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Die Nachricht vom Tod seines Vaters bringt das Leben des Erzählers völlig aus dem Gleichgewicht. Beide, Vater und Sohn, hatten ihre Heimat Haiti verlassen und waren ins Exil gegangen. Der Vater in den 1960er-Jahren nach New York, der Sohn 1976 als 23-Jähriger nach Montréal- als Reaktion auf die Ermordung eines Freundes durch die Miliz (»Tontons Macoutes«) des Diktators Jean-Claude Duvalier (»Baby Doc«). Die Todesnachricht lässt den Sohn nun, dreiunddreißig Jahre später, heimkehren. Gemeinsam mit seinem Neffen, seinem jüngeren Alter Ego, bereist er Haiti, das geprägt ist von Korruption, Armut und politischer Verfolgung, aber auch von unauslöschlicher Hoffnung. Nachdenklich, scharfsinnig und aufmerksam macht sich der Erzähler Gedanken über sein Land, seine Vergangenheit und die Definition des Wortes Heimat. Der Roman ist ein Plädoyer für die Bedeutung der Herkunft, den Wert der Familie und die unbändige Kraft der Poesie.
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Seitenzahl: 220
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Cet ouvrage a bénéficié du soutien des programmes d‘aide à la publication de l‘Institut français / Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogrammes des Institut français Paris.
Titel der Originalausgabe:L’énigme du retour© 2009 Éditions Grasset & Fasquelle, ParisLektorat: Angelika Andruchowicz, Laure Clément© 2013 Verlag Das Wunderhorn GmbHRohrbacherstraße 18, D-69115 Heidelbergwww.wunderhorn.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Gesamtgestaltung: Ingrid Sauer, Cyan, Ehrle und Sauer GmbH, HeidelbergTitelabbildung: Mario Cravo NetoISBN: 978-3-88423-426-6ISBN: 978-3-88423-453-2 (ebook)
Dany Laferrière
Roman
Aus dem Französischenvon Beate Thill
Am hellen Morgen …
AIMÉ CÉSAIRE,Zurück ins Land der Geburt, 1939.
Für Dany Charles, meinen Neffen,der in Port-au-Prince lebt.
Die Kunde schneidet die Nacht entzwei.
Die fatale Nachricht am Telefon,
die jeden Mann reiferen Alters
einmal erreicht.
Mein Vater ist soeben gestorben.
Ich fuhr heute früh am Morgen los.
Ohne Ziel.
Wie ab jetzt mein Leben.
Halte unterwegs zum Frühstück an.
Eier mit Speck, Toast, brühheißer Kaffee.
Setz mich nah ans Fenster.
Stiche der Sonne wärmen mir die rechte Wange.
Werfe zerstreut einen Blick auf die Zeitung.
Das blutrünstige Bild von einem Verkehrsunfall.
In Amerika verkauft man den Tod anonym.
Ich schaue der Bedienung zu, wie sie
zwischen den Tischen herumläuft.
Höchst eifrig.
Ihr Nacken schweißnass.
Das Radio spielt diesen Westernsong,
der von einem Cowboy
mit Liebeskummer erzählt.
Die Bedienung hat eine rote Blume
auf der rechten Schulter als Tattoo.
Sie wendet sich traurig lächelnd mir zu.
Ich lege ein Trinkgeld auf die Zeitung
neben der Tasse mit kaltem Kaffee.
Ich stelle mir auf dem Weg zum Wagen
die Einsamkeit eines Mannes kurz vor dem Tod
in einem Krankenhaus vor in der Fremde.
„Der Tod verscheidet in der weißen Lache des Schweigens“,1
schreibt der junge Poet aus Martinique Aimé Césaire
im Jahr 1938.
Was weiß man von Exil und Tod,
mit kaum fünfundzwanzig?
Ich nehme wieder die Autobahn 40.
Kleine froststarre Dörfer
entlang dem gefrorenen Fluss.
Wo haben sich alle vergraben?
Das Volk bleibt unsichtbar.
Mir ist, als entdeckte ich
jungfräuliche Gebiete.
Ich wähle ohne Grund
die Route über Land,
auf der ich eine Stunde länger brauche.
