Des Königs Gunst und Gnade - Ulrike Stutzky - E-Book

Des Königs Gunst und Gnade E-Book

Ulrike Stutzky

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Beschreibung

Man feiert das Weihnachtsfest 1074 und die Großen des Reiches kommen zum Hoftag in Straßburg zusammen. Ihre Stimmung ist gereizt, denn Anfeindungen und gegenseitiges Misstrauen prägen das politische Klima am Hof und kündigen den nahenden Investiturstreit an. Die angespannte Lage wird durch den gewaltsamen Tod einer königlichen Dienerin zusätzlich angeheizt. Gerüchte und gegenseitige Beschuldigungen machen die Runde. Die unfreie Kinderfrau Ida im Dienste des Schwabenherzogs Rudolf, die wegen ihres gelähmten Beins als Hinkebein verspottet wird, und der königliche Dienstmann Ritter Rainald beginnen die Umstände der Bluttat zu untersuchen, zuerst gegeneinander, schließlich jedoch gemeinsam.

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Inhaltsverzeichnis

1. Teil : Luzifer

Der 24. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn

Am 25. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn, die an jenem Tage gefeiert wurde.

Am 26. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn.

Am 27. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn.

Am 28. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn.

Am 29. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn.

Am 30. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn.

2. Teil : Wider Gottes Gebot

Im Jahre des Herrn 1075, als Krieg und Unfriede das Reich erschüttern

In Utrecht zum Feste der Auferstehung des Herrn, im Jahre 1076 nach seiner Fleischwerdung

Wenige Tage vor dem Feste der Aufnahme der seligen Jungfrau Maria in den Himmel, im Jahre des Herrn 1076

An den Ufern des Rheins

Die Königpfalz Worms, Spätsommer im Jahre des Herrn 1076

Anfang Oktober, im Jahre des Herrn 1076

Biografisch-Historisches

Nachwort

1. Teil Luzifer

Der 24. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn

Es war keine gute Zeit zum Reisen. Durch die knochigen Bäume, die die verlassene Straße ins Elsass säumten, strich an diesem Wintertag im Jahre des Herrn 1074 ein eisiger Wind. Unter seiner Strenge krächzten und stöhnten die kahlen Äste, als trügen sie das Elend der letzten Jahre in ihren Kronen.

Aber wann war je eine gute Zeit gewesen? fragte sich Ida.

Das Poltern einiger Karren kam näher und allmählich übertönte es den Wind. Unter diesen Lärm mischte sich Hufgeklapper und das Schnaufen dutzender Pferde. Träge bewegte sich eine kleine Reisegesellschaft die Straße entlang. Man konnte sie hören, noch bevor sie zu sehen war.

Bäume, Sträucher und Wege waren hauchzart mit Schnee bedeckt. Ein eisiger Frost hatte das Land seit Tagen in seinem strengen Griff gehalten und so war es zu kalt gewesen, als dass sich eine dicke Schneedecke auf Wälder, Felder und Flur hätte niederlegen können. In Mäntel eingehüllt saßen die Reiter zusammengesunken auf ihren Rössern. Auf einem der Holzkarren, die sie mit sich führten und der von einem einzelnen Packpferd gezogen wurde, hockten Ida und der Junge, so eng aneinander geschmiegt, dass ihre Silhouetten miteinander verschmolzen. Stumm ertrugen sie Kälte und Angst, gedankenverloren schickte die kleine Frau auf dem Karren ihrer Schutzheiligen manch besorgtes Gebet Heilige Kunigunde stehe uns bei auf dieser Fahrt. Du, meine gute Freundin und Fürsprecherin.

Ida hatte keine Vorstellung davon, wie lange sie schon unterwegs waren.

Bei Sonnenaufgang waren sie in der Stadt Breisach aufgebrochen und hatten sich auf den weiteren Weg gemacht nach Straßburg. Im Hause eines Dienstmannes des edlen Herzogs von Kärnten hatten sie für die Nacht Herberge genommen, denn wenn sie auch die Gäule zu einem schnellen Tritt antrieben, so war die Reise nicht an einem Tag zu schaffen. Zu jeder anderen Zeit des Jahres wäre es ein Leichtes gewesen, auf dem mächtigen Rheinstrom von Rheinfelden direkt hinunter zu reisen in die Bischofsstadt. In den vergangenen Wochen, in denen ein gnadenloser Frost das Land im Würgegriff hielt, war der Fluss jedoch gefroren und die Reisenden mussten den umständlichen Landweg nehmen.

Obwohl der Trupp, der sich dort auf der holperigen Straße vorwärts kämpfte, zahlenmäßig klein war, war er dennoch nicht unbedeutend.

Herzog Rudolf von Schwaben aus dem edlen Geschlecht derer von Rheinfelden war gemeinsam mit seiner Familie aufgebrochen.

Während sein junges Weib Adelheid neben ihm ritt, hockte sein Sohn Berthold zusammen mit der Kinderfrau Ida auf dem Karren. Begleitet wurde die Reisegesellschaft von einem knappen Dutzend berittener Krieger und einigen Pferdeknechten.

Seit Stunden drückte Berthold seinen dünnen, schmächtigen Körper fest an Idas Schulter. Es strengte die Frau an, dem Drängen des Jungen nicht nachzugeben, sondern aufrecht sitzen zu bleiben. Ihre Hüfte schmerzte mehr als sonst, sie wußte kaum mehr, wie sie ihr verkrüppeltes Bein strecken sollte auf dem harten Boden des polternden Karrens.

Achtsam horchte sie auf den Jungen und spürte, wie er lautlos in sich hinein weinte. Ida umfaßte seine langen, schmalen Hände und versuchte, sie warm zu reiben. Der Wind hatte im Verlauf des Tages aufgefrischt und zerrte nunmehr immer ungestümer an ihrem Mantel, den sie sich fest über den Kopf gezogen hatte.

„Will nicht mehr fahren. Berthold ist kalt und will schlafen.“

Ida strich dem Jungen über den Kopf.

„Still, Berthold, sei ein guter Junge und schweig.“

„Nein, Berthold ist kein guter Junge. Ich will hier weg. Hier ist es unheimlich. Mir ist kalt und ich habe Angst.“

Trotzig hatte sich der Sohn Rudolfs von Schwaben aufgerichtet und Ida die wütenden Worte entgegen geschleudert. Die schaute eilig hinüber zum Herzog, ob dieser den Aufschrei seines Sohnes bemerkt hätte, doch der Fürst blieb ohne Reaktion. Bewegungslos verharrte er auf seinem Ross, in sich zusammengesunken, den Blick starr gradeaus gerichtet.

„Sei still, Berthold, willst du, dass dein Vater dich so reden hört?“

Die Warnung vor dem strengen Mann blieb nicht ohne Wirkung.

Verängstigt kauerte Berthold neben Ida und weinte wieder stumm, den Kopf in ihrem Schoss gebettet.

Die Reise Marias nach Bethlehem, als sie unseren Herrgott unterm Herzen trug, kann nicht beschwerlicher gewesen sein, kam es Ida in den Sinn.

Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als Pater Hermann ihr vom Jesuskind erzählt hatte, von der wundersamen Geburt im Stall, von den Hirten und von der Jungfrau Maria. Jedes Jahr am Feste der Geburt des Herrn, nachdem in der kleinen Kapelle am Ufer des Rheins die Messe gefeiert worden war und die Familie der Rheinfeldener bei einem festlichen Mahl oben in der Burg Stein beisammen saß, hatte der Geistliche sie zur Seite genommen und ihr vom Licht erzählt und von der Hoffnung, die mit Jesus in die Welt gekommen war.

Nun war es wieder soweit. Morgen würden sie die Geburt Jesu feiern.

Der Gedanke an Pater Hermann zauberte ein kurzes Lächeln auf Idas Gesicht.

Der Geistliche wartete in der Bischofsstadt Straßburg auf sie und gemeinsam würden sie während der Messe den Gesängen des Domkapitels lauschen, würden die prächtige Prozession der Priester vor dem Altar bestaunen und die festlichen lateinischen Worte vernehmen, die die Ankunft des Heilands verkündeten.

Hermann führte nunmehr als Domherr ein angenehmes Leben. Vor Monaten hatte er den Herzog auf der Burg Stein besucht und dabei eine Botschaft seines Bischofs überbracht. Ida hatte nicht schlecht gestaunt, wie gut es dem alten Freund als Mitglied des Straßburger Domkapitels wohl zu ergehen schien. Sein Bauch war noch runder und sein Hals noch dicker geworden. Er hatte ihr von der großen Stadt berichtet, von seinem prächtigen Haus mit vielen Bediensteten, von einer Küche, in der das Herdfeuer nie zu erlöschen schien und von der gewaltigen Kirche. Ida konnte den Anblick des Münsters, dessen Größe und Ausmaß die Leute ein Wunder nannten, kaum erwarten.

Der Gedanke daran war ihr ein guter Trost. Dagegen nahm ihr die Vorstellung, bald dem Hofstaat des Königs und seinen zahllosen hochgeborenen Gästen begegnen zu müssen, beinahe den Atem. Der Ruf des Königs war an die Großen des Reichs ergangen. Mit ihnen zusammen, mit seinen Fürsten, den hohen Geistlichen, den Rittern und Herren des Reichs wollte Heinrich die Geburt des Heilands feiern, aber auch Hoftag halten und beraten, wie es im Reich zugehen solle. Ob Krieg ausgerufen werden müsste gegen die aufständischen Sachsen oder Frieden gehalten werden könne mit allen Feinden der Krone.

