Zerschlagene Krone - Geschichten und mehr aus der Welt der roten Königin (Die Farben des Blutes 5) - Victoria Aveyard - E-Book
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Victoria Aveyard

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Beschreibung

Ein Must-have für alle Fans der roten Königin! Wie geht es weiter mit Mare und Cal? Um das zu erfahren – und vieles mehr –, kehren wir zurück in die schillernde, tödliche Welt der Silbernen und Roten. Dieser durchgestaltete Begleitband ist die perfekte Ergänzung zur Bestseller-Serie. Er enthält drei spannende neue Geschichten, die zwei bereits veröffentlichten E-Shorts »Rotes Netz« und »Der Gesang der Königin«, sowie zusätzliches Kartenmaterial, diverse Bonusszenen, Tagebucheinträge und weitere exklusive Inhalte. Ein unverzichtbarer Abschluss für alle, die Mares Geschichte lieben. Band 1: Die rote Königin  Band 2: Gläsernes Schwert  Band 3: Goldener Käfig  Band 4: Wütender Sturm  Begleitband: Zerschlagene Krone

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Victoria Aveyard

Zerschlagene Krone – Geschichten und mehr aus der Welt der roten Königin

Ein abgedankter König sucht nach neuem Sinn in einer Welt, die der Krieg verändert hat. Verfeindete Brüder treffen ein letztes Mal aufeinander. Eine verlorene Königin ringt um Worte für ihren kleinen Sohn. Eine silberne Fürstentochter vertraut einem roten Kapitän ihr Leben an. Eine Soldatin der Scharlachroten Garde sieht den Hoffnungsschimmer, der die Rebellion entfachen wird. Und eine Heldin, deren Funke eine Revolution auslöste, findet ihren Platz in Zeiten des Friedens.

Tauche ein in die schillernde, tödliche Welt der Silbernen und Roten. Erlebe spannende Abenteuer mit vertrauten Heldinnen und neuen Helden. Diese beeindruckende Sammlung aus Geschichten und Bonusmaterial ist der unverzichtbare Begleit- und Abschlussband der New-York-Times- und Spiegel-Bestseller-Serie DIE FARBEN DES BLUTES.

Band 1: Die rote Königin

Band 2: Gläsernes Schwert

Band 3: Goldener Käfig

Band 4: Wütender Sturm

Band 5: Zerschlagene Krone – Geschichten und mehr aus der Welt der roten Königin

Wohin soll es gehen?

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Danksagung

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Leseprobe

UNGLAUBLICH, DASS IHR MICH SCHON SO LANGE BEGLEITET. DANKE.

DER GESANG DER KÖNIGIN

Julian schenkte ihr wie üblich ein Buch.

Genau wie im letzten Jahr und im Jahr davor und zu jedem anderen Feiertag und Anlass, den er zwischen den Geburtstagen seiner Schwester finden konnte. Seine sogenannten Geschenke füllten bereits Regale. Manche waren wirklich Geschenke, andere hatte er ihr einfach nur gegeben, um Platz in seinem Schlafzimmer zu schaffen, das eher eine Bibliothek war. Denn dort stapelten sich die Bücher zu so hohen, wackligen Türmen, dass selbst die Katzen sich nur schwer einen Weg durch die labyrinthischen Gänge bahnen konnten. Die Inhalte und Themen wechselten, mal waren es Abenteuergeschichten über Räuber aus Prärie, mal langweilige Gedichtsammlungen über das stumpfsinnige Leben am Königshof, das sie beide mieden, so gut es ging. Den sollte man besser zum Feuermachen verwenden, sagte Coriane jedes Mal, wenn er wieder so einen öden Band daließ. Einmal, an ihrem zwölften Geburtstag, schenkte Julian ihr einen uralten Text in einer Sprache, die sie nicht lesen konnte. Und sie nahm an, dass auch er nur vorgab, sie zu verstehen.

Obwohl sie seine Bücher zum größten Teil nicht mochte, bewahrte sie ihre stetig wachsende Sammlung im Regal auf, alphabetisch sortiert und mit den ledernen Rücken nach vorn, damit man die Titel sehen konnte. Die meisten blieben unangetastet, ungeöffnet, ungelesen – eine Tragödie, für die selbst Julian keine Worte fand. Es gibt nichts Schlimmeres als eine Geschichte, die nicht erzählt wird. Coriane hob sie trotzdem auf. Sie waren stets sorgfältig abgestaubt und poliert, sodass die geprägten Goldbuchstaben leuchteten, ob im diesigen Sommerlicht oder an grauen Wintertagen. Von Julian hatte er in jedes einzelne geschrieben, und diese Worte waren ihr wichtiger als fast alles andere. Lediglich seine echten Geschenke liebte sie noch mehr: die Anleitungen und Pläne, die er in Plastikhüllen verpackt zwischen die Seiten einer Familienchronik oder Enzyklopädie steckte. Einige davon verbarg sie unter ihrer Matratze, um sie nachts herauszuziehen und sich in die Schalt- und Konstruktionspläne zu vertiefen, in denen exakt beschrieben wurde, wie man Gefährte, Jets, telegrafische Geräte oder auch nur Glühbirnen und Küchenherde herstellte, zerlegte und instand hielt.

Ihr Vater missbilligte dies, wie es allgemein üblich war. Die Tochter eines Silber-Adligen aus Hohem Haus sollte keine mit Motoröl verschmierten Hände haben, und auch keine abgebrochenen Fingernägel von der Benutzung »geborgter« Werkzeuge oder rot geränderte Augen von zu vielen durchwachten Nächten mit unpassender Literatur. Doch immer wenn der Videobildschirm im Salon seines Anwesens ausfiel und nur noch zischende Funken versprühte oder verzerrte Bilder übertrug, waren Harrus Jacos’ Bedenken sofort verflogen. Schnell, Cori, reparier ihn! Und jedes Mal gehorchte sie in der Hoffnung, ihn nun endlich überzeugen zu können. Aber nur wenige Tage später war ihre gute Tat bereits vergessen und ihre Tüfteleien wurden erneut verhöhnt.

