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Nach dem herausragenden Erfolg von A. S. Neills Buch «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung» kamen täglich Dutzende von Briefen aus Deutschland und wöchentlich rund hundert Besucher aus aller Welt nach Summerhill. Alle stellten Fragen nach der Schule, nach den Schülern, nach dem Prinzip der Erziehung, nach alltäglichen und speziellen Problemen der kindlichen Entwicklung. Neill hat hier einen Katalog der 99 häufigsten und wichtigsten Fragen zusammengestellt, die ihm immer wieder vorgelegt wurden, und hat sie eingehend und sehr persönlich beantwortet. «Viele meiner Ansichten mögen Mumpitz sein, besonders die über Themen wie Ehe, Religion oder Politik. Nur wenn meine Ansichten etwas mit Kindern zu tun haben, verdienen sie Beachtung; was ich über Kinder schreibe, beruht auf Beobachtung.»
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Seitenzahl: 283
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Alexander Sutherland Neill
Das Prinzip Summerhill: Fragen und Antworten
Argumente, Erfahrungen, Ratschläge
Aus dem Englischen von Hermann Krauss
Ihr Verlagsname
Nach dem herausragenden Erfolg von A. S. Neills Buch «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung» kamen täglich Dutzende von Briefen aus Deutschland und wöchentlich rund hundert Besucher aus aller Welt nach Summerhill. Alle stellten Fragen nach der Schule, nach den Schülern, nach dem Prinzip der Erziehung, nach alltäglichen und speziellen Problemen der kindlichen Entwicklung. Neill hat in diesem Buch einen Katalog der 99 häufigsten und wichtigsten Fragen zusammengestellt, die ihm immer wieder vorgelegt wurden, und hat sie eingehend und sehr persönlich beantwortet.
«Viele meiner Ansichten mögen Mumpitz sein, besonders die über Themen wie Ehe, Religion oder Politik. Nur wenn meine Ansichten etwas mit Kindern zu tun haben, verdienen sie Beachtung; was ich über Kinder schreibe, beruht auf Beobachtung.»
Alexander Sutherland Neill, geboren 1883 in Schottland, beendete seine Studienzeit als Master of Arts und Master of Education. Doch seine anschließende Praxis als Lehrer an staatlichen Schulen verlor für ihn sehr schnell ihren Reiz. A. S. Neill sah immer klarer, dass solche Erziehung zu schweren seelischen und charakterlichen Dauerschäden führt. Wachsen in Selbstbestimmung – das war das Prinzip seiner später weltberühmten Internatsschule Summerhill, die er 1921 gründete und bis zu seinem Tod 1973 leitete.
Ich habe so viele Bücher über Erziehung geschrieben, daß ich wahrscheinlich nichts Neues mehr zu sagen habe. Seine eigenen Bücher zu lesen ist eine Tortur, und ich kann mich einfach nicht entschließen nachzulesen, was ich alles schon geschrieben habe. Deshalb werde ich mich auf diesen Seiten wohl wiederholen. Das ist meiner Meinung nach nicht sehr schlimm, denn die Leser vergessen rasch, was sie gelesen haben. Der Grund, warum ich dieses Buch schreibe, ist einfach: Ich möchte die vielen Fragen beantworten, die mir von Hunderten von Besuchern und Briefschreibern gestellt worden sind. Die Frage, die mir immer wieder von neuem gestellt wird, ist folgende:
Ein alter Freund beschwor mich, ein Buch über dieses Thema zu schreiben. Er sagte: „Du mußt das unbedingt tun. Denn viele Eltern, die ‚Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung‘ lesen, fühlen sich wegen der Strenge, mit der sie ihre Kinder behandelt haben, schuldig und sagen ihnen dann, daß sie von jetzt an frei seien. Das Ergebnis ist gewöhnlich eine Schar von ungezogenen Bälgern; die Eltern haben nämlich keine Ahnung, was Freiheit ist. Sie verstehen nicht, daß zur Freiheit Geben und Nehmen gehört, daß es ebenso Freiheit für die Eltern wie Freiheit für die Kinder sein muß. Diese Eltern meinen, Freiheit sei, alles tun zu können, wozu man Lust hat.“
Das sind betrübliche Nachrichten. In Amerika habe ich den Eindruck gewonnen, daß die Kinder zu viel von der falschen Freiheit haben. Beispiel: Ich möchte jemand besuchen, mit dem sich ein Gespräch lohnt, einen Professor, einen Lehrer oder einen Arzt. Bei meiner Ankunft sind gerade seine Frau und zwei Kinder im Zimmer. Die Kinder bleiben da und beherrschen die Unterhaltung. Als heute ein Besucher kam, waren drei Kinder in meinem Zimmer. „Kommt, Kinder“, sagte ich, „haut ab, ich möchte mit diesem Besuch sprechen.“ Sie gingen anstandslos. Aber es könnte auch einmal andersherum sein, denn meine Schüler haben mich schon oft rausgeschickt, wenn sie unter sich sein wollten, zum Beispiel um ein Theaterstück zu proben.