Das eiserne Band der Angst legte sich wieder einmal eng um ihre Brust, schnitt sich ins Fleisch und drückte ihren Leib zusammen, dass ihre Sinne ihren Dienst versagten und ihr beinahe Schwarz vor Augen wurde. Wie vertraut war ihr doch diese Last, die sie erstarren ließ.

Nur die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten durcheinander.

Die Bilder von frohen Festen und geschmückten Menschen, die ausgelassen feierten, drängten sich in ihre Gedanken.

Sollte sie sich freuen auf die vornehmen Gäste oder sich vor ihnen und ihrem Hohn fürchten? Der König hatte geladen und alle würden kommen. Auch Herzog Rudolf war der Aufforderung gefolgt. Fürsten, Bischöfe und Äbte würden morgen in Straßburg zusammentreffen und sie alle würden die hinkende Ida und Berthold, den schwachsinnigen Sohn Rudolfs von Rheinfelden, Herzog von Schwaben und Schwager König Heinrichs, voller Spott betrachten.

Ida wurde schlecht. Sie fürchtete, dass jenes Dröhnen in ihrem Kopf wieder einsetzte, das sie, wann immer sie sich ängstigte, anwuchs in ihrem Schädel und sie schwindelig machte.

Ida nahm einen tiefen Atemzug. Die eisige Luft stach in ihre Brust.

Langsam reckte sie den Kopf nach hinten in den Nacken und zwang ihren Blick in den Himmel. Laut schreiend zog ein Schwarm Wildenten über sie hinweg auf dem Weg ins Nachtquartier.

Herr Jesus, gib mir Kraft, auch diese Bürde zu tragen. Hilf mir den Anfeindungen jener bösen Menschen zu bestehen, bete Ida still in sich hinein.

Blätterlose Äste streckten sich nach ihr aus wie knochige Finger lüsterner Geister. Dieser Wald berge unheimliche Bewohner, so erzählte man sich in dieser Gegend. Ida kannte die Geschichten der einfachen Leute. Das einfache Volk war dumm und ungebildet, einzig über Dämonen und Hexen wußte es Bescheid, nicht jedoch über Jesus Christus und die Verheißung der heiligen Kirche.

Ida schüttelte verärgert den Kopf. Sie verabscheute den Aberglauben der Bauern, deren Angst vor Zauberei und Hexenwerk war ihr von jeher ein Gräuel, dennoch fürchtete sie sich nun selbst?

Die Kälte hatte ihrem Verstand arg zugesetzt.

Bald würde die Dämmerung über das Land hereinbrechen und sie mussten endlich Straßburg erreichen, wollten sie nicht in die Dunkelheit geraten. Die Straße war holperig und der Knecht Walther, der das Zugpferd an der Trense führte, mußte seine ganze Kraft und Geschicklichkeit aufwenden, den Gaul samt Karren vorbei zu lenken an all den Löchern und den knochigen Wurzeln, die aus dem Boden aufragten. Brav trottete das Tier neben ihm her und folgte der Hand des Knechts. Nur wenn der Schrei eines Waldtiers aus dem Unterholz drang, scheute es kurz und verweigerte den Dienst. Mit ruhiger Stimme redete der Knecht Walther ihm dann zu und zog es sanft weiter.

Wachsam schaute sich Ida um. Dichter Wald ragte zur linken Seite der Straße auf wie eine schwarze Wand. Zur Rechten fiel das Land zum Fluss hin flach ab.

Ida horchte, ob sich nicht ein fremdes Geräusch leise zwischen das Wehklagen der kahlen Bäume schob und Gefahr verriet.

Die Kälte und der harte Boden des Holzkarrens, auf dem sie seit dem Morgen hockte, hatten in ihrem Körper jedes Gefühl ausgelöscht. Ihre Beine waren taub und Ida spürte ihre Füße nicht mehr. Mit dem Gefühl war auch der Schmerz in ihren verkrüppelten Gliedern verschwunden. Vielleicht würde die schneidende Kälte sie sogar von all der Pein erlösen, die ihr ihre krummen Knochen bereiteten. Sie spürte dieses abscheuliche Bein nicht mehr, hatte ihre verwachsene Hüfte beinahe schon vergessen. Sie schloss die Augen und bete.

Kunigunde, geliebte Beschützerin, wache über mich auf dieser Reise. Du kennst die Strapazen, warst du doch selbst auf mühevoller Pilgerfahrt.

Wie um sich zu trösten, zwang die Kinderfrau Ida frohe Bilder herbei.

Im Tagtraum sah sie, wie sie leichtfüßig vom Karren springen und voller Anmut, grad gewachsen und der Herzogin gleich mit hoch erhobenem Haupt einher schreiten würde. Die edlen Kleider würden an ihrem wohl geformten Körper entlang fließen. Ihr war beinahe, als fühlte sie die bewundernden Blicke, die sonst nur Adelheid, der schönen Gemahlin Herzog Rudolfs galten. Die Krieger und Dienstmänner würden in ihr nicht mehr das Hinkebein sehen, sie nicht mehr als Missgeburt verlachen, die sich schwerfällig, an einen dicken Stock geklammert, dahinschleppte, sondern sie würden sie als begehrenswerte Frau betrachten, sie umwerben und einer von ihnen würde sie vielleicht sogar freien wollen.

Bei diesem Bild lächelte sie in sich hinein. Schon lange war sie keine junge, unbekümmerte Maid mehr, die darauf hofften durfte, einem stolzen Burschen versprochen zu werden. Mittlerweile war Ida im 36.

Jahr und hatte eingesehen, dass sie in diesem Leben keinem Mann genug gefallen würde, damit dieser sie zum Weibe nehme. Sie hatte gelernt, den von Gott auferlegten Schmerz ihres irdischen Daseins anzunehmen. Sie war dankbar für alle Mildtätigkeit und Güte, die ihr widerfuhr durch Herzog Rudolf. Dennoch erträumte sie sich manchmal ein Leben als geachtetes Weib eines angesehenen, starken Mannes, dem sie fest verbunden wäre, der sie beschützte und der ihr ein geborgenes Heim böte.

„Macht Euch die Kälte nichts aus? Ihr scheint verzückt, Ida.“

Bodo, Krieger im Dienste des Herzog Rudolf, war an Idas Karren heran geritten. Ein Grinsen flog über sein jungenhaftes Gesicht. Es waren die Züge eines Knaben wie auch seine zierliche Gestalt eher die eines Jungen denn die eines reifen Kerls war, weshalb die Leute ihn auch „den Kleinen“ riefen.

„Ida, Ihr seid eine Eisblume, ich wußte es schon immer, eine Blume - aber aus Eis“, rief Bodo.

„Sei still,“ herrschte Rudolf seinen Mann an. „Lass Ida in Frieden.

Halte Ausschau, dass wir nicht einer Räuberhorde in die Hände fallen.

Oder Freundschaft mit den scharfen Zähnen eines wütenden Keilers schließen dürfen.“

In ihrem Schoß hielt Ida den Kopf des Jungen, der heftiger denn je jammerte. Ihre Finger strichen über seinen rotblonden Schopf. Leise sprach sie auf ihn ein, aber Berthold hörte nicht auf zu wimmern und vor Kälte zu zittern.

Herzog Rudolf hörte weder das klägliche Jammern seines Sohnes noch die beruhigende Stimme Idas. Auch sein Weib Adelheid vernahm nichts von den unterdrückten Klagelauten, was daran liegen mochte, dass sie dem Schicksal des Jungen grundsätzlich keine Aufmerksamkeit schenkte. Sonst kerzengerade, saß das schöne Weib des Schwabenherzogs nun zusammengesunken und zitternd im Sattel. Das noch vor Stunden hoch erhobene Haupt war vorn übergebeugt, von einem dicken, den Körper umhüllenden Mantel bedeckt.

Die Dämmerung war beinahe völlig der Dunkelheit gewichen, als Herzog Rudolf in Begleitung seiner Familie in die Stadt Straßburg einritt.

Von den Straßen und Plätzen war das lebhafte Treiben verschwunden, kein Marktgeschrei war zu hören, kein geschäftiger Händler, keine stolzierende Hausfrau drängelte sich den Besuchern in den Weg. Alles schien wie ausgestorben. Eine scheue Katze huschte in den Deckung bietenden Schatten eines Zaunes, wenige Schritte davon entfernt verriet leises Rascheln eine Ratte, die sich aus den Abfällen des vergangenen Markttages ihr Nachtmahl stahl.

Vor der Stadt hatte ein Dutzend berittener Krieger des Bischofs auf Herzog Rudolf gewartet, um ihn und seine Familie das letzte Stück des Weges erst durch das Vellemansburgtor und dann durch das Sattlertor in die Stadt zu geleiten.

Herzog Rudolf von Schwaben konnte ein befriedigtes Grinsen nicht unterdrücken. Ein Dutzend war eine stattliche Zahl. Der Bischof hatte ihm also schon vor den Mauern der Stadt mit diesem beachtlichen Geleittrupp die höchste Ehre erwiesen, eine Ehre, die Rudolf nicht erwartet hätte. Beide Männer schätzten sich nicht unbedingt. Der jugendliche Kirchenfürst und der schon ergraute Herzog waren sich in vielen Punkten der Kirchenzucht uneins. Im ganzen Reich war bekannt, wie sehr Rudolf solch sündige Kirchenmänner verachtete, wie Bischof Werner einer war. Bischöfe, Äbte und Kapläne, die ihre Ämter gekauft hatten, die weder nach den Kanones der heiligen Kirche, noch nach Sitte und Anstand lebten, die das Zölibat missachteten und lasterhaft sich der Völlerei hingaben, waren Rudolf eine Qual. Bischof Werner war einer der sündhaftesten Kirchenmänner der Reichskirche. Der Heilige Vater in Rom würde dieses gottlose Treiben bald unterbinden und dann helfe auch die Freundschaft zum jugendlichen König den Sündern nicht mehr. Daran glaubte Rudolf ganz fest.

