Das Rad der Fortuna - Ulrike Stutzky - E-Book

Das Rad der Fortuna E-Book

Ulrike Stutzky

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Beschreibung

Man schreibt das Jahr 1346: Der Bürger und Krämer Dietrich Berlinger ist ein gesegneter Mann. Gott hat ihm ein gutes, tüchtiges Weib und drei Kinder geschenkt. Auch seine Geschäfte gehen gut, mit Fleiß und Gottvertrauen hat er ein bescheidenes Vermögen verdient. Aus seinem kleinen Hökerstand, der ihn anfangs eher schlecht als recht ernährt hatte, hat er einen ansehnlichen Handel mit Spezereien und bunter Kramware aufgebaut. Als jedoch zwei vornehme und mächtige Ratsherren der Stadt mit einem ungewöhnlichen Anliegen bei dem Krämer Berlinger vorstellig werden, gerät dessen bisher wohlgeordnete Welt langsam aus den Fugen. Der mörderische Machtkampf zwischen Kaiser und Papst erfaßt die Familie Berlinger ebenso wie die Schrecken des Jahrhunderts: Hunger, Krieg und Pest. Dietrich Berlinger wird in eine gefährliche politische Intrige verwickelt, sein Sohn findet sich inmitten einer Fehde verfeindeter Adliger wieder und fällt auf einer Handelsreise Straßenräubern zum Opfer. Wie seine Zeitgenossen fühlt sich der Krämer von Gott verlassen, Gewalt und Naturkatastrophen - Erdbeben und Heuschrecken - erscheinen ihm als eine Strafe des Himmels und wie viele andere Bürger seiner Stadt sucht er Trost bei religiösen Eiferern, den Geißlern. Doch gegen den Schwarzen Tod, der schleichend seine Opfer fordert, sind alle machtlos.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Buch I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Buch II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Prolog

Ergriffen schaute Karl, Markgraf zu Mähren, erstgeborener Sohn des erhabenen Fürsten Johann, des von Gottes Gnaden erwählten Königs von Böhmen, zu den hohen Mauern des päpstlichen Palastes empor. Er stand inmitten eines gewaltigen Hofes, der von einem weihevollen Kreuzgang eingefasst war. Die Sonne stand hoch über der Stadt Avignon und ergoss ihre belebende Wärme über die Sträucher, Gräser und Blumen zu Karls Füßen. Die Farben und der Duft weckten in ihm erregende Erinnerungen. Ihm war, als sei er wieder Jüngling, als erlebe er wieder den Frühling, als spüre er wieder das Erwachen der Natur und entdecke wieder das Licht des Südens. Mit Wohlwollen nahmen seine Ohren die vertrauten Laute um ihn herum wahr. Überall in diesem Palast sprachen sie französisch. Es war jenes wohlklingende, reine Französisch, das sie auch damals, als er als Knabe erstmals die weichen fremden Laute gehört hatte, am Hofe des Königs in Paris gesprochen hatten. Während der letzten Wochen hatte Markgraf Karl oft das harte Provenzalisch der ketzerischen Bauern in der Umgebung erdulden müssen, nun blieb er von diesem unverständlichen Gekrächze jedoch verschont.

Viel hatte sich in der herrlichen Stadt Avignon verändert, seit er das letzte Mal hier verweilt hatte. Der Palast war erstaunlich gewachsen, aber trotz seiner erhabenen Größe noch immer nur eine Baustelle, die künftige Macht und Wohlstand versprach.

Als Karl vor einigen Jahren hier vom alten Papst Benedikt empfangen worden war, hatte er am selben Tag auch noch seinen Freund aus Pariser Kindertagen, den Kardinal Pierre Roger, in der Rhônestadt besucht. Der gute Mann, der dem jungen Prinzen so vieles gelehrt hatte, der ihm Mentor, Beschützer und Mitstreiter gewesen war, hatte es damals schon zu einem einflussreichen Kirchenmann gebracht. Der Franzose genoss im Umkreis des Heiligen Vaters großes Ansehen und viel Einfluss.

Bei jenem ersten Besuch des Böhmenprinzen Karls in der herrlichen Stadt Avignon, hatten sie oft zusammen gesessen im Hause des Freundes Pierre Roger, hatten dann all die Streitereien im Reich und in der Kirche, die Zwietracht zwischen Kaiser und Papst besprochen und einander ihre Hoffnungen und Visionen anvertraut, als der Franzose dem jungen böhmischen Thronerben eines Abends geweissagt hatte:

„Du wirst noch König der Römer werden.“

Daraufhin hatte Karl geantwortet:

„Du wirst vorher Papst.“

Waren das nur Trugbilder gewesen? Hatten die beiden Freunde im Rausch der Wiedersehensfreude sich damals zu kindischen Flausen hinreißen lassen?

Karl versuchte sich zu erinnern an diesen frohen Abend, als er plötzlich von Ferne die geliebte Stimme des Freundes hörte… Pierre Roger…sein Lehrer in Kindertagen, sein Beschützer in der Fremde, sein väterlicher Vertrauter im Knabenalter, kam voller Freude strahlend auf ihn zu gelaufen. Um ihn herum liefen aufgeregt Diener und Pfaffen. Schon rief Seine Heiligkeit Papst Klemens VI. dem Erben der böhmischen Krone zwischen den erhabenen Mauern des mächtigen Palastes erfreut seinen Willkommensgruß entgegen.

„Mein teurer Karl. Ihr seid wahrhaftig hier. Welch eine frohe göttliche Fügung, Euch hier bei mir zu begrüßen.“

„Geliebter Heiliger Vater, lieber Maître Pierre Roger, welch eine Freude, dass Ihr meinen werten Vater und mich empfangen wollt.“

Ergriffen kniete der junge böhmische Prinz vor dem Heiligen Vater und Freund nieder, eilig jedoch hob Papst Klemens seinen ehemaligen Schüler Karl auf.

Der alte, blinde König Johann war mittlerweile von seinem Pferd abgestiegen, wobei Diener ihn hielten und stützten. Auch den Rest des 3Fußweges durch den Garten des Kreuzganges hin zum Pontifex hatte der Alte eher geführt und beinahe getragen werden müssen, als dass er die Schritte aus eigener Kraft hatte bewältigen können. Als der Böhmenkönig aber die Rede seines Sohnes vernahm, ließ er sich auf das Knie fallen und tastete suchend nach der Hand des Papstes, um sie demütig zu küssen.

Klemens, der gute Mann, half dem alten, blinden König jedoch sogleich hoch und gab einigen Dienern den Befehl, die Gäste in den Palast zu geleiten.

„Ich würde Euch gerne meinen Baumeister Jean de Louvres vorstellen, aber er ist wohl wieder umtriebig auf dieser Baustelle, die mein Palast leider noch immer ist.“

Damit wies er stolz auf die halbfertigen Mauern im Süden und Westen der gewaltigen Palastanlage. Verhüllt von Gerüsten, hinter massigen Stapeln von Steinquadern und Holzlatten aufragend, verkündeten diese noch unvollendeten Gebäude eine unbezwingbare und prachtvolle Zukunft des Papstpalastes in Avignon.

Ein Heer flinker Bauleute bevölkerte die Gerüste und schwirrte am Fuße der stetig wachsenden Mauern umher wie eine Armee unbeirrter Ameisen auf dem üppig fruchtbaren Boden eines kühlen Herbstwaldes.

Auch als die hochgeborenen Gäste das Innere der bereits vollendeten Teile der Palastanlage betreten hatten, hörten sie noch immer die Rufe der Maurer und Steinmetze, das Sägen und Hämmern der Zimmerleute.

Papst Klemens hatte sie in das Hirschzimmer geführt. Herrliche, lebensnahe Fresken schmückten die Wände dieses Raums. Karl hatte solch ein Farbenspiel und solche Lebendigkeit noch niemals zuvor in Bildern gesehen. Der Papst trat stolz und zufrieden lächelnd an seinen früheren Schüler heran.

„Nicht wahr, mein junger Freund, sie sind wahrhaftig das Werk eines von Gott geliebten Meisters?“

Der Thronfolger betrachtete andächtig die dargestellten Szenen. Alle Bilder zeigten Formen der Jagd, die Falkenjagd war ebenso zu erkennen wie die Jagd mit Hunden. An der Nordwand erkannte Karl einige um einen Fischweiher stehende Angler. Das eindrucksvollste Fresko jedoch entdeckte der junge Böhme an der Westseite des Saales. Dort war ein im Jagdrausch tobender Windhund abgebildet, der einen Hirsch riss. Karl erkannte, wie das angreifende Tier unbarmherzig die Zähne in sein Opfer schlug. Die Wut und der Schmerz, der Triumph und der Tod rangen so leibhaftig vor ihm, dass es dem Thronfolger schauderte.

