Das Problem, für andere zu sprechen - Linda Martín Alcoff - E-Book

Das Problem, für andere zu sprechen E-Book

Linda Martín Alcoff

0,0
6,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer darf für wen sprechen?  Darf man überhaupt für jemand anderen sprechen? Die Kernfrage des Aufsatzes der Philosophin Linda Alcoff sticht in ein Wespennest: Spätestens mit den Diskussionen um die Übersetzung eines Gedichtes von Amanda Gorman wurde deutlich, wie schwierig und politisch brisant diese Frage ist.  Alcoff sensibilisiert dafür, wann das Sprechen für andere schiefläuft, und zeigt zugleich, weshalb es dennoch notwendig ist, den Anspruch, für andere zu sprechen, nicht aufzugeben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 91

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Linda Martín Alcoff

Das Problem, für andere zu sprechen

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Valerie Gföhler
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marina Martinez Mateo

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962176-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014356-8

www.reclam.de

Inhalt

Das Problem, für andere zu sprechen

Anmerkungen

Zitierte Werke

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen der Herausgeberin

Literaturhinweise

Nachwort: Linda Alcoffs »Probleme« Versuch zur politischen Kollektivität

Sehen Sie sich die folgenden wahren Begebenheiten an:

Anne Cameron, eine sehr begabte weiße kanadische Autorin, verfasst mehrere halb fiktionale Erzählungen über das Leben indigener kanadischer Frauen. Sie schreibt diese aus der Ich-Perspektive und nimmt eine indigene Identität an. Bei der International Feminist Book Fair in Montreal 1988 beschließt eine Gruppe indigener kanadischer Schriftstellerinnen, Cameron dazu aufzufordern – in deren Worten –, »Platz zu machen«, mit der Begründung, dass ihr Schreiben für indigene Autorinnen entmächtigend ist. Sie stimmt zu.1

Nachdem 1989 die Wahlen in Panama von Manuel Noriega gekippt werden, verkündet US-Präsident Bush in einer öffentlichen Ansprache, dass Noriegas Taten einen »unerhörten Betrug« darstellen und dass die »Stimme des panamaischen Volkes gesprochen hat«. »Das panamaische Volk«, lässt er uns wissen, »will eine Demokratie und keine Tyrannei haben und Noriega soll weg.« Er fährt damit fort, die Invasion Panamas zu planen.

Bei einem Symposium, das vor Kurzem an meiner Universität stattfand, wurde ein angesehener Theoretiker eingeladen, einen Vortrag über die politischen Probleme der Postmoderne zu halten. Wir im Publikum, darunter viele weiße Frauen und Menschen, die unterdrückten nationalen Minderheiten angehörten, erwarteten in gespannter Vorfreude seinen Beitrag zu dieser wichtigen Debatte. Zu unserer Enttäuschung begann er seinen Vortrag mit der Erklärung, dass er das zugewiesene Thema nicht abdecken könne, weil er nicht fühle, dass er als weißer Mann befähigt sei, für die feministischen und postkolonialen Perspektiven, die die kritische Befragung der postmodernen Politik lanciert haben, zu sprechen. Er fuhr damit fort, einen Vortrag über Architektur zu halten.

Diese Beispiele demonstrieren einige gängige Praktiken und Diskussionen über das Für-andere-Sprechen [speaking for others] in unserer Gesellschaft. Als eine Form der diskursiven Praxis ist das Für-andere-Sprechen zunehmend in die Kritik geraten und wird von einigen Communitys abgelehnt. Es gibt eine starke, wenn auch umstrittene Strömung innerhalb der feministischen Bewegung, die meint, dass das Für-andere-Sprechen arrogant, eingebildet, unethisch und politisch unzulässig ist. Häufig findet man in feministischen Magazinen wie Sojourner Artikel und Briefe, in denen die Autorin erklärt, dass sie nur für sich selbst sprechen könne. In ihrem zentralen Artikel »Dyke Methods« legt Joyce Trebilcot eine philosophische Ausführung dieser Sicht vor. Sie erklärt ihren Verzicht auf die Praxis, für andere in der feministischen lesbischen Community zu sprechen, und argumentiert außerdem dafür, dass sie »nicht versuchen werde, andere Frauen dazu zu bringen, meine Überzeugung statt ihrer eigenen anzuerkennen«, da so ein Vorgehen der Ausübung eines diskursiven Zwangs oder sogar einer Gewalttat gleichkäme (S. 1).2 In der Anthropologie wird ebenfalls viel darüber diskutiert, ob es möglich sei, in angemessener und gerechtfertigter Weise für andere zu sprechen. Trịnh T. Minh Hà erklärt die Gründe für die Skepsis, indem sie ausführt, dass Anthropologie »vor allem ein Gespräch von ›uns‹ mit ›uns‹ über ›sie‹ [ist], also ein Gespräch des weißen Menschen/Mannes mit dem weißen Menschen/Mann über den primitiven-eingeborenen Menschen/Mann […] in der ›sie‹ zum Schweigen gebracht worden sind. ›Sie‹ stehen immer auf der anderen Seite der Berge, nackt und sprachlos […], ›sie‹ [sind] unter ›uns‹, den diskutierenden Subjekten, nur zugelassen, wenn ›sie‹ von einem von ›uns‹ begleitet oder eingeführt werden […]« (S. 65, 67).3 Vor dem Hintergrund dieser Analyse sind sogar Ethnographien, die von fortschrittlichen Anthropologen geschrieben wurden, aufgrund der strukturellen Beschaffenheit anthropologischer diskursiver Praxis a priori rückschrittlich.