Schweigend ritten die bischöflichen Krieger den Reisenden voran durch die leeren Straßen hin zum Haus des Domherren Hermann. Der hatte sich erboten, den Herzog, seinen Vetter mütterlicherseits, samt Gefolge zu beherbergen.

Als die Reisenden in die Gasse hin zum Steinburgtor einbogen, erkannten sie in der sich mittlerweile ausbreitenden Dunkelheit die Umrisse des mächtigen Münsters. Wer hatte jemals solch ein riesenhaftes Bauwerk gesehen? Das Kirchenschiff lag träge auf dem weiten Platz, zwei Türme ragten in den schwarzen Himmel. Um das Münster herum waren unzählige Zelte für die Gäste des Königs aufgebaut. Neben dem massigen Kirchenbau sahen sie wie Bertholds kleine hölzerne Spielzeughäuser aus.

Am südlichen Rand des Platzes, das wusste Ida aus Hermanns Erzählungen, befand sich der Palast des Bischofs, wo der König mit seiner Königin und seinem Gefolge vor einigen Tagen bereits Quartier genommen hatte und wo die Fürsten nach den Weihnachtsfeiern sich versammeln sollten, um zu beraten und zu beschließen. Im Norden des Platzes aber schloss sich das prächtige Haus des Domherrn Hermann an, das an die alte, halb verfallene römische Steinmauer grenzte und für die herzogliche Familie in den nächsten Tagen eine gute Herberge sein sollte. Zwei Diener standen davor, Fackeln in den Händen.

Hermanns Gastfreundschaft mochte einerseits den familiären Blutsbanden geschuldet sein, andererseits erhoffte sich der Geistliche von dem Besuch seines hochgeborenen Verwandten auch eine Stärkung der eigenen Stellung innerhalb der Bischofsstadt. Dass er mit dem Herrn der Stadt, Bischof Werner, nicht unbedingt auf gutem Fuße stand, war kein Geheimnis und dass sich diese Gegnerschaft für Hermann sogar unheilvoll entwickeln konnte, seit die Freundschaft des Bischofs mit König Heinrich noch inniger und vertrauter geworden war, war allerorten bekannt. Der Domherr Hermann hatte mittlerweile zwei Gegner zu fürchten, den Bischof in unmittelbarer Nachbarschaft und den König draußen im Reich.

Nun aber würde sein Haus den mächtigen Verwandten beherbergen, würde Herzog Rudolf, der Freund des Papstes, der Reichsfürst und Krieger, ihm zur Seite stehen, während sich sein Widersacher Bischof Werner dem König anbiederte.

Heinrich, von Gottes Gnaden König war bereits seit drei Tagen in der Stadt mit seinem gewaltigen Gefolge. Die Fronten waren eindeutig gezogen.

Vom Klappern des Holzkarrens angelockt trat Hermann ins Portal.

Sein massiger Körper zeichnete sich deutlich ab vor dem Lichtstrahl, der aus dem Inneren des Hauses auf die Gasse fiel.

„Seid gegrüßt! Herzog Rudolf. Seid willkommen edle Frau Adelheid,“ rief der Domherr seinen Gäste zu.

Mühevoll stieg Rudolf vom Pferd, denn die unterkühlten Glieder versagten ihm beinahe den Dienst. Hermann jedoch nahm auf die Erschöpfung des Herzogs keine Rücksicht und fiel ihm um den Hals.

„Ihr seid hier. Endlich. Ich war in großer Sorge um Euch, mein lieber Vetter. Die Dunkelheit ist ein schlechter Reisebegleiter, denn sie ist im Bunde mit Strauchdieben und Halunken, die in den Wäldern vor der Stadt hausen.“

„Es ist fürwahr eine beschwerliche Reise gewesen, lieber Vetter. Meine Gemahlin kann sich vor Erschöpfung und Kälte kaum noch auf ihrem Pferde halten, bitte sorgt dafür, dass sie eilig an einen warmen Platz in Eurem Hause gebracht wird.“ Der Domherr verneigte sich mit sorgenvollem Blick vor Herzog Rudolf und Adelheid, die dessen ehrfürchtige Geste jedoch nicht beachtete. Gerade wollte Hermann sich seinen beiden Dienern zuwenden, um entsprechende Befehle zu erteilen, da ergriff sein hochgeborener Gast abermals das Wort.

„Auch mein Sohn ist müde und beinahe erfroren. Der Junge jammert und weint. Ich bitte Euch, sorgt auch für ihn.“ Hermanns Blick streifte kurz den Holzkarren.

„Sehr wohl“, antwortete er seinem vornehmen Gaste und drehte sich seinen Dienern zu.

„Eigentlich würde ein Platz im Schweinekoven auch genügen für das schwachsinnige Balg“, zischte einer und Ida tat, als habe sie die frechen Worte nicht gehört.

Zwei Diener hoben Adelheid, die Gemahlin Herzog Rudolfs von Schwaben, aus dem Sattel, und der kräftigere Kerl von beiden trug sie ins Haus. Schon umflatterten ihn einige Mägde, um die schöne Last zu betrachten und zu umsorgen.

Ida und Berthold jedoch hockten noch immer auf ihrem Karren, Rudolf musste sich wohl selbst der Sache annehmen.

„Komm Junge. Die Reise ist vorbei. Du musst nun vom Karren herabklettern. In dem Haus hier gibt es ein gutes Mahl und ein sauberes, warmes Bett. Steige hinunter vom Karren!“ „Idda, Idda.“ stotterte Berthold, blieb aber liegen und vergrub sein Gesicht noch tiefer in Idas Mantel. Die umfasste den Kopf des Jungen und stemmte ihn hoch, ihr Griff war sehr kraftvoll und ungeduldig.

„Hör auf, Berthold. Du tust mir weh. Steig hinab, wie dein Vater dir befohlen hat. Du kannst doch laufen“, sagte Ida.

Der Junge jaulte auf und kletterte flink wie ein Eichhörnchen vom Karren auf die Straße, dann rannte er lachend ins Haus des Domherren Hermann.

Ida sah Rudolf an. „Wir hätten ihn in der Obhut der Mönche lassen sollen zusammen mit Euren Töchtern. Er verkraftet diese anstrengende Reise nicht.“

„Er kommt mit mir. Er ist mein Sohn und wird lernen, sich im Kreise der Großen des Reiches zu behaupten. Und die Großen werden lernen, ihn als meinen Sohn und Erben anzunehmen“, sagte Rudolf und gab seinen beiden Kriegern ein Handzeichen.

„Ihr wisst, dass dies nie geschehen wird“, antwortete Ida.

Ein einzelner Diener trat auf die Gasse, nicht der Stärkste und auch sicher nicht der Jüngste im Hause des Domherren Hermann. Er stellte sich abseits und beobachtete, wie zwei Krieger des Schwabenherzogs die Frau vom Karren hoben. Sie war keine schwere Last für die beiden. Bodo der Kleine stellte sie sanft auf den Boden und der kahlköpfige Hannes reichte ihr den Stock. So verwachsen ihr Körper war, so wirkte er doch auch zart und zerbrechlich. Den großen blauen Augen, die wach aus dem fein geschnittenen, schmalen Gesicht blickten, sah man die ganze Kraft und Lebendigkeit an, die in Idas Körper steckten.

Sie war mindestens so berühmt wie der Herzog. Die lahme Ida. Die verwachsene Ida. Ida, das Hinkebein. Die Kinder sangen Spottverse auf ihren Namen, junge Frauen beteten, dass ihren ungeborenen Töchtern nicht solch ein Schicksal ereilen solle wie der armen Ida.

„Arme Ida“, das waren noch die freundlichsten Worte, die jene Person zu hören bekam, die nun schwerfällig, auf einen Stock gestützt, zu der hölzernen Treppe an der Seite des Gebäudes hinüber schlich. Schief hing die Hüfte. Das linke Bein schien gerade und gesund gewachsen.

Das Knie des rechten Beins jedoch knickte bei jedem Schritt seitlich nach innen, während dessen Fuß über den Boden schleifte wie ein lebloses Stück Fleisch, umförmig und kraftlos. Bevor sie sich daran machte, die Treppe hinaufzusteigen, nahm die kleine Frau noch einen tiefen Atemzug der eiskalten Winterluft.

„Werte Ida, darf ich Euch helfen? Nehmt doch bitte hier vor dem Kamin Platz. Es ist alles zu Eurer Bequemlichkeit hergerichtet.“

Hermanns rundes Gesicht strahlte, als er die lahme Ida auf sich zu humpeln sah.

Auch Ida schaute erfreut, als sie die vertraute Stimme des Domherrn hörte. Er war ihr in ihrer Kindheit ein guter Lehrer gewesen, manchen Abend hatte er ihr die Geschichten aus der heiligen Schrift vorgelesen und, als sie älter geworden war, hatte er ihr sogar einige Brocken der lateinischen und der griechischen Sprache gelehrt. Auch im Schreiben auf einer Schiefertafel und im Lesen der heiligen Texte hatte er sie zusammen mit den Töchtern des Grafen Kuno von Rheinfelden unterwiesen.

