Das Reich der Klingen - Realm Breaker 2 - Victoria Aveyard - E-Book

Das Reich der Klingen - Realm Breaker 2 E-Book

Victoria Aveyard

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Beschreibung

Die TikTok-Sensation BLADE BREAKER auf Deutsch: Die Fortsetzung der epischen High-Fantasy-Saga von Platz 1-SPIEGEL-Bestsellerautorin Victoria Aveyard!

Ein Knappe ohne Herrn, eine verstoßene Assassinin, ein trauernder Unsterblicher sowie eine uralte Magierin – sie alle stehen an der Seite der Frau, die dazu auserkoren wurde, die Welt zu retten. Aber Corayne, die Tochter eines gefallenen Helden, ist weit davon entfernt, ihre Rolle als Retterin zu akzeptieren. Dabei ist es ihre eigene Familie, die das Reich Allwacht zu zerstören droht. Doch was Corayne nicht ahnt: Eine weit tödlichere Macht ist im Begriff, ihre Heimat Allward zu verschlingen und jeden Funken Hoffnung für immer auszulöschen. Und das wird Corayne niemals zulassen ...

Packende Magie, tiefgründige Figuren und tödliche Wendungen – die perfekte Lektüre für die nächste Generation an Tolkien-Fans.


Victoria Aveyards epische »Realm Breaker«-Saga:
1. Das Reich der Asche
2. Das Reich der Klingen
3. Das Reich der Spindeln

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Seitenzahl: 893

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Buch

Ein Knappe ohne Herr, eine verstoßene Assassinin, ein trauernder Unsterblicher sowie eine uralte Magierin – sie alle stehen an der Seite einer Frau, die dazu auserkoren wurde, die Welt zu retten. Aber Corayne, die Tochter eines gefallenen Helden, ist weit davon entfernt, ihre Rolle als Retterin zu akzeptieren. Dabei ist es ihr Onkel, der das Reich Allward zu zerstören droht. Doch was Corayne nicht ahnt: Eine weit tödlichere Macht ist im Begriff, Allward zu verschlingen und jeden Funken Hoffnung für immer auszulöschen. Und das wird Corayne niemals zulassen … Packende Magie, tiefgründige Figuren und tödliche Wendungen – die perfekte Lektüre für die nächste Generation an Tolkien-Fans.

Autorin

Die Schriftstellerin und studierte Drehbuchautorin Victoria Aveyard, geboren in Massachusetts, wuchs mit Der Herr der Ringe, Star Wars, Indiana Jones, Harry Potter und LOST auf. Ihre erste eigene Fantasywelt schuf Aveyard mit ihrer Romanserie »Die Farben des Blutes«, deren Bände alle auf Platz 1 der New York Times-Bestsellerliste standen, in 41 Sprachen übersetzt wurden und auch im deutschsprachigen Raum ein Bestsellerphänomen waren. Aveyards neue High-Fantasy-Saga »Realm Breaker« ist düsterer, tiefgründiger und erwachsener. Sie lebt in Los Angeles.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Victoria Aveyard

Das Reich der Klingen

Realm Breaker 2 

Deutsch von Michaela Link

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Blade Breaker« bei HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Victoria Aveyard

Published by Arrangement with Victoria Aveyard c/o NEW LEAF LITERARY & MEDIA, INC., 110 West 40th Street, Suite 2201, NEW YORK, NY 10018 USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte: Francesca Baraldi © & TM 2021 Victoria Aveyard. All rights reserved.

Redaktion: Jennifer Jäger

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon nach der Originalvorlage von Harper Collins US

Umschlagdesign: Sasha Vinogradova

BL · Herstellung: MR

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28697-2V001 

www.penhaligon.de

Denjenigen, die sich biegen, ohne zu brechen

Keine andere Wahl als den Tod

Corayne

Die Stimme klang wie am Ende eines langen Ganges, fern und immer leiser werdend, schwer auszumachen. Aber dennoch ließ sie sie erbeben, war ebenso sehr ein Klang wie ein Gefühl. Sie drang ihr in jeden einzelnen Knochen. Selbst ihr Herz hämmerte im Rhythmus der schrecklichen Stimme. Corayne kannte die Worte, die diese Stimme sprach, nicht, und dennoch verstand sie ihren Zorn.

Seinen Zorn.

Verschwommen fragte sich Corayne, ob das nun der Tod war oder nur ein weiterer Traum.

Das Brüllen des Lauernden rief durch die Dunkelheit nach ihr, haftete sogar dann noch an ihr, als warme Hände sie zurück ans Licht zogen.

Corayne blinzelte und sog Luft in die Lunge, während die Welt um sie herum wieder Gestalt annahm. Sie saß bis zur Brust im Wasser, dessen kräuselnde Oberfläche wie ein verunreinigter Spiegel das Bild des Oasenstädtchens zurückwarf.

Die Oase Nezri war einst prächtig und schön gewesen, reich an grünen Palmen und kühlem Schatten. Die Dünen ringsum zogen sich wie ein goldenes Band um den Horizont. Das Königreich Ibal erstreckte sich in alle Richtungen, mit den roten Klippen der Marjeja im Süden und den Wellen des Aljer und der Langen See im Norden. Nezri war eine Pilgerstätte, rings um einen heiligen Teich und den Tempel der Lasreen errichtet, die Gebäude weiß und mit grünen Ziegeln gedeckt, die Straßen breit genug für Wüstenkarawanen.

Jetzt waren diese breiten Straßen von Kadavern zusammengerollter Schlangen und Leichen gefallener Soldaten verstopft. Corayne kämpfte eine Welle des Ekels nieder, wandte den Blick aber nicht ab, sondern ließ ihn über die Trümmer wandern. Sie suchte nach der Spindel, dem goldenen, nadeldünnen Faden, der eine Sturzflut von Wasser und Ungeheuern ausspie.

Aber von der Spindel war nichts zurückgeblieben. Nicht der leiseste Abglanz.

Nichts erinnerte mehr an das, was eben noch hier gewesen war. Nur die zertrümmerten Säulen und der zerstörte Dammweg wiesen noch auf das Vernichtungswerk des Kraken hin. Und, wie Corayne nun bemerkte, die blutigen Überreste eines Fangarms, säuberlich von dem Ungeheuer abgetrennt, als es in sein eigenes Reich zurückgezwungen worden war. Der Tentakel lag wie ein umgestürzter alter Baum inmitten der Pfützen.

Sie schluckte mühsam und musste würgen. Das Wasser schmeckte nach Fäulnis und Tod und nach der Spindel, von der nun nichts mehr geblieben war. Außerdem schmeckte sie Blut. Das Blut galländischer Soldaten, das Blut von Seeschlangen aus einer anderen Welt. Und natürlich auch ihr eigenes Blut. So viel Blut, dass Corayne Angst bekam, womöglich darin zu ertrinken.

Aber ich bin die Tochter einer Piratin, schärfte sie sich mit hämmerndem Herzen ein. Im Geiste sah Corayne ihre Mutter, die bronzehäutige, schöne Meliz an-Amarat, grinsen.

Wir ertrinken nicht.

»Corayne«, ließ sich eine Stimme erschreckend sanft vernehmen.

Sie schaute auf und sah Andry vor sich aufragen. Auch er war voller Blut. Es verschmierte seinen Uniformrock und den vertrauten blauen Stern.

Mit bangem Blick musterte Corayne ihn und suchte Gesicht und Gliedmaßen nach irgendeiner schrecklichen Verletzung ab. Ihr fiel wieder ein, dass Andry erbittert gekämpft hatte, nicht minder ein Ritter als all die Soldaten, die er an diesem Tag getötet hatte. Im nächsten Moment begriff sie, dass das Blut nicht sein eigenes war. Seufzend spürte sie, wie die Last auf ihren Schultern etwas leichter wurde.

»Corayne«, sagte Andry noch einmal und schob seine Hand in ihre.

Ohne nachzudenken, umklammerte sie fest seine Finger und zwang sich, sich mit zitternden Beinen aufzurichten. In seinen Augen schimmerte Besorgnis.

»Alles bestens mit mir«, stieß Corayne hervor, wenngleich sie eher das Gegenteil fühlte.

Auch wenn ihr Körper nun das Gleichgewicht wiederfand, wirbelten ihre Gedanken immer noch wild umher, und die Eindrücke der vergangenen Minuten fluteten erneut über sie hinweg. Die Spindel, die Seeschlangen, der Krake. Valtiks Zauber, Doms Raserei. Mein eigenes Blut auf der Schneide des Schwertes. Erneut schnappte sie nach Luft und versuchte, sich zu konzentrieren.

Andry ließ seine Hand auf ihrer Schulter liegen, bereit, sie aufzufangen, sollte sie umkippen.

Doch das würde Corayne nicht.

Sie drückte den Rücken durch. Ihr Blick flog zu der Spindelklinge hin, zwei Handbreit tief in verpestetem Wasser, wo sie im Spiel von Schatten und Sonnenlicht glänzte. Die Strömung strich über das Schwert hinweg, bis der Stahl selbst zu tanzen schien. Eine Gravur in der alten Sprache einer lange untergegangenen Welt zog sich über die ganze Länge der Klinge. Corayne konnte weder die Schrift lesen noch die Wörter aussprechen, die dort standen. Wie immer lag deren Bedeutung knapp außerhalb ihrer Reichweite.