„Es ist wahrhaftig schön, nicht wahr? Aber es ist leider nur ein kleiner Teil eines großen, noch immer unvollendeten Ganzen. Mit Gottes Hilfe aber wird das Werk gelingen, und dieser Palast wird ein gebührliches und angenehmes Haus für mich und die kommenden Pontifices.“

Die Gäste nickten ergriffen, der jugendliche Markgraf Karl, weil er die Pracht dieses Raumes verinnerlicht hatte, der alte blinde Böhmenkönig Johann jedoch, um diese freundliche Vorrede des Heiligen Vaters abzukürzen und zum eigentlichen Kern ihrer Unterredung überzuleiten.

Der Pontifex teilte offenbar mit dem Alten dieses Verlangen, denn er kam nun unmittelbar auf den eigentlichen Gegenstand ihrer Verhandlungen zu sprechen.

„Wir haben aber noch ein ganz anderes Haus zu bestellen. Es stehen uns nur noch wenige Hindernisse im Weg. Sind diese mit Gottes Hilfe weggeschafft, so wird es dir gelingen, den Streit der heiligen Kirche mit dem Reiche endgültig zu beenden und die deutschen Lande vom Kirchenbann zu befreien. Dein Oheim, der Erzbischof Balduin von Trier, hat von mir die Absolution erhalten. Er hat sich von dem Thronräuber Ludwig abgewandt und ich habe ihn wieder in die heilige Kirche aufnehmen können.“

Der alte König Johann nickte und murmelte einige unverständliche Sätze.

Er hatte dem Erzbischof von Trier, seinem Oheim Balduin, noch nie Zuneigung oder Hochachtung entgegen gebracht. Kam die Rede auf den Bruder seines Vaters, erwiderte Johann diese meist nur mit einem abfälligen Grunzen. Der Heilige Vater wusste um diesen Umstand und sprach daher weiter, ungerührt von den missmutigen Tönen des Böhmenkönigs.

„In einem Brief habe ich die Bitte an den Erzbischof gerichtet, er möge einen frommen, der heiligen Kirche ergebenen Mann an die Spitze des Reiches stellen, damit die Christenheit endlich von diesem Usurpator befreit ist. Karl, du bist dieser Mann, du wirst ein würdiger Kaiser werden, der die Christenheit schützt. Ludwig, dieser Bayer, muss endlich vom Thron verjagt werden. Dein Oheim Balduin wird dafür Freunde und Helfer gewinnen. Es ist sicher, dass das Band Eurer Verwandtschaft ein sicherer Grund ist, der deiner Kandidatur einen festen Halt gibt.“

„Erzbischof Balduin ist ein sonderbarer Mann, Euer Heiligkeit, er kann jedem, der sich mit ihm einlässt, sehr gefährlich werden“, der alte König Johann grunzte verächtlich.

„Seine Winkelzüge sind oft undurchschaubar, er ist gerissen wie ein Fuchs und geheimnisvoll wie seine Agenten, die im ganzen Reich für ihn kundschaften.“

„Ich werde auf der Hut sein“, Papst Klemens senkte die Stimme, als fürchtete er ungeladene Lauscher, „und ich werde mich zu verteidigen wissen. Dennoch will der Erzbischof Balduin seinen Neffen auf dem Thron sehen, nicht nur im fernen Böhmen, sondern auch im Reich. Balduin hat sich entschieden, gegen den Bayern und für dich, Karl.“

Die Männer standen schweigend zusammen. Sie ahnten, welch Bürde sich vor ihnen auftat.

„Wir dürfen aber nichts übereilen. Der Bayer sitzt noch immer fest im Sattel. Seine Deutschen empören sich, sobald sie meinen, der Heilige Stuhl würde ihnen ihr Recht und ihren König streitig machen. Unsere Vorgänger im heiligen Amte haben damit viele bittere Erfahrungen machen müssen“, mahnte der Papst.

„Es weilen doch noch immer Ludwigs Gesandtschaften hier in Avignon? Will er die Aussöhnung mit dem Heiligen Stuhl?“

„Mein lieber Karl. Der Bayer verfolgt ein doppeltes Spiel und auch wir üben uns tüchtig darin. Aber der Preis ist für uns ein anderer. Für Ludwig den Bayern geht es um die Krone. Wir aber kämpfen um die universale Macht Gottes hier auf Erden. Alle Obrigkeit ist von Gott. Die geistliche Macht hat die weltliche einzusetzen und ist Richterin über sie. So haben es unsere Vorgänger im Amte gehalten und so werden auch wir es halten. Alle Titel des Bayern sind nichtig, denn sie sind nicht von uns gebilligt und bekräftigt, all seine Herrschaft, sei sie in deutschen Landen, sei sie in Italien, ist grundlos und hinfällig, denn sie ist nicht durch uns verliehen. Eine Aussöhnung, wie du es zu nennen beliebst, ist gar nicht möglich. Wir werden und können diesen Ketzer auf dem Thron nicht wieder in die heilige Kirche aufnehmen. Er und seine Getreuen sind verloren und verdammt.“

Der Pontifex maximus, der Diener der Diener Gottes, hatte sich in große Wut geredet. Ihm war es ernst mit dem Kampf gegen seinen standhaften Feind Ludwig, den sie am Heiligen Stuhl nur abfällig „den Bayern“ nannten, dem sie aber drüben, in den deutschen Landen noch immer als König und Kaiser folgten, trotz allen päpstlichen Zorns und trotz eines seit bereits zwanzig Jahren bestehenden Banns.

Der alte König Johann aus Prag und sein Sohn Markgraf Karl, der junge böhmische Thronfolger, blieben noch einige Tage in der päpstlichen Stadt Avignon, sie genossen die Annehmlichkeiten des Palastes und verhandelten mit dem Pontifex noch viele offene Fragen, die die aussichtsreiche Wahl Karls von Mähren zum deutschen König betrafen.

Dies alles trug sich zu, als man zählte nach Gottes Geburt eintausenddreihundertvierundvierzig Jahre.

Im Sommer desselben Jahres belagerte der Erzbischof Balduin von Trier die Burg Eltzau unweit der Mosel gelegen. Der Ritter Egbert von Eltzau, dessen Eigengut die Feste einst gewesen war, der nunmehr aber alle Rechte und allen Besitz an ihr verloren hatte, da er sie gegen eine große Summe Kölner Geldes an den Erzbischof Balduin verkauft hatte, verschanzte sich zusammen mit seinen zwei Söhnen, seinem Weib und einer kläglichen Besatzung von einem halben Dutzend Männern auf Burg Eltzau.

Von dem Montage nach der Osterwoche bis zum Hochfest Mariens Auffahrt in den Himmel stürmten die Truppen des Erzbischofs vergeblich die Belagerten an. Sie hatten auch ein Dorf des Ritters in der Umgebung der Burg überfallen und niedergebrannt, um Egbert von Eltzau zur Aufgabe zu zwingen. Die Bauern hatten sie erschlagen, das Vieh getötet und die Felder verwüstet. Am Abend jenes grausamen Tages waren die fruchtbaren Äcker unweit der Burg vom Blut der Bauern und des Viehs durchtränkt, es roch nach verbranntem Fleisch, abgehauene Gliedmaßen bedeckten den Boden.

Trotz dieses Schadens hatte der edle Ritter Egbert und die Burgbesatzung sich jedoch nicht ergeben.

Schließlich aber gelang die Eroberung der Burg durch List und Verrat, denn ein im Diensten des Erzbischofs Balduin stehender Kaufmann aus Speyer hatte sich das Vertrauen des Ritters Egbert von Eltzau erschlichen. Durch geheime Gänge und Stollen hatte er zusammen mit Proviantboten den Belagerungsring des Öfteren durchdrungen und so von der einzigen Zugangsmöglichkeit zu der eingeschlossenen Burg erfahren. Das Wissen um diese geheimen Aufstiege, das der alte Ritter dem Kaufmann einmal in besseren Tagen anvertraut hatte, gab der verräterische Handelsmann den Belagerern denn auch unverzüglich weiter.

So ahnte der edle Ritter von Eltzau nicht, dass seine Gegner längst von dem heimlichen Schacht wussten und dass der Kaufmann, der ihm bereits seit einigen Jahren oft mit Geldzahlungen ausgeholfen hatte, ein falsches Spiel mit ihm getrieben und seine Hilfe nur nach Weisung des Trierer Erzbischofs geleistet hatte. In seiner nunmehrigen bedrängten Lage hoffte der edle Ritter einmal mehr auf den Beistand des Kaufmanns, den er wohlwollend, beinahe wie einen Ebenbürtigen bei sich aufgenommen hatte.