Ida hatte dabei von allen das größte Talent und die meiste Freude gezeigt, sodass der Geistliche bald daran ging, ihr auch die Anfangsgründe der Grammatik, der Dialektik, der Astronomie und der Geometrie zu vermitteln. Fast hätte er sie in allen Disziplinen der Sieben Freien Künste unterrichtet, doch ihr Ziehvater, Graf Kuno, hatte dem schließlich Einhalt geboten, denn Ida war nicht nur verkrüppelt und reizlos, sie war auch nur die Tochter eines Leibeigenen.

Dennoch war Pater Hermann, dieser dicke, ruhige und kluge Mann, ihr ein treuer Freund geblieben, auch als sie schon zur Frau gewachsen und Hermann als Domherr nach Straßburg gegangen war.

Die Zeiten hatten sich gewandelt, Graf Kuno war schon lange tot und sein Sohn Rudolf hatte das Erbe der Rheinfeldener angetreten. Wie der Vater duldete der Herzog der Schwaben Ida ebenfalls auf der Burg Stein, er vertraute ihr, suchte ihren Rat und hatte ihr schließlich die Sorge um seinen Sohn Berthold übertragen.

Zwiebelmus, gebratener Fisch, Dinkeleintopf und dicke Bohnen mit Kräutern erwarteten die Gäste.

Hermanns Dienerschaft hatte die große Stube wahrlich sehr behaglich hergerichtet. In Feuerbecken, die auf jeweils drei kunstvoll geschmiedeten Beinen in allen Ecken standen, hatten Knechte Kienspäne gestapelt und entzündet. Vor dem Fenster waren dünne Häute gespannt und so strich nur ein ein kaum spürbarer Windzug durch den Raum, in dem sich die Flammen sanft hin und her wiegten.

Sie spendeten Wärme und Licht und es schien Ida, als sei in Hermanns Haus die vor Stunden erloschene Abendröte eingefangen.

In der Mitte der großen Stube hatten Mägde schließlich eine längliche Tafel mit Schalen voll dampfender Speisen aufgebaut.

„Greift zu, wenigstens einen kleinen Happen, werte Frau Ida, auch wenn die Fastenzeit noch einen weiteren Tag andauert, so sollt Ihr dennoch nicht verhungern. Diese Speisen sind erlaubt und gottgefällig.“

„Gottgefällig sind sie bestimmt, aber eine Fastenspeise wohl kaum. Ihr versteht es, die Kanones der heiligen Kirche recht weitläufig auszulegen, verehrter Domherr.“

Das Feuer verteilte seine Wärme und Ida spürte, wie ihre erfrorenen Glieder langsam wieder lebendig wurden. Ihr war, als stächen Tausende kleiner Nadeln in Füße und Hände.

„Lasst gut sein, teurer Freund, ich habe keinen großen Hunger. Ein kleiner Kanten Brot sollte genügen, den ich ebenso gut in meiner Kammer verspeisen kann. Auch habe ich lange genug gesessen und es war eine schwere Arbeit mich hinzustellen. Ich bleibe lieber noch etwas aufrecht, soweit man meinen krummen Leib überhaupt so nennen kann. Ich werde nach dem Jungen sehen. Kümmert Euch um den Herzog. Er ist die wichtige Person hier.“

Damit verlies sie den Raum und verschwand im hinteren Teil des Hauses.

Die Diener des Domherrn Hermann hatten Adelheid, die schöne Gemahlin des Herzogs von Schwaben, längst schon in die Schlafkammer gebracht. Dort waren zwei Betten für die Gäste vorbereitet worden. In dem einen sollten der Herzog mit seiner Gemahlin nächtigen, das andere war für Berthold und Ida reserviert.

Dazwischen stand ein kleiner Ofen, in den eine Magd nun Holzscheite nachlegte.

Zuvor hatte sie Adelheid den Mantel von den Schultern genommen, ihr die Schuhe von den kleinen Füßen gestreift und schließlich das Oberkleid ausgezogen. Statt eines ihrer kostbaren Seidengewänder hatte Adelheid auf der Reise eine derbe Cotte aus Wolle über einem langärmeligen Untergewand getragen. Dennoch war sie halb erfroren.

Dicke Felle deckten die junge Frau nun zu und in dem kleinen Ofen neben ihrem Bett bullerte wohlig ein Feuer. Dennoch zitterte sie noch immer am ganzen Körper.

Auch Berthold fror, er saß auf seinem Bett, den Mantel hatte er über den Kopf gezogen. Niemand schien sich um ihn zu scheren, bis Ida den Raum betrat. Eilig zog sie dem Jungen die eisigen Kleider aus und legte ihn unter Decken und Fellen ins Bett, nicht ohne die Magd, die sich noch immer nur um Adelheid bemühte, mit einem strafenden Blick zu bedenken.

Derweil stand der Domherr Hermann noch immer in der großen Stube und hing seinen Gedanken nach.

„Der Junge, immer nur der Junge. Ida, Ihr seid verrückt mit diesem Bengel“, murmelte Hermann in sich hinein.

„Berthold ist doch schon lange kein kleines Kind mehr, er überragt sie schon um Hauptes Länge und trotzdem beträgt er sich wie ein Kind, das gerade erst seinen Namen zu brabbeln gelernt hat. Sie ist wirklich eine brave Seele, unsere arme Ida. Eine brave Seele, ein gutes Herz, ein klarer Verstand und schöne Augen, die fürwahr entzücken, jedoch auch ein krummer und verkrüppelter Leib, der keinen Mann zu locken vermag.“

Die Worte des Domherren verebbten in einem undeutlichen Murmeln.

Hermann betrachtete die vollen Schüsseln und Teller auf der Tafel. Vor seinem Auge jedoch erschienen ferne Bilder, Bilder aus jener warmen Nacht, als mordende und brandschatzende Horden das Dorf des Azzo überfielen.

Er war ein Jüngling gewesen damals und auch Rudolf hatte noch keine 20 Jahre gezählt. Hermann hatte von seinem Fenster aus in der Ferne den Schein gelbroter Flammen lodern sehen, die gierig die Häuser und Ställe der Bauern fraßen.

Früh am nächsten Morgen waren Rudolf, dessen Vater Graf Kuno und er zu den Überresten des Dorfes geritten, um dort einer unheimlichen Stille zu begegnen. Es war die Stille des Todes gewesen. An jenem Tag hatte Hermann das erste Mal die Abwesenheit Gottes wahrgenommen.

Noch immer spürte er die eisige Kälte, die um die verbrannten Körper und die zerstörten Hütten zog.

Hier in dem warmen Raum, in seinem stattlichen Haus weit entfernt von der Burg Stein und den Ländereien der Rheinfeldener, war es ihm, als drang noch immer das weinerliche Schluchzen eines Kindes aus der Vergangenheit an sein Ohr.

Halbtot hatte es unter den niedergerissenen Dielen der zerstörten Hütte gelegen, ein Mädchen mit zerschlagenen Gliedern, das eine Bein grausam verrenkt, deren lautes Jammern die Stille zerschnitt und das der edle Graf Kuno sanft emporhob, um es auf seine Burg oberhalb des zerstörten Dorfes zu seinem Weibe Irmgud zu bringen.

Die laute Stimme Rudolfs schreckte ihn aus seinen Erinnerungen auf.

„Jawohl, mein guter Hermann. Steht da und träumt vor Euch hin. Um mich sollt Ihr Euch kümmern, da hat die lahme Ida Recht. Ich freue mich schon seit heut Morgen auf einen Becher Wein und einen anständigen Plausch vor dem Feuer mit Euch. Welche Neuigkeiten gibt es hier in deinem Straßburg? Was treibt Werner, dieser gottlose Sünder? Hat euer Domkapitel diesen Hurenbock von Bischof noch immer nicht aus der Stadt gejagt? Führt er noch immer solch ein liederliches Leben?“

In der Schlafkammer im oberen Stockwerk des Hauses hatten sich die beiden Frauen bereits zu Bett begeben, als die Dunkelheit sich fast völlig über die Häuser der Stadt gelegt hatte.

Derweil berichtete der Domherr in einer kleinen Kammer seinem Vetter Herzog Rudolf im Schein nicht weniger Talglampen noch immer von all den Neuigkeiten, die sich seit dem letztem Besuch des Fürsten in der Bischofsstadt ereignet hatten. Ein Kamin beheizte den kleinen Raum und beide Männer spürten, wie die Wärme, der gute Wein und die gesellige Plauderei, ihre Augenlider schwer und ihren Geist schläfrig werden ließen. Schon machte der Rheinfeldener Anstalten, sich zu erheben. Er streckte die langen Beine aus und straffte die breiten Schultern, als der Geistliche ihm Einhalt gebot. Die Ungeheuerlichkeiten, von denen er noch zu berichten wußte, würden dem Herzog die Müdigkeit aus Geist und Körper vertreiben.

Hermann erzählte von Frowila, jenem Weib, das Bischof Werner bereits vor Jahren zur Frau genommen hatte und das noch immer Nacht für Nacht bei dem Kirchenfürst lag. Sie war fürwahr ein ansehnliches Weibsbild, alle Teile ihres Körpers waren vortrefflich gewachsen, die Hüften, die Brüste, die Taille, alles an ihr hatte das rechte Maß. Wie sonst nur bei verheirateten Weibern Sitte, war ihr kastanienbraunes Haar züchtig mit einem Schleier bedeckt, dennoch verriet es ihr heißblütiges Temperament und zusammen mit ihren dunklen Augen ihre südländische Herkunft. In der Stadt raunten sich die Leute des Öfteren zu, Frowila, die Frau des Bischofs, sei von Byzanz nach Straßburg gekommen.