Dann tauchte Coraynes Hand hinab und schloss sich um den Griff der Spindelklinge. Das Schwert löste sich spritzend aus dem Wasser, kalt und triefend. Kurz stockte ihr Herz. Da war kein Blut auf dem Schwert, nicht mehr. Aber sie sah es dennoch. Den Kraken, die Seeschlangen. Und die galländischen Soldaten, die sie selbst getötet hatte. Leben Sterblicher, die sie beendet hatte, entzweigeschnitten wie die Spindel.

Sie versuchte, nicht an die Männer zu denken, die von ihrer Hand gefallen waren. Ihre Gesichter würden trotzdem auftauchen und sie in ihren Erinnerungen peinigen.

»Wie viele?«, fragte sie mit schwacher Stimme. Corayne erwartete nicht, dass Andry verstand, was ihr da an abgerissenen Überlegungen durch den Kopf ging.

Aber ein Ausdruck von Kummer glitt ihm über die Züge, ein Schmerz, den sie kannte. Er blickte an ihr vorbei zu den Leichen in Grün und Gold hinüber. Dann schloss er die Augen und senkte den Kopf, verbarg sein Gesicht vor der Wüstensonne. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich habe nicht vor, sie zu zählen.«

Ich habe noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen, wie jemandem das Herz bricht, ging es Corayne durch den Kopf, während sie Andry anblickte. Er hatte keine sichtbaren Wunden davongetragen, aber sie wusste, dass er innerlich blutete. Früher einmal war er ein galländischer Knappe gewesen, der davon geträumt hatte, ein Ritter zu werden. Und jetzt hat er galländische Ritter getötet. Er hat seinen eigenen Traum getötet.

Ausnahmsweise einmal fehlten Corayne an-Amarat die Worte, und sie wandte sich ab.

Sie betrachtete ihre Umgebung, begutachtete die Zerstörung, die sich von der Ortsmitte nach außen hin ausbreitete. Die Oase wirkte nach dem Kampf seltsam still. Fast schon hätte Corayne ein noch immer nachhallendes Echo erwartet, den Schrei eines Kraken oder das Zischen einer Schlange.

Sie hörte Valtik. Die alte Hexe irrte durch die Ruinen, summte vor sich hin und hüpfte hin und her wie ein kleines Kind. Corayne sah, wie sie sich immer wieder bückte und den Kadavern der Schlangen die Giftzähne entnahm. Einige Zähne hatte sie sich bereits in ihr langes graues Haar geflochten. Sie war nun wieder ganz das vertraute, seltsame, wunderliche Wesen, eine alte Frau mit merkwürdigen Gepflogenheiten. Aber Corayne wusste es besser. Nur Minuten zuvor hatte die alte Jüti mit ihren Zauberreimen den Kraken zurückgetrieben und einen Weg für Corayne und die Spindelklinge frei gemacht. Die Hexe verfügte über eine gewaltige verborgene Macht, aber ob Valtik sich darum scherte oder ob sie sich überhaupt noch bewusst daran erinnerte, merkte man ihr nicht an.

So oder so, Corayne war froh, Valtik bei sich zu haben.

Die Sonne von Ibal stieg am Horizont immer höher und brannte heiß auf Coraynes Rücken. Und dann wurde es plötzlich kühl, als sich der lange Schatten einer vertrauten Gestalt über sie legte.

Sie schaute auf, und ihre Miene verdüsterte sich.

Domacridhan, unsterblicher Prinz aus Iona, war rot von den Augenbrauen bis an die Zehen, über und über mit Blut überzogen. Uniformrock und Mantel, einst so prächtig, waren völlig ruiniert, zerrissen und besudelt. Seine blasse Haut sah aus wie verrostet, und sein goldenes Haar war Opfer der Flammen geworden. Nur seine Augen waren klar geblieben, weiß und smaragdgrün, und brannten wie die Sonne über ihm. Das Langschwert drohte ihm aus der erschlafften Faust zu gleiten.

Er atmete tief und ungleichmäßig.

»Geht es Euch gut, Corayne?«, fragte Dom. Seine Stimme klang kratzend und erstickt.

»Wie steht es denn mit Euch?«, entgegnete Corayne.

Ein Muskel an seinem Kinn zuckte. »Ich bedürfte einer Reinigung«, murmelte er und beugte sich ins Wasser. Rote Wolken breiteten sich von seiner Haut aus.

Dazu bräuchte es mehr als nur das, hätte Corayne fast gesagt. Was für uns alle gilt.

Wir alle.

Corayne fuhr zusammen, und ein Stich der Furcht durchzuckte sie. Ihre Blicke flogen hin und her und suchten das Oasenstädtchen nach ihren übrigen Gefährten ab. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Charlie, Siegel, Sorasa. Sie sah und hörte nichts von ihnen, und Angst krampfte ihr den Magen zusammen. Wir haben heute so viele Seelen verloren. Götter, lasst nicht zu, dass wir sie auch noch verlieren. So schwer ihre eigenen Sünden auf ihr lasteten, das Leben ihrer Gefährten wog doch noch einmal schwerer.

Bevor Corayne laut nach ihren Gefährten rufen konnte, hörte sie jemanden stöhnen.

Sie wirbelte herum; Andry und Dom standen bereits wie Wächter neben ihr.

Beim Anblick des galländischen Soldaten atmete sie erleichtert aus.

Schwer verwundet kroch er durch das Wasser, das jetzt langsam in den Sand sickerte. Herabgezogen und behindert von seinem grünen Umhang, wühlte er sich mit Händen und Füßen durch den Schlamm voran. Schaumiges Blut trat ihm auf die Lippen, die keine Worte mehr formten, sondern bloß noch ein Gurgeln ausstießen.

Lasreen erwartet ihn schon, dachte Corayne. Lasreen, die Todesgöttin. Und sie ist nicht die Einzige.

Sorasa Sarn verließ ihr Versteck unter den Schatten und trat mit der Anmut einer Tänzerin und der zielgerichteten Konzentration eines Falken ans Licht. Sie war nicht so blutverschmiert wie Dom, aber von ihren tätowierten Händen und dem bronzenen Dolch tropfte es scharlachrot. Ihr Blick war auf den Rücken des Soldaten gerichtet und ging keinen Moment von ihm weg, während sie ihm folgte.

»Na, lebst du noch, Siegel?«, rief sie dabei der Kopfgeldjägerin zu. Sorasa wirkte stets völlig lässig und entspannt – selbst dann noch, wenn sie einen sterbenden Mann durch das Zentrum einer belebten Stadt verfolgte.

Ein herzhaftes Lachen und das Schlurfen von Füßen antworteten von einem nahen Dach. Siegels breitschultrige Gestalt erschien. Sie kämpfte noch mit einem galländischen Soldaten in reichlich demolierter Rüstung. Er hob sein Messer, aber Siegel griff mit einem Grinsen nach seinem Handgelenk und hielt es fest.

»Die eisernen Knochen der Ungezählten lassen sich niemals brechen«, rief sie lachend und löste seinen Griff. Das Messer entglitt ihm, und sie wuchtete sich den Angreifer über die Schulter. Er stieß ein protestierendes Heulen aus und hämmerte mit den Fäusten auf ihren ledernen Panzer. »Von dir kannst du das nicht behaupten.«

Es war kein tiefer Sturz, nur zwei Stockwerke, doch das Wasser war seicht. Er brach sich bei dem Aufprall das Genick.

Corayne zuckte mit keiner Wimper. Sie hatte heute schon viel Schlimmeres gesehen. Sie atmete langsam und tief aus, um sich wieder zu beruhigen.

Als hätte sie ihn heraufbeschworen, trat nun auch Charlie auf die Straße heraus. Sein Blick fiel auf den Leichnam, sein Gesicht ließ keine Gefühlsregung erkennen.

»Geh dahin in die Hände des mächtigen Syrek, Sohn Gallands, Sohn des Krieges«, sprach der abtrünnige Priester und beugte sich über den Toten.

Er fuhr mit seinen tintenfleckigen Fingern durchs Wasser und berührte die blicklosen Augen des Soldaten. Corayne wurde klar, dass Charlie ihm damit das gab, was unter den gegebenen Umständen einem frommen Begräbnis am nächsten kam.

Dann richtete Charlie sich wieder auf, das Gesicht bleich und ausdruckslos. Sein langes Haar hatte sich aus seinem Zopf befreit.

Sie leben. Sie alle.

Wir alle.

Erleichterung überkam Corayne, schnell gefolgt von Erschöpfung. Ihre Knie wurden weich, und um ein Haar wäre sie umgekippt.

Andry war schnell zur Stelle und gab ihr mit den Händen auf ihren Schultern Halt.

»Es ist alles gut«, sagte er leise.

Seine Berührung war fast schon elektrisierend, heiß und kalt gleichzeitig. Sie löste sich rasch von ihm und schüttelte den Kopf.

»Ich werde nicht um sie trauern«, stellte sie entschieden fest. »Ich werde nicht um Männer trauern, die uns ermorden wollten. Du solltest auch nicht um sie trauern.«

Andry kniff die Lippen zusammen, und seine Züge drohten sich zu verfinstern. Corayne hatte Andry Trelland noch nie zornig und verärgert gesehen, jedenfalls nicht so wie jetzt. Es tat weh, selbst wenn er nur einen kleinen Teil seiner Gefühle erkennen ließ.

»Das bringe ich nicht fertig, Corayne«, stieß er hervor und wandte sich ab.

Corayne folgte seinem Blick, und die Schamesröte stieg ihr in die Wangen. Andry schaute nun wieder zu Charlie hin, der jetzt zwischen den Leichen umherging und die toten Galländer segnete. Dann bemerkte Andry den durch den Schlamm kriechenden Soldaten.

Dem die Amhara immer noch folgte.