Dieser zeigte aber sein wahres Gesicht, als der Herr Egbert verzweifelt auf ihn zugestürmt kam und flehentlich um weitere heilsame Geldzahlungen bat, um sich und seine Besitzungen von dem Belagerer freikaufen zu können. Zerknirscht und jämmerlich weinend brachte er sein Anliegen vor, jedoch vergebens. Der Kaufmann, ein hoch gewachsener Mann, hager in seiner Gestalt und schmal im Gesicht, mit einer großen Hakennase und tief liegenden, geheimnisvoll düster blickenden Augen, hatte nur Hohn für den Edlen übrig. Er brachte einen kleinen Brief des Erzbischofs aus seiner Gürteltasche zum Vorschein. Auf dem Pergament war der Kauf der Burg Eltzau, der drei umliegenden Dörfer und des daran hängenden Hofes Schoneck an den Trierer Erzbischof Balduin beurkundet. Seine Echtheit beglaubigten sowohl das Siegel des Kirchenmannes wie auch das des Ritters Egbert.

„Oh, du abscheulicher, gottverfluchter Wurm, Lukas Cardo, du bist ein elender Verräter.“

Egbert von Eltzau starrte auf den Brief, stammelte nur leise seine wütenden Flüche und als der edle Ritter den Verrat ganz begriff, stürzte er, einen Dolch in der Faust, wütend auf den Kaufmann zu. Dieser hatte einem Begleiter heimlich jedoch die Weisung erteilt, das Haupttor zu öffnen und von dieser Seite wie auch aus dem geheimen Zugang stürzten nun die Truppen des Erzbischofs herein. Zwei geübte Bogenschützen sprangen sofort dem Kaufmann bei und töteten den angreifenden Ritter als auch dessen ebenfalls herbei stürmenden Sohn.

Die Burg wurde sodann erobert, die verbliebene Burghut des Ritters gefangen genommen, jedoch gegen ein geringes Lösegeld, das die Familien der Männer, wenn auch mühsam aufbrachten, dennoch bereitwillig zahlten, wieder frei gelassen. Die Witwe des edlen Egberts wurde zusammen mit ihrem jüngeren Sohn Andres von Eltzau aber des Landes verwiesen.

Buch I

Kapitel 1

In der Stadt Eberstein am Ufer des Rheins, unweit des großen Speyers gelegen, begab sich an diesem Julimorgen des Jahres 1346 Denkwürdiges. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Überall wurden die Fensterläden aufgestoßen, um die klare Luft und das Sonnenlicht in die dunklen Räume zu lassen. Zögernd noch krochen einige Leute aus ihren Häusern ins Freie, setzten vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die Straße und reckten ihre Nasen in den Himmel. Endlich war wieder die sanfte Wärme des durch die Wolken brechenden Sonnenlichts zu spüren. Die Luft dampfte in den Gassen, sie roch modrig und als die Tagesstunden vorangeschritten waren, legte sich eine dumpfe Schwüle über die Stadt.

Zwölf Tage lang waren die Leute Ebersteins in ihren Häusern eingesperrt gewesen, die Läden waren fest verriegelt geblieben, kein Regen und kein Sturm, aber auch kein Licht und keine Luft waren in ihre Stuben gelangt.

Nur für die allerwichtigsten Gänge hatten die Menschen ihre Häuser verlassen können. Der Regen hatte die Stadt überschwemmt. Die engen Straßen hatten sich in regelrechte Schlammbäche verwandelt, in denen so manch einer bis zu den Knien versank, der es gewagt hatte, seinen Fuß vor die Türe zu setzen. Man erzählte sich sogar, dass der Rat der Stadt seine regelmäßigen Sitzungen nicht mehr abhielt, weil zu viele der edlen Ratsherren auf ihrem Weg ins Rathaus im Schlamm stecken geblieben waren.

Das Leben hatte zwölf Tage lang gestockt, aber nun begann es sich überall wieder zu rühren. Ein paar Händler öffneten ihre Buden auf dem Hohen Markt. Im Schatten des Münsters konnte man dort schon bald einen Pfannenschmied beobachten, der sorgfältig seine Stücke darbot.

Würzkrämer und Tuchhändler fanden ihre Kunden. Auf der langen Brücke, die südlich des Münsters hin zum Stephanstor führte und auf der der Fleischmarkt stattfand, errichteten die Händler auch schon wieder ihre Bänke und Stände, während ein besonders flinker Fischmenger bereits sein Verkaufsgeschick an einem vorübereilenden, vornehm gekleideten jungen Herrn erprobte.

Andres von Eltzau bemerkte die geschäftigen Bemühungen der Händler um ihn herum jedoch gar nicht. Er hatte keine Verwendung für die angebotenen Speisen, die teuren Waren. All das Zeug, die schillernden Kramwaren, die bunten Bänder, die an den Buden hingen, die blitzenden Pfannen, die auf den Bänken auslagen und die glänzenden Töpfe vor den Ständen interessierten ihn nicht. Hätte er sich auch auf den größten Marktplätzen Venedigs und Genuas befunden oder hätte er mitten auf dem prächtigsten Basar des Morgenlandes gestanden, die dort feilgebotenen Dinge hätte er nicht angesehen. Denn obwohl er noch in dem jugendlichen Alter war, in dem besonders das Bunte und Prächtige beeindrucken, blieb er allen irdischen Gütern gegenüber gleichgültig. Zwar war er in edle und farbenfrohe Stoffe gekleidet, so dass jeder, der ihn sah, etwas anderes erwartet hätte. Diese vornehme und teure Kleidung schuldete er jedoch lediglich seinem Stand und seiner edlen Geburt. Kauflust oder Eitelkeit trieben ihn nicht an den Bänken und Buden vorbei, er suchte weder Lustbarkeiten noch Genüsse. Andres suchte eine bestimmte Gestalt, ein unverwechselbares Gesicht. Er suchte einen Mann. Er horchte, spähte und argwöhnte fieberhaft. Er war wie besessen von dem Gesicht, nach dem er in jeder dunklen Gasse, auf allen Märkten entlang des Rheins Ausschau hielt, das er in jedem Mann, der vorüber eilte, zu erblicken hoffte. Seine edle Geburt zwang ihn dazu und trieb ihn weiter.

Wärmende Sonnenstrahlen erfassten die regennasse Stadt. Die dunklen Wolken rissen immer weiter auf, wie befreit von schweren Fesseln brach die Julisonne hervor und entfaltete ihre ganze Kraft. Die Sommerwärme erkämpfte sich nun Stück für Stück der frierenden und durchnässten Stadt zurück. Das Licht brach sich in den Pfützen und Bächen am Rande der Gassen, der Schlamm in den Straßen trocknete langsam und von den Dächern dampfte die Nässe in den Himmel.

Die Bäcker stellten wieder Bänke vor ihre Türen. Mit alten Holzdielen hatten sie dafür den an einigen Stellen noch immer aufgeweichten und lehmigen Boden befestigen müssen. Vorsichtig balancierten sie nun ihre Waren ins Freie, um sie in der Morgensonne auszulegen. Die ersten Käufer kämpften sich durch den Schlamm der Straßen, betrachteten die kleinen Brote, die auch auf der Bank vor Bäcker Retschelns Haus ausgebreitet lagen und zogen Kopf schüttelnd weiter. Auch die anderen Bäcker hatten nichts Besseres anzubieten. Zu klein, zu grob, schlechte Ware – so raunte es schon bald durch die Gassen der Stadt.

„Die Preise für dieses lumpige Brot sind so hoch wie noch nie“, schimpfte eine dicke Magd, die unschlüssig vor den Bänken der Bäcker auf der Gasse hinter dem Kornmarkt immer wieder auf und ab ging.

„Das Korn ist fast alle“, rief eine Alte ihr zu und fuchtelte dabei aufgebracht mit einem Stock herum, der genauso krumm war wie ihr Rücken.

„Bald werden die Bäcker überhaupt nichts mehr auf ihren Bänken feilbieten können. Dann werden wir richtig hungern. Wie damals, als wir vor Hunger alle fast irregeworden sind. Erst die Heuschrecken überall. ‚Da ist’s, das Ende der Welt’ haben sie alle geschrieen. Am Tag wurde es dunkel wie die Nacht, so viele Heuschrecken waren am Himmel. Alles haben die aufgefressen. Und gestunken haben die. Und als sie weiter zogen, war alles Korn weg gefressen. Da hatten wir nichts. Die Gehängten vor der Stadt haben sie vom Galgen geschnitten und dann aufgefressen.“

Mit weit aufgerissenen Augen stand die Alte da und wies mit ihrem Stock in Richtung Süden, dorthin, wo vor den Mauern der Stadt der Richtplatz lag.

„Still“, zischte ihr ein junger Mann zu, offensichtlich ein Handwerksbursche.

Mit verächtlichem Blick kam er auf die Alte zu, die Augen drohend zusammengekniffen.

„Hör auf mit deinen Lügengeschichten. Das hat der Teufel dir eingeflüstert.

Der Herr wird uns nicht allein lassen“, fauchte der Bursche. Er stand ganz nah bei der Alten.

„Ach, du bist ein dummer Junge, was weißt du denn schon?“ wütend drehte sich die Alte dem Burschen zu.

