Das Rheinland - Wiege Europas? - Karlheinz Gierden - E-Book

Das Rheinland - Wiege Europas? E-Book

Karlheinz Gierden

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Beschreibung

Das Rheinland hat in der wechselvollen Geschichte Europas immer eine besondere Rolle gespielt. Vielleicht ist das der Grund, warum dort sehr früh grenzüberschreitend gedacht und das europäische Konzept entscheidend mitgeprägt wurde. In diesem Sammelband widmen sich Historiker den Europa-Gedanken bedeutender Persönlichkeiten. Jeder Beitrag beleuchtet eine bekannte Person und ihr Wirken in der rheinischen Region, von Agrippina, der Jüngeren, über Theophanu und Karl dem Großen bis hin zu Jan Wellem und Konrad Adenauer und seiner Europa-Politik.

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Seitenzahl: 357

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DAS RHEINLAND –

WIEGE EUROPAS?

Eine Spurensuche von Agrippina bis Adenauer

Herausgegeben von Karlheinz Gierden

Unter Mitarbeit von Marion Gierden-Jülich

Lübbe Digital

Vollständige E-Book Ausgabe

des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG

Originalausgabe

Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Textredaktion: Dr. Marion Gierden-Jülich Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen Umschlagmotiv: akg-images; © akg-images/Doris Poklekowski

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-1517-9

Sie finden uns im Internet unter

www.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch www.lesejury.de

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

Karlheinz Gierden

AGRIPPINA DIE JÜNGERE (15–59):

Die Koloniegründung in der Gemeinde der Ubier im Jahr 50 n. Chr.

Werner Eck

KARL DER GROSSE (748–814)

Wilfried Hartmann

THEOPHANU KAISERIN, RICHEZA KÖNIGIN

Zwei große Frauen im Mittelalter

Lothar Theodor Lemper

RAINALD VON DASSEL (1120–1167)

Reichskanzler – Erzbischof von Köln – Erzkanzler für Italien

Helmuth Kluger

JOHANN WILHELM (1658–1716)

Kurfürst von der Pfalz – Herzog von Jülich und Berg

Klaus Müller

JAN VON WERTH (1591–1652)

Ein Rheinländer im Dreißigjährigen Krieg

Michael Kaiser

KURFÜRST CLEMENS AUGUST (1700–1761)

Erzbischof von Köln, Landesherr und Mäzen

Frank Günter Zehnder

JOSEPH VON GÖRRES (1776–1848)

Wolfgang Bergsdorf

Ludolf Camphausen und David Hansemann

Rheinische Unternehmer, Politiker, Bürger

Ulrich S. Soénius

KONRAD ADENAUER (1876–1967)

Rheinischer Gründungskanzler der Bundesrepublik

Hans-Peter Schwarz

AUTORENVERZEICHNIS

KARLHEINZ GIERDEN

Einleitung

Das Rheinland ist eine Landschaft mentalen Charakters.Zu dieser Feststellung kommt der Autor des zehnten Beitrages, Hans-Peter Schwarz, über Konrad Adenauer. Nun liegt das sicher nicht an der rheinischen Aufweichung der deutschen Sprache und dem Abschleifen der Konsonanten. Vielleicht ist Toleranz gegenüber dem auswärtigen Besucher der typischen Kölner Kneipe ein Ausdruck rheinischen Charakters. Aber wer sind Rheinländer, Persönlichkeiten, die das Bild des Rheinlandes geprägt haben, in welcher Landschaft? In der Tat, die Feststellung des mentalen Charakters trifft zu. Das Rheinland wird nicht begrenzt von unüberschaubaren, schneebedeckten Bergen und nicht von einer von Ebbe und Flut bewegten See. Der Rhein selbst bewegt sich eher träge von den Alpen zur Nordsee, gibt seinen Namen spät dem Land an seinen westlichen und östlichen Ufern. Dort wo er überschaubar und überbrückbar erscheint, ist er als natürliche Grenze nicht mehr geeignet. Weder die Schwarzwälder und Elsässer, noch die Pfälzer und Hessen haben den Namen Rheinländer angenommen, die Rheinhessen immerhin schon zur Hälfte.

Dann beginnt das Rheinland mit erweitertem Blick aus dem Tal des Rheines. Aber nicht die Grenzen der Landschaft, sondern Ortsnamen, wie Xanten oder Bonn, erinnern an die Besuche und Heimsuchungen aus dem Rest Europas. Wie in der Literatur Carl Zuckmayer bereits erkannt hat, kamen in dieses Rheinland Römer, Gallier, Ungarn (Pannonier), Spanier, Franzosen, Kroaten und so fort und so fort.

Was zeichnete sie aus? Was führte sie zusammen? Gemeinsamer Gesang und Trank am Feuer wie die alten Germanenstämme, gemeinsame Sprache oder gemeinsame Kunst oder Religion? Oder war es nicht doch die gemeinsame Geschichte?

Die Rheinländer haben keine Stammesgeschichte wie die Bayern an den Alpen und die Friesen an der See. Bischöfliche Kurfürsten in Köln, Mainz und Trier erinnerten stets daran, dass es in Europa nördlich der Alpen eine auf Rom zurückzuführende Reichsidee gibt. Um diese Reichsidee muss man politisch – in welchem Abstand auch immer – kreisen, mal näher, mal ferner. Das Europa, das wir kennen, hat schon im alten Reich die staatliche Gestaltung für das Miteinander der Europäer gefunden.

Als allerdings dem Rheinland erstmals zu Beginn einer nationalstaatlichen Entwicklung in Deutschland eine Einheitsdynastie übergestülpt wurde, 1815 beim Wiener Kongress, war das nicht rheinisch, nicht europäisch, sondern zwangsweise preußisch. Die Reichserhebung 1871 hatte mit der alten Reichsidee nichts gemein.

Die preußisch-deutsche Staatsbildung entsprach einzig nationalstaatlichen Vorstellungen, nicht der Idee von einem Europa südlich und nördlich der Alpen. Bismarck hat im ehemaligen aufgelösten Reich, dem Bund zwischen Wien und Berlin, zunächst die Führung und dann die Auflösung zugunsten einer kleindeutschen Lösung betrieben.

Im Gegensatz zu dem 1933 folgenden Dritten Reich war das Zweite Reich immerhin zunächst auf Ausgleich und Frieden in Europa ausgerichtet. Das Scheitern eines europäischen Ausgleichs zwischen souveränen Staaten führte in den Ersten Weltkrieg. Dessen Ende brachte den Deutschen zwar die Demokratie anstelle einer preußischen Monarchie, eine Befriedung Europas gelang hingegen nicht. Versuche, Europa über den Völkerbund zu schaffen, trafen gerade in Deutschland auf einen nationalistischen Revanchismus, der zum Nährboden für das Erstarken des Nationalsozialismus wurde. Befördert wurde er durch eine mit den Nationalstaaten aufgekommene Denkweise, die die politische Dominanz der Mächtigen über das Miteinander der Völker im Dienst einer gemeinsamen Idee, der von Rom übernommenen Reichsidee, stellte.