Ich habe es da freilich leichter als Eltern. Nur selten muß ich einem Kind etwas verbieten – weil die Schulgemeinde bestimmt, nicht ich. Ich sehe durchaus die Schwierigkeiten einer Mutter in einer normalen Wohnung, die das Essen kochen soll, während drei lärmende Kinder ihr im Wege sind und heiße Kochtöpfe anfassen wollen. Es ist leider so, daß sich Kinder und Erwachsene nicht in denselben Räumen aufhalten sollten. Unsere Bücherregale, Kunstgegenstände und Wanduhren bedeuten einem Kind nichts. Leider können es sich nur die Reichen leisten, besondere Räume für Kinder einzurichten, und dann verderben sie die Sache oft dadurch wieder, daß sie Kindermädchen anstellen, die von Kindern und Kinderpsychologie nichts verstehen. Kinder gehören nicht in die Küche oder ins Wohnzimmer. Sie sollten ihr eigenes Revier haben, möglichst in schmiedeeiserner Ausführung. Wir müssen jedoch die Tatsachen nehmen, wie sie sind, und eine Tatsache ist, daß wir diese Reviere für Kinder nicht haben. Aber wenn eine Mutter das richtige Verhältnis zu ihren Kindern hat, wenn diese keine Angst vor ihr haben, so kann sie ruhig etwas energisch verbieten, ohne ihnen dadurch Schaden zuzufügen.
Unglücklicherweise haben sehr viele Leser Summerhill nur mit dem Verstand begriffen, auf der verbalen Ebene, wie es Krishnamurti genannt hat. Aber der Verstand hat uns noch nie weitergeholfen. Der Antrieb muß aus dem Herzen kommen.
Ich fürchte, daß das nicht möglich ist. Das Prinzip der Selbstbestimmung hängt sehr viel von der Mutter selber ab, von ihrer Gemütsverfassung, ihren Anschauungen und Wertvorstellungen. Kein Kind kann frei aufwachsen, wenn einer Mutter bestimmte Dinge wichtiger sind als ihr Kind, wenn sie zum Beispiel wegen einer zerbrochenen Vase Krämpfe kriegt oder wenn sie mit ihrem reizenden und wohlerzogenen Kind den Nachbarn imponieren will. Bei einer Mutter, die sich vor Sexuellem und vor Exkrementen fürchtet, kann kein Kind frei aufwachsen. Das Prinzip verlangt eine ausgeglichene, seelisch entspannte Frau, die nur auf das Wert legt, was wichtig ist. Ich scheine da das Idealbild einer Mutter zu malen, die es noch nie und nirgends gegeben hat. Gott sei Dank, möchte man sagen. Was ich klarmachen will, ist, daß ein Kind nicht freier und unbefangener sein kann, als seine Mutter es ist. Um einen extremen Fall zu nehmen: Wie kann sich ein Kind frei fühlen, wenn es eine hysterische, unglückliche Mutter hat, die gleich zuschlägt? So daß die Antwort an eine Rat suchende Mutter sein müßte: Versuchen Sie zuerst einmal, mit sich selbst ins Gleichgewicht zu kommen. Machen Sie sich von allen konventionellen Vorstellungen von Reinlichkeit, Unordnung, Kinderlärm, Fluchen, sexuellen Spielen und unwillkürlichem Kaputtmachen von Spielsachen frei. Viele Spielzeuge sollten von einem gesunden Kind bewußt kaputtgemacht werden. Das mag sich anhören, als mache ich es wie Krishnamurti, der dem Fragesteller aus seiner Frage gern einen Strick dreht. Aber hier geht es nicht anders. Das Verhalten einer Mutter oder eines Vaters wird das Verhalten der Kinder bestimmen. Moralische und religiöse Eiferer, Eltern, denen Disziplin über alles geht, können keine freien Kinder aufziehen. Selbstbestimmung ist ein Verhalten, das aus dem Selbst hervorgeht, das nicht von außen aufgezwungen ist. Das von außen geformte Kind hat jedoch kein Selbst, es ist nur eine Kopie seiner Eltern.