„Du bist ein lästerliches Weib. Wenn du nicht still bist, gehe ich zum Richter und erzähle, dass du dauernd gottlose Lügen hier erzählst. Auch schon an anderen Tagen habe ich dich lästern gehört. Dann werden sie dir endlich mal den Lasterstein anhängen.“

Einiges Volk hatte sich mittlerweile um die zwei Streitenden versammelt, und alle lachten sie die Alte aus.

„Ja, den werden sie dir anhängen.“ Der Bursche hatte Mut geschöpft und schimpfte nun seinerseits heftig weiter.

„So ein schwerer Stein um den Hals ist ein Kleinod, um das dich sicher hier jeder beneiden wird, altes Schmähweib.“ Wieder lachten und johlten alle auf.

„Wenn sie’s dir anhängen, wird dir dein Streiten und Lästern schon noch vergehen.“

„Ha, Bürschchen, mir’s anhängen lassen? Ich hab’s doch gesehen. Ein junges Ding war ich damals. Und kein Teufel da. Nur Hunger“, stammelte die Alte nun kaum noch hörbar für die anderen. Dann drehte sie sich ängstlich um und schlich sich weg.

Wie lange konnten sie das alles noch ertragen? Bereits das ganze Frühjahr hatte es nur geregnet. Auch in den Sommern davor hatten die Leute nur Regen erlebt. Drüben, im Fliesertal, machten sie sich schon wieder Sorgen um die Ernte. Und hier in der Stadt, nachdem sie wie aus einem tiefen Schlaf erst gerade erwacht waren und sich endlich wieder lebendig fühlen durften, ergriff die Leute eine neue Starre. Angst griff auch hier um sich. Auf den Plätzen, vor den Häusern, sogar auf der großen Brücke blieben die Menschen beieinander stehen und überall hörte man das schreckliche Wort: Hunger. Ansonsten war es unheimlich still in den Gassen. Die nassen, voll gesogenen Mauern und der Schlamm, der die gesamte Stadt überzog, dämpften alle Geräusche. Die früher so lärmenden Menschen schienen wie betäubt, sprachen nur im Flüsterton miteinander und bewegten sich vorsichtig tastend durch die morastigen Straßen.

Plötzlich jedoch wurden sie durch hektisches Rufen aufgeschreckt. Forsch bahnte sich Hensel, der Bote des Rates, seinen Weg über den großen Hauptplatz der Stadt. Vor dem Portal des Münsters teilte er gebieterisch mit einer kurzen Handbewegung eine kleine Gruppe von Männern, die mit gesenkten Köpfen und schweigend zur Seite traten, um dem kühnen Jungen den Weg frei zu geben. Mit großen Schritten eilte der weiter die Ochsengasse vorbei bis zur Neuen Gasse, wo er endlich vor dem Haus des Krämers und Bürgers Dietrich Berlinger stehen blieb.

Einige Nachbarn konnten nun beobachten, wie Hensel recht ungestüm mit der rechten Hand an die große Tür hämmerte.

Kurz darauf drehte und bewegte es sich wie von unsichtbarer Hand in dem schwarz glänzenden schmiedeeisernen Schloss und der schwere Riegel gab ächzend nach. Dieses moderne Türschloss war der ganze Stolz des Hausherrn und die einzige schmückende Abwechslung für den Betrachter der Fassade. Der sah ein ansonsten einfaches, aber schönes Haus, das von schweren Hölzern getragen wurde. Im Obergeschoß gaben zwei kleine Fenster die Möglichkeit, Luft und Sonnenlicht in die Wohnräume zu lassen.

Obwohl das Wetter nun strahlend schön war, waren sie jedoch noch immer mit Holzläden verschlossen und erinnerten an den fortwährenden Regen der vergangenen Wochen.

Endlich öffnete sich die Türe langsam und der junge Bote schritt ohne Scheu und auch ohne dem schweren Schmutz an seinen Beinen Beachtung zu schenken in die Mitte der Diele. Dort wurde er vom alten Jakob Schalkner empfangen. Der Kontordiener ließ sich weder von dem prahlerischen Auftritt des Jungen, noch von der Tatsache beeindrucken, dass auch ein recht wohlhabender Krämer wie Dietrich Berlinger nur sehr selten eine Botschaft vom Rat der Stadt erhielt. Stattdessen hörte er sich mit ungerührter Miene an, was Hensel zu vermelden hatte. Mit durchdringender Stimme verkündete der Bote seine ungeheuerliche Nachricht. Zwei Herren des Rates der Stadt seien auf dem Weg in die Neue Gasse, um dem Berlinger, Bürger Ebersteins und ehrbares Mitglied der Krämerzunft, einen Besuch abzustatten. Der alte Schalkner schaute nun doch etwas verwundert auf den Überbringer solch erstaunlicher Nachrichten und eilte dann mit behändem Schritte, den man dem Alten gar nicht zugetraut hätte, in die Rechenstube.

Derweil ereignete sich vor dem Haus auf der Neuen Gasse ein Spektakel, das die Zuschauer in erwartungsvolles Staunen versetzte. Ein halbes Duzend elegant gekleideter Diener säumte die Straße und stand Spalier für zwei hochherrschaftlich ausstaffierte Herren zu Pferde.

Bedächtig schritten die Tiere die Gasse entlang und wirkten auf ihr neugieriges Publikum sehr würdevoll, obwohl ihre Reiter mit dem verzögerten Gang lediglich verhindern wollten, im Morast stecken zu bleiben und ziemlich würdelos vom Pferd zu fallen. Langsam schob sich der prächtige Zug bis zum Haus des Krämers Dietrich Berlinger. Dort hatte die Nachricht vom herrschaftlichen Besuch sowohl die Rechenstube als auch die Wohnstube erreicht und die Bewohner in helle Aufregung gestürzt.

Der Hausherr Dietrich Berlinger stand bereits erwartungsvoll in der Diele, um die hohen Gäste zu begrüßen. Neben ihm hatte sich sein Sohn Niclas aufgestellt, dessen Körperlänge es nur noch an zwei Fingern fehlte, um das Maß des Vaters einzuholen, der aber die Würde und Autorität des Alten noch lange nicht erreicht hatte. Seine Gesichtszüge wirkten jungenhaft, jedoch auch blass und weichlich, seine zierliche Gestalt war schmal und kraftlos. Obwohl er bereits siebzehn Jahre alt war, hielt man ihn daher noch oft für einen Knaben, und nicht wenige in der Stadt waren überzeugt, dass er kränklich sei und seine Mannesjahre nicht erleben werde.

Im hinteren Teil des Raumes hatten die Frauen des Hauses Aufstellung genommen. Elsina Berlinger stand kerzengerade neben ihren Töchtern, Greda und Katherine, ihr Kinn war stolz erhoben und um ihren Mund lag der feine Schimmer eines zufriedenen Lächelns. Was Würde anging, stand sie ihrem Gatten in nichts nach. Sie war eine schöne Frau, obwohl sie nicht mehr jung war. Silberne Fäden durchzogen ihr Haar, das sie zu einem Zopf geflochten und mit einem Schleier bedeckt hatte, dessen Enden locker um den Hals gebunden waren. Ihre Haut hatte noch immer jenen elfenbeinen Schimmer, der den jungen Dietrich Berlinger vor etlichen Jahren bezaubert hatte, um die Augen aber hatten sich schon tiefe Furchen in das Gesicht eingegraben. Ihr Mund hatte auch seine frische, kräftige Farbe verloren und die Lippen waren nicht mehr so voll und sinnlich, wie in jenen jungen Tagen, als Elsina Berlinger das begehrteste Mädchen Basels gewesen war und heiratswillige Junggesellen aus den fernsten Handelstädten kamen, um sie zu freien. Wie damals war aber ihr Lachen noch genauso fröhlich und wahrhaftig, ihr Wesen noch immer so warmherzig und freundlich, und ihre Stimme noch immer herzlich und fest. Sie trug eine einfache dunkelgrüne Wollcotta, deren Oberteil und Ärmel schmal geschnitten waren und deren Rock nur wenige Falten warf. Ein Schlitz verlängerte den eng anliegenden Halsausschnitt, damit die Hausfrau das Kleid einfacher über den Kopf ziehen konnte. Es war ein genügsames Stück und für die täglichen Pflichten im Haus bestens geeignet. Ohne einen verschwenderisch weiten Faltenwurf, ohne kostbare Knöpfe oder wadenlang herabreichende Gürtel, zeugten nur die kräftige Farbe und die weiche Art des Wollstoffs, dass die Cotta der Frau Berlinger von hohem Wert war.

Auch die beiden Töchter des Hauses, Jungfer Greda und Jungfer Katherine waren in einfache, aber zur Hausarbeit gut taugende Kleider gewandet.

Ohne Schmuck und lange Gürtel, wie es nun die Mode war, und ohne lange Schleppen und weite Ärmel, waren ihre Kleider eng geschnitten und betonten so jedoch umso mehr den Liebreiz und die Zartheit der beiden Schwestern.