Sie war froh, dass er gerade nicht da war. Er hielt sich in der Hauptstadt auf, um ihrem Onkel, dem Oberhaupt des Hauses Jacos, zur Seite zu stehen. Auf diese Weise konnte sie ihren Geburtstag mit den Menschen verbringen, die sie liebte. Nämlich Julian und Sara Skonos, die extra aus diesem Anlass gekommen war. Sie wird jeden Tag hübscher, dachte Coriane, als sie ihre beste Freundin sah. Ihr letztes Zusammentreffen lag Monate zurück. Damals war Sara fünfzehn geworden und dauerhaft an den Hof gezogen. So lange war das eigentlich gar nicht her, aber das Mädchen sah bereits verändert aus, spitzer im Gesicht. Ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter ihrer Haut ab, die irgendwie blasser war als früher, fast wie ausgetrocknet. Und ihre grauen Augen, einst helle Sterne, wirkten dunkel und voller Schatten. Doch sie lächelte gern und viel, wie immer, wenn sie mit den Jacos-Geschwistern zusammen war. Vor allem mit Julian, das war Coriane bewusst. Und ihrem Bruder ging es ganz genauso; er grinste breit und hielt stets Abstand zu Sara, was einem gleichgültigen Jungen niemals in den Sinn gekommen wäre. Er war sich all seiner Bewegungen deutlich bewusst, genauso wie Coriane sich der Anwesenheit ihres Bruders deutlich bewusst war. Mit seinen siebzehn Jahren war Julian alt genug, um ein Mädchen um seine Hand zu bitten, und Coriane vermutete, dass es in den nächsten Monaten zu einer Verlobung kommen würde.

Julian hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr Geschenk einzupacken. Es war auch so schön, mit seinem gestreiften Ledereinband in den mattgoldenen Farben des Hauses Jacos und der eingeprägten Flammenkrone von Norta. Weder auf der Vorderseite noch auf dem Rücken stand ein Titel, und Coriane wusste sofort, dass zwischen diesen Seiten keine verborgene Bauanleitung stecken würde. Ihre Miene verfinsterte sich leicht.

»Schlag es auf, Cori«, drängte Julian, bevor sie es auf den dürftigen Haufen mit ihren anderen Geschenken werfen konnte. Jedes einzelne war eine verschleierte Beleidigung: Handschuhe, die ihre »gewöhnlichen« Hände verbergen sollten; unpraktische Kleider für einen Hof, den zu besuchen sie sich weigerte; und eine bereits geöffnete Schachtel Konfekt, das zu essen ihr Vater ihr stets verbot. Am Abend würde nichts mehr davon übrig sein.

Coriane befolgte Julians Anweisung, doch als sie das Buch aufklappte, war es leer. Die cremefarbenen Seiten waren unbeschrieben. Sie rümpfte die Nase, denn es gab keinen Grund, die dankbare Schwester zu spielen. Vor Julian brauchte sie sich nicht zu verstellen und er würde ihre Lüge ohnehin durchschauen. Außerdem gab es niemand, der sie für ihr schlechtes Benehmen schelten konnte. Mutter ist tot, Vater ist nicht da und Cousine Jessamine schläft glücklicherweise noch. Julian, Coriane und Sara saßen allein im Wintergarten, drei Perlen, die in dem staubigen Einmachglas des Jacos-Anwesens klirrend herumrollten. Es war ein schier endloser Raum, der zu dem unablässigen dumpfen Schmerz in Corianes Brust passte. Rundbogenfenster gaben den Blick frei auf einen verwilderten Garten mit einstmals gepflegten Rosen, an die seit zehn Jahren kein Grünfinger mehr Hand angelegt hatte. Der Fußboden hätte dringend gefegt werden müssen, und die schweren goldenen Vorhänge waren grau vom Staub und höchstwahrscheinlich auch von Spinnweben. Selbst der Goldrahmen um das Gemälde, das über dem rußverschmierten Marmorkamin hing, fehlte; er war vor langer Zeit verkauft worden. Janus Jacos, der Großvater von Coriane und Julian, blickte von der nackten Leinwand herunter und wäre über den Zustand seiner Familie sicherlich verzweifelt: verarmte Adlige, die sich mit aller Kraft bemühten, aus ihrem alten Namen und den Traditionen Profit zu schlagen, die aber von Jahr zu Jahr mit weniger Geld auskommen mussten.

Julian lachte sein übliches, leicht trauriges Lachen. Zärtliche Verzweiflung, so ließ sich seine Haltung gegenüber der jüngeren Schwester am treffendsten beschreiben; und Coriane war sich dessen wohl bewusst. Er war zwei Jahre älter als sie, was er sie ebenso gern spüren ließ wie seinen überlegenen Verstand. Natürlich auf eine liebenswürdige Art. Als ob das irgendetwas änderte.

»Hier kannst du selbst etwas reinschreiben«, schob Julian nun nach, während seine langen schmalen Finger über die Seiten strichen. »Alles, was dir so durch den Kopf geht und womit du deine Tage ausfüllst.«

»Ich weiß, was ein Tagebuch ist«, erwiderte sie und schlug das Buch wieder zu, aber das machte ihm nichts aus. Er hielt sich nicht mit Beleidigtsein auf. Julian verstand seine Schwester besser als jeder andere. Auch wenn ich mich ungeschickt ausdrücke. »Aber an meinen Tagen ist nun mal nichts Berichtenswertes.«

»Unsinn. Wenn du dir Mühe gibst, kannst du ziemlich interessant sein.«

Coriane grinste. »Deine Witze werden besser, Julian. Hast du endlich ein Buch gefunden, das dich Humor lehrt?« Ihr Blick flog zu Sara. »Oder eine Person?«

Während Julian vor Verlegenheit das Silberblut in die Wangen stieg, ließ Sara sich durch die Anspielung nicht aus der Ruhe bringen. »Ich bin zwar eine Heilerin. Aber Wunder wirken kann ich nicht«, sagte sie trocken.

Ihr gemeinsames Gelächter hallte durch den Raum und füllte die Leere des Anwesens vorübergehend mit Leben. Die alte Uhr in der Ecke schlug zur vollen Stunde und kündigte Corianes Untergang an: Cousine Jessamine würde nun jeden Moment eintreffen.

Julian erhob sich rasch und streckte seinen schlanken Körper. Seine Verwandlung vom Jungen zum Mann war noch nicht vollständig abgeschlossen; er würde noch wachsen, sowohl in die Höhe als auch in die Breite. Corianes Körpergröße hingegen hatte sich seit Jahren nicht mehr verändert und dabei würde es wohl bleiben. Sie war in jeder Hinsicht gewöhnlich, von ihren fast farblosen blauen Augen bis hin zu ihrem kraftlos herabhängenden kastanienbraunen Haar.