Diese sogenannte Erziehung und Bildung ist nicht unbedingt nötig. Ich denke da an Mary, die jetzt als hochbetagte Frau in einem Dorf in Schottland lebt. Mary verbreitete eine wunderbare Ruhe um sich; nichts konnte sie aufregen, sie war nie außer sich; instinktiv stand sie auf der Seite ihrer Jungen und Mädchen; diese wußten, daß sie bei allem mit ihrem Verständnis rechnen konnten. Die mütterliche Mary war eine freundliche Gluckhenne inmitten ihrer Küken. Sie hatte eine natürliche Begabung, Liebe zu geben, ohne Besitzansprüche zu stellen. Ich fürchte, daß wir als kleine Jungen Marys Gutmütigkeit zu sehr ausnützten, wenn sie beim Essen zum zweitenmal die Teller füllte.
Hier war eine einfache Frau, die nie etwas von Psychologie oder von Selbstbestimmung gehört hatte und die schon vor fast siebzig Jahren nach diesem Prinzip handelte. Ich habe oft Bauersfrauen getroffen, die wie Mary waren, die sich bei allem, was ihre Familie anging, auf ihr Gefühl verließen und die sich in der Kindererziehung nicht an irgendwelche vorgeschriebenen Regeln hielten. Auf einem Hof schienen sogar die Tiere selbstreguliert zu sein. Die Hunde fletschten nie die Zähne, der Stier war nicht wild, der Hengst war zahm. Freilich hatten jene Frauen bessere Voraussetzungen als eine Mutter in einer Großstadtwohnung. Die Kinder waren die meiste Zeit im Freien, und im Hause gab es keine teuren Geräte, die man vor Kinderhänden schützen mußte, wie Radiogeräte, Plattenspieler, elektrische Bügeleisen. In der Familie gab es keine kostbaren Kleider, auf die man aufpassen mußte. Das ideale Zuhause für ein freies Aufwachsen wäre auf dem Lande.