Die Erkenntnis, dass im Für-andere-Sprechen ein Problem liegt, hat zwei Ursprünge. Erstens wird zunehmend anerkannt, dass die Bedeutung und die Wahrheit dessen, was jemand sagt, von der Position, aus der heraus jemand spricht, beeinflusst werden und dass man daher nicht annehmen kann, seine Position überschreiten oder transzendieren zu können. In anderen Worten hat die Verortung einer Sprecherin (bezogen hier auf deren soziale Position oder soziale Identität) einen erkenntnistheoretisch bedeutenden Einfluss auf die Behauptungen dieser Sprecherin und kann dazu dienen, deren Rede entweder zu autorisieren oder ihr die Autorität zu entziehen. Die akademischen Institute für Women‹s Studies und African-American Studies wurden aus ebendieser Überzeugung heraus gegründet. Dass sowohl die Studien zu als auch das Eintreten für die Unterdrückten prinzipiell von den Unterdrückten selbst gemacht werden müssen. Ebenso müssen wir endlich anerkennen, dass systematische Verschiedenheiten in der sozialen Position zwischen Sprecherinnen und denjenigen, für die gesprochen wird, bedeutende Auswirkungen auf den Inhalt des Gesagten haben werden. Die unausgesprochene Prämisse lautet schlicht und einfach, dass die Verortung einer Sprecherin erkenntnistheoretisch bedeutsam ist. Ich werde diese Frage im nächsten Abschnitt näher erkunden.

Der zweite Ursprung umfasst die Erkenntnis, dass die Verortungen nicht nur erkenntnistheoretisch bedeutsam, sondern bestimmte privilegierte Verortungen sogar diskursiv gefährlich sind.4 Im Speziellen hat die Praxis privilegierter Personen, für oder im Interesse von weniger privilegierten Personen zu sprechen, eigentlich (in vielen Fällen) darin resultiert, dass die Unterdrückung der Gruppe, für die gesprochen wurde, zunahm oder verstärkt wurde. Dies war auch Teil des Arguments gegen das Sprechen für indigene kanadische Frauen durch Anne Cameron. Camerons Absichten wurden dabei nie infrage gestellt, doch wurde vorgebracht, dass die Auswirkungen ihres Schreibens kontraproduktiv für die Bedürfnisse der indigenen Frauen seien. Daher sieht sich die Arbeit von privilegierten Autoren und Autorinnen, die im Interesse der Unterdrückten sprechen, immer mehr mit einer Kritik von Angehörigen der unterdrückten Gruppen konfrontiert.5

Als Philosophinnen und Sozialtheoretiker sind wir dank unserer akademischen Stellung dazu autorisiert, Theorien zu entwickeln, die die Ideen, Bedürfnisse und Ziele von anderen ausdrücken und erfassen. Dennoch müssen wir beginnen, uns zu fragen, ob diese Autorisierung legitim ist. Ist die Praxis, für andere zu sprechen, jemals eine zulässige Praxis, und falls dem so ist: Was sind die Kriterien für ihre Gültigkeit? Ist es jemals zulässig, für andere zu sprechen, insbesondere dann, wenn sie anders oder weniger privilegiert sind als ich?

Wir könnten versuchen, das Problem so einzugrenzen, dass es nur aufscheint, sobald eine privilegiertere Person für eine weniger privilegierte Person spricht. In diesem Fall könnten wir sagen, dass ich nur für Gruppen sprechen sollte, denen ich selbst angehöre. Doch sagt uns das nichts darüber, wie Gruppen selbst gegeneinander abgegrenzt werden sollten. Kann zum Beispiel eine weiße Frau für alle Frauen sprechen, nur weil sie eine Frau ist? Falls nicht: Wie eng sollen wir die Kategorien dann ziehen? Ich bin eine panamaische Amerikanerin und eine Person mit gemischter Ethnizität und race: halb weiß / Angla und halb panamaische Mestiza. Das Kriterium der Gruppenidentität wirft viele offene Fragen für eine Person wie mich auf, da ich mehreren einander entgegenstehenden Gruppen angehöre, wobei meine Zugehörigkeit zu allen jeweils problematisch ist. Auf welcher Grundlage können wir eine Entscheidung, Gruppen voneinander abzugrenzen und Zugehörigkeit auf eine bestimmte Weise zu definieren, rechtfertigen? Es kann keine einfache Lösung für dieses Problem dadurch gefunden werden, dass man die Praxis des Für-andere-Sprechens einfach darauf reduziert, nur für Gruppen zu sprechen, zu denen jeweils bereits Zugehörigkeit besteht.