»Die hier wolltest du ohnehin nicht, oder?«, sagte Julian nun und langte über seine Schwester hinweg, um einige mit Zuckerglasur überzogene Süßigkeiten aus der Schachtel zu stibitzen. Sie schlug ihm auf die Finger. Zum Teufel mit der Etikette. Die gehören mir. »Vorsicht!«, warnte er sie. »Sonst sage ich es Jessamine.«

»Nicht nötig«, drang die Stimme ihrer betagten Cousine schrill wie ein Pfeifton vom Eingang des Wintergartens zu ihnen. Coriane schloss mit einem genervten Zischen die Augen und wünschte sich mit aller Macht, Jessamine Jacos würde sich in Luft auflösen. Aber das nützt natürlich nichts. Ich bin kein Flüsterer. Nur ein Einsinger. Wenn Coriane versuchen würde, ihre dürftigen Fähigkeiten an Jessamine zu erproben, wäre das Ergebnis auf jeden Fall kläglich. Jessamine war zwar alt, aber im Umgang mit ihrer Fähigkeit, mit ihrer Stimme, bewies sie noch immer großes Geschick, viel mehr als Coriane. Wenn ich mich an ihr versuche, endet das nur damit, dass ich auf den Knien liege und den Fußboden schrubbe.

Coriane setzte eine höfliche Miene auf und drehte sich zu ihrer Cousine um, die sich auf einen juwelenverzierten Stock stützte. Er war eines der letzten schönen Besitztümer ihrer Familie, und natürlich gehörte es der schrecklichsten Person. Jessamine hatte ihre Besuche bei den Hautheilern schon vor langer Zeit eingestellt, um »in Würde zu altern«, wie sie es ausdrückte. Aber in Wahrheit konnte die Familie sich solche Behandlungen einfach nicht mehr leisten, egal ob sie von den talentiertesten Mitgliedern des Hauses Skonos durchgeführt wurden oder von Hautheiler-Lehrlingen niedrigerer Abstammung. Jessamines Haut war daher schlaff und wies eine graue Blässe auf, der Hals und die verknitterten Hände waren von violetten Altersflecken übersät. Heute verbarg sie ihr dünner werdendes weißes Haar, das inzwischen kaum noch ihren Schädel bedeckte, unter einem zitronengelben Seidentuch. Dazu trug sie ein farblich passendes, wallendes Kleid. Die mottenzerfressenen Stellen waren gut versteckt. Jessamine war eine Meisterin der Illusion.

»Sei so lieb und bring die hier in die Küche, Julian«, sagte sie und zeigte mit ihren langen Fingernägeln auf das Konfekt. »Das Personal wird sich darüber freuen.«

Coriane musste sich zusammenreißen, um nicht höhnisch aufzulachen. »Das Personal« umfasste gerade mal einen roten Butler, der noch älter war als Jessamine und keine Zähne mehr im Mund hatte, den Koch und zwei junge Dienstmädchen; dennoch wurde erwartet, dass die vier das gesamte Anwesen in Schuss hielten. Sie hätten sich sicherlich über das Konfekt gefreut, doch Jessamine hatte natürlich keineswegs die Absicht, es ihnen zu überlassen. Es wird ganz unten im Müll landen oder sie wird es, noch wahrscheinlicher, in ihrem eigenen Zimmer einschließen.

Julian verzog das Gesicht, ihm gingen wohl ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Aber Diskussionen mit Jessamine trugen in der Regel ebenso wenig Früchte wie die alten Bäume im hauseigenen Obstgarten.

»Natürlich, Cousine«, sagte er in einem Ton, der besser zu einer Beerdigung gepasst hätte. Sein Blick drückte Bedauern aus, Corianes dagegen Groll. Mit kaum verhohlener Bitterkeit beobachtete sie, wie Julian Sara seinen Arm anbot und mit der anderen Hand Corianes unpassendes Geschenk vom Tisch nahm. Die beiden konnten es nicht erwarten, aus Jessamines Einflussbereich zu verschwinden, ließen Coriane jedoch nur widerwillig zurück. Aber sie taten es nichtsdestotrotz und eilten aus dem Raum.

Ja, lasst mich nur im Stich. Wie ihr es immer tut. Nun war sie Jessamine ausgeliefert, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Coriane in eine würdige Tochter des Hauses Jacos zu verwandeln. Einfacher gesagt: sie ruhigzustellen.

Genauso war sie immer ihrem Vater ausgesetzt, wenn er vom Hof zurückkehrte, wo er Tag für Tag auf den Tod von Onkel Jared wartete. Jared, Oberhaupt des Hauses Jacos und Gouverneur der Region Aderonack, hatte keine eigenen Kinder, weshalb seine Titel an den Bruder übergehen würden und danach an Julian. Zumindest hatte Jared keine Kinder mehr. Die Zwillinge Jenna und Caspian waren im Krieg gegen die Lakelander gefallen, und ihr Tod hatte den Vater nicht nur seiner direkten Erben, sondern auch seines Überlebenswillens beraubt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Corianes Vater den Stammsitz übernehmen würde, und er wollte dabei keine Zeit verschwenden. Coriane fand dieses Verhalten gelinde gesagt pervers. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie Julian so etwas antun würde, ganz gleich wie wütend er sie machte: danebenzustehen und zuzusehen, wie er sich vor Trauer verzehrt. Aber mich verlangt es auch nicht danach, das Oberhaupt unserer Familie zu werden. Vater dagegen besitzt zwar kein Feingefühl, dafür aber viel Ehrgeiz.

Sie wusste nicht, welche Pläne er für die Zeit nach seinem Aufstieg hatte. Das Haus Jacos war klein, unbedeutend. Es stellte die Gouverneure eines rückständigen Hinterlands. Neben der noblen Abstammung gab es wenig, woran man sich nachts wärmen konnte. Bis auf Jessamine natürlich, die dafür sorgte, dass sie alle so taten, als würde ihnen das Wasser nicht bis zum Hals stehen.