Alles sehr schön, sagt die Mutter, aber ich lebe nicht auf dem Lande, was dann? Ich glaube, die wesentliche Frage ist, wie sehr Sie Ihr Kind wirklich lieben. Ihr Zweijähriger wird sich schlecht benehmen, wenn er spürt, daß er in einer gespannten Umgebung ist, wo es heißt: „Sieh mal nach, was der Kleine anstellt, und sag ihm, daß er das nicht darf!“ Sie sollten nie gewaltsame Versuche machen, daß Ihr Kind sauber wird. Es ist verkehrt, es auf den Topf zu zwingen. Wenn der Topf in der Nähe ist, wird es das Kind mit der Zeit von selber lernen, ihn zu benutzen. Wenn es etwas nicht essen will, dürfen Sie das Kind auf keinen Fall dazu zwingen oder überreden. Wenn es seine Genitalien berührt, sollten Sie das lächelnd billigen. Das kling alles so einfach, aber was soll man machen, wenn er seine Wutanfälle kriegt? Was soll man dazu sagen, wenn er seine kleine Schwester schlägt? Wenn er Sachen demoliert? Es ist sinnlos, wenn man versucht, einem zweijährigen Kind Vernunft einzureden; es kann den Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht begreifen. Wenn es die Katze am Schwanz zieht, ist es zwecklos, zu sagen: „Würde es dir gefallen, wenn ich dich an der Nase ziehe?“ und das dann praktisch zu zeigen. Manchmal muß man einfach nein sagen, oder man muß das Kind wegnehmen, zum Beispiel von einer weinenden Schwester, manchmal muß man auch sagen „Laß das liegen!“ Sonst erhält man ein verzogenes Kind. Es ist hier nicht möglich, allgemeine Richtlinien aufzustellen, wie sich eine Mutter verhalten soll. Eine Mutter, die die Ruhe bewahrt, weiß, was sie tun und was sie sagen muß; die Mutter dagegen, deren Stimme und Hand ihren Kindern Schrecken einjagen, wird die Ungezogenheit nur noch verstärken. Mit anderen Worten, Selbstbestimmung ist nichts Handgreifliches; niemand kann sie lehren. Es gibt so wenig junge Leute, die sich als Kinder frei entwickeln konnten, daß man nichts Endgültiges über sie sagen kann. Soviel ich sehen kann, sind sie weniger aggressiv, toleranter, körperlich gelöster und geistig freier. Sie sind nicht bereit, sich von lebensfeindlichen Moralisten bevormunden zu lassen.
Aber freies Entwickelnlassen bedeutet nicht, daß man ein Kind nicht beschützen sollte. Wenn Mütter schreiben und mich fragen, ob es gegen die freie Entwicklung wäre, wenn sie ein Kamingitter anbringen, so stoße ich einen Seufzer aus. Eine der geplagtesten Mütter wohnt mit einem Vierjährigen an einer Hauptverkehrsstraße. Sie meint, oft müsse sie alles, was über freie Entwicklung gesagt wurde, einfach vergessen und in der Angst ihr gefährdetes Kind an sich reißen. Autos, Fahrräder, elektrische Stecker, feuergefährliche Stoffe, Kanäle, Gullys machen die freie Entwicklung für viele ängstliche Mütter zu einer schwierigen Sache.
Dies ist eine ständig wiederkehrende Frage, sie ist mir schon tausendmal gestellt worden. Sie ist so kompliziert, daß sie sich nicht ohne Verallgemeinerungen beantworten läßt. Wie soll ich wissen, ob Bill, der zehn Jahre in Summerhill war, jetzt fünfundvierzig und – sagen wir – Universitätsdozent, mit seiner Familie, seiner Arbeit, seiner sozialen Umwelt und mit seinen Träumen glücklich ist? Ich weiß es nicht, und so kann ich nur das Allgemeine betonen.
Summerhillschüler verbringen acht Monate in der Schule und vier Monate zu Hause. Sie sind nicht ohne Kontakt mit der Außenwelt. Gewiß, diese Außenwelt ist alles andere als frei, aber unsere früheren Schüler finden sich in ihr zurecht. Oft geht es bei ihnen, wie bei uns allen, nicht ohne bewußte Heuchelei. Wenn ich vor einer Frau den Hut ziehe, so ist das eine bedeutungslose Geste, die tatsächlich die traurige Tatsache verdeckt, daß in einer patriarchalischen Kultur die Frau nicht für voll genommen wird. Unser Betragen gegenüber Frauen ist eine Kompensation dafür, und trotzdem ziehe ich meinen Hut, wenn ich einen aufhabe, obwohl ich weiß, daß es gar nichts bedeutet. So machen unsere früheren Schüler gute Miene zum bösen Spiel und halten die bedeutungslosen sozialen Spielregeln ein. Einigen fällt es schwer, Freunde zu finden, die so wie sie denken und fühlen. Viele stammen aus London und treffen sich häufig, aber wenn einer aus der Provinz kommt, aus Glasgow oder Liverpool zum Beispiel, dann ist es gar nicht so leicht, Kontakte herzustellen.
