechtliche Grundregeln, welche die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung, die Verwaltungsbehörden und übrigen Organisationen und Personen binden. Die Gesetze dürfen nicht verfassungswidrig sein“.41
In Teil 2 der Verfassung werden die Grundrechte und -pflichten, wie die Unantastbarkeit der Person, die Freiheit und Sicherheit der Person, Intimität des Privatlebens, Unantastbarkeit der Wohnung, Kommunikationsfreiheit, Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungs- und Überzeugungsfreiheit und Pressefreiheit beschrieben (Artikel 12–28).
Als Beispiel sei hier Artikel 28 über die Pressefreiheit zitiert: „Die Presse ist frei, Zensur findet nicht statt. Die Gründung einer Druckerei darf nicht an die Bedingung einer Genehmigung oder der Leistung einer finanziellen Sicherheit gebunden werden. Der Staat trifft die Maßnahmen zur Gewährleistung der Presse- und Informationsfreiheit.“42
Über die weiteren Bestimmungen des Artikels 28 über mögliche Einschränkungen der Pressefreiheit werde ich im Kapitel 2.5 ausführlich berichten.
Als weiteres Verfassungsorgan ist das Verfassungsgericht mit der Überprüfung der Gesetze auf ihre formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit beauftragt.
Das Verfassungsgericht besteht aus elf ordentlichen und vier Ersatzmitgliedern. Die Mitglieder des Verfassungsgerichts werden vom Präsidenten ausgewählt. Dazu schlagen die obersten Gerichte, der Staatsrat und die obersten Hochschulorgane jeweils 3 Kandidaten für jede freie Stelle vor. Aus diesen wählt der Präsident dann jeweils den/die Inhaber/in für die zu besetzende Stelle aus. Nach Artikel 148 der Verfassung überprüft das Verfassungsgericht die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, der Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft, der Geschäftsordnung der Türkischen Großen Nationalversammlung und entscheidet über Verfassungsbeschwerden. Die Verfassungsänderungen untersucht und überprüft es nur im Hinblick auf die Form. Die Überprüfung hinsichtlich der Form kann vom Präsidenten der Republik oder einem Fünftel der Mitglieder der Großen Nationalversammlung der Türkei verlangt werden.
Außerdem führt das Verfassungsgericht eventuelle Verfahren gegen den Präsidenten der Republik, die Mitglieder des Ministerrats, die Präsidenten und Mitglieder des Verfassungsgerichts, des Kassationshofs, des Staatsrats, des Militärkassationshofs und des Hohen Militärverwaltungsgerichtshofs, die Generalstaatsanwälte, den stellvertretenden Generalstaatsanwalt der Republik, die Präsidenten und Mitglieder des Hohen Richter- und Staatsanwälterats und des Rechnungshofs wegen im Zusammenhang mit ihren Ämtern begangener Straftaten als Staatsgerichtshof durch.
Die Aufgabe des Staatsanwalts vor dem Staatsgerichtshof nimmt der Generalstaatsanwalt der Republik oder der stellvertretende Generalstaatsanwalt der Republik wahr.43
Das Verfassungsgericht überprüft also zum einen die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, der Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft und der Geschäftsordnung der Türkischen Großen Nationalversammlung. Zum anderen führt es die Verfahren gegen den Präsidenten der Republik, die Mitglieder des Ministerrats, die Präsidenten und Mitglieder des Verfassungsgerichts sowie gegen die Präsidenten und Mitglieder der obersten Gerichte, der Generalstaatsanwälte, des Hohen Richter- und Staatsanwälterats und des Rechnungshofs bezüglich im Zusammenhang mit ihren Ämtern begangenen Straftaten durch. Das Verfassungsgericht ist somit innerhalb der Gewaltenteilung das oberste und gewichtigste Kontrollgremium gegenüber der Legislative und – bezogen auf Straftaten – der Spitzen der Exekutive und des Präsidenten.
In der Verfassung werden somit formell die Voraussetzungen einer parlamentarischen Demokratie mit Gewaltenteilung und Checks und Balances erfüllt. Durch das Fehlen einer zweiten Parlamentskammer (und auch einer föderalen Struktur) und die starke Position des Präsidenten, der zahlreiche Interventionsrechte hat, und die Abhängigkeit des Kabinetts von der Weisungsbefugnis des Präsidenten, hat die Türkische Große Nationalversammlung die ebenso herausfordernde wie schwierige Aufgabe, eine „starke“, sehr aktiv und initiativ agierenden Präsidialregierung zu kontrollieren, und zugleich noch eigene Gesetzesvorlagen einzubringen und durchzusetzen. Bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen, nämlich einer absoluten Mehrheit des Bündnisses zwischen der AKP und der MHP, und einer nicht einheitlich agierenden Opposition, hat die Große Nationalversammlung eher die Funktion eines legislativen Arms der Regierung und die Opposition nur noch die Möglichkeit, ihre Ablehnung als „Minderheitsvotum“ öffentlich zu Protokoll zu geben. Die Position des Präsidenten (und seine reale Macht) sind so dominant, dass dieser zurzeit praktisch im „Alleingang“ ihm genehme und förderliche Gesetze und Verordnungen verabschieden kann. Diese Stellung ist ungefähr der des amerikanischen Präsidenten vergleichbar, mit dem Unterschied, dass in den Vereinigten Staaten die Gewaltenteilung und die Pressefreiheit weiterhin funktionieren und sich ihre Handlungsfähigkeit erhalten konnten.