Mit der Grazie einer sehr viel jüngeren Frau ließ Jessamine sich auf dem Sofa nieder und stieß ihren Stock auf den schmutzigen Boden. »Das ist doch grotesk«, murmelte sie und wischte mit der Hand nach den Staubkörnern, die im Sonnenlicht tanzten. »Gutes Personal ist heutzutage schwer zu finden.«

Vor allem, wenn man es nicht bezahlen kann, spottete Coriane in Gedanken. »Da hast du recht, Cousine. Sehr schwer.«

»Nun, dann lass mal sehen, was Jared geschickt hat«, sagte Jessamine und machte eine fordernde Geste, indem sie ihre klauenartigen Finger mehrfach krümmte und wieder streckte. Die Bewegung jagte Coriane einen Schauer über den Rücken und sie biss sich auf Lippe, damit sie nichts Falsches sagte. Stattdessen holte sie die beiden Kleider, die ihr Onkel ihr geschenkt hatte, und breitete sie auf dem Sofa aus.

Schnaubend untersuchte Jessamine sie ebenso genau, wie Julian es mit seinen alten Texten machte. Mit zusammengekniffenen Augen begutachtete sie die Ziernähte und die Spitze, rieb den Stoff zwischen den Fingern und zupfte an unsichtbaren Fäden in den goldenen Kleidern. »Brauchbar«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn auch überholt. Keines davon entspricht der neuesten Mode.«

»Wie überraschend«, entschlüpfte es Coriane abfällig.

Paaf! Jessamines Stock sauste erneut auf den Boden nieder. »Spar dir deinen Sarkasmus, er ist unziemlich für eine Dame.«

So, so. Alle Damen, die ich bislang kennengelernt habe, beherrschen die Kunst der sarkastischen Bemerkung perfekt, dich eingeschlossen. Wenn man dich überhaupt als Dame bezeichnen kann. In Wahrheit war Jessamine schon mehr als zehn Jahre nicht mehr am Hof gewesen. Sie hatte keine Ahnung, was die neueste Mode war, und wenn sie genügend Gin getrunken hatte, konnte sie sich nicht einmal mehr erinnern, welcher König auf dem Thron saß. »Tiberias der Sechste? Oder der Fünfte? Nein, es ist bestimmt noch der Vierte; die alte Flamme erlischt einfach nicht.« Dann erinnerte Coriane sie behutsam daran, dass sie von Tiberias V. regiert wurden.

Sein Sohn, der Kronprinz, würde Tiberias VI. werden, wenn sein Vater starb. Aber da ihm der Ruf vorauseilte, ein eifriger Soldat zu sein, fragte Coriane sich, ob der Prinz überhaupt lange genug leben würde, um irgendwann den Thron zu besteigen. Die Geschichte Nortas war voll von Heißspornen aus dem Haus Calore, die im Kampf gefallen waren, hauptsächlich Prinzen, die in der Thronfolge an zweiter Stelle standen, und irgendwelche Cousins. Coriane wünschte sich insgeheim, dass der Prinz starb, und sei es nur, um zu sehen, was dann passierte. Er hatte, soweit sie wusste, keine Geschwister und seine wenigen Cousins waren schwach, wenn man Jessamines Unterricht glauben konnte. Norta führte seit einem Jahrhundert Krieg gegen die Lakelander, aber abseits der Frontlinie zog ein weiterer Krieg am Horizont auf: ein Kampf zwischen den Hohen Häusern, an dessen Ende vielleicht eine andere Familie den Thron übernahm. Nicht dass das Haus Jacos dabei irgendwie mitmischen würde. Dessen Unwichtigkeit war eine ebenso konstante Größe wie Cousine Jessamine.

»Wenn man den Nachrichten deines Vaters Glauben schenken darf, werden diese Kleider bald von Nutzen für dich sein«, fuhr Jessamine fort und legte die Geschenke wieder hin. Ungeachtet der Tageszeit und Corianes Anwesenheit zog sie eine Flasche Gin aus ihrem Kleid und genehmigte sich einen kräftigen Schluck. Der scharfe Geruch von Wacholder breitete sich im Raum aus.

Coriane blickte von ihren Fingern auf, die nervös die neuen Handschuhe umklammerten, und runzelte die Stirn. »Geht es Onkel Jared denn nicht gut?«

Paaf! »Was für eine dumme Frage. Dem gehts schon seit Jahren nicht gut, wie du weißt.«

Corianes Gesicht lief bläulich an. »Ich meine, schlechter. Geht es ihm schlechter?«

»Harrus glaubt, ja. Jared hat sich in seine Gemächer bei Hof zurückgezogen und nimmt nur noch selten an Banketten teil, geschweige denn an Kabinettssitzungen oder Gouverneursversammlungen. Dein Vater springt von Tag zu Tag häufiger für ihn ein. Mal ganz abgesehen davon, dass dein Onkel entschlossen darauf hinarbeitet, die finanziellen Mittel des Hauses Jacos zu versaufen.« Darauf nahm sie gleich noch einen Schluck Gin. Coriane hätte angesichts der Ironie der Situation beinahe laut aufgelacht. »Wie selbstsüchtig von ihm.«

»Ja, sehr selbstsüchtig«, murmelte das junge Mädchen. Du hast mir übrigens noch nicht zum Geburtstag gratuliert, Cousine. Aber Coriane würde dieses Thema ruhen lassen. Niemand wird gern als undankbar beschimpft, nicht mal von einem Blutsauger.

»Von Julian hast du mal wieder ein Buch bekommen, wie ich sehe. Oh, und da sind Handschuhe. Wunderbar, Harrus hat meinen Vorschlag also beherzigt. Und was hat Skonos dir geschenkt?«

»Nichts.« Bislang. Sara hatte ihr gesagt, sie solle sich noch gedulden, ihr Geschenk sei nichts, das auf den Stapel mit den anderen Geschenken gehörte.

»Kein Geschenk? Sie sitzt hier, isst unser Essen, nimmt uns den Platz weg und –«

Coriane gab sich alle Mühe, Jessamines Worte über sich hinweg- und davonschweben zu lassen wie Wolken im Sturm, und dachte stattdessen an die Anleitung, die sie in der letzten Nacht gelesen hatte. Batterien. Kathoden und Anoden, manche werden nach Gebrauch weggeworfen, andere sind wiederaufladbar.

Paaf!