»Bei den Göttern, zeig einmal etwas Gnade, Sorasa«, blaffte der Knappe. »Mach ihm ein Ende.«

Die Meuchelmörderin wandte ihren Blick nicht von dem Sterbenden ab. Sie war viel zu gut ausgebildet, um einen Feind aus den Augen zu lassen, selbst wenn er so schwer verwundet war. »Tu dir keinen Zwang an, Trelland. Ich halte dich nicht auf.«

Andry schluckte, und er strich über das Schwert an seiner Seite.

»Tu das nicht«, beschwor ihn Corayne und hielt ihn am Arm fest. Sein Bizeps war hart unter ihren Fingern, fest wie ein gespanntes Seil. »Erlöse diesen Mann lieber nicht von seinem Leid, wenn es bedeutet, dass du dadurch nur ein weiteres Stück von dir selbst verlierst.«

Andry antwortete nicht, aber er runzelte die Stirn, und sein Gesicht nahm einen grimmig entschlossenen Ausdruck an. Sanft schob er Corayne zur Seite und zückte sein Schwert.

»Andry …«, begann sie und trat einen Schritt auf ihn zu, um ihn aufzuhalten.

Dann ging ein Kräuseln durchs Wasser, und etwas spritzte. Etwas Schuppenbedecktes, sich Schlängelndes.

Corayne erstarrte mit pochendem Herzen.

Die Schlange war allein, aber immer noch tödlich.

Sorasa hielt inne. Sie beobachtete mit ihren glühenden Tigeraugen, wie die Seeschlange ihre Kiefer weit öffnete und dem Soldaten über den Kopf schob. Corayne konnte sich einer gewissen dunklen Faszination nicht erwehren, und ihre Lippen öffneten sich, als die Schlange dem Soldaten nun den Garaus machte.

Doch letztlich war es Dom, der sie beide erledigte, mit seinem Langschwert Schuppen und Haut durchschnitt.

Er richtete einen zornigen Blick auf Sorasa, doch sie zuckte nur die Schultern und winkte mit ihrer rot verschmierten Hand ab.

Corayne drehte sich zur Seite und bedachte die beiden mit einem Kopfschütteln.

Andry jedoch hatte sich bereits zum Gehen gewandt, und seine Schritte glucksten im nassen Sand.

Während Sorasa und Siegel die Oase nach Überlebenden absuchten, warteten die anderen draußen am Ortsrand, wo die Steinstraßen im Sand endeten. Corayne saß auf einem vom Wüstenwind geformten Felsblock und dankte den Göttern für den segensreichen Schatten eines kleinen Palmenhains. Irgendwie war sie auch dankbar für die Hitze. Sie empfand sie als reinigend.

Die anderen schwiegen. Nur das Hufscharren der Pferde war zu hören. Andry hielt sich bei den beiden Sandstuten auf, striegelte sie und versorgte sie, so gut er das mit dem wenigen vermochte, was ihm zur Verfügung stand. Corayne wusste inzwischen, dass genau das seine Art war, mit einer Belastung fertigzuwerden – sich in eine Aufgabe zu verlieren, die ihm vertraut war. In einem Tun, das er von seinem früheren Leben her kannte.

Sie ließ ihren Blick über den Knappen und die Stuten gleiten und zuckte zusammen. Es waren nur noch diese zwei Pferde übrig, und nur eines von ihnen hatte noch einen Sattel.

»Die Spindel hat erbitterten Widerstand geleistet«, murmelte Dom, der ihrem Blick gefolgt war.

»Aber wir leben noch, und die Spindel ist geschlossen«, gab Corayne zurück. Sie verzog die Lippen zu einem gepressten Lächeln. »Wir können das schaffen. Wir können es auch weiterhin schaffen.«

Dom nickte zögerlich, aber sein Gesichtsausdruck blieb düster. »Es wird noch weitere Pforten zu schließen geben. Weitere Feinde und Ungeheuer, die es zu bekämpfen gilt.«

Sie spürte Angst in dem Unsterblichen. Sie blitzte tief in seinen Augen auf, heraufbeschworen von einer Erinnerung. Corayne fragte sich, ob Dom vielleicht an ihren Vater dachte, an dessen verstümmelten Leichnam vor dem Tempel. Oder an etwas anderes, aus lange vergangenen Jahrhunderten, aus der Zeit, von der die Sterblichen nichts wussten.

»Taristan wird sich nicht so leicht besiegen lassen«, raunte Dom.

»Genauso wenig wie der Lauernde.« Schon die bloße Erwähnung der Höllengottheit ließ Coraynes Haut frösteln, und das trotz der Wüstenhitze. »Aber wir werden sie bekämpfen. Das müssen wir einfach. Wir haben keine andere Wahl.«

Der Unsterbliche nickte energisch. »Weder wir noch die ganze Wacht.«

Als sich Siegel und Sorasa wieder zu ihnen gesellten, war Mittag bereits vorüber, und die Sonne stand hoch am Himmel. Die Kopfgeldjägerin reinigte im Gehen ihre Axt, die Meuchelmörderin ihren Dolch.

In der Oase gab es nun keinen einzigen Feind mehr.

Die Gefährten waren die einzigen Überlebenden.

Charlie folgte den Frauen in halb gebeugter Haltung und massierte sich das Kreuz. Da waren zu viele Tote, die es zu segnen galt, wusste Corayne und wandte den Blick ab. Sie weigerte sich, an die Opfer zu denken. Stattdessen starrte sie finster über die grell schimmernde Wüste hinaus, Meilen um Meilen von Sand. Dann richtete sie den Blick gen Norden. Der Aljer war ganz nah, ein glänzendes Band, wo sich die große Bucht zur Langen See hin öffnete. Der Anblick ließ sie erzittern.

Was jetzt?, überlegte sie und verspürte freudige Erregung und Angst zugleich.

Sie unterzog ihre Schar einer eingehenden Musterung. Dom hatte sich gewaschen, so gut er es vermochte, und sich das nasse Haar aus dem Gesicht gestrichen. Er hatte seine zerrissene Kleidung gegen das ausgetauscht, was immer er in den verlassenen Häusern und Geschäften hatte finden können. Er sah aus wie ein Flickenteppich mit Versatzstücken aus verschiedenen Regionen, trug einen ibaletischen Uniformrock und eine bestickte Weste über seiner alten Kniehose, während ihm Stiefel und Mantel aus Iona geblieben waren. Er hatte beides mit Sand sauber geschrubbt. Und auf dem halb zerfetzten Mantel war das Hirschgeweih immer noch zu erkennen, auf den Saum gestickt. Ein kleines Stückchen Heimat, das aufzugeben er sich weigerte.

Corayne wünschte sich ihren eigenen zerlumpten blauen Umhang herbei, den sie schon lange verloren hatte. Er hatte immer nach Orangen und Olivenhainen gerochen und noch nach etwas Tieferliegendem, einer Erinnerung, die sie nicht mehr benennen konnte.

»Die Gefahr ist vorüber, Corayne«, erklärte Dom. Er hielt den Blick auf das Städtchen gerichtet wie ein Hund, der einer Witterung nachspürt. Oder auf mögliche Gefahren lauscht. Doch fand Dom weder das eine noch das andere.

In der Tat, das Wasser von Mare, der Welt jenseits der Spindel, war wieder im Sand versickert oder unter der sengenden Sonne von Ibal verdunstet. Nur in den Schatten waren einige Pfützen verblieben, zu seicht, als dass sich noch Seeschlangen darin hätten verstecken können. Jene, die Glück gehabt hatten, waren längst wieder weg, waren dem kurzlebigen Fluss hinab zum Meer gefolgt. Die übrigen kochten auf den Straßen, ihre glitschige Haut riss auf und trocknete zunehmend aus.

Was die Soldaten aus Galland betraf, so hatten Sorasa und Siegel inzwischen sämtlichen verbliebenden Feinden zur ewigen Ruhe verholfen.

Corayne sah Dom mit vorgeschobenen Lippen an. Noch immer verspürte sie eine Enge in der Brust. Und da war nach wie vor der Schmerz in ihrem Herzen.

»Aber nicht für lange«, gab sie zurück und spürte die tiefe Wahrheit dieser Worte. »Das hier ist alles andere als vorbei.«

Ihre Worte hallten über die Häuser und Straßen am Ortsrand hinweg und legten sich wie ein schwerer Vorhang über sie alle.

»Ich wüsste gern, was aus den Bewohnern dieses Ortes geworden ist«, sinnierte Andry, offensichtlich einfach nur, um irgendetwas zu sagen.

»Möchtest du meine ehrliche Meinung hören?«, antwortete Sorasa und trat mit langen Schritten unter die Schatten der Palmen.

»Nein«, entfuhr es ihm sogleich.

Obwohl er noch jung war, stöhnte Charlie wie ein altes Weib, als er sich nun wieder zu ihnen gesellte. Sein verbranntes rotes Gesicht lugte unter seiner Kapuze hervor.

»Wie auch immer«, begann er, während sein Blick zwischen dem Blutbad am Boden und der erbarmungslosen Sonne am Himmel hin- und herging, »ich würde es vorziehen, schnellstens von hier fortzukommen.«

Sorasa lehnte sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht an eine Palme. Ihre Zähne blitzten weiß vor dem Hintergrund bronzedunkler Haut. Sie zeigte mit ihrem Dolch zurück in Richtung Oase.

»Aber wir sind gerade erst mit dem Aufräumen fertig geworden«, erwiderte sie.