Endlich öffneten zwei der mitgeführten Diener der Ratsherren das Haustor und die Gäste schritten ein. Walram Stüren und Berthold Finke kamen aus den ältesten und vornehmsten Familien der Stadt, sie waren reich und mächtig und Mitglieder des Rates der Stadt Eberstein. Ihre Ahnen hatten entweder im Fernhandel mit Italien und dem Orient oder in Verwaltungsdiensten für Fürsten und Könige Reichtümer und Ländereien erworben. Über Generationen hinweg hatten ihre Familien Ansehen, politischen Einfluss und diplomatische Kenntnisse gesammelt, weshalb sie jetzt als besonders geeignet für die Regierungsgeschäfte ihrer Stadt galten.

Man nannte sie die Klugen, die Weisen, die Besten oder auch nur die Großen.

Da die mittägliche Sonne die regennasse Stadt mittlerweile erwärmt hatte und eine schwüle Luft in den Gassen stand, trugen die vornehmen Besucher lediglich leichte, knielange Cotten aus weich fließendem Barchent, denen kunstfertige Buntfärber ein wunderbares Leuchten in schillerndem Smaragdgrün und elegantem Nachtblau verliehen hatten. Die Halsausschnitte waren an beiden Kleidern weit geschnitten und wie die Schlitze an den Seiten mit Borten und feinen Goldstickereien verziert.

Dietrich Berlinger trat seinen hohen Gästen entgegen und sprach so formvollendet er nur konnte:

„Euer Besuch ist eine große Ehre für mein Haus. Ich bitte Euch, mir in die Stube nach oben zu folgen, wo meine Frau und meine Töchter Euch einen Willkommenstrunk reichen können.“ Mit großer Geste zeigte der Hausherr auf die drei stolzen Frauengestalten hinter ihm und auf die Treppe, die in die oben gelegenen Wohnräume führte.

Leider aber achteten die beiden Herren nur halb auf die feierlichen Worte des Hausherrn, denn sie waren vollauf damit beschäftigt, die Trippen von ihren Füssen zu bekommen. Alle sechs Diener strengten sich mit ganzer Kraft an, ihren hohen Herren dabei zu Diensten zu sein und endlich das störende Schuhwerk von den herrschaftlichen Füßen abzustreifen. Diese Holzlatschen leisteten auf den schlammigen aufgeweichten Straßen der Stadt zwar gute Dienste, denn sie schonten die teueren Schnabelschuhe.

Im Haus dagegen waren sie nicht nur sehr unbequem, sie waren auch sehr unfein. Wie derbe Bauernpantinen waren sie nur aus Holz statt aus edlem Leder oder Brokat, wie es sich für hohe Herren geziemte. Sie hatten auch nicht die elegante und doch extravagante Form der hochmodischen Schnabelschuhe, auf die die gesamte adlige Welt zurzeit so versessen war.

Immer länger und höher wurde die Schuhspitze nach oben gezogen, dünne Fäden, die man um die Wade band, hielten den Schuhschnabel aufrecht.

Walram Stüren und Berthold Finke wollten ihre Füße endlich wieder mit diesen Kunstwerken geschmückt sehen und sie daher so schnell wie möglich aus den unförmigen Trippen befreit wissen. In diesem Sinne herrschten die vornehmen Herren die sie umschwirrenden Diener mit strengen Worten an, ohne auf die Feierlichkeit der Begrüßung durch den Krämer Berlinger besonders einzugehen.

Endlich war das anstrengende Werk aber vollbracht, und die beiden Ratsherren standen hochmodisch und prachtvoll gekleidet der Familie Berlinger gegenüber.

„Wir danken Euch sehr für Eure Gastfreundschaft. Ihr habt wirklich ein gutes, festes Haus. Hoffentlich hat es während des großen Regens keinen Schaden genommen.“

Mit diesen Worten folgten sie dem Hausherrn ins Obergeschoß in eine einfache, aber geräumige Stube. Eine Magd hatte die Holzläden bereits aufgestoßen und die wärmende Mittagssonne erhellte den Raum.

Die blank gescheuerten Holzdielen auf dem Boden glänzten im einfallenden Licht. Ein langer, robuster Tisch beherrschte den Raum. An ihm fand die gesamte Familie Berlinger zu den Mahlzeiten Platz, sowohl die Eltern, Kinder als auch die Bediensteten versammelten sich hier. Danach aber konnte der Tisch wieder weggeräumt werden, denn er bestand aus zwei grob beschlagenen Blöcken, auf denen eine schwere dicke Platte ruhte. So wurde die Tafel nach jedem Essen aufgehoben und Platz sparend verstaut.

Als Sitzgelegenheit dienten zwei lange Bänke, die nach dem Essen an die Wand gestellt werden konnten. Eine Truhe, in der das bodenlange leinene Tischtuch, Kerzenhalter, allerlei Werkzeuge und Gerätschaften für die Handarbeiten der Frauen aufbewahrt wurden und ein prächtiger Ofen mit einer gemütlichen Bank davor sorgten für die notwendige Behaglichkeit der Stube, zwei farbenprächtige Teppiche, deren Webart und Farbenspiel auf eine fremde Herkunft verwiesen, aber waren die luxuriösen Zierstücke des Raumes, die auch sofort das Interesse eines jeden Besuches auf sich zogen.

„Welch prächtige Stücke. Das sind Teppiche, wie ich sie auch gern in meinem Hause sehe“, rief Walram Stüren ehrlich erfreut.

„Ich danke Euch für Euer Kompliment. Für wahr. Ich bin sehr stolz auf diese Teppiche. Mein Schwiegervater, der Kaufmann Anton Brand aus Basel, erwarb sie vor vielen Jahren in welschen Landen. Mein Weib brachte sie dann bei unserer Heirat als Mitgift in dieses Haus.“

Die Ratsherren verneigten sich bei diesen Worten sehr höflich vor der mittlerweile ebenfalls im Raum erschienenen Elsina Berlinger.

„Der gute Name der Familie Brand ist von Basel her den Rhein herunter gedrungen. Wir haben schon viel Gutes von diesen tüchtigen Kaufleuten vernommen.“

Elsina Berlinger lächelte erfreut und reichte jedem der Gäste wie auch ihrem Gatten einen Becher mit dem edelsten Wein, der sich in der Eile im Vorratskeller hatte finden lassen. Greda und Katherine gingen ihrer Mutter dabei zur Hand, wie es sich für gute Gastgeberinnen geziemte. Niclas dagegen stand dicht hinter seinem Vater und beobachtete aufgeregt das Begrüßungszeremoniell. Dietrich Berlinger hatte sich bereits wieder etwas beruhigt. Der Plauderton und der gute Wein, der zu solch ungewohnter Stunde gereicht wurde, hatten die Anspannung des Hausherrn gelöst.

“Welch ein schöner Tag für einen so angenehmen Besuch. Gerade heute Morgen sagte ich zu meinen Sohn, dass der Herr uns seine Gnade nun in vielerlei Weise zeigen wird. Das Wetter wird besser, der Regen hat aufgehört. Und nun erfahren wir auch noch die große Ehre Eurer Anwesenheit.“

Berthold Finke blickte seinen Gastgeber freundlich an und nickte.

„Ich glaube ebenfalls, dass Gott uns seine Gnade nicht entzogen hat, Eurer Familie nicht und auch unserer Stadt nicht. Darüber wollen wir auch mit Euch reden.“

Die beiden Ratsherren schauten nun etwas fordernder. Eindringlich wandte sich Walram Stüren an den Hausherrn:

„Werter Dietrich Berlinger, wir sind gekommen, um mit Euch über das Wohl der Stadt zu reden.“

Der Händler Berlinger blickte fragend drein, verstand endlich und entließ seine Familie. Eilig verabschiedeten sich die Frauen und auch Niclas verneigte sich kurz vor den hohen Gästen, um seiner Mutter und den Schwestern nach unten zu folgen, froh sich der Gesellschaft so mächtiger und vornehmer Herren entziehen zu dürfen. Unten in der Diele verharrten die Kinder des Krämers Berlinger sprachlos. Erstaunt blickten sie die hohe Decke an, die sie nun von ihren eindrucksvollen Gästen trennte. Noch wenige Stunden zuvor wäre es völlig undenkbar gewesen, dass diese hohen Herren in ihrem Elternhaus erschienen und nun berieten sie mit ihrem Vater, dem braven Krämer Berlinger, das Wohl der Stadt. Niclas und seine beiden Schwestern Katherine und Greda verstanden noch immer nicht, welcher Art das Schauspiel war, dem sie soeben beigewohnt hatten.

„Seit wann verkehrt unser Vater mit diesen hochgeborenen Herren auf so freundschaftlichem Fuß, dass sie uns zu früher Stunde besuchen? Unsere Familien haben keine Bekanntschaft miteinander, wir besuchen nicht dieselbe Kirche, wir wohnen nicht im selben Viertel. Mit unseren Geschäften haben die großen Herren doch auch nichts zu schaffen, oder?“

Greda schaute ihren Bruder auffordernd an.