»Ja, Jessamine?«

Die alte Frau starrte Coriane mit aufgerissenen Augen an, die Verärgerung stand ihr in alle Falten geschrieben. »Ich mache das hier nicht zu meinem Besten, Coriane.«

»Zu meinem aber mit Sicherheit auch nicht«, zischte sie. Die Worte ließen sich nicht zurückhalten.

Jessamine reagierte mit einem Lachen, das so trocken war, als würde sie Staub spucken. »Das könnte dir so passen, was? Du glaubst, ich sitze hier und tue mir deine finsteren Blicke und deine Bitterkeit an, weil es mir Spaß macht? Du bildest dir zu viel auf dich ein, Coriane. Ich sitze hier für das Haus Jacos, für uns alle. Ich weiß nämlich besser als du, wie es um unsere Familie steht. Und ich weiß, was wir einmal darstellten, als wir noch am Hof lebten, Verträge aushandelten und für die Könige aus dem Haus Calore ebenso unverzichtbar waren wie ihre eigene Flamme. Ich erinnere mich noch daran. Es gibt keine größere Pein und keine schlimmere Strafe als ein gutes Gedächtnis.« Sie drehte den Stock in ihrer Hand und zählte mit einem Finger die Edelsteine darin, die sie jeden Abend polierte: Saphire, Rubine, Smaragde und ein einzelner Diamant. Coriane wusste nicht, ob sie von Verehrern, Freunden oder von der Familie stammten. Aber für Jessamine, deren Augen in diesem Moment mit den Edelsteinen um die Wette funkelten, stellten sie einen Schatz dar. »Dein Vater wird das Oberhaupt des Hauses Jacos, und dein Bruder nach ihm. Was bedeutet, dass du dir einen Mann suchen solltest. Es sei denn, du möchtest ewig hier hängen bleiben?«

Wie du. Die Implikation war klar, und Coriane spürte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie konnte nur den Kopf schütteln. Nein, Jessamine, ich möchte nicht hierbleiben. Ich möchte nicht enden wie du.

»Sehr gut«, sagte Jessamine und knallte erneut ihren Stock auf den Boden. »Dann lass uns anfangen.«

Später an diesem Abend setzte Coriane sich hin und schrieb. Ihr Stift flog über die Seiten von Julians Buch und vergoss Tinte, wie ein Messer Blut vergießt. Sie schrieb sich alles von der Seele. Über Jessamine, ihren Vater und Julian. Über ihre Angst, dass ihr Bruder sie verlassen würde und sie mit dem heraufziehenden Wirbelsturm ganz allein fertigwerden musste. Er hatte ja jetzt Sara. Vor dem Abendessen hatte sie die beiden beim Küssen erwischt. Sie hatte gelächelt und so getan, als wäre sie amüsiert darüber, dass die zwei so verschämt herumstotterten, während sie in Wahrheit insgeheim verzweifelte. Sara war meine beste Freundin. Sara war das Einzige, was mir gehörte. Aber jetzt nicht mehr. So wie Julian würde auch Sara von ihr wegdriften, bis sie allein in dem Staub eines vergessenen Zuhauses und eines vergessenen Lebens zurückblieb.

Denn ganz gleich, was Jessamine auch sagen mochte, wie sehr sie sich auch brüstete und Coriane blendende Zukunftsaussichten andichtete: Es war aussichtslos. Niemand wird mich heiraten. Zumindest niemand, den ich heiraten möchte. Sie verzweifelte darüber und akzeptierte es zugleich. Ich werde diesen Ort niemals verlassen, schrieb sie. Diese goldenen Wände werden mein Grab sein.

Jared Jacos bekam zwei Begräbnisse.

Das erste wurde am Hof in Archeon abgehalten, an einem verregneten Frühlingstag. Das zweite sollte eine Woche später auf dem Anwesen in Aderonack stattfinden. Er würde seine letzte Ruhe in der Familiengruft finden, in einer marmornen Grabstätte, die mit einem der Edelsteine aus Jessamines Stock bezahlt wurde. Der Smaragd war im Beisein von Coriane, Julian und der betagten Cousine soeben an einen Juwelier in Ost-Archeon verkauft worden. Jessamine wirkte unbeteiligt und schaute nicht hin, als der grüne Stein von der Hand des neuen Lord Jacos in die eines silbernen Kaufmanns überging. Ein einfacher Mann, das wusste Coriane. Auch wenn er nicht die Farben eines nennenswerten Hauses vorweisen konnte, war der Kaufmann reicher als sie alle und trug edle Kleider sowie eine Menge Schmuck. Wir mögen ja adlig sein, aber dieser Mann könnte uns alle kaufen, wenn er wollte.

Die Familie trug Schwarz, wie es dem Brauch entsprach. Coriane musste sich für diesen Anlass ein Kleid leihen – eins der vielen schrecklichen Trauergewänder, die Jessamine besaß, weil sie schon mehr als ein Dutzend Beerdigungen des Hauses Jacos organisiert und besucht hatte. Das junge Mädchen litt schrecklich in dem kratzigen Kleid, hielt aber dennoch still, während sie das Stadtviertel des Juweliers verließen und zur großen Brücke fuhren, die den Capital River überspannte und die beiden Stadthälften verband. Wenn ich mich kratze, schimpft Jessamine mich bestimmt sofort aus oder gibt mir einen Klaps.

Dies war nicht Corianes erster Besuch in der Hauptstadt und auch nicht ihr zehnter. Sie war schon häufig hier gewesen, meist auf Wunsch ihres Onkels, damit das Haus Jacos sogenannte Stärke demonstrieren konnte. Ein alberner Gedanke. Sie waren nicht nur arm, sondern ihre Familie war auch klein, nach dem Tod der Zwillinge sogar verschwindend klein. Kein Vergleich mit den weitverzweigten Familien der Häuser Iral, Samos, Rhambos und anderer; reiche Linien, die das immense Gewicht ihrer vielen Verwandten locker schultern konnten. Deren Position als Hohe Häuser war sowohl in der Hierarchie des Adels als auch in der Regierung fest zementiert. Die des Hauses Jacos dagegen nicht, wenn Corianes Vater Harrus den anderen Adelshäusern und seinem König nicht schnell beweisen konnte, was er wert war. Coriane für ihren Teil sah keinen Weg, wie das gelingen sollte. Aderonack lag an der Grenze zu den Lakelands und war eine Region mit geringer Bevölkerungsdichte und riesigen nutzlosen Waldflächen. Sie konnten weder Minen noch Mühlen noch fruchtbares Ackerland ihr Eigen nennen. In ihrer Ecke der Welt gab es einfach nichts von Wert.