Man kann Leben und Berufe nicht auf frei erzogene Kinder zuschneiden. Unsere Schüler schlagen wie die Schüler jeder anderen Schule die Richtung ein, in die sie Begabung und Charakter weisen. Ein Junge ist Maurer geworden, und kein schlechter. Einer ist Professor. Ein anderer ist Friseur. Vier sind Universitätsdozenten, und einem wurde eine Professur angeboten, die er ausschlug, weil er seine Forschungsarbeit fortsetzen wollte. Eine ganze Anzahl sind Ärzte, Zahnärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure und Künstler. Einige Mädchen widmen sich der Kinderpflege, einige werden Sekretärinnen, eine oder zwei sind Künstlerinnen mit eigenen Ausstellungen in London. Nur wenige gehen ins Lehrfach. Als ich vor einigen Jahren gefragt wurde, ob von unseren Schülern auch welche Lehrer geworden seien, konnte ich ehrlich antworten: „Nur ein Mädchen wollte Lehrerin werden, und die war geistig beschränkt.“ Das gilt jetzt nicht mehr, denn ungefähr drei sind ins Lehrfach gegangen. Der bewußte Grund, warum die meisten nicht Lehrer werden wollen, ist, daß es nur ein Summerhill gibt und daß Lehrersein bedeuten würde, an einem Pult zu stehen und einen Haufen Kinder zu unterrichten, die lieber mit Murmeln spielen würden. Wahrscheinlich hat es aber eine tiefere Bedeutung, warum wir so wenige Lehrer hervorbringen. Freie Menschen wollen nicht etwas lehren, sie wollen etwas tun, oder wie Shaw es formuliert hat: „Wer etwas kann, tut es; wer nichts kann, unterrichtet.“ Wie viele Lehrer sind Könner? Wie viele Englischlehrer schreiben je ein gutes Buch? Wie viele Kunsterzieher gibt es an den Schulen, deren Bilder in Galerien zu sehen sind? Wie in einem Detektiv wahrscheinlich ein heimlicher Bösewicht steckt, der seine Schuld auf einen andern überträgt, so kann ein Lehrer ein unzufriedener Mensch sein, der seine Lebensfremdheit auf seine Klassen überträgt und anstatt sich selbst zu bessern, seine Schüler zu bessern versucht. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Lehrer völlig humorlos sind. Bei Zusammenkünften von Lehrern bemerke ich immer wieder, daß sie nicht richtig lachen können. Ein Mann, der sich als kleiner Herrgott in seinem Klassenzimmer fühlt, hat Angst, es könne seinem Ansehen schaden, wenn er einen Spaß macht.
Ich glaube, daß meine früheren Schüler nicht unterrichten wollen, weil sie zu ausgeglichen und zu selbstkritisch sind, um Würde zur Schau zu tragen und Gehorsam, Respekt und Unterordnung zu verlangen.
Ein Punkt ist bezeichnend. Unsere Schüler scheinen selten einen kaufmännischen Beruf zu ergreifen; sie trachten nicht danach, mit dem Verkaufen von Waren Geld zu verdienen. Es gab eine Zeit, wo ich mir ausmalte, daß einer meiner Schüler Großindustrieller wird und der Schule eine Schenkung macht, aber gleichzeitig sah ich ein, daß er dazu ein hartgesottener Geschäftsmann sein müßte, der nichts verschenken würde. Meine persönliche Meinung ist, daß sie zu ehrlich sind, um Profit zu machen.
Soviel zur Sache des Berufs. Betätigen sie sich in der Politik? Normalerweise nicht, vielleicht wieder wegen ihrer Ehrlichkeit; denn Politik ist ein schmutziges Geschäft, wie wir alle wissen. Wir haben schreiende Mißstände – aber wenn man im Parlament für ein humanes Gesetz stimmt, könnte das die Stimmen der Katholiken oder Baptisten oder was weiß ich für Wähler kosten. Deswegen braucht es mindestens drei Generationen, um schreiende Mißstände durch Gesetz abzuschaffen.