Riesige Eisesweite.
Für mich ist es nicht leicht,
selbst nach den vielen Jahren,
mir auszumalen, welche Form
der nächste Sommer hat.
Das Eis brennt
sich tiefer ein
als Feuer,
aber das Gras erinnert sich
an das Streicheln der Sonne.
Es gibt unter dem Eis
mehr brennende Begierden
und lebendige Kraft
als in jeder anderen Jahreszeit.
Die hiesigen Frauen wissen das.
Die Männer arbeiten schweißnass und
der erste, der spricht, ist ein Schwächling.
Im Wald ist Schweigen die Regel,
damit der Bär dich nicht überrascht.
Nach diesem vielen Schweigen
nimmt den Mann die Leere ein
und er ist nur noch ein dürrer Baum,
der im Schnee knackt.
Der Hunger, der den Wolf aus dem Wald treibt,
drängt den Holzfäller nach Hause.
Jetzt sitzt er eingenickt
nach der Suppe am Kamin.
Die Frau erzählt, was sie im Radio bringen.
Es geht immer um Arbeitslosigkeit oder Krieg.
So vergehen in den Dörfern des Nordens Jahrhunderte.
Schön in der Wärme redet es sich gut,
nebenher versorgt man alte Wunden.
Wunden, derer man sich schämt,
heilen dagegen nicht.
Mich überfällt Panik,
wenn man keinen menschlichen Laut mehr hört.
Ich bin ein Tier der Stadt.
Beherrscht vom Stakkato der Absätze
einer Frau, die hinter mir geht.
All meine Anhaltspunkte sind weg.
Der Schnee hat alles zugedeckt.
Das Eis hat die Gerüche verbrannt.
Dies Winterland.
Nur der Einheimische findet hier seinen Weg.
Ein dicker knallgelber Laster streift mich fast.
Vor Freude auf seiner langen Fahrt,
endlich jemanden zu treffen,
hupt der Fahrer wie um Tote zu erwecken.
Er braust weiter nach Süden.
Ich fahre in diesen Norden im Licht,
der mich begeistert und blendet.
Ich weiß, am Ende dieser Straße
schreibt ein Bärtiger voll Sanftmut und Wahn
inmitten einer Meute von Hunden
am großen amerikanischen Roman.
Versteckt in dem schlafenden Dorf
Trois-Pistoles am gefrorenen Fluss,
ist er der einzige, der heute mit Phantomen
Irren und Toten zu tanzen versteht.
Dies bläuliche Licht
tief über dem Fluss
saugt mich in einem Atemzug an.
Mein Wagen gerät ins Schleudern.
Ich gewinne noch eben die Herrschaft zurück.
Zu sterben, inmitten der Schönheit der Dinge,
ist dem Kleinbürger nicht gegeben,
der ich bin.
Ich weiß, hier bin ich in einer Welt,
die der meinen entgegengesetzt ist.
Das Feuer des Südens gekreuzt
mit dem Eis des Nordens,
ergibt ein Meer, temperiert von Tränen.
Wenn die Straße so gerade ist,
Eis an beiden Seiten,
keine Wolke, um sich
am Mittagshimmel in diesem
einheitlichen Blau zu orientieren
berühre ich die Unendlichkeit.
Wir sind wirklich bei den Nordmännern,
die trinken, bis sie den Kopf verlieren
und dabei tanzen wie die Irren.
Sie werfen Zoten in den Himmel,
vor Staunen, dass sie allein sind,
auf dieser großen Weite aus Eis.
Es ist, als führe ich
durch eines dieser billigen
Bilder, die über dem
Kamin hängen.
Landschaft mit Landschaft im Innern.
Ganz am Ende des Feldwegs schwimmt,
ohne dass die Füße den Boden berühren,
das kleine schwarzhaarige Mädchen,
in einem fiebergelben Kleid,
das meine Träume beschäftigt,
seit jenem Sommer mit zehn.
Ein kurzer Blick aufs Armaturenbrett,
um zu sehen, wieviel Benzin noch bleibt.
Die kleinste Panne auf dieser Straße
würde den sicheren Tod bedeuten.
Großmütig betäubt der Frost, bevor er tötet.