„Der Bischof ist kaum älter als unser König und steht in der Blüte seiner Manneskraft. Dass er diesem Weibsbild nicht widerstehen kann, wem wundert es?“ gab Hermann zu bedenken. Herzog Rudolf jedoch schüttelte entschieden den Kopf.

„Mein lieber Vetter, die Kirche des Reiches ist in einem erbärmlichen Zustand und der Grund dafür sind Männer wie Werner. Das Seelenheil aller Gottesfürchtigen ist gefährdet, wenn Simonie und Priesterehe ihre Säulen erschüttern und Kleriker sündig leben. Werner, Bischof Heinrich von Speyer und wie diese gottlosen Pfaffen noch alle heißen, sind nicht grundlos vom Papst Gregor suspendiert. Der Pontifex ist unser aller Hoffnung. Mit Gottes Hilfe wird er Kirche und Reich - wie sagt ihr Geistlichen immer? sacerdotium und regnum?“, Hermann nickte zustimmend, „die wird er aussöhnen und die sündige Priesterschaft entfernen“, schloss Rudolf des Domherren.

„Ihr beeindruckt mich sehr, verehrter Rudolf, Ihr sprecht wie ein Gelehrter, nicht wie ein Kriegsmann.“ „Ihr wißt, dass Papst Gregor, wie auch die Kaiserin Agnes und die Markgräfin Mathilde mir in Briefen die missliche Lage erläutert haben, in der sich die Kirche des Reichs befindet. Ich werde nicht nur mit dem Schwerte, sondern auch mit der Zunge und dem Herzen bereitwillig dem Pontifex beistehen, alle Missstände zu beheben.“

„Eine Frage bleibt aber noch.“

Rudolf sah den Domherrn fragend an.

„Wie steht der König dazu?“

Das Kaminfeuer brannte an diesem Abend noch lange im Hause des Domherren Hermann. Die Diener, die Wein und Speisen für die zwei Männer herbeischleppten, durften sich erst in ihre Schlafkojen verkriechen, als die Complet schon gesungen war.

Am 25. des Monats Dezember, im Jahre 1074 nach Fleischwerdung des Herrn, die an jenem Tage gefeiert wurde.

Auch für Ida war die Nacht kurz gewesen. Lange hatte sie keinen Schlaf finden können. Erschöpft von der Reise hatte der Gedanke an die kommenden Tage sie wach gehalten. Die versammelten Fürsten würden Herzog Rudolf wichtige Entscheidungen abverlangen. Es ging darum, sich für eine Seite zu entscheiden. Der König war ein misstrauischer Mann, der dem Herzog von Schwaben nicht wohl gesonnen war. Ida betete innständig darum, dass sich Rudolf gegen den königlichen Argwohn behaupten könne.

Alle Hoffnungen setzte sie dabei, wie so oft, auf die alte Kaiserin Agnes, die Mutter König Heinrichs. Erst nach Stunden hatte Ida denn doch endlich Ruhe gefunden und ein bleierner Schlaf legte sich über die erschöpfte Frau. Wieder einmal zogen die alten Bilder durch ihren Kopf. Die warnenden Stimmen drangen anfangs ganz schwach zu ihr, um dann immer schriller und lauter zu werden. Endlich hoben sie zu einem wilden Geschrei an. Der rote Greif setzte sich wie beinahe jede Nacht auf ihre Schulter, sah sie mit seinen schwarzen Augen an, zerkratzte ihr Gesicht und riss mit seinem scharfen Schnabel faustgroße Fleischstücke aus Armen und Beinen. Sein Löwenkörper drückte sie zu Boden, so dass sie sich nicht rühren, geschweige fliehen konnte. Sie hörte, wie Felsen auf sie niederfielen, wie ihre Knochen brachen. Um sie herum loderten die gelbroten Flammen. Fremde Augen, undeutliche Gesichter starrten sie im Feuerschein an.

Ida schreckte auf und sah sich um, Berthold lag neben ihr. Der Wind hatte erbarmungslos an den Holzläden der Fenster gerüttelt.

Als kleines Mädchen hatte der Alp sie manche Nacht heimgesucht.

Weinend war sie dann zu Irmgud gelaufen, die die bösen Bilder vom roten Greif und den wilden Flammen mit ihren Liedern vertrieben und ihr Trost gegeben hatte. Die gute Frau hatte ihr auch von der Kunigunde erzählt, deren Grab nicht fern der Burg Stein verehrt wurde und die schon viele Wunder getan hatte an Lahmen und Blinden. Gemeinsam waren sie oft dorthin gepilgert und hatten gebetet.

Seit Ida sich erinnern konnte, war die Gräfin Irmgud ihr wie eine Mutter gewesen. Nur ihr hatte Ida von dem schrecklichen roten Ungeheuer erzählen können und nur mit ihr hatte sie beten können.

Nun jedoch war sie schon seit vielen Jahren ohne die mütterliche Freundin, auf sich allein gestellt. Wie sie die Frau geliebt hatte, dachte Ida.

Hätte sie ihre eigene Mutter mehr lieben können als Irmgud? Hätte sie ihren eigenen Vater mehr achten können als den Grafen Kuno? Er hatte sie aus dem brennenden Haus ihrer Eltern gerettet, damals, als die Räuberhorden gekommen waren in ihr Dorf, als sie noch ein ganz kleines Kind gewesen war.

Er hatte sie gerettet, als sie mit zerbrochenen Gliedern in den Trümmern der Hütte gelegen hatte, hatte sie unter den Dielen hervor gebuddelt und sie mit zu sich genommen.

Später war sie zusammen mit seinen Töchtern erzogen worden, mit ihnen hatte sie das behagliche Leben auf der Burg Stein an den Ufern des Rheins geführt. Waren die Mädchen nicht wie Schwestern zueinander gewesen?

Und Rudolf, der ihr immer wie ein älterer Bruder gewesen war, hatte er die Stelle eines anderen eingenommen? Gab es irgendwo noch eine Seele, die zu ihr gehörte? Die von ihrem Blute, von ihrem Stamm war oder hatte sie nur noch Rudolf? War der Herzog ihr einziger Halt?

Eiskalte Luft zog durch die enge Stube und der kleine Ofen zwischen den beiden Bettkojen in der Schlafkammer kam dagegen nicht an.

Berthold lag ganz nahe an Idas Körper und klapperte trotz der Felle und Decken noch immer vor Kälte mit den Zähnen. Idas Hand suchte nach dem Stock, der vor ihrem Bett lag. Sie schaute hinüber zu Adelheid, die in der anderen Koje schlief. Allein, wie Ida nun erkannte. Rudolf war bereits aufgestanden. Die kleine Frau schleppte sich durch den Raum und suchte zwei weitere Decken zusammen. Die legte sie umständlich über den schlafenden Jungen aus.

Wenig später konnten jene Straßburger, die schon bei Sonnenaufgang in den engen Gassen der Stadt unterwegs waren, ein nicht mehr ganz junges Weib beobachten, das sich die Treppe am Hause des Domkapitular Hermann hinab quälte, krumm gewachsen und aufgestützt auf einen Stock.

Der Wind war noch immer stark. Er riss an Idas Haaren, die sich nicht länger in die Flechten, die zuvor hastig am Hinterkopf zusammengesteckt hatte, zwingen ließen. Strähnen ihres dicken, dunkelblonden Haares hingen wirr umher. Sie raffte über der Brust mit einer Hand den Mantel zusammen, den sie sich um die Schultern gelegt hatte.

Rasch fand ihr Stock auf der Treppe sicheren Halt, sodass sie es wagte, den Blick zu heben und über den Platz hinüber zum Münster gleiten zu lassen. Das gewaltige Gotteshaus widerstand trotzig dem Unwetter und ragte wie ein mächtiger Fels in den Himmel. Davor flatterten im Sturm die vielen bunten Zelte. Sie dienten den Kriegern, Knechten und Bediensteten, die im Gefolge hochgeborener Fürsten nach Straßburg angereist waren, in diesen Tagen als Herberge. Sogar einige Bischöfe, Grafen und auch Herzögen hatten in Zelten Quartier nehmen müssen, da sie keine Verwandten in der Bischofsstadt hatten, bei denen sie Unterschlupf hätten finden können.

Am Fuße der Treppe angekommen, hielt Ida kurz inne und richtete den Blick in die Höhe. Wie gewaltig das Münster vor ihr aufragte, sie hatte noch nie solch ein riesiges Bauwerk gesehen. Zur Ehre Gottes hatten sie hier in Straßburg ein wahrhaftiges Wunder geschaffen.

Die Gebete, die in diesem Gotteshaus gesprochen werden, kam es Ida in den Sinn, sind ohne Zweifel wirksamer als andernorts, denn das Dach ragte direkt in den Himmel.

Diese Gewissheit spornte sie an, so flink es ihr möglich war, dem Sturm zu trotzen, hinüber zum Münster zu humpeln und gemeinsam mit den wenigen Gläubigen dieser frühen Stunde die Laudes zu feiern.