Die endgültige Perversion der Reichsidee war die Reichserhebung 1933 mit der Absicht, ein neues germanisches Großreich mit universellem Machtanspruch zu schaffen. Das Dritte Reich leitete die größte Katastrophe Europas seit Menschengedenken ein. Joseph Goebbels, auch er Rheinländer, versuchte zum Ende des Zweiten Weltkrieges unter Missbrauch der alten Reichsidee mit der Zeitschrift »Das Reich« die Hitler’sche Kriegspolitik vor ihrem greifbaren Ende noch einmal zu aktivieren. Er musste scheitern und ist folglich auch gescheitert.

Dem Ende dieses Reiches musste die endgültige Besinnung auf die Reichsidee des alten Europa folgen. Wie war sie entstanden und wer bzw. was hat sie bewirkt? Wo stand sie, die Wiege Europas?

Lange galt Kreta als Wiege Europas. Nach der griechischen Mythologie lag Hera auf dem Idagebirge in Kreta Zeus bei. Aber: Sie wartete die Geburt nicht ab, sondern ging »dann fort zu den berühmten Stämmen der Menschen«, so steht im vierzehnten Gesang der Illias zu lesen (Übersetzung nach Roland Hampe bei Reclam). Danach stand die Wiege Europas schon einmal nicht alleine auf Kreta.

Und ein Weiteres: Es waren nicht nur Männer, die Geschichte machten, wie Treitschke, ein urpreußischer Historiker des 19. Jahrhunderts, glaubte. Frauen haben vor und auch zu seiner Zeit, eigentlich immer schon Geschichte mitgemacht. Selbst wer Geschichte auf dem Schlachtfeld sucht, kann an der Jungfrau von Orleans nicht vorbeischauen. So sind es denn Personen beiderlei Geschlechts, die immer Geschichte gemacht haben. Das gilt auch für die Geschichte des Rheinlandes.

Rheinländer und Rheinländerinnen müssen nicht am Rhein geboren sein, sie müssen im Rheinland einen Kristallisationspunkt für das Miteinander von Menschen europäischer Herkunft gefunden haben. Folglich ist die Auswahl der zwölf Rheinländer, die in diesem Band porträtiert werden, weder ihrem Geburtsort noch ihrer Sprache und schon gar nicht von Gott vorgegebenen deterministischen Überlegungen geschuldet. Es war vielmehr ihr Handeln, das auch heute noch sichtbare Spuren in der zweitausendjährigen Geschichte Europas nördlich der Alpen hinterlassen hat. Diesen Spuren will dieser Band nachgehen. Sie führen in ein Rheinland, das sich nicht nur, aber auch unter ihrem Einfluss, ihrer Gestaltung und ihrer Mitwirkung zur Wiege Europas nördlich der Alpen entwickelt hat.

Auf die Idee, mit Gallien wie Germanien, das Europa nördlich der Pyrenäen und nördlich der Alpen, mit dem Imperium Romanum zu überziehen, kamen zuerst die Nachfolger Caesars, des Eroberers: Augustus, Tiberius und Claudius sorgten administrativ für die Eingliederung der eroberten Gebiete am Rhein in das römische Imperium. Agrippina die Jüngere, Tochter des Tiberiussohnes Germanicus und von Agrippina der Älteren, wurde zur Gattin und Mörderin des Kaisers Claudius. Ihm hatte sie die Genehmigung der Erhebung des Oppidum Ubiorum, einer römisch geprägten Germanensiedlung, zur römischen Stadt CCAA, Colonia Claudia Ara Agrippinensium, abgewonnen. Sie war in der Ubierstadt geboren und eröffnete damit Schritt für Schritt auch den germanischen Bewohnern des Oppidum Ubiorum den Weg ins römische Bürgerrecht.

Die vom Imperium Romanum abzuleitende europäische Reichsidee blieb nicht ohne Einfluss auf das Verhalten von im Rheinland wirkenden Persönlichkeiten. Reichstreue wurde zum Begriff.

Karl der Große leitete aus dieser Vorstellung seine Verfassung für die von den Franken eroberten römischen und später hinzugewonnenen germanischen Gebiete ab. Es war ein großes Reich, es reichte vom Kanal bis nach Süditalien, ging von der Elbe bis über die Pyrenäen. Das Fundament des Reiches und damit auch das Verständnis von Reichstreue war römisch-katholisch, eine auf Nicaea und den Gegner des Arius, Athanasius, zurückgehende Lehre von der Gott-Mensch-Natur.

Einer seiner Vorgänger, der Sugambrer Clodwig I., hatte bei Zülpich im Rheinland die heidnischen Alemannen und später auch die arianisch-christlichen Westgoten besiegt. Seine Söhne gliederten die Burgunder ins Frankenreich ein. Der Arianismus entsprach in der Vorstellung der Franken germanischer Heldenverehrung. Ein Sieg des Arianismus hätte das Papsttum Westroms zum Untergang gebracht. So aber sicherte Karl nicht nur das Papsttum, sondern er sicherte sich, neben der politischen Herrschaft über den Papst, auch die Entscheidungshoheit in kirchlichen Fragen.

Einheit und Zwietracht zwischen Kaisern und Päpsten in Europa haben später, im Hochmittelalter, immer der Frage gegolten, wer das Schwert in Europa zu führen habe, das geistliche oder weltliche jeweils allein, oder wie zusammen?

Die Oströmerin Theophanu kam aus einem ebenfalls christlich geprägten Reich. In Konstantinopel war der Kaiser Leiter der Konferenz von Patriarchen, die im Orient und im slawisch besiedelten Osten Europas den christlichen Glauben verbreiteten und bewahrten. Theophanu brachte diese Konzeption in die Ottonenherrschaft ein. Sie führte ihren Sohn Otto III. nach Gnesen in Polen, um dem einzigen slawischen Volk die Königswürde zu bringen. Polen wurde mit beachtlicher Wirkung dem römischen Reich zugeordnet. Die Enkelin der Theophanu, Richeza aus dem Rheinland, Stifterin der Kirche einer Abtei in Brauweiler, wurde polnische Königin. Beide Frauen sind in Köln begraben.

Der Hildesheimer Rainald von Dassel war Kanzler und Heerführer des Kaisers Friedrich Barbarossa, der mit dem Papst und seinen politischen Anhängern in Italien um das Schwert des Reiches ringen musste. Köln, Regierungssitz des Erzkanzlers und Erzbischofs Rainald von Dassel, wurde der Wallfahrtsort der Kirche nördlich der Alpen schlechthin. Waren dorthin doch von jenem Feldherrn die Gebeine der Heiligen Drei Könige aus Mailand gebracht worden, die als erste Abgesandte aller Welt den Menschensohn Gottes gesehen hatten.