2.2Die politische Willensbildung (Politics-Ebene)
2.2.1Parteien
Im folgenden Kapitel werden die fünf in der Großen Nationalversammlung vertretenen Parteien vorgestellt. Das Ziel soll nicht eine umfangreiche und vollständige Darstellung dieser Parteien sein, sondern eine knappe Vorstellung der Ideologie, der politischen Ziele und der Klientele. Aus den über 50 in der Republik Türkei zugelassenen Parteien, von denen 20 bei der letzten Parlamentswahl kandidierten, habe ich die fünf Größten ausgewählt, da sie im Parlament die politische Willensbildung in der Legislative bestimmen. Zugleich sind sie wichtige Akteure in der öffentlichen Meinungsbildung, da sie in der Berichterstattung von Presse und Fernsehen erscheinen, und ebenso durch Verlautbarungen, Interviews und Beschlüsse aktiv die öffentliche politische Diskussion prägen. Kleinere Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind, erscheinen weitaus seltener in den großen Zeitungen und Fernsehkanälen. Die AKP ist seit 2002 im Parlament und seitdem die größte Partei. Die kemalistische CHP ist die älteste Partei; sie wurde 1923 von Kemal Atatürk gegründet. Die nationalistische MHP wurde 1969 gegründet und hatte schon damals zwei „Vorgängerinnen“. Die HDP ist seit 2015 im Parlament vertreten und ist seitdem die drittgrößte Partei. Die im Oktober 2017 gegründete İyiP übernahm die Mandate von 5 ehemaligen Abgeordneten der MHP, die diese verließen und Gründungsmitglieder der İyiP wurden, und ist seit 2018 mit einem Wahlergebnis von 10 Prozent und 43 Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten. Die AKP Recep Tayyip Erdoğans ist die mit einer Mehrheit ausgestattete Regierungspartei, die CHP, HDP, İyiP und MHP bilden die Opposition. Allerdings hat die MHP Devlet Bahçelis nach dem gescheiterten Putschversuch im Juni 2016 ihre Oppositionsrolle weitgehend aufgegeben. Die MHP unterstützt nun bei wichtigen Abstimmungen, wie z. B. die zur Verfassungsänderung im März 2017, die AKP und war mit der AKP ein Bündnis für die Präsidentschaftswahlen 2018 eingegangen. Dies führte zur Abspaltung der İyiP, die nun die Rolle der dritten Oppositionspartei innehat.
Die Vorstellung dieser Parteien ist relevant und erforderlich, um ihre politische Zielrichtung und Programmatik zu verstehen und vergleichen zu können und die durch sie angesprochenen und vertretenen gesellschaftlichen Gruppen zuordnen und nachvollziehen zu können.
2.2.1.1Die AKP Adalet ve Kalkınma Partisi
Die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Ak Parti), übersetzt „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ wurde am 14. August 2001 gegründet. Gründungsmitglieder waren Recep Tayyip Erdoğan, Abdullah Gül, Bülent Arınç, Cemil Çiçek, Abdülkadir Aksu, Hüseyin Çelik, Köksal Toptan, Kürșad Tüzmen und andere. Erdoğan, Gül und Arinç waren zuvor führende Mitglieder des Reformflügels der islamistischen Tugendpartei (Fazilet Partisi, FP), welche 2001 verboten wurde. Sie spaltete sich in eine islamistisch-nationalistische (Saadet Partisi SP) und eine konservativ-demokratische, eher reformorientierte (Adalet ve Kalkınma Partisi) als Nachfolgeparteien auf. Für die neu gegründete AKP bedeutete Reformbereitschaft, die Wirtschaft zu reformieren, Demokratie und Menschenrechte zu stärken und die Türkei an die EU heranzuführen.44 Dabei verzichtete die Partei darauf, sich als religiös zu bezeichnen und bekannte sich zum Verfassungsprinzip des Laizismus sowie zur freien Religionsausübung.45 Dadurch gab die AKP zum einem dem Militär keinen Grund zum Eingreifen und baute andererseits das Misstrauen säkular orientierter Teile der Bevölkerung ab.