Die Hunde kämpfen unter dem Tisch.
Die Katzen spielen mit ihrem Schatten.
Das Zicklein rupft den Teppichboden.
Der Herr des Hauses ist fort im Wald
den ganzen Tag, sagt die alte Köchin.
Schon in der Tür,
sehe ich noch, wie die Katzen dem dicken Manuskript,
das vom Regal fiel, den Garaus machen.
Das geduldige Lächeln der Köchin besagt,
vor der Literatur kommen die Tiere.
Zurück nach Montréal
Erschöpft.
Ich halte am Straßenrand.
Kurzes Nickerchen im Wagen.
Schon die Kindheit hinter den geschlossenen Lidern.
Ich gehe unter tropischer Sonne spazieren,
doch es ist kalt wie der Tod.
Vom Harndrang werde ich wach.
Brennender Schmerz vor dem Guss in Stößen.
Immer diese Rührung, wenn ich
die Stadt von weitem sehe.
Ich fahre durch den Tunnel unterm Fluss.
Man vergisst, Montréal liegt auf einer Insel.
Die Sonne steht tief auf den Kaminen
der Fabriken von Pointe-aux-Trembles.
Autoscheinwerfer, melancholisch.
Ich bahne mir einen Weg bis Cheval-Blanc.
Die abendlichen Gäste sind fort.
Die Gäste der Nacht noch nicht gekommen.
Ich mag diesen schmalen Streifen
wenig besuchter Zeit.
Mein Nachbar liegt quer über der Theke
mit offenem Mund und halbgeschlossenen Lidern.
Man bringt mir ein Glas Rum wie gewohnt.
Ich denke an einen Toten, von dem ich
nicht mehr alle Gesichtszüge weiß.
Ich kam nach Hause, spät in der Nacht.
Ließ mir ein Bad einlaufen.
Im Wasser fühle ich mich immer wohl.
Ein Wassertier – gewiss.
Am Fußboden der gewellte Band von Césaire.
Ich trockne mir die Hände, bevor ich ihn aufschlage.
Ich bin in der rosa Wanne eingeschlafen.
Eine alte Müdigkeit,
deren Grund ich nur zum Schein vergaß,
hat mich
in unerhörte Gebiete verschlagen.
So schlief ich eine Ewigkeit.
Das war der einzige Weg,
mit dieser ungeheuren Nachricht
unerkannt in mein Land zurückzukehren.
Das Nachtpferd, das ich manchmal
mittags besteige, kennt genau den Weg
durch die öde Savanne.
Ein Galopp durch die Wüste der Zeit,
bis ich entdecke,
es gibt in diesem Leben
weder Nord noch Süd,
weder Vater noch Sohn,
und keiner weiß wirklich,
wohin es geht.
Man kann sich sein Häuschen
am Hang eines Berges bauen.
Die Fenster nostalgieblau streichen.
Und rundherum rosa Oleander pflanzen.
Sich dann in die Dämmerung setzen und schauen,
wie langsam die Sonne in der Bucht versinkt.
Wir können das in jedem unserer Träume.
Doch nie finden wir den Geschmack
der Kindheitsnachmittage wieder, selbst wenn wir damals nur
zusahen wie es regnet.
Ich erinnere mich, wie ich mich aufs Bett warf,
um den Hunger zu lindern,
der mir die Gedärme zerfraß.
Heute schlafe ich eher,
um meinen Körper zu verlassen,
und den Durst nach den Gesichtern von damals zu stillen.
Der kleine Flieger fliegt ohne Zwinkern
unter der großen Sandbüchse durch,
die das Band der Erinnerung verwischt.
Jetzt stehe ich vor einem neuen Leben.
Nicht jedem winkt eine Wiedergeburt.
Ich biege in Montréal um eine Ecke,
und ohne Übergang,
lande ich in Port-au-Prince.
Wie in gewissen jugendlichen Träumen,
wo man eine andere küsst als jene,
die man in seinen Armen hält.
Schlafen, um in dem Land zu erwachen,
das ich eines Morgens ohne Blick zurück verließ.
Ein langer Tagtraum in Einzelbildern.
Das Badewasser ist inzwischen kalt
und ich kriege Kiemen.