Neben ihr verschränkte Siegel die muskulösen Arme. Ihre Axt hatte sie sich wieder auf den Rücken gebunden. Sie nickte zustimmend und strich sich eine Locke rabenschwarzen Haares aus den Augen. Ein einzelner Sonnenstrahl drang durch die Palmwedel herab, sprenkelte ihre kupferfarbene Haut helldunkel und ließ ihre schräg stehenden schwarzen Augen aufleuchten.

»Wir sollten uns erst einmal für eine Weile ausruhen«, schlug Siegel vor. »Von Geistern geht keine Gefahr aus.«

Charlie verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Die eisernen Knochen der Ungezählten brechen nicht, aber vielleicht werden sie ja doch mal müde?«

»Niemals«, blaffte die Kopfgeldjägerin und reckte ihre geschmeidigen Glieder.

Corayne verkniff sich ein spöttisches Schnauben. Stattdessen richtete sie sich im Schatten auf und drückte den Rücken durch. Zu ihrer Überraschung richteten sich sofort alle Blicke auf sie. Selbst Valtik, die gerade ihre gesammelten Schlangenzähne zählte, sah von ihrer Arbeit auf.

Das vereinte Gewicht ihrer Blicke lastete schwer auf ihren bereits erschöpften Schultern. Corayne versuchte, an ihre Mutter zu denken, an den resoluten Klang ihrer Stimme auf dem Deck ihres Schiffs. Unnachgiebig, furchtlos.

»Wir sollten weg von hier. In Bewegung bleiben«, erklärte sie.

Dom antwortete brummend: »Habt Ihr ein bestimmtes Ziel im Sinn, Corayne?«

Wiewohl er ein Unsterblicher war, einer der vorzeitlichen Ältesten, wirkte auch er erschöpft.

Coraynes Selbstbewusstsein schwand dahin, und sie nestelte an ihrem schmutzigen Ärmel. »Irgendwohin, wo kein Massaker stattgefunden hat«, schlug sie schließlich vor. »Erida und Taristan werden unweigerlich davon erfahren. Wir müssen weiter.«

Ein Kichern entschlüpfte Sorasas Lippen. »Von wem sollten sie es denn erfahren? Tote überbringen keine Nachrichten, und wir haben nur Tote zurückgelassen.«

Hinter Coraynes Augen blitzte etwas rot und weiß auf, eine Erinnerung ebenso wie eine körperliche Präsenz. Sie schluckte, suchte die Träume zurückzudrängen, die sie immer stärker plagten. Sie waren nun kein geheimnisvolles Rätsel mehr. Das, was wartet. Der Lauernde, wusste sie. Kann er mich jetzt sehen? Beobachtet er uns? Verfolgt er mich auf Schritt und Tritt – und wird Taristan mir ebenfalls folgen? Die zahllosen Fragen überwältigten sie, und die Richtungen, in die sie wiesen, waren zu furchteinflößend, um ihnen weiter nachzugehen.

»Ganz egal.« Corayne zwang ihre Stimme, zu Stahl zu werden, brachte ein wenig von der resoluten Kraft ihrer Mutter auf. »Ich würde, was immer wir an Vorsprung haben mögen, gern nutzen, um von hier wegzukommen.«

»Wieder geschlossen ist nur eine.« Valtiks Stimme war wie das Kratzen von Nägeln auf Eis, ihre Augen von einem leuchtenden, unwirklichen Blau. Sie stopfte Schlangenzähne in den Beutel an ihrer Hüfte. »Also Gefährten, auf die Beine.«

Der ständigen, unerträglichen Reimerei der jütischen Hexe zum Trotz, musste Corayne unwillkürlich lächeln.

»Zumindest bist du nicht gänzlich nutzlos«, erwiderte sie mit Wärme in der Stimme und nickte der alten Frau zu. »Dieser Krake würde inzwischen die Lange See terrorisieren, wenn du nicht gewesen wärst, Valtik.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich von den anderen, Andry ausgenommen. Sein Blick wanderte zu der Hexe hinüber, aber eigentlich war er leer und ganz weit weg. Immer noch bei den galländischen Toten, machte sich Corayne klar. Sie hätte ihm die Traurigkeit am liebsten mit den eigenen Händen aus der Brust gerissen.

»Könntest du vielleicht erklären, was genau du mit diesem Seeungeheuer aus einer anderen Welt angestellt hast?«, fragte Sorasa und zog eine ihrer dunklen Brauen hoch. Ihr Dolch glitt in seine Scheide zurück.

Valtik antwortete nicht, sondern ordnete sich vergnügt die Zöpfe neu, in die Schlangenzähne und alte Lavendelzweige eingeflochten waren.

»Ich nehme mal an, auch Kraken können ihre Verse nicht ausstehen«, kommentierte Siegel und setzte ein schiefes Lächeln auf.

Charlie feixte aus den Schatten der Palmen heraus. »Wir sollten als Nächstes einen Barden anheuern. Der würde diese Narrentruppe hübsch abrunden und mit seinem Gesang auch noch die übrigen von Taristans Ungeheuern die Flucht ergreifen lassen.«

Wenn es nur so einfach wäre, hätte Corayne am liebsten eingeworfen, im Wissen, dass es das eben ganz und gar nicht war. Aber trotzdem regte sich Hoffnung in ihrer Brust, schwach, doch immer noch lebendig.

»Wir mögen eine Narrentruppe sein«, meinte sie, halb an sich selbst gewandt, »aber wir haben immerhin eine Spindel verschlossen.«

Sie ballte die Hände zu Fäusten und stand auf, spürte nun wieder starke, kraftvolle Beine unter sich. Entschlossenheit verdrängte ihre Angst.

»Und wir können das Gleiche wieder tun«, fuhr sie fort. »Wie Valtik schon gesagt hat, wir müssen los. Ich würde sagen, wir brechen gleich auf. Richtung Norden, hin zur Langen See. Wir halten uns an der Küste, bis wir das nächste Dorf erreichen.«

Sorasa öffnete den Mund, um Einwände zu erheben, aber Dom schnitt ihr das Wort ab, einfach indem er sich von seinem Platz neben Corayne erhob. Sein Blick war auf den Horizont im Süden gerichtet, wo er die roten Umrisse der Marjeja und die einst überflutete goldene Ebene ausmachte.

Corayne drehte sich um, um zu ihm hinaufzulächeln, aber das Lächeln verging ihr, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.

Sorasa bemerkte es ebenfalls. Mit einem Sprung war sie an seiner Seite und legte sich schützend die Hand über die Augen, um seinem gebannten Blick zu folgen. Nach einem langen Moment der Suche gab sie es auf, drehte sich wieder zu dem Unsterblichen hin und starrte finster in sein versteinert-leeres Gesicht.

»Was ist los?«, presste sie hervor.

Siegel legte die Hand auf ihre Axt, und Andry schreckte aus seinem traumähnlichen Kummer hoch und wirbelte von den Pferden weg. Charlie sandte einen Fluch in Richtung seiner Füße.

»Dom?« Mit klammem Entsetzen trat Corayne nun aus dem Schutz des Schattens und richtete den Blick ebenfalls hin zum Horizont, fand aber den grellen Widerschein von Sonne und Sand unerträglich.

Schließlich pfiff der Unsterbliche durch die Zähne.

»Vierzig Reiter auf dunklen Pferden. Ihre Gesichter sind verhüllt, ihre Gewänder schwarz, der Hitze angepasst.«

Sorasas Fuß versetzte dem Sand einen Tritt.

»Sie tragen eine Flagge bei sich«, zischte sie halblaut vor sich hin. »Die königlichen Farben Blau und Gold. Und – auch Silber.«

Corayne zermarterte sich angestrengt das Hirn, um sich zu erinnern, kam aber nicht darauf, was diese Farben bedeuteten.

Die Meuchlerin wusste es.

»Vorreiter des Hofs«, blaffte sie und sah ganz so aus, als würde sie gleich Feuer speien. Hinter ihrer Frustration verbarg sich auch Angst. Corayne sah Beklommenheit in ihren Tigeraugen schimmern. »Die Jäger des Königs von Ibal.«

Corayne biss sich auf die Unterlippe. »Werden sie uns helfen?«

Sorasas Lachen war hohl und brutal. »Es ist wahrscheinlicher, dass sie dich an Erida verkaufen oder als Verhandlungsmasse einsetzen. Du bist momentan das Wertvollste, was es auf der gesamten Wacht gibt, Corayne. Und der König von Ibal ist kein Idiot, was seine Schätze angeht.«

»Was ist, wenn sie gar nicht hinter Corayne her sind?«, meldete Charlie sich mit nachdenklicher Miene zu Wort.

Sorasa verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, und ein Anflug von Zweifel umwölkte ihr Gesicht. Was immer sie hatte sagen wollen, erstarb in ihrer Kehle.

»Ich nehme Corayne und die Klinge mit«, verkündete Dom mit ernster Stimme und wandte den Blick vom Horizont ab. Bevor Corayne protestieren konnte, fand sie sich im Sattel einer Sandstute wieder. Dom schwang sich auf das einzig verbliebene andere Pferd, ohne sich um den fehlenden Sattel zu scheren. Der Älteste brauchte dergleichen nicht.

Corayne rang vergeblich nach Worten und wehrte sich gegen die Zügel, die ihr in die Hand gedrückt wurden. Zu ihrer Überraschung erschien Andry an ihrem Knie und zog den Sattelgurt fest. Dann schloss er die Finger um ihren Knöchel und zwang ihren Fuß in den Steigbügel.