Mit der Aufklärung und der Pluralität des Christentums römischer Prägung wurde eine entscheidende Axt an die von Rom ausgegangene Reichsordnung gelegt. Einheit oder Konflikt zwischen Kaiser und Papst wurden verfassungspolitisch irrelevant. Das Augsburger Konzept von 1555 – Cuius regio, eius religio; wessen Herrschaft, dessen Religion – stellte auch das Rheinland vor die Frage nach der Einheit im Reich. Unterschiedliche Typen gaben ihre Antwort.

Der Pfälzer Johann Wilhelm entschied sich für Düsseldorf als Residenz, blieb aber in der spanisch–französischen Auseinandersetzung der Idee vom Reich treu. Die Auseinandersetzung zwischen den Bürgern der Stadt Köln und ihrem Erzbischoffürsten 1288 bei Worringen hatte die direkte Reichsgewalt zugunsten von Dynastien am Niederrhein und im Bergischen Land aufgelöst, die Reichsidee blieb jedoch.

Wo sind die Rheinländer im Dreißigjährigen Krieg, einer Auseinandersetzung um die Herrschaft im Reich – nur mittelbar um die Religion der Untertanen –, geblieben? Franzosen und Schweden unterschiedlicher Religion, stritten gemeinsam mit reichstreuen Böhmen, Kroaten, vor allem Bayern um die Macht am Rhein. Der Reitergeneral in bayrischen Diensten Jan von Werth, bei Neuß geboren und in Köln aufgewachsen, verließ seinen Oberbefehlshaber aus München, als dieser vorübergehend seine Treue zum Reich in Frage stellte.

Im Prinzip bewiesen die Bayern über 250 Jahre im Rheinland ihre Treue zum Reich, vor allem als Kurfürsten hinterließen sie überzeugende Denkmäler der Kultur. So blieben von einem Wittelsbacher, Clemens August, in Brühl und Bonn Zeugnisse des Barocks, die das Bürgertum in Köln nicht hervorgebracht hat.

Man hat lange darüber philosophiert, ob Napoleon I. Europa mit militärischer Gewalt zur Einheit bringen wollte, aber nicht konnte. Josef Görres aus Koblenz befasste sich mit diesen Vorstellungen und kam zu der damals richtigen Erkenntnis, dass Nationalstaaten Europa nicht schaffen wollten und auch nicht konnten. Die Geschichte hat ihm Recht gegeben.

Letztlich war die Reichsidee jedoch schon am Beginn des 19. Jahrhunderts ausgerechnet in der alten Reichsstadt Wien einem machtpolitischen Staatensystem geopfert worden, gestützt auf die napoleonische Entscheidung von 1806, das alte Erste Reich formal aufzulösen.

Der Versuch eines preußischen Königs, Friedrich Wilhelm IV., mit den rheinischen Unternehmern Ludolf Camphausen aus Köln und David Hansemann aus Aachen, über die Wirtschaft in Europa die Kooperation zwischen dynastisch und national ausgerichteten Staaten zu fördern, scheiterte an dem Widerstand preußischer Grundbesitzer und Generäle.

So war es denn ein Rheinländer, Konrad Adenauer, der als erster Deutscher unter dem Eindruck der größten Katastrophe Europas das Miteinander beiderseits des Rheins zwischen bis dahin verfeindeten Staaten betrieb. Der Hamburger Helmut Schmidt ist ihm rational überzeugend nach Paris gefolgt, der Pfälzer Helmut Kohl rational und emotional, konsequent beide, wer heute?

Heute, bald zweitausend Jahre nach Gründung der CCAA (Köln) stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit und der Zukunft der europäischen Idee erneut, und zwar drängender denn je. Was ist geblieben von den Visionen der Gründungsväter Europas? Am Ausgang des vergangenen Jahrhunderts schien die politische Einheit Europas zum Greifen nahe. Droht uns der Rückfall in nationalstaatliches und kurzsichtiges Klein-Klein? Nun lesen und hören wir zwar täglich, die Europäische Union sei »alternativlos«, um ein aktuelles Modewort zu nutzen. Das ist sicher richtig. Aber wo sind sie, die Botschafter der europäischen Idee? Wer erreicht mit Europa die Herzen der Menschen, löst Begeisterung und Empathie aus? Zwar ist ein Europa ohne Grenzzäune mit gemeinsamer Währung insbesondere für junge Menschen heute selbstverständlich. Gleichzeitig gilt aber: Zu weit weg ist Brüssel vom Lebensalltag der Menschen, immer noch fehlt die demokratische Legitimation für europäisches Handeln, wird Europa lediglich als gigantisches bürokratisches Monstrum wahrgenommen. Das Festhalten an einem europäischen Marktgeschehen, das von der Konkurrenz wirtschaftlich starker und schwacher Staaten mit jeweils eigener Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik getragen wird, wird sich – das zeigt das aktuelle Geschehen überdeutlich – wohl kaum als Motor für die Einheit Europas erweisen. Mehr noch: In der aktuellen Finanzkrise setzt sich Europa Auseinandersetzungen aus, die nur noch weit entfernt um die Vision und das Ziel eines sich einigenden Europas im Sinne der alten Reichsidee kreisen. Die permanenten Streitereien um die Frage, wer welchen Beitrag an wen und wofür zu leisten habe, erinnern eher an einen Verein, den nur noch die Beiträge seiner Mitglieder am Leben erhalten, der aber schon lange vergessen hat, was einmal das Motiv für seine Gründung gewesen war. So kam mir die Idee, Rheinländer vorzustellen, nicht ihrer Herkunft, ihrer Abstammung, sondern ihrem Wirken in Europa nach.

Spuren der Geschichte des Rheinlandes, die von den zwölf Wirkenden unterschiedlichen Ranges getragen oder beeinflusst wurde, finden sich sichtbar und greifbar in Kirchen und auf Straßen und Plätzen. Die bei manchem Betrachter entstandene Mythologiedeutung über einzelne von ihnen haben die Autoren dieses Bandes allerdings in eine historisch fundierte Realität herabgeholt.

Die Zeugnisse dieser Realität aber verdienen zur Kenntnis genommen zu werden: die Rekonstruktion des Nordtores der Colonia Claudia Ara Agrippinensium, damals einer mächtigen Stadt des Römischen Reiches nördlich der Alpen; der Kaiserstuhl Karls des Großen im Aachener Dom, bescheiden, aber Instrument der Krönung von dreizehn Königen des Heiligen Deutschen Reiches Deutscher Nation; Kirchen von Frauen aus dem Ottonengeschlecht des 10. Jahrhunderts, St. Pantaleon in Köln, Stiftung und Grabstätte der Oströmerin Theophanu, die Abteikirche in Brauweiler, gestiftet von ihrer Enkelin und polnischen Königin Richeza; der Schrein der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom zur Erinnerung an die große Tat des Erzbischofs und Erzkanzlers Rainald von Dassel; Jan Wellem hoch zu Ross vor dem Rathaus in Düsseldorf; das Denkmal des Reitergenerals Jan von Werth mit der Jungfrau gebliebenen Griet auf dem Alten Markt in Köln; das Brühler Schloss Augustusburg des Kurfürsten Clemens August von Wittelsbach; vom Philosophen und Schriftsteller Joseph Görres aus Koblenz ist bis in unsere Tage der »Rheinische Merkur« geblieben; die erste Eisenbahn im Rheinland führt zu ihren Erschaffern Ludolf Camphausen und David Hansemann, zwei Unternehmem aus Köln und Aachen. Schließlich erinnert der Auftritt des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle mit dem Bundeskanzler Konrad Adenauer vor dem Kölner Rathaus und damit auf der Erde über dem römischen Prätorium aus der Zeit Agrippinas an nahezu zweitausend Jahre rheinischer Geschichte.