Der Standpunkt, nur für sich selbst zu sprechen, wirft ähnlich problematische Fragen auf. Wir könnten uns etwa fragen, ob ich meine politische Verantwortung aufgebe, mich gegen Unterdrückung auszusprechen, indem ich nicht für diejenigen spreche, die weniger privilegiert sind als ich selbst – eine Verantwortung, die mir genau durch die Tatsache meines Privilegs zukommt. Sollte ich mich dann, wenn ich nicht für andere spreche, lieber darauf beschränken, deren Führung unkritisch zu folgen? Besteht mein größter Beitrag darin, Platz zu machen und aus dem Weg zu gehen? Und falls dem so ist: Worin bestünde der beste Weg, das zu tun: darin, zu schweigen, oder darin, meinen eigenen Diskurs zu dekonstruieren?

Die Antworten auf diese Fragen werden sicherlich, je nachdem, wer fragt, stark voneinander abweichen. Während einige von uns etwa weiterhin die Praxis der US-Regierung, für die »freie Welt« zu sprechen – eine ideologische Konstruktion, die eine große Zahl an Dritte-Welt-Nationen repräsentiert –, untergraben wollen, wollen wir wahrscheinlich nicht die Befähigung von jemandem wie Rigoberta Menchú untergraben, für guatemaltekische Indianer6 zu sprechen. Es stellt sich also die Frage, ob jede Situation, in der für andere gesprochen wird, zu verurteilen, oder, falls dies nicht der Fall sein sollte, wo eine Grenze zu ziehen ist.

Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns über die epistemologischen und fundamentalen strukturierenden [metaphysical] Kategorien der Wirklichkeit klarer werden, die Teil unserer Rede vom Problem des Für-andere-Sprechens sind. Diese Belange bleiben zumeist indirekt eingeschlossen. Ich werde den Versuch unternehmen, diese Belange deutlich zu machen, um dann einige der möglichen Antworten auf die Problemstellung zu diskutieren, bevor ich mich meiner eigenen vorläufigen, im Prozess befindlichen Antwort annähere. Doch muss ich zuerst noch weitergehender erklären, wie ich den Rahmen des Problems definiere.

In den oben angeführten Beispielen mag es so scheinen, als ob eine Gleichsetzung zwischen der Angelegenheit, für andere zu sprechen, und der Angelegenheit, über andere zu sprechen, bestünde. Diese Vermengung war von mir beabsichtigt. Es besteht eine Mehrdeutigkeit in den beiden Sätzen: Wenn jemand für andere spricht, dann beschreibt diese Person möglicherweise deren Situation und spricht daher über sie. Tatsächlich ist es vielleicht sogar unmöglich, für andere zu sprechen, ohne zugleich Informationen über sie weiterzugeben. Ähnlich kann jemand, wenn er über andere spricht oder einfach versucht, ihre Situation oder einen Aspekt von dieser Situation zu beschreiben, an ihrer Stelle sprechen, das heißt, für sie sprechen. Jemand kann als Vertreterin oder Botschafterin über andere sprechen, wenn diese Personen nicht für sich selbst sprechen können. Wenn die Praxis, für andere zu sprechen, problematisch ist, dann muss dies auch für die Praxis, über andere zu sprechen, gelten, da es sich schwierig gestaltet, in allen Fällen zwischen dem Für-Sprechen und dem Sprechen-über [speaking about] zu unterscheiden.7 Wenn wir außerdem die oben vorausgesetzte Prämisse akzeptieren, dass die Position einer Sprecherin eine erkenntnistheoretisch bedeutsame Auswirkung auf deren Behauptung hat, dann lassen sowohl das Für-andere-Sprechen als auch das Sprechen-über-andere ähnliche Probleme aufscheinen. Ich werde in diesem Aufsatz versuchen, mich in meinen Ausführungen auf das Für-andere-Sprechen zu konzentrieren, jedoch wird es unmöglich sein, eine klare Abgrenzung zu der Praxis, über andere zu sprechen, zu halten.

Wenn »Sprechen-über« hier ebenfalls einbezogen ist, dann muss auch das gesamte Gebäude der »Krise der Repräsentation« einbezogen werden. Sowohl im Für-Sprechen als auch im Sprechen-über-andere lasse ich mich auf einen Akt der Repräsentation der anderen ein: ihrer Bedürfnisse, Ziele, Situation und tatsächlich auch die Repräsentation dessen, wer sie sind. Ich repräsentiere sie als