»Andry … lass das. Dom!«, schimpfte sie und schüttelte ihren Stiefel aus dem Steigbügel. Sie machte Anstalten, sich wieder vom Rücken der Stute hinuntergleiten zu lassen, doch Andrys Griff hielt sie fest an Ort und Stelle, seine Lippen ein verbissener, unnachgiebiger Strich.

»Wir lassen euch nicht einfach im Stich«, rief Corayne und hatte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren.

Der Älteste griff nach den Zügeln von Coraynes Pferd, zog an der Mähne seiner eigenen Stute und zwang die beiden Tiere, sich in Bewegung zu setzen. »Wir haben keine andere Wahl.«

»Ihr habt keine andere Wahl, als zu warten, Ältester.« Sorasa blieb reglos, aber in ihrer Stimme lag grimmige Entschlossenheit. Sie stand jetzt mit dem Rücken zum Horizont. Hinter ihr lösten sich die dunklen Reiter aus der hell leuchtenden Linie, wo Wüstenebene auf Himmel traf. »Die Vorreiter des Königs sind konkurrenzlos, und zwar auf Sand und Straßen. Ihr werdet ihnen vielleicht einen Tag lang entkommen, aber selbst euch holen sie ein, und ein Meer von Blut wird für nichts und wieder nichts vergossen.«

Dom knurrte, als wolle er ihr ein Schwert in den Leib rammen. »Zur Küste ist es nicht mal ein Tagesritt, Sarn.«

»Und was dann? Wollt Ihr es dort mit der Marine des Königs aufnehmen?«, spottete Sorasa.

In diesem Punkt musste Corayne ihr beipflichten. Die Flotte von Ibal war auf der ganzen Wacht unübertroffen.

»Ihr wisst nicht einmal, in welche Richtung Ihr reiten sollt«, fügte Sorasa hinzu und deutete mit der Hand auf die ferne Bucht und die Lange See dahinter. »Aber bitte, nur zu.«

Nun war es Andry, der ein leises Knurren ausstieß, und Corayne war verblüfft, wie viel Zorn da in ihm steckte.

»Wir haben also keine andere Wahl als den Tod?«, fragte er mit wütend zusammengezogenen Brauen. Nicht einmal in der Schlacht hatte sie ihn derart erbittert gesehen – und derart hoffnungslos. »Für Corayne, für die Wacht?«

Sorasa zuckte mit keiner Wimper und verschränkte die Arme vor der Brust. Unter den Fingernägeln hatte sie getrocknetes Blut, das inzwischen die Farbe von Rost angenommen hatte.

»Niemand hat etwas davon gesagt, dass sie dich umbringen wollen, Knappe«, antwortete sie mit müder Stimme. »Was mich betrifft, ich bin eine gezeichnete Amhara. Mir dürfte es da weniger gut ergehen.«

»Ähm, hier ist ein gesuchter Flüchtling!«, meldete sich Charlie zu Wort und hob den Zeigefinger.

Sorasas Zopf zischte wie eine Peitsche durch die Luft, als sie den Kopf herumriss und den madrentinischen Fälscher mit einem verächtlichen Grinsen bedachte. »Der König von Ibal kümmert sich nicht um irgendeinen abtrünnigen Priester mit hübscher Handschrift.«

Er fuhr zurück und zog seine Gewänder um sich. »So die Götter es wollen.«

»Dann geht doch Ihr«, meinte Corayne an Sorasas Adresse gewandt und unternahm einen neuen Versuch, aus dem Sattel zu steigen. Andry hielt sie unbeirrt fest und versperrte ihr den Weg. »Flieh. Wir sind es, die sie wollen.«

Die Meuchelmörderin tat Coraynes Angebot mit ihrem gewohnten Grinsen ab, das ihre Gefühle besser verbarg als jede Maske.

»Ich werde mein Glück bei den Vorreitern des Königs versuchen. Ihr dürftet mich ebenfalls brauchen«, setzte sie hinzu und deutete auf Dom, der immer noch mit finsterem Blick auf seiner Stute saß. »Ich rechne nicht damit, dass der da in absehbarer Zeit zu Verhandlungen in der Lage sein wird.«

Corayne biss die Zähne zusammen und verspürte das vertraute Gefühl von Frustration. »Sorasa.«

Ihr müsst fliehen, wollte sie sagen.

Neben ihr ließ sich Dom von seinem Pferd gleiten. Sein Gesicht war steinern, undeutbar.

»Sorasa«, knurrte er. »Nehmt sie mit und verschwindet.«

Die Maske der Meuchlerin verrutschte, und sei es auch nur für einen Moment. Sie blinzelte heftig, und Röte stieg ihr in die Wangen. Unter ihrer zur Schau getragenen gelassenen Selbstsicherheit erkannte Corayne Zweifel. Zweifel und Angst.

Aber Sorasa wandte sich ab, und plötzlich war ihre Miene wie eine unbeschriebene Tafel. Sie wies das wartende Pferd mit einem Winken ihrer blutbefleckten Hand ab und richtete den Blick wieder gen Horizont. Die Reiter hatten sie nun fast erreicht; die hämmernden Hufe von vierzig Pferden wirbelten den Sand auf.

»Zu spät«, murmelte die Meuchelmörderin.

Dom senkte den Kopf und sah wieder ganz so aus wie damals in Ascal, als sie zu den Stadttoren gerannt waren, während ihm aus einem Loch in den Rippen das Leben aus dem Leib blutete.

Aber selbst in Galland ist uns die Flucht gelungen. Wir hatten eine Chance. Corayne spürte, wie sie im Sattel zusammensackte. Sie war plötzlich froh über Andrys Nähe. Nur seine Hand auf ihrem Knöchel ließ sie noch die Ruhe bewahren. Der Knappe ließ sie nicht los, und er schaute auch nicht zu den näher kommenden Reitern hinüber. Inzwischen hörten sie ihre Stimmen, wie sie sich auf Ibaletisch Befehle zuriefen.

»Meinst du nicht, dass er es spüren dürfte?«

Andrys Stimme war leise, kaum hörbar.

Sie sah zu ihm hinunter und bemerkte seine verkrampften Schultern, die steifen Finger. Langsam hob Andry den Blick, um sie anzusehen, so dass sie mühelos in ihm lesen konnte wie in einer ihrer Karten.

»Meinst du nicht, dass er spüren wird, dass die Spindel nicht mehr da ist?«, raunte Andry.

Trotz der herannahenden Vorreiter des Königs füllte nun plötzlich Taristan Coraynes Sichtfeld aus. Er nahm direkt vor ihr Gestalt an und versperrte ihr die Sicht auf Andry, bis da nur noch das weiße Gesicht und der finstere Blick ihres Onkels waren. Hinter seinen Augen bewegte sich ein roter Glanz. Sie wandte sich ab, bevor er sie am Stück verschlingen konnte.

Ihr Blick wanderte zurück zu dem Oasenstädtchen, bahnte sich einen Weg zwischen den Ruinen hindurch, dorthin zurück, wo vor kurzem noch die Spindel gebrannt hatte.

Selbst als die Vorreiter sie nun erreichten und deren Stimmen immer lauter wurden, spürte Corayne, wie sie immer weiter davontrieb.

»Ich hoffe nicht«, flüsterte sie und sandte ihr flehentliches Bittgebet zu sämtlichen Göttern, die sie kannte.

Aber wenn selbst ich ihr Nachhallen spüren kann – und ihre Abwesenheit …

Dann kann er es mit Sicherheit auch.

Und das Gleiche gilt für den Lauernden.

Zwischen Königin und Dämon

Erida

Die brennende Kohlepfanne krachte gegen die Wand, und heiße Glut ergoss sich über den steinernen Boden des kleinen Empfangsraums. Der Saum eines alten Teppichs fing Feuer. Königin Erida von Galland zögerte nicht, es auszutreten, auch wenn in ihrem Inneren das gleiche Feuer toste. Ihr Gesicht brannte, und ihre blassen Wangen waren rot vor Zorn.

Ihre Krone lag beiseitegeschoben auf einem niedrigen Tisch, nur ein simpler Ring aus Gold, von ihrem hellen Glanz einmal abgesehen völlig schlicht. Hier, in einer kalten Burg am Rand eines Schlachtfelds, mitten in einem Krieg, im Auge eines spindelverdammten Sturms, hatte sie keine Verwendung für luxuriöse Schmuckstücke oder lächerlichen Prunk.

Auf der anderen Seite des Raums hob und senkte sich Taristans Brust, seine nackten Hände waren ohne Anzeichen von Verbrennungen, als er nun eine weitere Bronzeschale mit heißen Kohlen durch den Raum warf. Es sah aus, als sei die Sache so einfach wie das Werfen einer Stoffpuppe, wiewohl Erida wusste, dass die Kohlepfanne doppelt so schwer sein musste wie sie selbst. Er war allzu stark, allzu mächtig. Er spürte weder die Schwere des Gefäßes noch den Schmerz. Den Göttern sei Dank, dass er auch das Gift nicht gespürt hatte.

Nicht nach ihrem Besuch auf Burg Vergon und dem Öffnen der letzten Spindel. Die Pforte glitzerte noch immer vor Eridas innerem Auge, ein Faden aus Gold, so dünn, dass er fast unsichtbar war, so wichtig und doch so leicht zu übersehen. Die Tür zu einer anderen Welt und ein weiteres Glied in der Kette ihres Imperiums.

Hinter Taristan ragte sein Schatten in die Höhe, sprang im Licht der Fackeln und der Kohlenglut wie ein Ungeheuer an der Wand auf und ab. Er hatte seine zeremonielle Rüstung abgelegt, und so waren nur das tiefe Rot seines Uniformrocks und die weiße Haut darunter geblieben. Er kam ihr ohne Eisen und Gold keineswegs kleiner vor.