***

Als ich anlässlich der Vollendung meines achtzigsten Lebensjahres nach meiner politischen Herkunft gefragt wurde, schloss ich meine Dankesansprache an die Gäste in der rheinischen Abtei Brauweiler mit den Worten: »Ich bin pflichtbewusster Deutscher, überzeugter Europäer und liebe das Rheinland.« Diese innere Überzeugung hat einen Juristen, allerdings lebenslangen Regionalpolitiker, zu diesem Buch geführt. Immerhin liegt meiner Einschätzung historischer Betrachtungen eine Erkenntnis zugrunde, die ich in meiner Doktorarbeit über »Hegels Lehre vom Staat« gefunden habe. Entgegen diesem großen Philosophen, der den Idealismus als Weltgeist in die Geschichte einbezog, bin ich jedoch nicht der Meinung, dass sich Gottes Fügung in der Politik von Staaten wiederfindet. Geschichte ist der Vollzug der Freiheit, die Gott der Menschheit gegeben hat, von ihr genutzt und missbraucht.

Dank

Mein Dank gilt vor allem den zehn Autoren, die mit wissenschaftlicher Gründlichkeit anhand der von mir gewählten Persönlichkeiten belegt haben, dass historische Relevanz nicht nur auf Deutungen und Erklärungen, sondern vor allem auf orientiertem Handeln beruht.

Die Idee eines über Achtzigjährigen musste sich natürlich auch mit zeitgenössischen Betrachtungen und Wertungen auseinandersetzen. So gilt der Dank Beratern, vor allem meiner Tochter Dr. Marion Gierden-Jülich, die das Buch koordiniert und inhaltlich mitgestaltet hat. Im Umgang mit rheinischer Kultur bin ich seit Jahren mit dem langjährigen Kulturdezernenten des Rheinlands, Dr. Gert Schönfeld, verbunden. Ihm gilt mein Dank für Begleitung und Unterstützung dieses Projektes ebenso wie den in Köln und im Rheinland engagierten Dr. Lothar Theodor Lemper und Dr. Ulrich Soénius sowie Frau Prof. Dr. Margret Wensky.

Der Lübbe Verlag, insbesondere Stefan Lübbe, zeigte sich sofort interessiert und ansprechbar. Ihm, dem Verlagsleiter Sachbuch, Steffen Haselbach, aber auch der das Projekt begleitenden Lektorin, Frau Anne Stadler, bin ich denn zu besonderem Dank verpflichtet. Lübbe ist rechts des Rheines etabliert, ich links, Europa liegt im Rheinland beiderseits des Rheines.

WERNER ECK

Agrippina die Jüngere (15–59)

Die Koloniegründung in der Gemeinde der Ubier im Jahr 50 n. Chr.

im Jahr 1950, bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges, feierte man in Köln die Gründung der Stadt. Man bezog sich auf ein Ereignis, das sich 1900 Jahre früher in Köln zugetragen hatte. Damit erinnerte Köln zweifellos seine Bürger an ein auch für das moderne Köln wichtiges Geschehen. Denn im Jahre 50 n. Chr. hatte das damalige Gemeinwesen das römische Kolonierecht erhalten. Doch – und das hatte man gar nicht realisiert – dies war nicht die Gründung der Stadt, weder in dem Sinn, damals sei eine Gemeinde, als eine Gemeinschaft sich selbst verwaltender Bürger, geschaffen worden, noch in dem Sinn, damals sei der urbane Kern entstanden. Beides geschah lange vor dem Jahre 50.

Die Stadt Köln als Bürgergemeinde verdankt ihren Anfang Marcus Vipsanius Agrippa, der wie kein anderer mit Augustus, dem ersten römischen Princeps, politisch und persönlich verbunden war und mit ihm zusammen die neue Herrschaftsform, den Prinzipat, geschaffen hatte. Ab dem Jahre 20 v. Chr. ging Agrippa daran, dem von Caesar eroberten Gallien eine Gestalt zu geben, damit diese Großregion für Rom unter dem Aspekt der Sicherheit des Reiches im Norden nicht nur eine schwere Last darstellte; von dort aus sollte vielmehr die Herrschaft Roms gesichert und gestützt werden. Eine Maßnahme, die eine die Jahrhunderte überdauernde Wirkung entfaltete, war die Umsiedlung eines Teils des germanischen Stammes der Ubier, die bis dahin auf der rechten Rheinseite entlang der Lahn und um den Dünsberg ihr Siedlungsgebiet hatten. Da sie von anderen germanischen Stämmen vom Norden und Osten her bedrängt wurden, stimmte die Mehrheit des Stammes zu, sich auf römischem Gebiet als Verbündete des römischen Volkes ansiedeln zu lassen. Das geschah während des Aufenthalts Agrippas in Gallien in den Jahren 20/19 v. Chr. Siedlungsgebiet wurde wohl schon damals die Region etwa vom Vinxtbach im Süden bis etwa Krefeld im Norden, grob gesprochen also die Kölner Bucht. Im Westen reichte das Siedlungsgebiet zuerst vermutlich nur bis zur Ruhr; erst wesentlich später (nicht vor dem späteren 1. Jahrhundert n. Chr.) wurde es bis in den Raum von Aachen hinein ausgedehnt.

Mit dieser Ansiedlung der Ubier beginnt die Geschichte Kölns als Selbstverwaltungseinheit, als Gemeinde; nach römischer Vorstellung muss diese Gemeinde als Stadt bezeichnet werden. Die Ubier waren die Bürger, die den Kern dieser Gemeinde gebildet haben. Dieses Gemeinwesen besteht seit dem Jahr 20/19 v. Chr. ohne Unterbrechung bis heute, freilich mit sehr unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung. Heute existiert auf dem ehemaligen Territorium der ubischen Gemeinde eine große Zahl von Selbstverwaltungseinheiten, die alle auf eine römische Vergangenheit zurückblicken können; eigene Gemeinwesen sind sie erst später geworden.