Mithilfe einer goldenen Schärpe hatte Coriane versucht, ihr schlecht sitzendes, hochgeschlossenes Kleid ein wenig zu raffen, um zumindest vorzeigbarer, wenn auch nicht modischer auszusehen. Sie redete sich ein, dass ihr das Getuschel bei Hof und die höhnischen Blicke der anderen Mädchen, die sie beäugten wie Ungeziefer – oder, schlimmer noch, wie eine Rote –, nichts ausmachten. Diese Mädchen waren alle grausam und sie waren albern, weil sie nichts anderes taten, als mit angehaltenem Atem auf Neuigkeiten über die Königinnenkür zu warten. Aber natürlich stimmte das nicht. Schließlich war Sara, als eine Tochter von Lord Skonos, eine von ihnen. Sie befand sich in der Ausbildung zur Heilerin und erwies sich dabei als äußerst begabt und vielversprechend. Wenn sie so weitermachte, würde sie bald gut genug sein, um der Königsfamilie dienen zu dürfen.

Ich kann mir wirklich Besseres vorstellen, hatte Sara gesagt, als sie sich Coriane während eines Besuchs einige Monate zuvor anvertraut hatte. Was für eine Verschwendung, wenn ich mein Leben damit verbringe, kleine Schnittwunden und Krähenfüße zu beseitigen. In den Schützengräben des Todesstreifens oder in den Krankenhäusern von Corvium könnte ich meine Fähigkeiten wesentlich sinnvoller einsetzen. Dort sterben jeden Tag Soldaten, rote wie silberne, durch Bomben und Gewehrkugeln der Lakelander; sie verbluten, weil Leute wie ich hierbleiben.

Jemand anderem hätte sie so etwas nie im Leben gesagt, am allerwenigsten ihrem Vater, dem Lord. Derart offene Worte waren mitternächtlichen Gesprächen vorbehalten, in denen zwei Mädchen sich flüsternd und ohne Angst vor den Konsequenzen von ihren Träumen und Ängsten erzählten. Ich möchte Dinge konstruieren, gestand Coriane ihrer Freundin bei einer solchen Gelegenheit.

Was denn konstruieren?

Kampfjets, Flugzeuge, Gefährte, Bildschirme, Glühbirnen, sogar Toaster! Keine Ahnung, Sara, ganz egal, ich möchte einfach – einfach irgendwas machen.

Da lächelte Sara, dass ihre Zähne im Mondlicht funkelten. Du meinst, du möchtest etwas aus dir machen, stimmts, Cori?

Das hab ich nicht gesagt.

Das brauchtest du auch nicht.

Ich kann gut verstehen, warum Julian dich so gernhat.

Daraufhin wurde Sara sofort still, und kurze Zeit später war sie eingeschlafen. Coriane jedoch behielt die Augen offen, beobachtete die Schatten an der Wand und dachte nach.

Jetzt, mitten im grellbunten Chaos auf der Brücke, beobachtete sie ebenfalls. Adlige, Bürger, Kaufleute mit Silberblut schienen vor ihr dahinzutreiben, gemächlich, die Haut kalt, der Blick hart und düster, egal welche Farben sie trugen. Sie nahmen den Morgen gierig in sich auf. Sie waren wie ein Mann, der weiter Wasser schluckte, obwohl er gar nicht mehr durstig war, während andere vor Durst starben. Diese anderen waren natürlich die Roten, zu erkennen an ihren Armbinden. Die Diener unter ihnen trugen Uniformen, manche in den Farben der Hohen Häuser, für die sie arbeiteten. Sie bewegten sich entschlossen, hielten den Blick nach vorn gerichtet und erledigten eilig ihre Botengänge und Besorgungen. Sie haben wenigstens eine Bestimmung, dachte Coriane. Im Gegensatz zu mir.

Sie verspürte plötzlich das Bedürfnis, die Arme um den nächsten Laternenpfahl zu schlingen und sich festzuhalten, damit sie nicht davongetragen wurde wie ein Blatt im Wind oder ein Stein, der ins Wasser fiel. Damit sie nicht weggeweht wurde oder ertrank oder beides. Irgendwo landete, wo jemand anders sie haben wollte. Ohne dass sie dem etwas entgegenzusetzen hatte.

Julians Hand schloss sich um ihre Finger und zwang sie, sich bei ihm unterzuhaken. Er rettet mich, dachte sie und entspannte sich innerlich. Julian wird mich festhalten.

Später notierte sie nur wenig über die offizielle Trauerfeier in ihr Tagebuch, das voller Tintenkleckse und durchgestrichener Wörter war. Ihre Rechtschreibung wurde allerdings besser, ebenso wie ihre Handschrift. Sie schrieb nichts über Onkel Jareds Leichnam, über seine Haut, die bleicher gewesen war als der Mond, weil ihm vor dem Einbalsamieren das Blut entnommen worden war. Sie erwähnte nicht, wie die Lippen ihres Vaters gebebt und so den Schmerz offenbart hatten, den der Tod seines Bruders ihm in Wahrheit bereitete. Auch darüber, dass der Regen gerade so lange aufhörte, wie die Zeremonie dauerte, war bei ihr nichts zu lesen, oder über die Vielzahl der Lords, die kamen, um Jared ihren Respekt zu erweisen. Coriane machte sich nicht einmal die Mühe, die Anwesenheit des Königs zu erwähnen oder die seines Sohnes Tiberias, der mit finster gerunzelten Brauen und einer noch düstereren Miene vor sich hin gestarrt hatte.

Mein Onkel ist gestorben, schrieb sie anstelle von alldem. Und irgendwie beneide ich ihn.

Danach schob sie das Tagebuch wie immer unter die Matratze in ihrem Schlafzimmer, wo auch ihre anderen Schätze versteckt waren – die kleine Werkzeugauswahl, die sie sich zu Hause aus dem ungenutzten Gärtnerschuppen stibitzt hatte und sorgsam hütete: zwei Schraubenzieher, ein feiner Hammer, eine Spitzzange und ein stark verrosteter Schraubenschlüssel, der kaum noch zu gebrauchen war. Aber nicht völlig unbrauchbar. Außerdem eine Rolle mit spindeldürrem Draht, den sie vorsichtig aus einer alten Leuchte in der Ecke gezogen hatte, die niemand vermissen würde. Das Stadthaus der Jacos in West-Archeon war ebenso im Verfall begriffen wie das Anwesen auf dem Land. Und es war feucht. Jetzt, im Regen, waren die alten Gemäuer wie eine nasse Höhle.