Die Sonne war mittlerweile vollständig über den Horizont gekrochen, Geschäftigkeit und Lärm schlugen Ida entgegen, als sie aus dem dunklen Kirchenschiff hinaus auf den Kirchplatz trat. Noch immer fegte der Sturm über den Platz. Der Anblick der unzähligen bunten Zelte erinnerte an eine Sommerwiese voller Kornblumen und Fingerkraut, Mohn, Rotklee und Veilchen, und daran, wie sie im Wind hin und her wogten. Wie schmerzlich Ida doch die Farben und Düfte der Erntezeit vermisste. Der strenge, graue Winter war ihr zu lang.

Mit der linken Hand faßte die zierliche Frau den Mantel enger vor ihrer Brust zusammen, während ihre Rechte den Stock umklammert hielt. Gestärkt durch das Morgengebet kämpfte sie sich durch die Menschenmenge und durch den Sturm bis zum Hause des Domherrn, und schritt durch das Portal in die Eingangshalle.

Die Nachbarn des Hermann wussten, dass im Erdgeschoss des Hauses auch die Küche war, wo der Hausherr die meiste Zeit des Tages verbrachte. Seine Fresswut machte ihm die Gegenwart des Küchengesindes an diesem Ort erträglich.

Auch heute morgen saß er bereits auf der Bank vor der großen Feuerstelle und hielt eine Schale dampfender Dinkelgrütze in den Händen. Neben dem Domherrn hockte Rudolf. Eine Decke aus grober Wolle um die Schultern sollte ihm Schutz gegen die morgendliche Kälte sein.

„Nehmt Euch doch auch eine Schüssel dieser wunderbaren Grütze, Vetter Rudolf. Die Köchin hat getrocknete Früchte beigegeben. Und Milch. Ihr braucht heute viel Kraft und Geschicklichkeit, wenn Ihr dem König unter die Augen tretet. Mit einem hohlen Bauch werdet Ihr nicht bestehen vor Heinrich. Bedenkt auch unser Gespräch von gestern Nacht. Ihr seid bekannt als Parteigänger des Papstes.“ „Grütze wird meine Lage kaum verbessern. Mir ist bewußt, wie argwöhnisch Heinrich mir gegenüber ist, Hermann. Nicht wenige behaupten sogar, der König trachte nach meinem Leben. Noch kein Jahr ist vergangen, seit dieser Regenger aus dem Gefolge Heinrichs behauptet hat, der König habe ihm den Mord an mir befohlen. Auch wenn die Königlichen das abgestritten haben und Regenger einen Lügner schimpften, ich traue Heinrich keinen Fuß weit. Die ewigen Gerüchte im Reich sind mir so zuwider. Ich hasse es, niemanden trauen zu können, in jedem einen Feind, einen Attentäter im Dienste des Königs vermuten zu müssen.

Der offene Kampf, den ziehe ich diesem verlogenen und hinterhältigem Versteckspiel vor“, antwortete Rudolf und erblickte Ida, wie sie durch die Tür in die Küche humpelte.

Ihr rechter Fuß schleifte wie immer kraftlos über den Boden. Das schabende Geräusch, das er dabei verursachte, liess das Gesinde aufhorchen.

Die Köche und Mägde des Bischofs unterbrachen ihre Arbeit und beobachteten jeden einzelnen schwerfälligen Schritt Idas. Rudolfs Kriegsmann Bodo aber sprang auf und reichte ihr eine Schüssel Grütze.

„Was meint Ihr, teure Ida, wie wird der König sich stellen? Es werden sich viele Große in der Stadt versammeln und die Geburt des Herrn feiern. Der König hat die wichtigsten Fürsten gerufen. Wird Heinrich endlich auf ihren Rat hören? Was wird wegen der suspendierten Bischöfe geschehen? Und wird es einen erneuten Kriegszug gegen die Sachsen geben?“

„Hermann, ich bin nur ein Weib und verstehe nichts von Versammlungen, Ratschlägen oder Krieg. Ich kümmere mich um die Kleider der Herzogin, ihren Schmuck und um Berthold.“ Der Domherr lachte laut auf.

„Am frühen Morgen seid Ihr schon zu Späßen aufgelegt, kluge Ida.

Jedermann weiß doch, dass Ihr die treueste Ratgeberin des Herzogs seid.“

Hermann sah Rudolf an. Der saß noch immer zusammengesunken auf der Bank und stierte auf den Boden.

Er ist alt geworden. Zwar ist er noch immer groß, seine Schulter noch immer breit, aber sein Körper ist müde, schlapp hängt das Fleisch, wo früher Muskeln waren, und die Haare sind grau geworden.

Vermag er im Kampf mit dem König überhaupt noch zu bestehen? Heinrich könnte sein Sohn sein, dachte Ida, als sie den Herzog betrachtete.

Einsam sah er aus, wie er dort hockte, die Decke noch immer fest um die eingefallenen Schultern gelegt.

In Ida erwuchs ein vages Gefühl. Eine unergründliche Ahnung drückte schwer auf ihre Brust, als sie an die kommenden Tage dachte.

Von draußen drang das Schreien eines Raben in die Küche.

„Verdammter Unglücksvogel“, kreischte die Köchin.

Ida konnte nicht erkennen, was sie beunruhigte, nur dass ein Unheil lauerte. Das spürte sie genau.

„Hemma, wo bist du?“.

Die Königin wurde ungeduldig.

„Hemma, komm her und hilf mir.“ Berthas Stimme überschlug sich.

Der Wind, der die Nacht über an den Fensterläden gerüttelt hatte, war mittlerweile zum Sturm angewachsen. Mittlerweile begann man damit, im Hof des Bischofspalastes die Zelte des Gefolges und der zahlreiche Gäste, hastig abzubauen. Die Gerätschaften wurden festgebunden und Pferde in den Ställen am Stephanstor in Sicherheit gebracht.

Die Dienerinnen flatterten aufgeregt um ihre Herrin herum. Ursel und Margret, die schon seit langem im Dienste der Königin standen, trugen Oberkleider, Tuniken und Schleier aus feinsten Stoffen hin und her.

Zwei große Truhen mit Kleidern hatten Knechte in Berthas Kammer getragen. Die Königin beobachtete zusammen mit Käthelin und Affra, zwei ihrer liebsten Hofdamen, die Geschäftigkeit der Dienerinnen.

„Nein, nein, nein“, rief Affra, die ältere von beiden, entsetzt.

„Nicht das blaue Kleid! Die Königin muss heute strahlen.“ Affra stürzte auf Bertha zu und hielt ihr ein anderes Kleid an den zierlichen Körper.

„Die rote Tunika steht Euch besonders gut. Ich werde den passenden Schmuck heraussuchen. Aber welche Eurer Frauen hat das blaue Kleid herausgelegt? Sicher ein ganz unnützes und untaugliches Weib.“

Die Tür wurde aufgestoßen und die Dienerin Hemma stolperte eilig in die Kammer der Königin hinein.

„Wo warst du? Dein Gesicht ist ganz rot. Außer Atem bist du auch.

Warst wieder beim Hetzil, der Henkersfratze?“ fragte Affra streng die Dienerin.

„Verzeiht, Herrin“, antwortete Hemma leise.

Affra war in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen, berühmt für ihre vornehmen Kleider und ihr geschickt gestecktes Haar, alles nach byzantinischer Art. Nun war sie bereits im 47. Lebensjahr, aber auch als alte Frau erstrahlte noch immer ein Rest ihrer vergangenen Anmut.

Dazu stand jedoch ihre scharfe Zunge im auffallenden Gegensatz.

Affra blieb selten eine Schwäche einer anderen Hofdame verborgen, über die sie sich mit vielen, oft auch spitzen Worten ausbreitete.

Auch die Königin war erbost und wandte sich ihrer Dienerin zu, die verlegen mit gesenktem Kopf vor ihr stand.

„Du weißt, dass ich Sturm und Unwetter mehr fürchte als alle bösen Zauber des Teufels.“

Mit fahriger Geste schlug ihre rechte Hand über Brust und Stirn das Kreuzzeichen, ihre Frauen taten es ihr eilig nach.

„Hilf mir, mich anzukleiden und zu schmücken. Wenn ich meine Schwester empfange, will ich einer Königin würdig sein. Adelheid ist nur vermählt mit einem Herzog, kommt aber prunkvoller daher als jede Kaiserin“, erklärte die Königin.

„Bertha, Gold und Edelsteine machen keine Kaiserin. Niemand weiß das besser als ich.“

Unbeachtet von den Frauen war Agnes, die alte Kaiserin, Mutter König Heinrichs, hinter der Dienerin in die Kammer getreten.

„Adelheid ist nur die Gemahlin des Schwabenherzogs Rudolf, du musst dich nicht versündigen und neidisch sein auf ihre Gestalt. Sie mag ein hübsches Gesicht, eine anmutige Figur haben. Auch ihre Kleider sind so prächtig wie die der Kaiserin in Byzanz, aber deine Schwester wird dich an Würde nie übertreffen. Ich habe dich wie meine eigene Tochter erzogen zur Königin und ich habe gut getan daran. Vergiss nie, wer du bist“, sagte Agnes und strich über Berthas Wange.

Berthas Leidensmiene vermochte die Kaiserin dadurch jedoch nicht aufzuhellen.

Die weiße, von Sommersprossen übersäte Haut, ihre weichen Züge und das kraus gelockte Haar, das wild aus den dicken Flechten ausbrach, verliehen Bertha einen kindlich unschuldigen Liebreiz.

„Der König wird mir zürnen. Er schätzt es nicht, wie ich ausschaue“, sagte Bertha.