Was dieser ubischen Gemeinde nach römischen Ordnungsvorstellungen freilich zunächst noch fehlte, war ein konstanter Mittelpunkt, an dem gemeinsame Beschlüsse aller Bürger des Gemeinwesens gefasst werden konnten und der gleichzeitig als Identifikationsort seine Wirkung entfaltete. Der germanische Stamm der Ubier hat dieses Manko wohl zunächst kaum bemerkt, weil er diese Organisationsform mit Zentralort und Territorium bisher nicht kannte. Für Rom jedoch war es eine Konstante, dass eine Gemeinde aus einem urbanen Mittelpunkt und dem zugehörigen Land bestand; das Territorium war lebenswichtig, weil die Bürger der Gemeinde dessen Ertrag, d. h. die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, brauchten, um überhaupt leben zu können. Diese römische Vorstellung wurde auch für die Ubier bald in die Realität umgesetzt. Das aber führte zum zweiten Akt der Stadtwerdung: Zur Anlage einer urbanen Mittelpunktsiedlung, aus der sich vor allem Köln im heutigen Sinn entwickelte.

2000 Jahre Stadt als urbane Siedlung – das hätte man in Köln um das Jahr 1993 feiern können, woran damals freilich niemand gedacht hat, da man vor knapp zwei Jahrzehnten diese Erkenntnis als Konsequenz aus der historisch-archäologischen Überlieferung noch nicht gezogen hatte.

***

Der Zeitpunkt für diese »Stadtwerdung« ergab sich, als auf Augustus’ Befehl seit 12 v. Chr. das rechtsrheinische Germanien erobert wurde. Im Jahr 7 v. Chr. schien diese Eroberung abgeschlossen zu sein. Sie hatte eine neue Provinz Germania zur Folge, und zwar zu beiden Seiten des Rheins. Dieses neueroberte Gebiet brauchte aus politischen und praktischen Gründen notwendigerweise einen Mittelpunkt. Denn die eben unterworfenen Germanen mussten wissen, wo sie den römischen Vertreter am ehesten erreichen konnten. Sie sollten aber vor allem mit einem solchen Ort ganz konkret ihre Loyalitätspflichten verbinden. Dazu eignete sich als sichtbare Loyalitätsform der sogenannte Herrscherkult, wie er sich unter Augustus entwickelt hatte. Eine Festversammlung der Vertreter einer Provinz beging jährlich diesen Loyalitätsakt mit Opfern für Rom und Augustus und mit Spielen. Für Germanien wählten Augustus und seine Berater das Gebiet der heutigen Kölner Altstadt als den Ort, an dem dieser Loyalitätsakt stattfinden sollte; der Ort lag mitten im Gebiet des loyalen Stammes der Ubier. Durch ein zufälliges Zeugnis aus dem Jahr 9 n. Chr., dem Jahr der Niederlage des römischen Statthalters und Feldherrn Varus durch Arminius, wissen wir, dass damals innerhalb des Zentralortes der Ubier von den Germanen aus der gesamten Provinz dieser Kult begangen wurde.

Im Jahr 7 v. Chr., als die Eroberung des rechtsrheinischen Germanien abgeschlossen zu sein schien, war allerdings das Gebiet der heutigen Kölner Altstadt noch unberührtes Gelände; ein Fest war dort noch nicht zu feiern, die simpelsten Voraussetzungen dazu fehlten, sie mussten erst geschaffen werden. Dies geschah auf Augustus’ Befehl seit etwa dem Jahr 7 v. Chr. durch römische Truppen. Eine größere Pionierabteilung schuf die Grundstruktur eines städtischen Zentrums, in dem der Provinzialkult für Augustus und Roma durchgeführt werden sollte. Das Netz der sich rechtwinkelig kreuzenden Straßen mit den davon abgegrenzten Wohngebieten wurde angelegt, dazu notwendige Bauten, vor allem aber das Kultzentrum selbst. Dieser Bezirk war wohl eine der ersten Arbeiten, die in dieser Zeit abgeschlossen wurden. Die äußere Form der Siedlung wurde schon damals in der Größe von 96 Hektar angelegt, so, wie sie uns durch die spätere, noch heute zum Teil sichtbare Ummauerung geläufig ist.

Sosehr der äußere Anlass für die Schaffung dieses Zentrums die Einrichtung des Kultbezirks war, sosehr war doch auch mit der planmäßig geschaffenen Siedlung von Anfang an die Idee verbunden, dass dies der städtische Mittelpunkt für die Ubier sein sollte. Im Übrigen war dies auch aus praktischen Gründen nötig, da nur eine Siedlung und ihre Bevölkerung all das bereitstellen konnte, was die Teilnehmer der Kultfeier brauchten. Gleichzeitig aber wurde diese Siedlung auch als politisch-administrativer Mittelpunkt der Provinz geplant. Für den höchsten römischen Vertreter, den Statthalter, oder ein Mitglied der Familie des Augustus wurde eine Residenz errichtet, vielleicht schon dort, wo sich später das Praetorium als Sitz des Statthalters erhob. Hinzu kam die Einrichtung der Finanzadministration für die Provinz Germania. Zum einen mussten die gewaltigen Truppenmassen am Rhein mit Sold und allen notwendigen Materialien versorgt werden, zum anderen hatte Augustus sogleich mit der Ausbeutung der Ressourcen im eroberten Land beginnen lassen. Wir kennen das sehr konkret für den Abbau von Blei, etwa in der Gegend von Brilon im Sauerland. Die Bleigruben gingen in Augustus’ Besitz über, sie wurden verpachtet, wobei von den Betreibern ein Teil des Bleis in natura an die Finanzadministration abgeführt werden musste. Wir haben diese Informationen, weil Bleibarren mit den Schiffen, die das Blei nach Rom bringen sollten, im Mittelmeer untergegangen sind; vor wenigen Jahren wurden sie dort aufgefunden. Der Aufbau der Finanzadministration ist aber auch durch imposante Grabmäler bekannt, die sich einzelne der Funktionsträger dieser Administration vor den Toren Kölns errichten ließen. Auf diese Weise kann man noch heute sehen, wie ertragreich die Ausbeutung der neuen Provinz gewesen sein muss, zumindest für einige Leute in der Administration.

So diente die neue Siedlung ganz unterschiedlichen Zwecken, die jedoch zusammen den besonderen Stellenwert des Zentrums ausmachten, für Rom und für die Ubier. In wenigen Jahrzehnten war aus dem Nichts eine imponierende Siedlung aufgebaut worden, die sich auch urbanistisch sehen lassen konnte. Noch in den ersten Jahrzehnten wurden monumentale Steinbauten errichtet, wovon heute zwar nur noch spärliche Fragmente von Säulen, Kapitälen und Architraven erhalten sind. Doch sie reichen aus, um den wahrhaft urbanen Charakter der Siedlung zu dokumentieren, innerhalb und außerhalb der Mauern. Für Augustus selbst oder vielleicht für einen seiner Angehörigen wurde ein monumentaler Ehrenbogen errichtet; der konkrete Grund für dieses Ehrenmonument ist nicht zu erschließen, aber ohne Zweifel sollte die Herrscherfamilie dadurch im Denken der hier lebenden Menschen als die bestimmende Macht sichtbar verankert werden. Außerhalb der Mauern sorgten viele, nicht nur die Mitglieder der Finanzadministration, durch gewaltige Grabmonumente dafür, dass sie nach dem Tod nicht vergessen wurden; sie dokumentierten so auch ihre Bedeutung zu Lebzeiten und für die Zukunft. Auch diese Bauten ließen jedem deutlich werden, welch bedeutsame Siedlung in wenigen Jahrzehnten herangewachsen war.