„Und ich habe auch noch nicht erlebt, dass der Rat zuvor unseren Vater zu Angelegenheiten der Stadt befragt hat. Warum kommen diese Herren in unser Haus?“

Ihre großen braunen Augen in dem länglichen Gesicht kannten kein Erbarmen. Fest behielten sie den Bruder im Blick, der seinerseits bereits unruhig von einem Fuß auf den anderen trappelte und ausweichend in alle Ecken des Raumes schaute. Greda jedoch ließ nicht nach, sondern setzte ihrem Bruder weiter zu wie ein Jagdhund, der auf einer Spur angeschlagen hatte. Das schlanke, hoch gewachsene Mädchen ging ruhig noch zwei weitere Schritte auf Niclas zu und blieb ganz dicht bei dem verängstigten Jungen stehen. Auf der blassen Haut seines dünnen Halses zeichneten sich nun schon rote Flecken ab, wie so oft, wenn er Seelennöte erlitt.

„Lass ab, Greda, sieh doch, er weiß auch nichts.“

Katherines Worte erklangen für Niclas wie ein Engelsruf. Die geliebte Schwester schritt auf die zwei zu, gleichsam wie schwebend. Und obwohl kleiner und zarter als ihre Schwester Greda, zog sie die andere mit einem festen Griff zurück, den man dem anmutigen Geschöpf nicht zutraute.

„Was soll er dir denn sagen, wenn er es nicht weiß?“

Katherines tiefe Stimme war fest und wohlklingend und überraschte jeden, der sie zum ersten Mal vernahm. Denn bei diesem zarten Mädchen mit ihrem strahlend schönen, weißen Gesicht, den schimmernden dunkelbraunen Haaren, den zerbrechlich feinen Gliedern und dem schwebenden Gang vermutete ein jeder, der sie sah, eine Stimme so hell wie der himmlische Gesang leuchtender Seraphim. Sie war engelgleich und von zerbrechlicher Anmut, dabei aber entschlossen und zupackend.

Katherines Gestalt täuschte über ihre tatsächlichen Kräfte hinweg. Sie hatte im Haushalt ihrer Mutter schon früh gelernt ordentlich anzupacken. Auch im Lagerverschlag und in der Krame fasste die jüngste Tochter Dietrich Berlingers schon seit ihren frühen Kindertagen mit an. Und waren ihre Arme auch dünn und ihre Hände zart, so wusste das Mädchen dennoch, sie bei schwerer Arbeit zu gebrauchen.

Der Vater, der alte Krämer Berlinger, hatte früh begonnen, seine Kinder, den Sohn wie auch die beiden Töchter, in den Fertigkeiten der Krämerei zu unterweisen. Und so erlernten sie das Feilschen und Stapeln, das Kaufen und Wiegen und auch im Lesen, Schreiben und Rechnen waren alle drei geübt. Eine tüchtige Krämersfrau sollte Katherine, wie auch ihre Schwester Greda, eines Tages werden, Weib eines ehrbaren Händlers, so hoffte Berlinger. Darum rief er Gott in jedem seiner Gebete an.

Wie so oft war Katherine auch an jenem Morgen darauf bedacht, Niclas beizustehen. Was sonst noch im Hause vor sich ging, war dem Mädchen einerlei. Seit frühen Kindertagen schaute sie nur danach, wie es Niclas ging, ob er traurig war oder froh, ob er kränkelte oder fröhlich mit anderen Jungen in der Gasse spielte. Er ängstigte sich schnell und Katherine sprang ihm dann immer geschwind bei. So war es bisher gewesen, und sie betete zu Gott, dass sie auch weiter die Kraft und die Gelegenheit haben werde, ihm beizustehen.

Ihre Schwester Greda war weniger barmherzig zu Niclas. Das Mädchen war klug und wissbegierig, in ihrer Neugier jedoch oft ungeduldig und eigensinnig. Sie beobachtete gern die Menschen und deren Handeln. Oft vermutete sie dabei einen Hintersinn, der den anderen verborgen blieb. Sie liebte es, aus alten Büchern von raffinierten Winkelzügen und umsichtigen Taten der großen Herrscher zu erfahren und durchschaute jedes Ränkespiel und jede Heuchelei. Diesmal jedoch war ihr Scharfblick nicht besonders gefordert, denn dass die beiden Ratsherren nicht allein aus Höflichkeit den Weg in das Haus Berlinger gefunden hatten, war allen Anwesenden klar.

„Ich bitte dich Niclas. Sag uns, was hier vorgeht.“

„Ich weiß es nicht“ gab Niclas unumwunden zu. Obwohl er jeden Tag in der Rechenstube Seite an Seite mit seinem Vater arbeitete und diesen sogar schon bei einigen kleineren Geschäften vertreten durfte, wusste er nichts über städtische Angelegenheiten. Ganz im Gegenteil. Die Welt des Handels, des Feilschen und Hökerns war Niclas vertraut. Er hatte eine gute Ausbildung als Krämer bei seinem Vater genossen. Der Krämerzunft würde er eines fernen Tages beitreten, wenn der Herrgott seinen Vater zu sich riefe und ein achtbares Erbe hier auf Erden für ihn zurück bliebe. Niclas war auch stets stolz darauf gewesen, dass zumindest seine Mutter einer so tüchtigen und ehrbaren Kaufmannsfamilie entstammte, wie es die Brands in Basel seit jeher waren. Die Politik jedoch war ein Spiel, dessen Regeln er nicht verstand, und zu dem Gott nur die Großen und Edlen im Reich bestellt hatte.

„Es geht um das Wohl der Stadt, das hast du doch gehört. Diesen Schatz zu hüten ist ganz allein die Sache des Rates. Die hohen Herren kümmern sich um diese Aufgabe und werden schon wissen, was unseres Vaters Anteil an dieser Arbeit ist. Es ist aber bestimmt keine Weibersache. Also sei still und kümmere dich nicht um Dinge, von denen du als Weib eh nichts verstehst.“

Mit diesen Worten drehte er sich von seiner neugierigen Schwester weg, dass die blonden Locken, die sein schmales Gesicht einrahmten, umher sprangen. Er lief hastig durch den Raum zur Hoftüre und ließ die beiden Mädchen stehen.

Im Hof erwarteten ihn aber schon die fragenden Blicke des alten Schalkners und des Knechts Konrad. Sie hatten die vergangene Stunde damit verbracht, ziemlich umständlich einigen alten Plunder, Kisten, Seile und einen Haufen leerer Säcke aus der Hofeinfahrt in einen hinteren kleinen Verschlag zu tragen. Der junge Knecht Konrad schleppte und zog, sein massiger Oberkörper trug die schwere Last mühelos und obwohl seine Muskeln gespannt waren, war auf seinem breiten Gesicht ein so frohes Lächeln zu sehen, als wolle es die Mühen der schweren Arbeit Lügen strafen. Der alte Schalkner dagegen beschränkte sich darauf Anweisungen zu geben und hier und da ein kleines Stück Stoff oder Seil, das aus den Ballen gefallen war, mit angestrengter Geste aufzuheben. So schafften sie wertvollen Platz für neue Warenladungen und hatten außerdem bessere Gelegenheit, einen Blick auf die hohen Gäste zu werfen. Denn wenn in der Rechenstube auch eiligere Arbeit auf sie wartete, so konnten sie nur hier im Hof in Erfahrung bringen, was vorne vor sich ging.

Niclas hatte dieses offensichtliche Tun seiner neugierigen Knechte denn auch gleich begriffen und rief ihnen abwehrend zu:

„Ich weiß es nicht! Fragt mich nicht, was die Herren in unser Haus geführt hat. Geht lieber wieder hinein. Dort wartet genug Arbeit auf uns.“

Etwas missmutig folgten die beiden Knechte denn auch ihrem jungen Herrn nach, der wiederum froh war, sich seinem Rechnungsbuch und den Warenlisten widmen zu können. Als die Türe ins Schloss fiel, die die drei Männer in der Rechenstube von den übrigen Räumen des Hauses Berlinger trennte, fühlte sich Niclas schon wieder etwas sicherer. Und als er an sein Pult trat, war ihm, als könnten ihm die verworrenen Läufe der Zeit mit ihren politischen Ränkespielen nichts mehr anhaben.

Niclas Berlinger stand wieder an dem Platz, den Gott ihm und seiner Familie zugewiesen hatte: in der Rechenstube. Wenn er seinen Pflichten als ehrbarer Krämer nachkam, wie es ganz offensichtlich Gottes Absicht war, so verlor vielleicht die gottlose Vermessenheit vieler Menschen dieser Stadt ihre Gefährlichkeit. Oft hatte Niclas beobachtet, dass Nachbarn und Freunde versuchten, ihren Platz in der göttlichen Ordnung zu verlassen, dass sie nach einem höheren Stand strebten und etwas anderes sein wollten, als was Gott sie erschaffen hatte. Das war Stolz, Hoffart und eine schwere Sünde.