„An mir sehen die prächtigsten Kleider aus wie Lumpen einer Bäuerin.“ Tränen standen in Berthas Augen.

„Mein kleines Gänschen, was sollen diese Reden? Du bist wunderschön. Dein Haar glänzt und deine Haut ist makellos.“

Nun war auch Kuniza zur Königin getreten. Wie Affra und Käthelin stand sie als Hofdame in Diensten der Königin.

„Wo bist du gewesen, Kuniza? Alle haben mich allein gelassen. Wir feiern heute die Geburt Christi, meine Schwester wird hier sein.

Unzählige Große kommen, der König hält Hof vor ihnen allen und ich habe niemanden, der mir beisteht, wenn ich neben ihm in die Kirche schreiten muss. Aller Augen werden sich auf mich richten und keine von euch hilft mir, mich zu kleiden, wie es einer Königin geziemt.

Sogar Hemma treibt sich lieber herum, statt mir zu Diensten zu sein.

Und du, Kuniza, warum kommst du erst jetzt?“ Die Kaiserin nahm Berthas Hand.

„Beruhige dich, Kind. Alles wird sich zum Guten wenden. Kuniza wird dir die schönsten Kleider heraussuchen und dich begleiten, wenn du vor die Großen des Reiches trittst, nicht wahr Kuniza?“

Agnes schaute die Frau ernst an.

„Zu Diensten“, sagte Kuniza, verneigte sich vor der alten Kaiserin und beugte sich sogleich über die große Truhe, die zarte Schals, prächtige Mäntel, Tuniken und Überkleider aus feinstem Leinen und edler Seide verwahrte.

„Verehrte Herrin, wer hat Euch die rote Tunika herausgesucht? Die passt nicht zu dem heutigen Fest. Lasst mich eilig ein prächtiges Gewandt auswählen, in dem Ihr wahrhaftig wie eine herrliche Königin erscheint.“

Der Blick, den Affra der vornehmen Kuniza zuwarf, war von Hass erfüllt.

Wenig später trat Bertha prächtig gekleidet und geschmückt auf die Empore der großen Halle und schaute auf die versammelten Gäste hinab. Über einer schneeweißen Tunika aus Leinen trug sie ein violettes Oberkleid aus wertvollem Samit. Kostbar bestickte Borten zierten die langen, weiten Ärmel. Über ihre Schultern hatte Hemma der Königin einen nachtblauen Mantel gelegt, der von einer auffälligen Fibel gehalten wurde. Das Schmuckstück hatte die Form eines Pinienzapfens, war ungefähr handbreit und ragte 3 fingerbreit empor.

Trotz ihrer Größe nahm sich diese Fibel sonderbar bescheiden aus neben dem aufwendig gestalteten und mit Edelsteinen besetzten Halsschmuck, den kostbaren goldenen Armreifen und den Ohrringen, die der Königin beinahe bis zu den Schultern reichte und mit bunten Steinen verziert waren.

Sie war nur von einfacher Gestalt und aus Bronze gefertigt. Es schien, als habe ein Goldschmied, vermutlich aus fernen Ländern, die Fibel aus einem Band voller metallener Perlen gewickelt. Auf ihre Spitze hatte er eine kleine Platte gesetzt, in die ein Kreuz ziseliert war, dessen Arme sich auf wundersame verästelten, wie die eines wilden Rosengebüschs.

Königin Bertha wagte einen kleinen Schritt noch näher an die Brüstung heran und drehte sanft den Kopf, wobei sie ihren Blick über die Hofgesellschaft schweifen liess. Sie erblickte Herzog Rudolf von Schwaben, Herzog Welf von Bayern stand neben ihm, auch Erzbischof Udo von Trier, die Bischöfe von Bremen und von Bamberg waren erschienen, ebenso zahlreiche Grafen, Edle und die Dienstmannen der edlen Fürsten.

Aus dem Gefolge des Königs erkannte Bertha den Kaplan Gottschalk.

Wie immer stand der kleine Mann abseits und allein. Er war ein Mann der Feder, seit Jahren fertigte er als Notar die königlichen Urkunden an. Die Meisterschaft, die er dabei errungen hatte, sicherte ihm einen festen Platz im Kreise der liebsten Freunde und Ratgeber ihres Gemahls.

Neben den in Kampfesübungen gestärkten Körpern der Krieger, deren Gelächter die Halle füllte, fiel Bertha jedoch der schmächtige Wuchs des Kaplans noch deutlicher auf. Wenige Fuß von ihm entfernt lachten Konrad und sein Bruder Swigger zusammen mit zwei jungen Männern, die der Königin fremd waren. Nun traten Godobald und Berchtold zu der kleinen Gruppe hinzu, beide waren wie die meisten der königlichen Freunde von einfachem Stande, dennoch ob ihrer Ratschläge von Heinrich geliebt. Treu standen sie an der Seite des Königs, ihren Dienst erfüllten sie eifrig, auf ihre Hilfe war Verlass.

Dass der König in ihrer Runde fehlte, war ein ungewohnter Anblick.

Für gewöhnlich suchte er die Gemeinschaft mit diesen jungen Kriegern. Je ungehobelter ihr Betragen, desto lieber waren sie ihm.

Allmählich kehrte Ruhe ein in die Gästeschar. Einer nach dem anderen blickte hinauf zur Königin.

Die hielt den Kopf erhoben, ganz wie es ihr die alte Kaiserin in Kindertagen gelehrt hatte, und ertrug tapfer die Blicke der versammelten Großen unten in der Halle. Ihre Mundwinkel waren nach oben gezogen, die Lippen jedoch aufeinander gepresst. Der edle Schimmer ihrer Haut ähnelte gewöhnlich jenen elfenbeinernen Schnitzereien, die an hohen Tagen auf den Altären mächtiger Gotteshäuser zu bestaunen waren. Nun aber war sie grau und matt, fahl und unansehnlich wirkten die Sommersprossen und am Hals zeichneten sich rote Flecken deutlich ab.

An Bertas Seite standen ihre liebsten Hofdamen.

Die Krieger und die Geistlichen ihres Hofstaates, unter ihnen Berthas Beichtpater Eliah, hatten sich hinter ihrer Herrin aufgestellt.

Zwei Ammen traten hinzu. Die eine führte an jeder Hand eine königliche Tochter, die andere trug den Sohn und Nachfolger König Heinrichs, den noch kein Jahr zählenden Konrad auf dem Arm.

Bewegungslos stand Königin Bertha da, nur ihre linke Hand befingerte ruhelos die bronzene Rosenfibel. Suchend streifte ihr Blick über die Köpfe der Versammelten unter der Empore.

Endlich entdeckte Bertha ihre Schwester in der Menge.

Adelheid thronte auf einem Stuhl am Kopfe des Saales. Neben ihr stand König Heinrich, wohl der einzige im Raum, der das Erscheinen seiner Gemahlin hoch oben auf der Empore nicht bemerkt zu haben schien. Verzückt schaute er auf seine Schwägerin herab, die unter diesen Blicken zufrieden zu ihrer Schwester hinauf sah.

War dieses Haus auch nicht ihr Eigen, so stand Bertha als Königin doch dem königlichen Haushalt vor, der in diesen fremden Mauern vorübergehend Herberge gefunden hatte. Mit würdevoller Geste, die Hand salbungsvoll zum Gruß erhoben, richtete sie als Gastgeberin das Wort an die Versammelten.

„Edler König Heinrich, edle Kaiserin Agnes, Herzogin Adelheid, meine teure Schwester, geschätzte Gäste. Mit großer Freude sehen wir Euch heute hier versammelt. Treu ergeben und in wahrer Zuneigung zu Euren Majestäten seid Ihr dem Befehl des Königs gefolgt und habt Euch hierher begeben, damit wir gemeinsam die Geburt unseres Herrn Jesu Christi feiern können.“

Sie ist so viel sanfter als ihre Schwester, dachte Ida, als sie die Königin hoch oben auf der Empore erblickte. Wie Adelheid trug Bertha ihr volles dunkelbraunes Haar in dicken Flechten und wie ihre Schwester schimmerten ihre Augen grün wie das Blätterdach jener Eichen, die im Sommer Schatten spenden vor der kleinen Kapelle des heiligen Gallus, unweit der Burg Stein. Oft schon hatte Ida zusammen mit Berthold dort zur Jungfrau Kunigunde, Beschützerin und Patronin der Blinden und Lahmen, gebetet. Vor langer Zeit war die gottesfürchtige Frau auf der Rückreise von einer Pilgerfahrt eben an jener Stelle gestorben und beigesetzt worden, so erzählten es sich die einfachen Leute der Gegend.

Wenige Male nur hatte Ida die Königin getroffen, aber immer erinnerten sie Berthas grüne Augen an die Eichen vor dem Grab der frommen Jungfrau Kunigunde, eine Erinnerung, die ihr bei der Herzogin Adelheid noch nie gekommen war, wie es Ida nun bewusst wurde.

Neben Bertha stand die vornehme Kuniza, von der erzählt wurde, sie stamme aus einer alten ungarischen Familie. Ihr Vater sei ein mächtiger Fürst in dem fernen Ländern gewesen, von denen Ida nicht einmal wußte, ob es dort gute Christenmenschen oder gottlose Heiden gäbe.

Als Kuniza noch ein Kind gewesen war, habe er im Heere des Ungarnkönigs Andreas gekämpft. Als dessen Bruder Béla gegen diesen rebellierte, sei er jedoch im Kampf ums Leben gekommen.

Auch ihre Mutter sei früh gestorben.