Erida wünschte, sie könnte diesen Schatten jetzt auf die Wacht loslassen, ihn in die Nacht hinausschicken, um herauszufinden, welche Straße Fürst Konegin, ihr Vetter, gerade entlangeilte. Ihr Zorn flammte noch heftiger auf, die Flammen vom Gedanken an ihren verräterischen Verwandten genährt.

Nein, ich will nicht, dass Taristan ihn umbringt, ging es ihr durch den Kopf, sondern ich will, dass er ihn hierher zurückschleift, gebrochen und besiegt, damit wir ihn selbst töten können, vor den Augen des versammelten Hofs, um seiner Rebellion ein Ende zu bereiten, bevor sie überhaupt richtig beginnen kann.

Sie malte sich ihren königlichen Vetter und sein Gefolge aus, wie sie auf ihren Pferden durch die Dunkelheit donnerten. Sie hatten gegenüber Eridas eigenen Reitern nur einen kleinen Vorsprung, aber der Himmel war bewölkt, der Mond und die Sterne hinter Schleiern verborgen. Hier draußen an der gerade ihren Verlauf verändernden Grenze herrschte pechschwarze Nacht. Und ihre eigenen Männer waren von der Schlacht des Tages erschöpft, ihre Pferde noch nicht ausgeruht. Anders als bei Konegin, seinem Sohn und deren kleiner Schar Getreuer.

»Sie haben das alles genau geplant«, murrte Erida wutschnaubend. »Er wollte Taristan töten, meinen Herrn Gemahl, seinen eigenen Prinzen, um uns dadurch den Thron zu rauben. Aber Konegin ist schlau und verschlagen, weiß auch Pläne für den Fall des Versagens zu schmieden.«

Sie ballte die Fäuste und wünschte, sie könnte ebenfalls mit einer Kohlepfanne um sich werfen. Könnte die Wandteppiche herunterreißen. Die Wände zum Einsturz bringen. Irgendetwas tun, um den Zorn freizusetzen, der in ihr tobte, statt ihn hinunterzuschlucken und schwären zu lassen.

Konegin grinste sie vor ihrem geistigen Auge höhnisch an, fletschte die Zähne unter seinem blonden Bart, seine Augen wie blaue Dolche, sein Gesicht wie das ihres toten Vaters. Wenn sie doch nur die Hände um seine erbärmliche Kehle legen und zudrücken könnte.

Ronin der Rote zuckte beim Anblick der glühenden Kohlen auf dem Boden zusammen und zog den Saum seines langen scharlachfarbenen Gewandes beiseite, damit es nicht ebenfalls Feuer fing. Dann richtete er den Blick auf die einzige Tür im Raum. Aus Eiche und Eisen gezimmert, führte sie zurück in den Festsaal. Der große steinerne Raum war nun schon lange menschenleer, die Hofgesellschaft hatte sich aufgelöst.

Erida versuchte, nicht an all das Getuschel ihrer Fürsten und Generäle über den versuchten Giftmord zu denken. Die meisten werden uns auch weiterhin treu ergeben sein. Aber einige – und zwar genug – eben nicht. So manche wollen, dass Konegin meine Krone trägt, selbst während sie an meiner Seite stehen.

»Meine Sorge gilt der Wüstenspindel …«, begann Ronin, aber Taristan durchbohrte ihn mit einem finsteren Blick, und dem Hexer erstarb die Stimme.

»Verloren. Das habt Ihr gesagt«, knurrte Taristan. Er begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Dieses Balg, der verfluchte Bastard«, fügte er hinzu und hätte fast laut aufgelacht. »Wer hätte gedacht, dass ein siebzehnjähriges Mädchen lästiger sein könnte als ihr ach so vortrefflicher Vater?«

Trotz der Umstände zuckten jetzt Eridas Mundwinkel. »So ziemlich das Gleiche hat man über mich auch gesagt.«

Jetzt lachte Taristan tatsächlich, sein Kichern wie das Kratzen von Stahl auf Stein. Aber es erreichte seine Augen nicht, in deren Schwarz im Licht des Feuers jener rote Schatten umherhuschte. Der Dämon war immer in ihm, aber noch nie war es so deutlich gewesen wie jetzt. Erida spürte beinahe seinen Hass, seinen Hunger, während Taristan im Saal auf und ab stapfte.

»Das Tor nach Mare ist verschlossen, seine Ungeheuer zurückgetrieben«, murmelte Ronin, während seine Hände in seinen Ärmeln zuckten. Genau wie Taristan begann nun auch er, ziellos den Raum abzuschreiten, immer zwischen Tür und Fenster hin und her. Sein Blick ging pointiert vom Prinzen zur Königin. »Wir können nur hoffen, dass bereits genügend Geschöpfe aus Mare herübergekommen sind und dass sie die hiesigen Gewässer auch weiterhin heimsuchen werden.«

»Ohne Frage dürften Kraken und Seeschlangen eine Menge dazu beitragen, die Flotten der Wacht zu behindern, insbesondere die Marine von Ibal«, unterstrich Erida. »Ich frage mich, wie viele ibaletische Kriegsgaleeren nun schon ihre letzte Ruhestätte auf dem Grund der Langen See gefunden haben.«

Der Verlust der Spindel, so niederschmetternd er auch sein mochte, lastete nicht allzu schwer auf ihrem Gemüt. Die Ereignisse des Abends indessen verfolgten sie immer noch, waren zu nah, um sie unbeachtet zu lassen. Erida wusste besser als irgendjemand sonst um die Gefahren, die an einem Königshof voller gieriger Verwandter drohten.

Während Taristan vor ihr hin und her lief und seinen Schatten mit sich zog, galoppierte Konegin durch ihre Gedanken.

»Ihr habt aber nicht vergessen, dass mein Vetter erst vor einer Stunde versucht hat, Euch zu ermorden?«, versetzte sie mit scharfer Stimme.

»Ich kann das Gift immer noch schmecken, Erida«, antwortete Taristan schnell wie ein Peitschenschlag. Sie betrachtete seinen Mund, seine dünnen, zu einem Hohngrinsen verzogenen Lippen. »Nein, das habe ich nicht vergessen.«

Ronin wedelte abschätzig mit seiner weißen rechten Hand. »Ein kleiner Mann von kleinem Geist. Er hat versagt und ist geflohen.«

»Er wird immer noch das halbe Königreich gegen uns aufwiegeln, wenn man ihm die Gelegenheit dazu gibt«, blaffte sie mit gebleckten Zähnen. Am liebsten hätte sie auch dem Zauberer seine schwache Kehle zerquetscht.

Zu ihrer unendlichen Enttäuschung zuckte Taristan nur die Schultern. Die Adern an seinem Hals zeichneten sich deutlich unter seiner Haut ab wie mondweiße Narben. »Dann dürft Ihr ihm diese Gelegenheit eben nicht geben.«

»Ihr wisst so wenig über Königreiche und ihre Höfe, Taristan.« Erida stieß einen müden Seufzer aus. Wenn sein Dämonenfürst ihm doch nur ein wenig gesunden Menschenverstand schenken würde. »So unbesiegbar und so stark Ihr auch sein mögt, ohne meine Krone seid Ihr nichts. Wenn ich meinen Thron an diesen erbärmlichen, intriganten Troll verliere …«

Bei diesen Worten hielt Taristan in seinem Auf und Ab inne und blieb vor ihr stehen. Er starrte zu Boden, und seine schwarzen Augen schienen die ganze Welt zu verschlucken.

Immer noch schimmerte dieser rote Schein in ihnen.

»Das wird nicht geschehen, das verspreche ich Euch«, knurrte Taristan.

Erida wollte es ihm gerne glauben. »Dann hört mir zu. Alle beide«, begann sie und schnippte mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit von Prinz und Zauberer auf sich zu lenken. Ihre Worte quollen aus ihr hervor wie Blut aus einer klaffenden Wunde. »Er muss für seine Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Hochverrat, Volksverhetzung, die versuchte Ermordung seines Prinzen, meines Prinzgemahls. Und dann muss man ihn vor aller Augen hinrichten, vor allen Menschen, die sich seiner Sache womöglich anschließen könnten. Der Hof, meine Fürsten, die Armee, keiner von ihnen darf einen Grund haben, an meiner Herrschergewalt zu zweifeln. Ich – wir müssen die absolute Herrschaft über das Land haben, wenn wir unseren Eroberungskrieg fortsetzen und die Wacht für uns beanspruchen wollen.«

Taristan trat noch einen Schritt vor, so dass sie die teuflische Hitze spürte, die von ihm ausging. Seine Kiefermuskeln verspannten sich.

»Soll ich für Euch Jagd auf ihn machen?«

Erida hätte dem Vorschlag um ein Haar sogleich eine Abfuhr erteilt. Sie hegte keinerlei Befürchtungen um Taristans Wohlergehen – seine Stärke übertraf die von fast jedermann sonst auf der Wacht. Aber er war nicht unbesiegbar. Die Narben auf seinem Gesicht, die sich noch immer zu heilen weigerten, waren ein deutlicher Beweis dafür. Was immer Corayne da getan hatte, es hatte tiefe Male auf seiner ansonsten makellosen Haut hinterlassen. Und was noch hinzukam: Die Vorstellung, dass der Prinzgemahl selbst in die Wildnis hinausritt, in ein Land, das nicht das seine war, um seinen potenziellen Thronräuber ausfindig zu machen, war einfach idiotisch. Und, und das war das Schlimmste von allem, die Vorstellung, er könne von ihr fortgehen, machte ihr Angst. Ich will nicht, dass er mich verlässt, das war ihr nur zu bewusst, so schwer es ihr fiel, es zuzugeben. Erida versuchte, auch diese Regung von sich zu weisen, und wandte sich nun von Taristan ab – sowohl körperlich als auch geistig –, um ihren Blick auf die einzige Tür in dem kleinen Raum zu richten.