Und wenn jetzt die hohen Herren des Rates in ihrem Hause ein- und ausgingen, um mit seinem Vater politische Angelegenheiten der Stadt zu beraten, war das nicht auch solche Hoffart, wie sie auch die eitlen Nachbarn antrieb? Hinter solcher Anmaßung lauerte schließlich immer der Teufel.

Bei diesen Gedanken schauderte Niclas. Eiskalt lief es ihm den Rücken runter. Angst packte ihn und schnürte ihm die Kehle zu. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde. Schnell flüsterte er ein Vaterunser und wandte sich dann einem kleinen Pergament mit engen Strichreihen und winzigen Buchstaben zu, um nicht länger müßigen Tagträumen nachzuhängen und wohlmöglich schreckensvollen Visionen zu erliegen, die ganz sicher vom Teufel ausgesandt wurden.

Versunken in seine Arbeit, bemerkte der junge Krämersohn denn auch nicht, wie die vornehmen Gäste nach fast einer Stunde das Haus wieder verließen. Auch in den übrigen Räumen des Hauses, in die sich die Frauen der Familie begeben hatten, um ihr Tagewerk zu erledigen, blieb der Aufbruch der edlen Herren unbemerkt, und schon nach kurzer Zeit war der Besuch fast vergessen. Nur in der oberen Wohnstube saß Dietrich Berlinger noch lange Zeit und hing seinen Gedanken nach. Er fragte sich, welch ein Hintersinn die edlen Ratsherren zu ihm geführt hatte. Was bezweckten sie mit ihrem Ansinnen?

Unten auf der Straße stand Andres von Eltzau, ebenso gedankenverloren, und starrte auf die schwere Tür des Berlingerschen Hauses. Über sein hübsches Gesicht hatten sich Sorgenfalten gelegt, die den jungen Mann vorzeitig altern ließen. Waren die beiden Herren des Rates, die soeben stolz dieses Haus verlassen hatten, seine Feinde? War die gesamte Stadt sein Feind? Oder gab es eine Möglichkeit diese Feindschaft abzuwenden?

Die Herren des Rates waren sicher erfahren in politischen und militärischen Angelegenheiten und keine hitzköpfigen Handwerksmänner, wie sie in einigen Städten entlang des Rheins nunmehr das Stadtregiment stellten.

Hier in Eberstein bestand der Rat aus edlen, alten Familien. Aber waren die Familien der Ratsmänner so edel, dass sie seine Ehre und das Recht seiner Familie verstanden? Konnte er sie als Freunde gewinnen oder stellten sie sich an die Seite seines Feindes?

Am Abend dieses denkwürdigen Tages, die gesamte Familie saß versammelt um den großen Tisch in der Wohnstube, wurden alle noch einmal an den aufregenden Besuch vom Morgen erinnert. Die Magd Anna war zusammen mit Katherine und Greda gerade damit beschäftigt, das Essen aufzutragen, als der Hausherr Dietrich Berlinger seine Stimme erhob und regungslos verkündete:

„Der vornehme Rat unserer Stadt hat mich gebeten, in seinem Auftrag Unterhändler der Städte Speyer und Straßburg zu empfangen und für einige Tage zu beherbergen. Es sind Gäste unserer Stadt. Es wird uns eine Ehre sein, sie würdig unter unserem Dach zu bewirten. Die Herren werden wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen eintreffen.“ Dann erklärte er seiner Frau knapp: “Bitte sorgt dafür, dass alles Nötige im Haus für diese Gäste vorbereitet wird.“

Damit wandte er sich seinem Essen zu. Sein Sohn aber erschauderte.

Nach diesen Worten des Vaters konnte Niclas keinen Bissen hinunter bekommen. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden also wahr. Der alte Berlinger war in die Schlingen der Politik geraten. In Niclas Kopf kreisten wirr die Gedanken. Der Schimmer weltlichen Tands hatte den Vater wohl geblendet und schmeichlerische Reden hatten ihn trunken gemacht, sodass er den Lockungen erlegen war und sich auch in Hoffart über seinen Stand erhoben hatte. Niclas hatte Angst. Zwar erkannte er nicht genau, was ihn voller Furcht zusammenfahren ließ, aber er sah ganz deutlich, dass an allen Ecken der Stadt, immer öfter Falsches geschah. Alte Gewohnheiten gab es auf einmal nicht mehr, vertraute Regeln wurden durchbrochen, einige seiner Mitbürger gingen sogar so weit, die göttliche Ordnung einzureißen. Überall erschufen die Menschen Neues. Sie eiferten dem regelrecht nach. Und nun hatte diese Begierde auch sein Elternhaus erfasst.

Niclas konnte sehen, dass die Menschen es waren, die sich über Gottes Ordnung erhoben. Sie erdreisteten sich und errichteten eine neue Ordnung.

Der Junge fürchtete die göttliche Strafe für diese Vermessenheit, wie er sich vor der Sünde des Stolzes und der Eitelkeit fürchtete, vor der Gier und der Ruhmsucht.

Er suchte den Blick seines Freundes. Aber der Knecht Konrad schien seine Furcht nicht zu teilen. Ruhig kaute er nach einem harten und langen Arbeitstag seine wohlverdiente Mahlzeit. Wie die anderen hing auch er seinen Gedanken nach und als das Mahl beendet war, trottete er, wie es seine Gewohnheit war, langsam nach draußen auf den Hof, um sich in der kühlen Abendluft von den Mühen des Tages zu erholen.

Niclas folgte ihm und schweigend saßen sie nebeneinander auf dem alten Baumstamm in der Ecke des Hofes. Hier hatten sie schon als Jungen zusammengehockt und sich gegenseitig von edlen Helden aus alten Zeiten vorgeschwärmt.

Der alte Kontordiener Jakob Schalkner kannte unzählige Abenteuer dieser Helden und hatte manchen Abend, oft bis die Dunkelheit das ganze Haus umschlungen hielt, ihnen die Geschichten von aufregenden Kämpfen gegen Räuber, Zwergenkönige, Ungeheuer und feindliche Ritter erzählt. Vor allem der junge Erec hatte damals die Phantasie der Jungen beflügelt. Schön, jung und tapfer wollten sie sein wie dieser umschwärmte Held, wie er wollten sie für eine schöne, hohe Dame in den Kampf ziehen und Abenteuer erleben. Aber ihre Leben hatten ganz andere Wege eingeschlagen. Konrad war noch immer der Knecht des Hauses Berlinger, als der er damals von seinem Vater hergebracht worden war. Zwar war er nicht mehr so dünn und schweigsam, hatte viel gelernt im Hause des Krämers, konnte sogar etwas lesen und rechnen, aber er war noch immer ein Knecht, ein Bediensteter, der wusste, wo sein Platz war, wann er reden sollte und wann lieber nicht.

Niclas dagegen war ein tüchtiger Händler geworden. Er eiferte mit seinem Scharfsinn und seiner Besonnenheit dem Vater nach, der ebenfalls mit Klugheit und Weitsicht ein ordentliches Geschäft aufgebaut hatte. Dietrich Berlinger aber hatte die Not angetrieben. Mit viel Geschick, Schlauheit und einer noch größeren Portion Mut hatte er aus einem kleinen Hökerstand auf dem Markt einen einträglichen Handel mit Spezereien und Kurzwaren, mit nützlichem Hausrat, feinem Schmuckwerk und auch manchen Fässchen Bier oder Honig aufgebaut. In seiner Krame konnte man Kienrauch, Seifen, Kerzen, Flachs und Sandelholz erstehen, Flämisch Garn und Nürnberger Band, seidene Hauben und gefärbte Felle hatte der alte Berlinger stets vorrätig. Von seinen regelmäßigen Fahrten den Rhein hinab brachte er große Ladungen von Gewürzen und Kräutern wie Bärlauch, Zwiebeln, Petersilie und Kerbel mit. Er kaufte aber auch, wo immer er fündig wurde guten Honig, Wein und Bier ein, manchmal hatte er sogar die ein oder andere stattliche Ladung Fisch in die Stadt gebracht. So war sein kleiner Hökerstand, der den jungen Dietrich mehr schlecht als recht ernährt hatte, bald zu einer ansehnlichen Verkaufsbude auf dem Markt herangewachsen, von dem eine Familie gut leben konnte. Weiche Lederriemen, Kämme, Seife und Garne führte die Krame des Dietrich Berlinger bald ebenso wie Öl, Wachskerzen und Talglichter. Seine Kramwaren wurden geschätzt und schließlich wuchs der Handel so gewaltig an, dass die junge Familie Berlinger sogar im Erdgeschoss ihres neuen Hauses in der Neuen Gasse eine Krame hatte eröffnen können, nicht jedoch ohne zuvor darüber quälend lange Verhandlungen mit dem Rat der Stadt und der Krämerzunft geführt zu haben. Jeder Handel in der Stadt Eberstein war geschützt und verlief geordnet nach festen Regeln und Rechten, jedoch nur solange er innerhalb des Marktbezirks stattfand. Geschäfte außerhalb dieses Marktbannbezirks bedurften der Erlaubnis des Rats und der Zunft. Die hatte Dietrich Berlinger schließlich auch bekommen, denn die Versorgung mit Welschen Gütern und Venediger Waren, die aus fernen Gegenden nach Eberstein gebracht worden waren und die den braven Handwerkern der Stadt nicht wehe taten, war dem Rat der Stadt eine Ausnahme wert. Der Krämerladen im Haus der jungen Familie wuchs und gedieh denn auch bald. Anfangs wurde er noch von Dietrichs junger Gattin Elsina geführt, sie hatte den Überblick über eingehende Waren und Verkaufszahlen, notierte die Außenstände sorgfältig und schrieb mit ihrer feinen Hand makellose Briefe an Lieferanten, befreundete Händler, Schuldner wie auch Gläubiger.