Coriane trug noch immer ihr schwarzes Kleid mit der goldenen Schärpe und in ihren Wimpern hingen Tropfen, von denen sie sich einredete, dass sie vom Regen kämen, als Jessamine hereinplatzte. In heller Aufregung natürlich. Es gab kein Bankett, bei dem Jessamine nicht anwesend war und redete wie ein Wasserfall, erst recht wenn es ein Bankett bei Hof war. Sie tat, was sie konnte, um Coriane mit den wenigen verfügbaren Mitteln und in der Kürze der Zeit so gesellschaftsfähig wie nur möglich zu machen. Als hinge ihr Leben davon ab. Vielleicht tut es das ja auch. Welches Leben es ihr auch immer wert erscheint, sich daran zu klammern. Vielleicht braucht der Hof eine neue Lehrerin, die den Kindern der Adligen Benimmunterricht erteilt, und sie glaubt, wenn sie Wunder an mir vollbringt, kriegt sie die Stelle.

Selbst Jessamine zieht es weg.

»Na, na, na, doch so was nicht«, murrte Jessamine und tupfte Corianes Tränen mit einem Papiertuch weg. Dann umrandete sie mit einem schwarzen Kohlestift Corianes Augen, um sie zu betonen. Violett-blaues Rouge auf den Wangen verlieh ihrem Gesicht Konturen. Die Lippen blieben ungeschminkt, denn Coriane hatte die Kunst, keinen Lippenstift auf ihre Zähne oder an ihr Wasserglas zu schmieren, noch nie beherrscht. »Das sollte genügen.«

»Ja, Jessamine.«

Sosehr die alte Frau sich an Fügsamkeit erfreute, Corianes Verhalten ließ sie doch stutzen. Das zurückliegende Begräbnis hatte das Mädchen offenkundig traurig gestimmt. »Was ist los, Kind? Ist es das Kleid?«

Ausgebleichte schwarze Seidenkleider sind mir genauso egal wie Bankette oder dieser widerliche Hof. All das ist mir vollkommen gleich. »Nichts, Cousine, ich bin bloß hungrig, schätze ich.« Coriane wählte den leichteren Weg, indem sie einen Makel zugab, um einen anderen zu verbergen.

»Was für ein gesegneter Appetit«, erwiderte Jessamine und verdrehte die Augen. »Denk daran, du musst essen wie ein Vögelchen. Dein Teller darf nie leer werden. Pick, pick, pick.«

Pick, pick, pick. Die Wörter prasselten wie spitze Nägel auf Corianes Schädel ein. Dennoch zwang sie sich zu lächeln. Ihre rissigen Mundwinkel schmerzten dabei ebenso wie die Wörter und der Regen und das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden, das sie seit der Brücke verfolgte.

Im unteren Stockwerk kauerten Julian und ihr Vater dicht gedrängt an einem rauchigen Feuer im Kamin und warteten bereits auf sie. Sie trugen schwarze Anzüge und blassgoldene Schärpen quer über der Brust, von der Schulter zur Hüfte. Lord Jacos betastete vorsichtig die neue Anstecknadel an seinem Revers – ein gehämmertes goldenes Quadrat, das so alt war wie sein Haus. Verglichen mit den Edelsteinen, Medaillons und Abzeichen der anderen Gouverneure war das nichts, aber für den Augenblick musste es genügen.

Julian erhaschte einen Blick von Coriane und wollte ihr zuzwinkern, ließ es aber sein, als er bemerkte, wie deprimiert sie aussah. Er blieb den ganzen Weg zum Bankett dicht neben ihr, hielt in dem gemieteten Wagen ihre Hand und später, als sie durch das große Tor auf den Cäsarplatz schritten, ihren Arm. Ihr Ziel, der Whitefire-Palast, lag zu ihrer Linken und dominierte die Südseite des gekachelten Platzes, auf dem es heute Abend von Adligen wimmelte.

Jessamine war trotz ihres Alters ganz aufgedreht und lächelte und nickte jedem, der an ihnen vorbeikam, beflissen zu. Ja, sie winkte sogar eifrig, sodass die wallenden Ärmel ihres schwarz-goldenen Kleides flatterten.

Sie kommuniziert mit ihren Kleidern, dachte Coriane. So etwas Blödes. Genau wie der Rest von diesem Fest, das mit einer neuen Blamage und dem weiteren Niedergang des Hauses Jacos enden wird.Warum spielen wir ein Spiel, in dem wir mit den anderen nicht mithalten können? Sie begriff es einfach nicht. Ihr Hirn kannte sich mit Stromkreisen besser aus als mit den gehobenen Kreisen und sie bezweifelte, dass es Letztere je verstehen würde. Der ganze Hof von Norta war ohne Sinn und Verstand, wie auch ihre Familie und selbst Julian.

»Ich weiß, worum du Vater gebeten hast«, murmelte sie, sorgsam darauf bedacht, ihr Kinn an seine Schulter zu drücken. Seine Jacke dämpfte ihre Stimme, aber nicht so sehr, dass er vorgeben konnte, sie nicht verstanden zu haben.

Seine Muskeln spannten sich an. »Cori –«

»Ich muss zugeben, dass ich das nicht ganz verstehe. Ich dachte …« Ihre Stimme versagte. »Ich dachte, jetzt, wo wir alle an den Hof ziehen müssen, wolltest du mit Sara zusammen sein.«

Du hast darum gebeten, nach Delphie gehen zu dürfen, um bei den Gelehrten zu arbeiten und Ruinen auszugraben, anstatt Vaters rechte Hand zu werden und zu lernen, wie man ein Haus führt. Warum tust du das? Warum, Julian? Und die schlimmste Frage von allen, die, die sie nicht stellen konnte, weil sie nicht die Kraft dazu hatte: Wie kannst auch du mich verlassen?