Auf der anderen Seite befand sich der leere Bankettsaal. In der Burg um sie herum wimmelte es von tuschelnden Höflingen, und auf dem Gelände ringsum lagerte eine ganze Armee. Wie viele von ihnen vermag Konegin auf seine Seite zu locken? Wie viele werden unter seiner Fahne reiten statt unter meiner?

Taristan wich keinen Schritt zurück, sondern starrte sie weiterhin unverwandt an. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, forschte in ihren Augen, wartete darauf, dass sie das Wort ergriff. Wartete auf ihren Befehl.

Der Gedanke war verführerisch, auf köstliche Weise. Dass da ein Prinz vom alten Cor war, ein Eroberer, ein geborener Krieger, ein Mann von Kriegerblut, der sich von ihrer Zustimmung abhängig machte. Es war berauschend, selbst für sie als Königin. Sie spürte eine Spannung zwischen ihnen beiden, die sie fester verband als ein stramm gezogenes Seil. Für einen Moment wünschte sich Erida die plappernde Ratte Ronin weit weg, aber der Zauberer blieb mit seinem affektierten Lächeln in der Ecke stehen, und seine roten Augen huschten zwischen Königin und Dämon hin und her.

»Wir können nicht auf Euch verzichten, Taristan«, erklärte sie schließlich und hoffte, dass er das Zittern in ihrer Stimme nicht hörte.

Ronin hob den Zeigefinger und trat vor. Was immer das für ein Band zwischen der Königin und ihrem Mann war, der Zauberer schnitt es fein säuberlich entzwei.

»In diesem einen Punkt sind wir einer Meinung, Euer Majestät«, unterstrich er. »Eine Spindel ist verloren. Wir müssen uns eine weitere verschaffen, und zwar schnell.«

Erida wandte sich ab. Ich habe nicht vor, mit allen Mitteln um Aufmerksamkeit zu kämpfen, schon gar nicht gegenüber dieser Ratte von einem Zauberer. Sie verzog angewidert die Lippen, während sich gleichzeitig Erschöpfung wie eine schwere Decke über sie legte. Ich habe diesen Tag auf einem Schlachtfeld begonnen, und nun stehe ich auf einem anderen, gänzlich anderen Schlachtfeld. Sie kam sich durchaus wie eine Soldatin vor, nur dass sie mit Witz und Intelligenz kämpfte statt mit dem Schwert. Ein Schwert ist viel einfacher. Sie brannte darauf, die Bänder ihrer Unterwäsche zu lösen, die unter den übereinandergelegten Falten ihres Gewandes strammgezogen waren.

Aber sie war eine Königin. Sie durfte sich den Luxus von Erschöpfung nicht leisten.

Erneut drückte Erida den Rücken durch und stemmte die Hände in die Hüften. »Die Spindel ist nicht das Einzige, was Ihr heute verloren habt. Unsere Sache steht auf Messers Schneide«, schnaubte sie und verfluchte aufs Neue die politische Ignoranz ihres Gatten. »Taristan vom alten Cor kann mit seiner Faust Schädel zermalmen, aber er kann die Menschen nicht zu treuer Gefolgschaft bewegen.«

Als sie aufschaute, starrte Taristan sie aus seinen schwarzen Augen mit durchbohrendem Blick an.

»Und ich kann es im Übrigen ebenso wenig«, stieß sie zähneknirschend hervor. Die eine Hand krallte sie in ihre Röcke, zerknüllte den Stoff zwischen ihren Fingern. Ihr Kehlkopf hüpfte auf und ab, und die Worte sprudelten zu schnell heraus, als dass sie sie hätte aufhalten können. »Was auch immer ich mache, wie viel Ruhm und wie viel Gold ich diesen grässlichen Schlangen von Höflingen auch immer einbringe, sie lieben mich nicht so, wie sie es sollten. Nicht so, wie sie es tun würden, säße ein Mann auf dem Thron.«

Taristan sah sie die ganze Zeit über an, einen seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht. Seine Lippen zuckten. »Was muss ich tun, um sie für mich zu gewinnen?«

Seine Frage verblüffte sie, und Erida merkte, wie sich ihre Augen weiteten. Vielleicht ja doch nicht so ignorant.

»Gewinnt eine Burg für Euch«, antwortete sie energisch und deutete auf das Fenster. Die Läden waren geschlossen, aber sie wussten beide, dass dahinter die umkämpfte Grenze lag. Die fruchtbaren, schwach verteidigten Ländereien von Madrence, die nur darauf warteten, erobert zu werden. »Gewinnt auf dem Schlachtfeld. Gewinnt jede Meile Land bis hinein nach Madrence, bis Ihr und ich die Fahne von Galland inmitten ihrer hübschen Hauptstadt hissen und alles, was wir dort sehen, für den Löwen beanspruchen.« Die grün-goldene Flagge erschien vor ihrem geistigen Auge, hoch oben zwischen den glitzernden Türmen von Partepalas. »Bringt meinen Fürsten den Sieg, und dann müssen sie uns dafür lieben.«

So wie sie meinen Vater und meinen Großvater geliebt haben und jeden galländischen Eroberer vor ihnen. Jene Männer, die in unseren Gemälden und Geschichten und Liedern fortleben.

Ich kann mich ihnen anschließen, dachte sie. Nicht im Tod, sondern im Ruhm.

Schon jetzt spürte sie eine Wärme von diesem Gedanken ausgehen. Es war nicht die drückend schwüle Hitze Taristans, sondern die sanfte, vertraute Umarmung eines nach Hause zurückkehrenden Elternteils. Ihr Vater war nun seit über vier Jahren tot und mit ihm auch ihre Mutter. Konrad und Alisandra, von Krankheit dahingerafft, Opfer eines allzu gewöhnlichen Schicksals. Erida verfluchte ihr schmähliches, für einen König und eine Königin so gar nicht standesgemäßes Ende. Trotzdem, sie vermisste die Arme der beiden, ihre Stimmen, ihren unentwegten Schutz.

Taristan sah sie weiterhin schweigend an, sein Blick wie das Streichen von Fingern auf ihrer Wange. Sie biss energisch die Zähne zusammen und blinzelte die Erinnerungen weg, bevor sie sie übermannen konnten. Bevor ihr Gemahl deren Gewicht bemerken konnte.

Ich kann mich nicht dem Kummer überlassen, erinnerte sie sich. Ihr Andenken sollte eine Strömung sein, die mich vorantreibt, kein haltender Anker.

»Gewinnt, und gewinnt schnell«, stieß Erida hervor und warf den Kopf in den Nacken. Ihr aschblondes Haar ringelte sich an ihren bleichen Wangen und löste sich nun endlich aus dem kunstvollen Zopf, der das morgendliche Blutbad überstanden hatte. »Wir brauchen einen Sieg, bevor irgendwelche Verbündeten auftauchen, um dieses Land zu verteidigen. Siscaria dürfte bereits unterwegs sein, vielleicht sogar Calidon oder die Flotte von Tyriot. Wir müssen hoffen, dass Ibal gänzlich von den Seeungeheuern in der Langen See in Anspruch genommen wird. Wenn es Galland gelingt, Madrence schnell zu erobern, mit dir und mir an der Spitze der Armee, wird die Straße hin zum Imperium für uns alle viel, viel leichter zu begehen sein.«

Die Straße erstreckte sich vor ihr, lang, aber schnurgerade. Die Legionen von Galland würden weitermarschieren, in direkter Linie das Tal des Rosenflusses hinunter. Entlang der Grenze befanden sich Burgen und Festungen, um kleine Städte und üppiges Ackerland zu verteidigen, aber da war nichts, was vermocht hätte, der Macht von Eridas Armeen standzuhalten. Die erste wahre Prüfung würde sie in Rouleine erwarten, der Stadt am Zusammenfluss von Rosenfluss und Alsor. Und wenn Rouleine fällt, ist die Hauptstadt nur noch Tage entfernt, ein Juwel, das nur darauf wartet, dass man darauf Anspruch erhebt.

»Ich werde Fürst Dornwand bitten, eine Bestandsaufnahme sämtlicher Soldaten in unserer Armee zu machen«, fügte sie laut denkend hinzu. Sie fertigte im Geiste eine Liste der Dinge an, die es so schnell wie möglich zu erledigen galt. »Beim ersten Licht des Tages werden wir wissen, wie viele Männer zusammen mit Konegin desertiert sind, wenn es da denn überhaupt jemanden gibt.«

Taristan atmete frustriert aus. »Gewiss doch hat Euer Vetter nicht so viel Einfluss in der Armee, Erida«, sagte er in einem fast schon beschwichtigenden Tonfall.