Freie Kinder sind keine agitierenden Rebellen; sie tragen oft die Zeichen der Atomwaffengegner, aber keiner meiner Schüler wurde wegen eines Sitzstreiks mit Bertrand Russell auf dem Trafalgar Square festgenommen. In der Tat bin ich wohl der einzige Summerhillianer, der wegen eines Sitzstreiks vor Gericht gestellt wurde. Ich protestierte in Schottland vor einem Stützpunkt mit Polarisraketen und erhielt dafür sechzig Tage oder zehn Pfund Geldstrafe. Ich versuchte das nicht noch einmal, weil ich einsah, daß man damit wenig oder gar nichts erreicht. Nein, die Freiheit macht keine Rebellen; und hier stellt sich die peinliche Frage: Wenn einer gegen das Establishment rebelliert, muß er dann nicht zuvor schwer unter ihm gelitten haben? Wie es bei Shelley heißt: „Durch Unrecht werden Unglückliche zu Dichtern; im Leiden lernen sie, was sie im Liede lehren.“ Ist der Bahnbrecher immer ein unzufriedener Mensch, der gegen seine frühe Erziehung rebelliert? Aber kommt es darauf an? Ein Psychoanalytiker sagte mir, daß ich meine Schule aus Haß gegen die Herrschaft meines Vaters, des Dorfschulmeisters, gegründet hätte. Das könnte sein; aber was zum Teufel macht das aus? Meine Schüler hatten sicher nicht den Wunsch, gegen ihre Schulzeit zu rebellieren. Ein ehemaliger Schüler sagte: „Ich laufe nicht herum und versuche, meinen Nachbarn die Freiheit zu predigen. Ich hoffe, daß der Eindruck, den ich durch meine Art zu leben auf andere mache, genügt, und das gilt besonders für meine Kinder. Ich kann es mir nicht leisten, sie nach Summerhill zu schicken, aber auch wenn ich das Geld hätte, weiß ich nicht, ob ich es tun würde; denn ich habe das Gefühl, daß ich von der Schule so viel mitbekommen habe, daß ich meine Kinder selber richtig erziehen kann.“ Und ein Vater sagte: „Diejenigen, die aus Summerhill hervorgegangen sind, glauben, daß sie nicht die Hilfe einer Schule brauchen, nicht einmal Summerhills, um ihre Kinder großzuziehen. Meine Generation vertraute Ihnen unsere Kinder an, weil wir merkten, daß wir sie nicht richtig behandelt hatten.“
Um es zusammenzufassen: Was für eine Art von Menschen bringt diese Schule hervor? Wenn man es einmal negativ sagen will: Was sie nicht hervorbringen könnte, wären Menschen, die Juden oder Neger hassen; Erwachsene, die Kinder schlagen; Moralisten, die ihre Kinder nach ihrem Bilde formen möchten. Freiheit versieht uns mit einer riesigen Portion Toleranz, und wenigstens drei Eltern haben sich bei mir beklagt, daß Summerhill ihre Kinder zu tolerant gemacht hätte. Ein Beispiel ihrer Toleranz habe ich oft angeführt: In fünfundvierzig Jahren habe ich nicht erlebt, daß ein aus Kindern zusammengesetztes Gericht einen jungen Dieb für seinen Diebstahl bestrafte; alles, was sie verlangen, ist, daß er ersetzt, was er gestohlen hat. Den Erwachsenengerichten zur Nachahmung empfohlen.