Diese Trägheit überfällt mich
immer zu der Zeit im Jahr,
wenn der Winter schon zu lange da
und der Frühling noch fern ist.
Mitten im Eis Ende Januar
verlässt einen die Energie weiterzumachen,
während umkehren unmöglich ist.
Ich fange wieder an zu schreiben,
wie andere rauchen.
Wage nicht, es jemandem zu erzählen.
Mir ist, als täte ich etwas,
das mir nicht gut tut,
aber gegen das ich mich
nicht länger wehren kann.
Sobald ich den Mund aufmache, stürzen Vokale und Konsonanten in großer Unordnung heraus, ich versuche sie nicht zu bändigen. Ich zwinge mich selbst noch, deutlich zu schreiben. Aber ich komme nicht weiter als zehn Sätze, bis ich erschöpft zusammenbreche. Ich suche nach einer Arbeitsweise, die nicht so viel Kraft kostet.
Als ich meine alte Remington 22 kaufte, das war vor einem Vierteljahrhundert, wollte ich einen neuen Stil. Härter, dichter als vorher. Von Hand zu schreiben erschien mir zu literarisch. Ich wollte ein Rock-Autor sein. Ein Autor des Maschinenzeitalters. Die Wörter bedeuteten mir weniger als das Geräusch der Tasten. Ich strotzte vor Energie. In dem engen Zimmer in der Rue Saint-Denis tippte ich die ganze Zeit wie ein Irrer im Halbdunkel. Ich arbeitete bei geschlossenen Fenstern mit nacktem Oberkörper in der Sommerglut. Mit einer Flasche schlechtem Wein am Fuß des Tischs.
Ich kehre zur guten alten Hand zurück,
die nur selten eine Panne hat.
Immer gegen Ende einer überspannten Phase
kommen wir auf das zurück, was uns
natürlicher scheint.
Nach so vielen Jahren im Gebrauch
ist fast nichts Spontanes in mir übrig.
Jedoch bei der Nachricht am Telefon
hörte ich den kleinen Knacks
von einem Herz, das stehen bleibt.
Ein Mann spricht mich auf der Straße an.
Schreiben Sie immer noch? Zuweilen.
Sie hatten gesagt, Sie würden nicht mehr schreiben. Das
stimmt.
Und warum schreiben Sie doch?
Weiß nicht.
Er ging fort, beleidigt.
Die meisten Leser
halten sich für Figuren in einem Roman.
Sie betrachten ihr Leben als eine Geschichte
voll mit Schall und Wahn,
die ein Autor
nur aufschreiben muss.
Sich einem Wesen zu nähern, dieses Geheimnis ist
ebenso groß, wie sich von ihm zu entfernen.
Zwischen diesen beiden Momenten
liegt der Alltag, der einen erstickt,
mit seinem Gefolge kleiner Heimlichkeiten
An welchem Ende krieg ich diesen Tag zu fassen?
Am Aufgang oder Untergang der Sonne.
In letzter Zeit stehe ich erst auf,
wenn diese schlafen geht.
Ich brauche sofort ein Glas Rum
um die Malariahitze zu verscheuchen,
deren Fieber ich manchmal
mit Lebensenergie verwechsle.
Und ich schlafe nicht, bevor die Flasche
längs auf dem Fußboden liegt.
Wenn ich so im Halbdunkel grinse
ist’s, weil ich mich verloren fühle,
und dann wird mich keiner
aus der rosa Wanne holen,
in der ich mich krümme wie
in einem runden wassergefüllten Bauch.
Heute las ich noch einmal im ersten schwarzen Heft,
das von meiner Ankunft in Montréal erzählt.
Es war im Sommer 1976.
Ich war dreiundzwanzig
und ließ gerade mein Land zurück.
Heute lebe ich hier seit dreiunddreißig Jahren,
ohne dass meine Mutter mich sieht.
Zwischen Reise und Rückkehr
zwängt sich
eine faule Zeit,
die einen verrückt machen kann.
Einmal kommt der Moment,
wo du dich im Spiegel
nicht mehr erkennst,
weil kein Blick dich spiegelt.
Du vergleichst dich mit dem Foto
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