Ein Ritter aus den Karpaten habe sich des Mädchens angenommen.

Aus dem fernen Lande habe er sie ins Reich gebracht, fromme Schwestern hätten sie erzogen und schließlich sei sie an den Hof König Heinrichs gekommen, um dessen junger Braut Gesellschaft zu leisten.

Im Umkreis des Hofes raunte man sich gelegentlich aber auch zu, Kuniza sei in Wahrheit eine Prinzessin, entstamme dem russischen Geschlecht der Rurikiden und ihre Vorfahren hätten ein riesiges Reich von den Karpaten bis zu den Flüssen Don und Wolga beherrscht. Ida kannte diese fernen Gegenden nicht, vermochte auch nicht zu urteilen, ob dies nur ein Gerücht oder aber die Wahrheit sei. Die Namen, die von dort zu ihr gedrungen waren, klangen jedoch geheimnisvoll und aufregend. Rjasan, Turow, Kiew.

Und geheimnisvoll war schließlich auch Kuniza. Ihre dunklen Augen waren betörend und doch auch bedrohlich wie die einer Katze, ihre hohen Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht eine strenge Schönheit und ihre Stimme hatte einen fremden Klang, der keinem Stamm im Reich eigen war.

Die Schar der Gäste war nun verstummt, jeder blickte zur Empore hinauf, Heinrich unterbrach seine Plauderei mit Adelheid. Herzog Rudolf stand bei der alten Kaiserin Agnes und auch sie verharrten still, sahen hinauf und warteten ab. Einzig Moricho, der Truchsess des Königs, lief noch immer auf und ab. Ihm oblag die Aufsicht über die königliche Tafel, an der sich Heinrichs Gäste nach der Messe versammeln sollten.

An der Seite Kunizas schritt Bertha die Treppe von der Empore in den großen Saal hinab. Hinter den beiden erkannte Ida die anderen beiden Damen, die zum Hofstaat der Königin gehörten, Affra und Käthelin.

Vor allem die jüngere von beiden achtete angestrengt darauf, dass der Saum des prächtigen Mantels formvollendet über die Stufen hinunterglitt und nicht etwa an einer Unebenheit hängen blieb.

Dahinter folgten die Ammen mit den königlichen Töchtern an der Hand. Ida erblickte auch den kleinen Sohn des Königs. Ein Geistlicher, der dicht hinter den Kinderfrauen ging, schaute sanft auf das Kind.

Schließlich erblickte Ida auch Rainald, jenen hoch gewachsenen Krieger König Heinrichs, der, wann immer Ida bisher die Königin gesehen hatte, dieser stets wie ein Schatten gefolgt war.

Immer war er bemüht, einen Schritt hinter der jungen Frau zu bleiben, sein ernster Blick verfolgte aufmerksam jede ihrer Bewegungen, um dann wieder über die Gästeschar zu gleiten wie der eines hungrigen Seeadlers.

Ida fragte sich, ob sie jemals ein einziges Wort über seine Lippen hatte kommen hören.

Rainald war ein Riese, der jeden der hochgeborenen Gäste überragte.

Seine langen Beine steckten in einfachen eng anliegenden Hosen, über seine breite Brust und den muskelbepackten Armen hatte er einen einfachen grauen Mantel geworfen.

„Was starrst du so zu meiner Schwester hinüber, Ida? Nimm den Jungen und komm mit uns in die Messe.“

Adelheid thronte nicht länger auf ihrem Stuhl, sie war zu Ida getreten.

Das Wort hatte sie an die Frau gerichtet, ihr Blick aber streifte den Jungen voller Abscheu.

Die Fürsten des Reichs machten sich bereit zum Aufbruch in die Messe. Bischof Werner, die Priester, Diakone und Domkapitulare würden in der gewaltigen Kathedrale die Geburt des Herrn feiern und die hochgeborenen Gäste folgten den Geistlichen ins Gotteshaus.

Heinrich ging schleppend auf seine Königin zu, ergriff ihre Hand und gemeinsam zog das Herrscherpaar mit seinen Gästen hinüber ins Münster.

An der Spitze dieser Prozession schritt Bischof Werner an der Seite von König Heinrich durch die Hallen des Bischofspalastes, beide mit jugendlichem Schritt, dass vor allem die wohlgenährten Domherren schon bald Mühe hatten zu folgen. Auch die alte Kaiserin Agnes und Heinrichs Gemahlin Bertha strengte der schnelle Lauf des Königs und seines Bischofs sichtlich an. Die beiden Männer jedoch lachten sich an und schienen die heilige Messe als großes Vergnügen zu betrachten, ähnlich einem Kampfspiel unter Freunden, bei denen die jungen Männer ihre Kräfte messen konnten.

Erzbischof Udo von Trier, Bischof Liemar von Bremen und die königlichen Kapläne schlossen sich der Gruppe an. Dahinter reihten sich Herzog Rudolf mit seiner Gemahlin Adelheid und einige weitere hochgeborene Herzöge, Grafen und vornehme Große des Reiches ein.

Stolz und doch auch freundlich umherschauend folgte Frowila, die Gefährtin des Bischofs, dem Zug der noblen Gäste in die Kirche.

Niemand hatte bisher ein Wort an sie gerichtet, dennoch schien sie zufrieden, beinahe glücklich. Ihre Augen strahlten im Widerschein der zahllosen Lichter, die die große Halle erleuchteten.

Am Ende der Prozession humpelte Ida nur mit Mühe. Berthold hielt sie an der einen Hand, mit der anderen umfaßte sie ihren Stock.

Langsam schoben sich die beiden voran, gemeinsam mit den Dienstmannen des Königs, jenen nieder geborenen Leuten, die in Diensten Heinrichs standen und deren Ratschlag der Herrscher so viel Gewicht beimaß. In der Menge war es schwierig für Ida, sicheren Halt zu finden und das Gleichgewicht zu bewahren. Überall drängelten und stießen die Männer sie in die Seite.

Ida wünschte sich Bodo herbei. Wo mochte der Kerl nur stecken?

Auch wenn der herzogliche Krieger oft derbe Späße mit ihr machte, so war er doch auch hilfsbereit. Gerne hätte sie jetzt seinen Arm als Stütze angenommen. 52

Der Weg war mühevoll, Berthold ließ sich ziehen, den Kopf schief geneigt, den Blick in die Leere gerichtet. Kraftlos schleppte er sich voran und Ida hatte Mühe, nicht zu stolpern. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, sich selbst um den Jungen zu sorgen. Als Sohn des edlen Herzogs von Schwaben wäre es sein Recht gewesen, hinter dem König gleich neben seinem Vater in die Kathedrale einzuziehen.

In seltener Eintracht hatten Adelheid und der Domherr Hermann jedoch entschieden, dass die Gegenwart des schwachsinnigen Sohnes weder die Hoheit des Herzogs noch die Schönheit der Herzogin zierte. So blieb ihm der Platz an Idas Seite. Darüber war die Kinderfrau froh, die spöttischen Blicke der versammelten Gäste, die gehässigen Worte, die Berthold trafen, verletzten sie.

Der Junge dagegen, so schien es, blieb von jeder boshaften Rede unberührt. Wer konnte das jedoch so genau wissen? Ida jedenfalls schnitt jedes einzelne boshafte Wort ins Herz.

Einen heiligen Schwur hatte sie einst geleistet, den Jungen zu behüten und ihm wie eine Mutter zu sein, obwohl sie damals selbst noch ein junges Ding gewesen war. Was ihr erst Pflicht gewesen, war schnell Liebe geworden. Und wie alles, was freiwillig und aus Neigung gegeben wird, statt aus Pflicht und dem Zwang des Befehls, entfachte auch diese Liebe ihrerseits tiefe Zuneigung beim Jungen. Ja, da war sich Ida sicher, Berthold liebte sie.

Als die Gäste das Haus verließen und auf den Platz traten, an dessen Nordseite sich das Münster hoch in den aufgewühlten, schwarzen Himmel reckte, wurde Ida von dem Sturm ergriffen. Es war nie einfach für sie das Gleichgewicht zu halten, ohne den Stock konnte sie sich nur mit Mühen auf den krummen Beinen halten. Nun aber war auch er keine Stütze mehr für sie.

Der Wind, der seit dem gestrigen Tage unbarmherzig über Straßburg hinweg gefegt war, war zu einem gewaltigen Sturm angewachsen, der wie ein tobendes Ungeheuer gegen die Mauern des Münsters donnerte. Ida ließ die Hand des Jungen los und suchte nach Halt. Der Sturm zerrte an ihr und ihr fehlte die Kraft sich ihm zu widersetzen.

„Berthold komm, bitte, komm jetzt. Hilf mir, Berthold, bitte“, schrie sie, ihre Worte aber gingen im Tosen des Unwetters verloren. Mit beiden Händen hielt sie ihren Stock umklammert. Lange, das wußte Ida, konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten.

Steh mir bei, heilige Kunigunde, hilf und stütze mich.

Plötzlich spürte sie den festen Griff einer starken Hand. Ida schaute erschrocken in das regennasse kantige Gesicht des königlichen Kriegsmannes Rainald. Er war ihr zur Seite gesprungen und legte stützend seinen linken Arm um sie. Gemeinsam schleppten sie sich durch das Unwetter in das Münster.

Kaum hatte Ida das rettende Innere des Kirchenschiffs jedoch erreicht, ließ Rainald sie los, kehrte um und rannte abermals in den Sturm hin zu Berthold, der verlassen, mitten auf dem Platz stand.