Der urbane Teil der Siedlung entstand wohl zunächst mit nur geringem Einsatz durch die Ubier; sie hatten die Techniken, die für den Aufbau einer zentralen Siedlung nötig waren, erst zu lernen. Zugewanderte Handwerker aus Gallien und Italien sowie römische Veteranen, die sich sogleich in der aufstrebenden Siedlung niederließen, entfalteten die verschiedenen Kulturtechniken für monumentale Bauten nicht weniger als die für eine hochentwickelte Metallverarbeitung und für eine effiziente Keramikproduktion. Doch die Ubier lernten schnell. Nach wenigen Jahrzehnten war durch zugezogene Römer und Ubier ein blühendes städtisches Zentrum entstanden, wohin wohl auch viele der führenden Familien der Ubier ihren Wohnsitz verlegten. Dort tagte ihr Rat, vermutlich auch die Volksversammlung, um die jährlich wechselnden Leitungsfunktionen der Gemeinde zu besetzen. Das entsprach der römischen Praxis. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sie die Ubier übernommen; denn vor der Übersiedlung hatten ihre führenden Persönlichkeiten in aristokratischer Manier eher dauerhaft die Ämter besetzt. Das römische Vorbild war in der Form des höchsten Militärkommandeurs der Truppen am Niederrhein und seines Stabes in Köln ständig präsent. Mit diesen römischen Repräsentanten in guten Beziehungen zu stehen, war von Vorteil, da der Gouverneur nicht nur die politische Macht nach außen repräsentierte, er übte sie auch konkret aus, weil er vor allem höchster Richter in größeren Zivilprozessen, aber in allen Kriminalfällen war. Die Ubier lernten jedenfalls schnell, was es hieß, römisch zu sein, römisch zu leben, sich zu kleiden und zu wohnen. Es entging ihnen sicher nicht, dass es ein wesentlicher Unterschied war, ob man nur zu der ubischen Gemeinde gehörte, oder ob man vielleicht auch das römische Bürgerrecht besaß. Viele Zuwanderer besaßen dieses Recht, vor allem die aktiven Legionssoldaten, die beim kaiserlichen Legaten Dienst taten, und natürlich die Veteranen, die nach ihrer Entlassung die Stadt der Ubier als ihren Sitz gewählt hatten. Lucius Poblicius, dessen imposantes Grabmal vor den Toren Kölns errichtet worden war, könnte einer dieser frühen Veteranen gewesen sein. Die römischen Bürger, die cives Romani, genossen den besonderen Schutz des römischen Rechts, d. h. auch durch den Statthalter. Sie konnten das römische Bürgerkleid bei besonderen Anlässen benutzen und grenzten sich dadurch sichtbar von denen ab, die nicht zu den Bürgern Roms gehörten. Sie gehörten zu den Herren des Reiches, alle anderen waren Untertanen, so wie auch die Ubier und ihre gesamte Gemeinde von Remagen bis nach Krefeld. Die Ubier konnten sich zwar nach innen selbst verwalten, unterstanden aber im Rahmen ihres Bündnisvertrags den römischen Autoritäten. Sie gehörten nicht zum herrschenden Volk der Römer. Köln war für römische Vorstellungen eine peregrine Gemeinde, eine Gemeinde von Fremden. Und sie wäre es wohl für immer oder doch zumindest für lange Zeit geblieben wie zum Beispiel Mainz, der Hauptort des obergermanischen Gebiets, das nicht einmal eine Selbstverwaltungseinheit eigenen Rechts war und es wohl auch in römischer Zeit nie wurde.

***

Doch für die peregrine Gemeinde der Ubier ereignete sich recht plötzlich etwas sehr Unerwartetes. In Rom war eine Frau, die in der Stadt der Ubier geboren war, die Gattin von Kaiser Claudius geworden, Agrippina. Sie nahm Einfluss auf die Stadt am Rhein und ihr verdankt sie auch den Namen, den die Stadt bis heute trägt: Köln. Doch zunächst zur Vorgeschichte, auch des Namenserwerbs.

Der äußere Anlass für Agrippinas spätere Intervention in der Stadt am Rhein war recht unbedeutend: Agrippina war dort geboren. Seinen Geburtsort kann bekanntlich niemand bestimmen; er bestimmt sich schlicht nach dem zufälligen Aufenthaltsort der Mutter. Die Mutter Agrippinas trug denselben Name wie ihre Tochter. Man unterscheidet sie beide durch den Zusatz Agrippina die Ältere und die Jüngere. Agrippina d. Ä. war eine Tochter von Marcus Agrippa, des Mannes, der die Ubier auf die linke Rheinseite geholt hatte, und von Iulia, Augustus’ einziger Tochter. Agrippina d. Ä. war damit Enkelin des ersten römischen Princeps und gehörte auf diese Weise zum engsten Familienkreis des Herrschers. Wegen der Bedeutung der Blutsverwandtschaft für Augustus war es klar, dass seine Enkelin als Trägerin seines Blutes eine bedeutende Rolle spielen würde. Augustus verheiratete sie deshalb auch mit einem weiteren Verwandten, mit Germanicus, dem Sohn des älteren Drusus. Dieser war zwar nicht mit Augustus direkt verwandt, sondern Sohn von Livia, Augustus’ Gemahlin, die Drusus zusammen mit ihrem älteren Sohn Tiberius im Jahr 38 v. Chr. in die Ehe mit Augustus gebracht hatte. Der Princeps schätzte seinen Stiefsohn Drusus jedoch sehr wegen seines umgänglichen Wesens. Er hatte ihn deshalb mit einer Halbnichte aus der Ehe seiner Schwester Octavia verheiratet, einer Antonia. Aus der Ehe von Drusus und Antonia waren viele Kinder hervorgegangen, von denen zwei in unserem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielten: Germanicus und dessen Bruder Claudius; Germanicus war der Ehemann der älteren Agrippina, worauf noch zurückzukommen ist.