»Mein Vetter ist ein Mann mit königlichem Blut in den Adern«, blaffte sie, zischte es förmlich. Die Ungerechtigkeit all dessen brannte immer noch in ihr wie Salz in einer Wunde. »Das ist für viele in meinem Königreich Einfluss genug, erst recht an meinem eigenen Hof.«

Seine Antwort war ruhig und so unnachgiebig wie der Blick seiner schwarzen Augen. »Auf mich hat das alles keinen Einfluss.«

Erida erwiderte seinen Blick, ohne auszuweichen, Saphirgrün gegen Pechschwarz. Was immer ihr an spitzen Erwiderungen auf den Lippen gelegen hatte, erstarb. Natürlich würde sich ihr Prinzgemahl auf ihre Seite stellen. Schließlich bezog er seine Macht und Stärke in Galland von ihr, genauso wie seine Körperkraft von seinem Dämonenfürsten kam. Aber darunter verbarg sich noch etwas anderes, etwas Unausgesprochenes.

Seine Worte bedeuteten ein Eingeständnis, das sie noch nicht recht verstand. Aber sie wollte es auf jeden Fall versuchen.

»Wir dürfen unseren Herrn und Meister nicht vergessen, Taristan.« Ronins Stimme klang wie Nägel, die auf Glas kratzten.

Erida biss die Zähne zusammen und richtete den Blick auf den roten Zauberer, wie er sich zwischen ihnen dahinbewegte, eine scharlachfarbene Mauer. Sie brauchte sein grässliches weißes Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, welche Botschaft hinter seinen Worten lauerte. Unser Herr und Meister ist der Lauernde. Nicht die Königin von Galland.

Und auch wenn sie sich allen gegenüber, die auf der Wacht wandelten, zumindest ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen fühlte, wusste doch selbst Erida, dass ihre Macht gegenüber dem Dämonenkönig der Höllenwelt von Entzweit ihre Grenzen hatte. Auch wenn ihr Rückgrat starr wie Stahl blieb, spürte sie ein Beben auf ihrer Haut.

»Es wurden Gaben überbracht, und es müssen Zahlungen folgen«, drängte Ronin weiter, und sein deutender Zeigefinger glitt über Taristans Muskeln hinweg.

Er ist jetzt so stark wie ein Unsterblicher. Sogar noch stärker, ging es Erida durch den Kopf.

In der Burg Vergon hatte er Diamanten in der bloßen Faust zerdrückt, Zeugnis seiner neugewonnenen Kraft.

In Nezri hatte ihm die Spindel die Ungeheuer Mares geschenkt, eine Streitmacht, mit der er seine Feinde auf der Langen See zu terrorisieren vermochte. Diese Spindel ist verloren, aber die Ungeheuer sind zurückgeblieben, drehen in der Tiefe ihre Runden.

Und dann war da die Gabe, die ihm am Tempel verliehen worden war, wo Taristan eine Leichenarmee heraufbeschworen und seinen eigenen Bruder ermordet hatte. Fleisch, erst zerschnitten und dann wieder heil gemacht, Wunden, weggewischt. Erida erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit ihm, als Taristan seine Handfläche aufgeschlitzt und sein Blut vor ihrem Thron vergossen hatte, nur um die Haut wieder zusammenwachsen zu lassen. Geheilt direkt vor ihren Augen.

Was kommt als Nächstes?, fragte sie sich und dachte an den Lauernden und das Höllenreich, das er hinter ihrem eigenen Reich regierte. Aber das waren keine Gedanken, denen sie lange nachhängen konnte. Ein Gott oder ein Teufel, der in gleichem Maße segnete und verfluchte. Aber bisher – nur Segnungen.

Der Prinz vom alten Cor legte die Stirn in Falten und senkte den Kopf, so dass ihm rote Locken kunstlos geschnittenen Haares in die Augen fielen. Er baute sich vor dem Zauberer auf, setzte seine überlegene Körpergröße und Masse zu seinem nicht unbeträchtlichen Vorteil ein. Doch auch Ronin kannte die Grenzen seiner Macht, und sie waren nicht so schnell ausgeschöpft. Er ließ sich keine Angst einjagen, und seine bebenden Hände waren nun endlich ruhig geworden.

»Könnt Ihr noch eine weitere Spindel liefern, Zauberer?«, begehrte Taristan zu erfahren. Seine spitzen weißen Zähne glänzten. Seine Stimme drohte zu ersticken wie die Kohlenglut auf dem Boden. »Wisst Ihr noch einen Ort, an den Ihr mich entsenden könnt?«

Ronins Augen flackerten. »Ich habe da ein paar Hinweise. Seltsame Vorkommnisse, Getuschel aus den Archiven. Ein Flüstern von ihm.«

Einer von Taristans Mundwinkeln zuckte in die Höhe. »Also noch nichts Brauchbares.«

»Ich habe Euch zu drei Spindeln geführt, mein Prinz«, erwiderte der Zauberer mit hochmütiger Stimme, auch wenn er zugleich seinen weißblonden Kopf senkte. Dann schaute er wieder auf, und seine rot geränderten Augen leuchteten. »Vergesst nicht, ich bin – ebenso spindelberührt wie Ihr – mit Gaben aus Welten jenseits unserer eigenen gesegnet.«

»Mit Gaben gesegnet so wie ich?« Taristan ballte die Hand zur Faust, und seine Botschaft war unmissverständlich.

Ronin verneigte sich noch tiefer. »Der Lauernde macht Diener aus uns allen.«

Erida betrachtete den entblößten Nacken des Zauberers, ein freigelegtes Stück Haut wie frischer Schnee.

Taristan fing ihren Blick auf; dann verneigte auch er sich, senkte den Kopf. »Und dienen werden wir auch«, beteuerte er und bedeutete Ronin, sich wieder aufzurichten. »Ihr leistet Euren Dienst am besten im Staub und auf den Seiten von Papier, Zauberer. Ich muss eine Spindel ersetzen.«

Ronin nickte. »Und zwei andere schützen.«

Das zumindest ist einfach.

»Ich habe Fürst Dornwand veranlasst, tausend Mann vor Burg Vergon zu stationieren, in dem Hügel unter den Ruinen verschanzt«, erklärte Erida, während sie ihren Thronring begutachtete. Sie ließ den Smaragd das Licht einfangen, so dass das Juwel grün aufschimmerte. Als sie wieder aufsah, starrten sie sowohl der Zauberer als auch der Prinz mit hochgezogenen Brauen an.

Sie gestattete sich ein zufriedenes leises Lächeln und ein Schulterzucken. »Als Nachhut«, sagte sie, als sei das das Offensichtlichste auf der Welt. »Um unsere Vorwärtsbewegung abzusichern und uns gegen irgendwelche rachsüchtigen Madrentiner zu schützen, die versuchen könnten, an uns vorbeizuschlüpfen, um Galland zu bedrohen.«

Selbst Ronin wirkte beeindruckt.

»Und«, fügte sie hinzu, »um lästige halbwüchsige Plagegeister daran zu hindern, uns Schwierigkeiten zu machen. Die Spindel ist sicher, und nicht einmal Corayne und ihre schurkischen Beschützer können daran etwas ändern.«

Taristan nickte. »Was ist mit Euren Soldaten?«, fragte er. »Was passiert, wenn irgendein galländischer Ritter in die Ruinen spaziert und sich plötzlich in der funkelnden Welt wiederfindet?«

Wieder zuckte Erida die Schultern und setzte ihr vornehm-höfisches Lächeln auf. »Die Ruinen von Vergon sind seit jenem Erdbeben einsturzgefährdet. Es ist nicht sicher, sich dorthin zu begeben, und das ist ihren Hauptmännern auch so mitgeteilt worden.«

»Sehr gut«, antwortete Ronin, und ausnahmsweise klang es sogar ehrlich. »Die Spindel bleibt. Mit jedem verstreichenden Moment rüttelt sie an den Grundfesten der ganzen Wacht.«

Taristan reagierte mit einem schnellen Grinsen, das vor Energie sprühte. »Wir haben immer noch den Tempel in den Vorbergen, fast schon wieder vergessen.«

Der Zauberer nickte, und rosa Flecken zeichneten sich auf seinen Wangen ab. Er wirkte erfrischt und von neuer Kraft erfüllt, entweder durch ihre sich verbessernden Aussichten oder durch den Willen seines Herrn und Gebieters. »Verteidigt von einer Leichenarmee, den verstümmelten Soldaten der Aschenlande.«

»Reicht das denn nicht?«

Eridas Frage blieb in der Luft hängen.

»Zwei offene Spindeln nagen an der Wacht.« Sie stellte sich die Spindeln als Insekten vor, die die Wurzeln der Welt zerfraßen, sich mit zersetzender Säure und scharfen Zähnen hindurcharbeiteten. »Ist es jetzt nicht nur noch eine Frage der Zeit?«

Das Lachen, mit dem Ronin antwortete, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Er schüttelte den Kopf, offenbar fassungslos über die Ignoranz der Königin. »Wenn es so funktionieren würde, müsste der Lauernde nicht mehr lauern und warten. Wir brauchen mehr Spindeln. Er braucht mehr.«

»Dann findet mehr«, versetzte Taristan und begann wieder im Raum auf und ab zu gehen. Er konnte nie lange stillstehen. Erida fragte sich, ob das eben so seine Natur war oder eine Folge jener Gaben, die ihm zuteilgeworden waren und die nun unter seiner Haut tobten wie in einer Flasche gefangene Blitze. »Wenn ich nicht auf Konegin Jagd machen kann, kann ich vielleicht ja in die Wüste zurückreisen. Zurück an einen bekannten Ort des Übergangs. Um den Weg nach Mare ein zweites Mal zu öffnen.«

Bei dem Gedanken, Taristan könne sich so weit von ihr entfernen, durchzuckte die Königin erneut das verwirrende Gefühl einer durchdringenden Angst. Glücklicherweise hatte sie sofort eine Antwort zur Hand. Ihr Verstand ließ sie nicht im Stich.