Ich werde oft gefragt: Wie können Kinder, die nicht gezwungen werden, am Unterricht teilzunehmen, mit der Mehrheit konkurrieren, die dazu gezwungen worden ist? Ich glaube, die Antwort ist klar. Meine Schüler lernen freiwillig und deshalb mit Lust, während Tausende von Schülern an staatlichen Schulen bestimmte Stoffe lernen müssen, auch wenn sie sie hassen. Ich brauchte sieben Jahre, um so viel Latein zu lernen, daß ich zum Studium zugelassen wurde. Einer meiner Jungen schaffte das in fünfzehn Monaten. Wir müssen bedenken, daß viele Schulfächer höchst langweilig sind. Wie viele meiner Leser wären in der Lage, eine Quadratwurzel zu ziehen oder eine quadratische Gleichung zu lösen? Wie viele Engländer wissen über die Außenpolitik unserer Regierung Bescheid, und wie viele haben dafür nicht das geringste Interesse? Doch es gibt nun einmal das Prüfungssystem, und wir müssen mit ihm rechnen. Sonst wären die wichtigsten Lehrer in meiner Schule die schöpferischen, diejenigen, die in Tanz, Musik, Kunst, Theater, Kochen und Werken unterrichten und, wenn das verlangt wird, in Mathematik, Chemie und Physik. Der springende Punkt bei der Freiheit ist, daß sie den Kindern Mut gibt; wenn es darauf ankommt, können sie mit den Schwierigkeiten fertig werden. Sie eignen sich vielleicht nicht so viel von dem üblichen Schulwissen an. Aber wenn ein Kind, das die meiste Zeit hier mit Spielen zugebracht hat, sich später zum Universitätsstudium entschließt, dann besucht es die Abendkurse eines College und besteht so die Zulassungsprüfung. Das ist für mich kein Grund zur Aufregung, denn unsere Kriterien sind Zivilcourage, Glück und Wohlwollen. Unser Ziel ist, kurz gesagt, der ausgeglichene Erwachsene, der sich weder in die Dienste des Establishments noch in die der Demagogie einspannen läßt.
Um diese Frage zu beantworten, müßte man ein dickes Buch schreiben. Kindsein ist nicht Erwachsensein; Kindsein heißt Spielen, und kein Kind kann zu viel spielen. Die Theorie von Summerhill ist: Wenn ein Mensch als Kind genug gespielt hat, wird er sich danach an die Arbeit machen und die Schwierigkeiten meistern. Und ich behaupte, daß diese Theorie durch die Fähigkeit unserer früheren Schüler bestätigt worden ist, etwas Ordentliches zu leisten, auch wenn damit eine Menge unangenehmer Arbeit verbunden ist. Die meisten Menschen hassen ihre Arbeit. Ich habe viele Leute gefragt: „Wenn Sie das große Los gewinnen, würden Sie dann Ihren Beruf weiter ausüben?“ Schöpferisch tätige Menschen sagen ja, Künstler, Ärzte, einige Lehrer, Musiker und Bauern, aber viele sagen, sie würden ihre Arbeit aufgeben, unter ihnen sind Arbeiter, Verkäufer, Angestellte, Lastwagenfahrer und Monteure, die an einem Fließband stehen und nie das fertige Produkt sehen. Die meisten Tätigkeiten sind nicht besonders interessant, und gerade die jungen Leute haben eine Abneigung gegen sie. Vor fünfzig Jahren sagte Sir William Osler, ein Mann sei mit vierzig zu alt. Ich sage, er ist zu jung mit vierzig, in vielen Jahren habe ich herausgefunden, daß die Männer in meinem Lehrerkollegium, die bereit sind, unangenehme Arbeiten wie zum Beispiel das Herankarren von Ziegelsteinen zu übernehmen, gewöhnlich die über vierzig sind. Aber gelegentlich war auch einer dabei, der unter vierzig war. Unter Zwang müßten natürlich die unter vierzig die Arbeit machen. Seien wir ehrlich, die meiste Arbeit ist doch eine üble Tretmühle, und die Einführung der Automation wird viele aus diesem Stumpfsinn befreien. Aber hier wird sich folgendes Problem ergeben: Wie kann eine reglementierte und uniformierte Menschheit mit der Automation leben? Familie