Drusus, der Vater von Germanicus und Claudius, hatte in Augustus’ Auftrag die Eroberung des rechtsrheinischen Germanien begonnen und auch erfolgreich fortgeführt; doch dann starb er noch recht jung beim Rückmarsch von der Elbe im Jahr 9 v. Chr. Drusus’ Bruder Tiberius vollendete dessen Eroberungswerk in Germanien in wenigen Jahren. 7 v. Chr. durfte er über das rechtsrheinische Germanien einen Triumph feiern. Dieser Erfolg wurde durch die Vernichtung der Legionen des Varus im Jahr 9 n. Chr. zwar in Frage gestellt. Doch Augustus dachte gar nicht daran, Germanien wegen der Niederlage aufzugeben. Er betrieb die Rückeroberung, die er vom Jahr 11 n. Chr. an dem Sohn des Drusus, eben Germanicus, anvertraute. Seit dieser Zeit versuchte dieser mit wechselndem Erfolg, die rechtsrheinischen Stämme wieder zur Räson zu bringen, bis ihn im Jahr 17 n. Chr. – inzwischen war Augustus im Jahr 14 gestorben – Tiberius, Augustus’ Nachfolger und gleichzeitig Adoptivvater des Germanicus, aus Germanien zurückrief. In all den Jahren von 11 bis 17 n. Chr. hielt sich Germanicus an der Rheinfront auf, vor allem in Köln. Doch er war dort nicht allein, sondern wurde immer von seiner Frau, der älteren Agrippina, begleitet. Und da die Ehe zwischen beiden tatsächlich beispielhaft gewesen zu sein scheint und Agrippina sehr fruchtbar war, gebar sie an der Rheinfront oder doch zumindest im angrenzenden Gallien mehrere Kinder, vielleicht einen Sohn, den späteren Kaiser Caligula (37–41 n. Chr.) und eben auch die älteste Tochter, Agrippina d. J. Sie erblickte am 6. November wohl des Jahres 15 in Germanien das Licht der Welt, in der Stadt der Ubier, wie der römische Historiker Tacitus berichtet. Allein die Tatsache, dass die schwangere Agrippina während des Winters in Köln blieb, zeigt im Übrigen, wie weit sich die Siedlung seit dem Beginn der ersten Arbeiten für die neue Stadt etwa im Jahr 7 v. Chr., also seit kaum zwanzig Jahren, schon entwickelt hatte. Eine Frau, für die alle Annehmlichkeiten eines luxuriösen Lebens in Rom selbstverständlich waren, hätte den kalten Winter nicht in einer primitiven ubischen Siedlung verbracht, zumal sie schwanger war. Die Stadt bot inzwischen den Komfort, den die Mitglieder der Herrscherfamilie gewohnt waren. So kam am 6. November des Jahres 15 die älteste Tochter von Agrippina und Germanicus in der Ubierstadt zur Welt. Die Mutter gab der Tochter ihren eigenen Namen, was als eine Anweisung auf eine politische Zukunft verstanden werden kann. Denn diese sah sich als Enkelin des Augustus durchaus berufen, an der Macht teilzuhaben. Und wenn ihr dies selbst nicht gelingen sollte, dann sollten es zumindest ihre Kinder tun, auch ihre älteste Tochter Agrippina. Sie wurde die wahre Erbin ihrer Mutter. Köln war eines der Politikfelder, auf dem sie das Vermächtnis ihrer Mutter, Teilhabe an der kaiserlichen Macht zu erlangen, in die Realität umsetzte.

Dass freilich die Stadt der Ubier für das eben geborene Mädchen einmal wichtig werden würde, das hat damals niemand vermuten können. Spätestens ein Jahr nach ihrer Geburt hatten ihre Eltern die Rheinfront schon verlassen, weil Kaiser Tiberius, Germanicus’ Onkel und Adoptivvater, den Krieg gegen die rechtsrheinischen Germanen eingestellt hatte. Angeblich wollte er das Reich nach dem Rat des Augustus nicht weiter ausdehnen, doch in Wirklichkeit hatte er kein volles politisches Vertrauen mehr in seinen »Sohn« Germanicus; denn die Truppen am Rhein hatten unmittelbar nach dem Tod des Augustus, im Herbst des Jahres 14 n. Chr., gegen ihn revoltiert und versucht, Germanicus als Herrscher über das römische Imperium durchzusetzen. Das gelang zwar nicht, weil auch Germanicus nicht mitspielte. Aber das echte Vertrauen zwischen Tiberius und Germanicus wurde nicht wiederhergestellt. Tiberius hatte zu oft in seinem Leben erfahren, wie man ihn zugunsten anderer übergangen hatte. Das Misstrauen gegenüber anderen war daher fast zu seiner zweiten Natur geworden. Das führte zur Rückberufung des Germanicus nach Rom, nicht die angeblich gescheiterte Politik gegenüber den Germanen.

Das kleine Mädchen Agrippina verließ mit ihren Eltern das germanische Volk der Ubier. Wo sie die nächsten Jahre lebte, ist uns nicht bekannt, vielleicht in Rom, vielleicht aber nahmen sie ihre Eltern auch mit nach dem Osten des Reiches, da ihr Vater dort einen neuen Auftrag erhalten hatte. Er sollte von der Provinz Syrien aus in den umliegenden Klientelstaaten die politische Ordnung im Sinne Roms wiederherstellen. Agrippina begleitete erneut ihren Mann. Dass beide nicht allein nach dem Osten gingen, ist sicher, aber ob das kleine Mädchen Agrippina sie begleitete, ist in den Quellen nicht bezeugt. Spätestens im Oktober des Jahres 19 n. Chr. wäre sie dann aber sicher nach Rom zurückgekehrt; denn ihre Vater war in Antiochia, der Hauptstadt Syriens, am 9. Oktober dieses Jahres gestorben – unter mysteriösen Umständen. Angeblich soll er von Gnaeus Calpurnius Piso, dem Statthalter Syriens und Vertrauten des Tiberius, durch Gift beseitigt worden sein. Das ist nach aller historischen Wahrscheinlichkeit auszuschließen; doch die Öffentlichkeit und vor allem die Witwe Agrippina hatten keinen Zweifel, dass Germanicus durch Mord beseitigt worden war. Diese Vorstellung vermittelte sie auch ihren Kindern, was zu einem Dauerkonflikt mit Tiberius führte. Ihre älteren Söhne verloren darüber das Leben. So erlebte das heranwachsende Mädchen sehr direkt, was es in dieser Zeit hieß, zu einer herrschenden Familie zu gehören: Fressen oder gefressen werden war das Motto, unter dem das Leben vieler Mitglieder des kaiserlichen Hauses stand. Auch die Mutter Agrippina wurde schließlich auf eine Insel verbannt, wo sie – so die Überlieferung – durch Verweigerung der Nahrung im Jahr 33 ihrem Leben ein Ende machte. Ob es nicht doch ein Mord war, ist heute nicht mehr zu eruieren.

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Wie weit das Leben der jüngeren Agrippina von all diesen Turbulenzen und Tragödien in ihrer Familie konkret betroffen wurde, bleibt im Dunkeln. Vielleicht nutzte es ihr, dass sie bereits im Jahr 28, also erst knapp dreizehn Jahre alt, mit einem Domitius Ahenobarbus verheiratet wurde. Diese Familie hatte eine lange, in die Republik zurückreichende Tradition; sie hatte auch verwandtschaftliche Beziehungen zur Familie des Augustus geknüpft. Mit der Heirat beider blieb man somit in der weiteren Familie. Agrippina war auf diese Weise jedenfalls ein wenig aus dem todbringenden Umfeld ihrer Mutter entfernt.