Bald jedoch hatten sich ihre Mutter- und Hausfrauenpflichten so vermehrt, waren gleichzeitig die Einkünfte aber ebenfalls so angewachsen, dass sich die junge Familie Berlinger einen Handlungsdiener, eine Magd und schließlich noch einen Knecht ins Haus holen musste.

Immer hatte der Herrgott Dietrichs Tun gesegnet, hatte ihm zu seiner ansehnlichen Frau aus einer wohlhabenden Familie verholfen, ihm gute und gesunde Kinder geschenkt und den Bau eines beachtlichen, festen Hauses in einem leidlich anständigen Viertel der Stadt gutgeheißen. Der Händler Dietrich Berlinger war ein gesegneter Mann, sein Erfolg hatte ihm ein festes Vertrauen in Gott geschenkt. Ohne Furcht und Verzagtheit nahm er immer neue Geschäfte in Anlauf. Bald schon hatte er die Krame im eigenen Haus schließen müssen, war sie ihm doch zu eng geworden. Statt ihrer eröffnete er eine ansehnliche Krambude im neu gebauten Kaufhaus der Stadt Eberstein. Die war noch besser bestückt mit guten Waren und nahe an den vielen begierigen Käufern. Die Knechte hatten ordentlich zu packen und zu stapeln. Dietrich Berlinger aber unternahm jedes Jahr zwei Handelsfahrten den Rhein entlang, um neue Kramwaren herbeizuschaffen.

Der erfahrene Krämer Berlinger kannte seine Möglichkeiten, handelte immer sicher und wagte sich nie über seine Grenzen hinaus. Diese Sicherheit aber fehlte seinem Sohn. Niclas zögerte, wo sein Vater zugriff.

Deshalb war sich Dietrich Berlinger auch gewiss, dass der Sohn sein Erbe bewahren würde, ihm aber der Witz und das Gottvertrauen fehlten, es zu mehren. Nichts lag Niclas Berlinger ferner als der Abenteuersinn vergangener Kindheitsträume. Für ihn war es ein frommes Werk, das Alte zu bewahren und Gottes Ordnung anzuerkennen.

Als Niclas an diesem Abend neben seinem Freund im Hof saß, beschlich den Jungen wieder jene unheimliche Besorgnis: Neues und Fremdes werde in ihr Leben treten, die Zeit brächte Veränderungen und Wechsel, das spürte Niclas vage.

Kapitel 2

Die folgenden Tage verliefen hektisch. Die Frauen des Hauses bereiteten fleißig den Aufenthalt ihrer Gäste vor und eilten unermüdlich zwischen Keller, Küche und der oberen Kammer, die den Fremden als Herberge dienen sollte, hin und her. Oft blieb ihnen kaum noch genügend Zeit, die Messe zu besuchen. So lief die Magd Anna oft nur noch in die Kirche, wenn die Gesänge und Gebete der Frommen bereits verstummt waren, um wenigstens das kurze Hochheben der Hostie am Ende der Liturgie miterleben zu dürfen. Diesen wichtigsten aller Augenblicke wollte sie um nichts in der Welt verpassen. Allein die Töchter des Hauses, Katherine und Greda, vermochten täglich die Gottesdienste zu besuchen.

Die Ankunft der Gäste stand unmittelbar bevor, denn seit vier Tagen war das Wetter schön und alle Wege nach Eberstein konnten einigermaßen befahren werden - der Rhein floss ruhig trotz der Wassermassen der letzten Tage, und die aufgeweichten Straßen waren fast vollständig getrocknet.

Das gewohnte rastlose Treiben der unermüdlichen Händler und der emsigen Handwerker, der fleißigen Hausfrauen, Mägde und Knechte war wieder in die Stadt zurückgekehrt.

Auch Dietrich Berlinger nutzte die Zeit für Vorbereitungen. Eines Abends nahm er nach dem Essen seinen Knecht Konrad zur Seite, als dieser gerade wie gewohnt in den Hof schlendern wollte, um die Hetze des Tages abzustreifen und auf die Ruhe der kommenden Abendstunden zu warten.

Der Bursche war gerade neunzehn Jahre alt. Als kleiner Knabe war er bereits in das Haus des Krämers Berlinger gekommen. Sein Vater hatte den dünnen Jungen zum Arbeiten hergebracht. Damals hatte Konrad kaum ein Wort heraus bekommen, dass jeder dachte, er sei schwachsinnig.

„Zu harter Arbeit aber wird er taugen“, hatte sein Vater erklärt, ein armer Straßenkehrer, der nur mühselig, ohne ein Weib an seiner Seite, sein und seiner Kinder täglich Brot verdiente.

Sogleich hatte sich der Bursche damals im Hof des Krämerhauses zu Berlingers Sohn Niclas gesetzt. Wie er war auch dieser von zarter Gestalt gewesen, mit bleichem Gesicht und traurigen Augen. Und obwohl der Knecht schwach und noch jung an Jahren war, wurde er Niclas Beschützer und Freund. Er stand ihm bei und half ihm, wenn den Krämersohn beim Spiel auf der Straße mit den anderen Jungs aus der Gasse die körperlichen Kräfte verließen. Später packte Konrad mit an und half dem Freund, wann immer der Alte seinem Sohn eine schwere Arbeit aufgetragen hatte. Die zwei Jungen redeten nicht viel miteinander, wenn sie zusammen auf dem alten Baumstamm im Hof saßen, aber sie wussten alles übereinander und verstanden einander blind.

Während Niclas jedoch schwach und bleich blieb, entwickelte sich der Knecht Konrad zu einem groß gewachsenen, hünenhaften Mann, der auch den längsten der Knechte im Kaufhaus der Stadt noch um wenigstens drei Finger überragte. Er war schlank mit schmalen Hüften und langen geraden Beinen, die unter seiner einfachen Arbeitscotta hervorblickten. Seine Schultern jedoch waren von der schweren Arbeit kräftig geworden, sein Kreuz war breit und seine Brust mit starken Muskeln bepackt, wie es bei den Packern und Trägern, den Tagelöhnern und Knechten üblich war.

Konrads rundes Gesicht mit dem kantigen, breiten Kinn passte zu dem kräftigen Oberkörper. Seine dunklen, nur leicht gewellten Haare trug er aber nach Herrensitte lang bis zu den Schultern, was ihm zwar von den Jungfern und Mägden zärtliche Blicke, von den Meistern und Herren am Ort jedoch empörtes Kopfschütteln einbrachte.

Auch die Hausherrin Elsina Berlinger schalt den Knecht oft seiner Eitelkeit und seiner Putzsucht. Obwohl nur ein Knecht, ging er immer wieder zum Barbier und ließ sich die Haare bürsten und das Kinn glatt scheren. Auch in die Badestube zog es den Jungen oft. Nach Essenzen und Salben duftend kam er dann ins Haus des Krämers und musste die Vorwürfe der alten Magd Anna über sich ergehen lassen, die zeternd erklärte, dass sich eine solche Putzsucht für einen Knecht nicht schickte.

Mit sanftem Druck schob der Krämer nun den jungen Mann in die Rechenstube, wo zu dieser Stunde bereits Dunkelheit und Stille herrschten.

Herr und Knecht traten ein, Dietrich Berlinger schloss die Tür, und augenblicklich war das Getöse der Stadt und das geschäftige Treiben seines Haushaltes verbannt. Der Alte entzündete eine Kerze. Ihr matter Schein schien die friedliche Stimmung des Raumes nur noch zu vertiefen.

„Wir erwarten Gäste“ hob Dietrich Berlinger an. „Ich sollte wohl eher sagen, der Rat unserer Stadt erwartet Gäste, und wir werden sie in unserem Haus beherbergen.“

Konrad nickte kurz, um seinen Herrn anzuzeigen, dass er dessen Worten bisher folgen konnte.

„Sie sind unsere Gäste. Wir werden sie zuvorkommend und großzügig bewirten. Darum haben mich die ehrenwerten Herren unseres Stadtregiments gebeten.“

Wieder nickte Konrad nur kurz.