und Schule töteten Freiheit, Initiative und alles Schöpferische; sie sagten den Kindern, wie sie leben und was sie denken und glauben sollten; sie legten ihnen eine Last von sozialen Tabus auf. Ich befürchte sehr, daß, wenn die Freizeit das Normale ist, die Arbeiter und ebenso die Meister unfähig sein werden, mit dieser Freizeit etwas anzufangen. Heute bedeutet Freizeit wenigstens in England zu oft Hunderennen, Bingo, Popmusik, Fußballplatz, Fernsehen, und das alles hat mit schöpferischer Betätigung und Kultur nichts zu tun. Allerdings muß man hier vorsichtig sein, denn was ist Kultur? Für Sie und mich kann es die Dichtung sein, die Musik oder das Theater, aber die Jugend von heute versteht darunter etwas ganz anderes. Wenn meine Schüler eine Beatplatte hören, haben sie genausoviel Spaß wie ich, wenn ich ‚Die Meistersinger‘, meine Lieblingsoper, höre. Meine Jungen verachten die Bücher meiner Jugend – Conan Doyle, Anthony Hope, Kipling – und ergötzen sich an den letzten Raumfahrergeschichten. Dürfen wir sagen, daß unsere Kultur höher steht und besser ist als ihre? Zudem ist Kultur immer Sache einer Minderheit. Wie viele von uns haben je Keats oder Shelley oder Tennyson oder Browning gelesen? Wer liest Samuel Johnson oder Dryden? Von der alten Kultur hat nur die Musik durch das Radio eine Massenpopularität erhalten; es haben Millionen Beethoven und Chopin gehört, die in meiner Jugend höchstens einen flotten Walzer einer Bumskapelle zu hören bekommen hätten. Allerdings pflegte ich vor sechzig Jahren für einen Shilling auch die Samstagskonzerte in Dundee zu besuchen; ich hörte da Paderewski. Pachmann, Elman, Siloti und Lamond. Der Saal war immer voll.
Das Fernsehen hat bestimmte Dramen und auch das Ballett populär gemacht. Und das Kino hat manche kulturellen Dinge vielen zugänglich gemacht. Der Haken dabei ist, daß das alles von kurzer Dauer ist; wirklich gute Filme werden selten wiederholt. Ich würde fünf Meilen zu Fuß gehen, um ‚Der Kongreß tanzt‘ wieder zu sehen oder ‚Lichter der Großstadt‘ oder einen Film mit Greta Garbo. Vom Film bleibt zu wenig zurück. Könnte ich doch Buster Keaton mit seinem Pokergesicht wiedersehen!
Ich bin wieder einmal vom Thema abgeschweift. Das ist eine meiner Stärken, wie man mir sagt. Ein langweiliger Schriftsteller ist einer, der immer bei seinem Thema bleibt, das oft genug stumpfsinnig ist.
Das Kind und seine Pflichten also. Pflicht – was für ein häßliches Wort. Es läßt uns an alte Jungfern denken, die nicht zum Heiraten kommen, weil sie eine leidende Mutter zu pflegen haben. Selbst ein Sigmund Freud würde erschrecken, wenn ihr unbewußter Haß herauskäme. Doch die Pflicht gibt es nun einmal. Ich kann nicht im Bett liegen bleiben, wenn meine Mathematikklasse auf mich wartet. Meine ehemaligen Schüler haben bestimmte Pflichten gegen ihre Familie, ihre Arbeit, ihre Nachbarn. Kinder, die frei erzogen worden sind, können diese Pflichten leicht erfüllen. Aber sie lassen sich nicht zu Gefangenen dieser Pflichten machen, sie behalten einen klaren Kopf und werden nicht das Opfer von Wut und Haß und Todeswünschen gegen diejenigen, die diese Pflichten fordern. Wenn einer innerlich frei ist, erledigt sich die Pflicht von selbst. Wie gesagt, Pflicht ist ein häßliches Wort. Die Pflicht verlangt, daß ein Neunzehnjähriger bereit sein soll, für sein Vaterland zu kämpfen und zu sterben; aber wenn er an die Pflicht gegen sich selber denkt, wenn er ein ungehindertes Sexualleben beansprucht, dann verbünden sich alle lebensfeindlichen Mächte gegen ihn. Die Gesellschaft kennt eine Pflicht zu sterben, aber nicht die Pflicht zu leben.