Ihr Bruder stieß einen tiefen Seufzer aus und hielt ihren Arm fester. »Das wollte ich auch. Und ich will es immer noch. Aber –«

»Aber? Hat sich irgendwas verändert?«

»Nein, gar nicht. Weder zum Guten noch zum Schlechten«, fügte er hinzu, und sie hörte die Andeutung eines Lächelns. »Ich weiß einfach, dass sie den Hof nicht verlassen wird, wenn ich hier bei Vater bleibe. Das kann ich ihr nicht antun. Dieser Ort – ich werde sie nicht in dieser Schlangengrube festhalten.«

Coriane verspürte Sorge um ihren Bruder und sein nobles, selbstloses, dummes Herz. »Dann lässt du sie also an die Front ziehen.«

»Von lassen kann keine Rede sein. Sie sollte ihre eigenen Entscheidungen treffen können.«

»Und wenn ihr Vater, Lord Skonos, nicht einverstanden ist?« Was ganz sicher der Fall sein wird.

»Dann heirate ich sie, wie geplant, und nehme sie mit nach Delphie.«

»Du hast für alles einen Plan.«

»Ich bemühe mich.«

Obwohl Coriane sich für die beiden freute – ihr Bruder und ihre beste Freundin würden heiraten –, machte ihr der vertraute Schmerz zu schaffen. Sie werden zusammen sein, und du bleibst allein zurück.

Julians Finger drückten unvermittelt ihre; trotz des Nieselregens waren sie warm. »Und natürlich hole ich dich auch hier raus. Glaubst du, ich lasse dich allein am Königshof zurück, nur mit Vater und Jessamine an deiner Seite?« Er küsste sie auf die Wange und zwinkerte ihr zu. »Du solltest eine bessere Meinung von mir haben, Cori.«

Um ihm eine Freude zu machen, zwang sie sich zu einem breiten Lächeln, das in den Lichtern des Palastes aufblitzte. Doch sie spürte nichts von diesem Leuchten. Wie kann Julian zugleich so klug und so dumm sein? Es verblüffte und betrübte sie. Selbst wenn ihr Vater Julian zum Studieren nach Delphie ziehen ließ, würde er es Coriane niemals erlauben. Sie war keine Gelehrte und keine Kämpferin, sie war auch nicht mit sonderlich viel Charme oder Schönheit gesegnet. Ihr einziger Wert lag darin, dass man sie verheiratete, Allianzen mit ihr schmiedete, und die fanden sich weder in den Büchern ihres Bruders noch in seinem Schutz.

Whitefire war in den Farben des Hauses Calore geschmückt. Schwarz, rot und silbern wehte es von jeder Alabastersäule. Die Fenster waren hell erleuchtet, und aus dem großen Portal, das von Königswächtern – den Leibwächtern des Monarchen in ihren flammend roten Umhängen und Masken – gesichert wurde, drangen die Geräusche eines rauschenden Fests. Als sie an den Wächtern vorbeiging, noch immer an Julians Hand, fühlte Coriane sich weniger wie ein Gast als vielmehr wie eine Gefangene, die in ihre Zelle geleitet wurde.

Coriane gab sich alle Mühe, beim Essen nur auf ihrem Teller herumzupick-pick-picken.

Außerdem dachte sie darüber nach, ein paar der mit Goldintarsien verzierten Gabeln verschwinden zu lassen. Wenn ihnen nur das Haus Merandus nicht genau gegenübergesessen hätte. Sie waren allesamt Flüsterer und kannten Corianes Absichten vermutlich genauso gut wie sie selbst. Sara hatte ihr gesagt, dass sie es eigentlich spüren müsste, dass sie es merken würde, wenn einer von ihnen in ihren Kopf eindrang. Also versuchte sie nervös und angespannt, ihre Gedanken zu kontrollieren. Infolgedessen war sie still und bleich und starrte unverwandt auf ihren Teller mit dem zerpflückten und nicht angerührten Essen.

Julian bemühte sich, sie abzulenken, wie auch Jessamine, die es allerdings unabsichtlich tat. Die alte Cousine überschlug sich fast mit Komplimenten an Lord und Lady Merandus und lobte alles, angefangen bei den aufeinander abgestimmten Outfits (der Lord trug einen Anzug und die Lady ein Kleid, und beides schimmerte blauschwarz wie ein Himmel voller Sterne) bis hin zu den Profiten, die ihre Ländereien abwarfen (insbesondere Haven mit dem Bastler-Slum Merry Town, einem Ort, von dem selbst Coriane wusste, dass es dort alles andere als lustig war). Die Merandus-Brut schien jedoch entschlossen zu sein, das Haus Jacos nach Kräften zu ignorieren. Sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf sich selbst und auf die leicht erhöht stehende Tafel, an der die Königsfamilie speiste. Auch Coriane schielte unwillkürlich dorthin.

Tiberias V., König von Norta, saß natürlich in der Mitte. Groß und schlank thronte er auf seinem reich verzierten Stuhl. Hose und Jacke seiner schwarzen Ausgehuniform schmückten seitlich angebrachte Streifen aus purpurroter Seide und silberne Tressen; alles saß absolut perfekt. Er war mehr als nur gut aussehend, er war ein schöner Mann; seine Augen waren wie flüssiges Gold und seine Wangenknochen brachten Poeten zum Weinen. Selbst sein königlich grau melierter Bart war tadellos getrimmt und in eine perfekte Form gebracht. Jessamine zufolge war seine Königinnenkür das reinste Blutbad gewesen; die Frauen, die um den Platz an seiner Seite wetteiferten, hatten einander rücksichtslos bekriegt. Und keiner von ihnen hatte es offenbar etwas ausgemacht, dass der König sie niemals lieben würde. Sie wollten nur die Mutter seiner Kinder werden, sein Vertrauen gewinnen und eine Krone ergattern. Königin Anabel, eine Bersterin aus dem Haus Lerolan, füllte diese Rolle nun aus. Huldvoll lächelnd saß sie zur Linken des Königs und hatte nur Augen für ihren einzigen Sohn. Ihre Militäruniform war oben aufgeknöpft und gab den Blick frei auf eine feurig glitzernde Halskette aus Edelsteinen, die ebenso rot und orange und gelb waren wie ihre explosive Berster-Fähigkeit. Ihre Krone war klein, aber nur schwer zu übersehen, denn der Reif aus massivem Rotgold war mit schwarzen Perlen besetzt, die bei jeder Bewegung funkelten.