Ihr erster politischer Einfluss kam mit dem Tod ihres Großvaters Tiberius im Jahr 37 n. Chr. Denn ihr einziger überlebender Bruder Gaius, bekannt als Caligula, wurde Kaiser. Er hatte viele Jahre in der engsten Umgebung des Tiberius auf der Insel Capri verbracht – und dort gelernt. Er kannte die Unterwürfigkeit aller, die sich vom Herrscher etwas erhofften, wusste aber auch, dass man sich nur auf wenige voll verlassen konnte; er hatte auch gelernt, wie man Gegner direkt – durch Mord – oder indirekt – durch Anklagen vor dem Senatsgericht – beseitigte. Dass er in dieser Umgebung keine gefestigte Persönlichkeit geworden ist, sondern labil und exzentrisch wurde, ist nicht verwunderlich. Dass er sich alles erlauben konnte, war ihm zutiefst bewusst.

Für die Schwestern Caligulas schien eine goldene Zeit anzubrechen, vor allem für Agrippina, da sie bereits einen Sohn hatte, während alle anderen Mitglieder der Familie noch kinderlos waren. Caligula zeichnete alle seine Schwestern durch Übertragung der Ehrenrechte der Vestalischen Jungfrauen aus, obwohl keine von ihnen mit deren Lebensweise etwas anfangen konnte: die Vestalinnen hatten 30-jährige Keuschheit gelobt; wer dagegen verstieß, musste auf grausame Art mit dem Leben bezahlen. Agrippina indes scheint in ihrem Streben nach Teilhabe an der Macht von Anfang an auch ihre weiblichen Waffen eingesetzt zu haben. Man sagt ihr deshalb auch nach, sie habe sich mit dem Gatten ihrer Schwester, Aemilius Lepidus, eingelassen, da dieser als vielversprechender Kandidat für die Nachfolge Caligulas galt. Denn Letzterer hatte sich durch seine Exzentrik und die Missachtung aller Regeln im politischen Umgang schnell fast alle führenden Kreise zu Feinden gemacht. Gegen den eigenen Bruder ihre Pläne zu verfolgen, machte Agrippina kein Problem. Doch flog das Komplott auf; nur die Zugehörigkeit zur engsten Familie rettete ihr das Leben; sie wurde verbannt, wie schon einst ihre Mutter.

Ein erfolgreicher Mordanschlag gegen Caligula im Januar 41 n. Chr., der von einer Gruppe von Senatoren und höheren Offizieren der Prätorianergarde ins Werk gesetzt wurde, veränderte erneut Agrippinas Lage. Denn Kaiser wurde Claudius, der Bruder ihres Vaters Germanicus, also ihr Onkel. Er war wie sie selbst nicht in Rom geboren worden, sondern im gallischen Lugdunum (Lyon) im Jahr 10 v. Chr., während sein Vater Drusus am Rhein den römischen Angriffskrieg gegen die Germanen anführte. Sein Geburtsort sollte gerade in Verbindung mit Köln für Agrippina noch Bedeutung gewinnen.

Claudius war auf seine Aufgabe, die Führung eines Weltreiches zu übernehmen, nicht vorbereitet. Er war in seiner Kindheit und Jugend etwas zurückgeblieben, in der Öffentlichkeit war er kaum zu sehen gewesen. Seine Freude und Erfüllung hatte er bei Büchern gefunden und im Schreiben historischer Werke. Das wiederum hatte seinen Blick so geschärft, dass er ein Werk über die Bürgerkriege zwischen 44 und 31 v. Chr. nur in sehr abgekürzter Form publizierte, da er einsah, dass er die historische Realität angesichts der gewandelten Herrschaftsform nicht wirklich beschreiben konnte. Realitätssinn scheint ihm also keineswegs gefehlt zu haben. Dazu gehörte auch, dass er viele Aufgaben, die andere tatkräftiger und sachgerechter erledigen konnten, ihnen überließ. Allerdings scheint er dies öfter mit einem zu großen Vertrauen getan zu haben, ohne die verschiedenen Funktionsträger stets in der nötigen Weise zu kontrollieren. Dies trug ihm dann den Vorwurf ein, sich anderen auszuliefern und von ihnen abhängig zu sein. Vor allem Frauen, von denen er sich angezogen fühlte, aber auch Freigelassene, also ehemalige Sklaven, seien diejenigen gewesen, die bei ihm über den größten Einfluss verfügten. Wie weit das wirklich zutraf, ist schwer zu bestimmen, ganz unberechtigt war die Wahrnehmung von außen her sicher nicht. Es ist allerdings die Frage, ob dies zum Schaden des Reiches und seiner Untertanen geschah. Im römischen Köln hätte man dem Kaiser diesen Vorwurf sicher nicht gemacht. Es dauerte allerdings noch einige Jahr nach dem Herrschaftsbeginn, bis zwischen der Gemeinde der Ubier und dem Kaiser eine engere Beziehung entstand.

Sobald Claudius die Macht übernommen hatte, ließ er seine Nichte Agrippina aus der Verbannung, in die sie sein Neffe Caligula gesandt hatte, zurückrufen; auch ihr Vermögen wurde ihr zurückerstattet. Doch sie war inzwischen verwitwet; ihr Mann Domitius Ahenobarbus war verstorben. Für Agrippina hieß dies, dass sie im politischen Getriebe Roms wenig mitmischen konnte; dazu war immer noch ein Mann nötig. Noch im Jahr 41 schloss sie eine neue Ehe mit Passienus Crispus, einem Mitglied des Senats, der bereits Konsul gewesen war und damit zur Elite Roms gehörte. Im Jahr 44 erhielt er sogar ein zweites Konsulat, wobei die Heirat mit der Nichte des Kaisers sicherlich förderlich war. Mehr erfahren wir über diese zweite Ehe nicht. Crispus starb nach wenigen Jahren; jedenfalls war er im Jahr 49 bereits verstorben. Denn damals war sie erneut, wie der Historiker Tacitus mit gezielter Doppeldeutigkeit und Bosheit formulierte, durch die weise Voraussicht der Götter Witwe. Andere behaupteten später, sie habe Crispus rechtzeitig aus dem Weg geräumt. Der rechtzeitige Augenblick kam Ende des Jahres 48.

Claudius war bis zu dieser Zeit in dritter Ehe mit Valeria Messalina verheiratet. Deren Bild ist in der Überlieferung durch die sexuellen Abenteuer geprägt, die sie stets und überall gesucht haben soll. Wie weit diese Tradition durch Geschichten beeinflusst wurde, die später als Rechtfertigung für ihr gewaltsames Ende in Umlauf gebracht wurden, lässt sich heute nicht mehr klären. Allerdings wurde sie in so auffälliger und sensationeller Weise aus dem Weg geräumt, dass irgendetwas völlig Ungewöhnliches eingetreten sein muss. Sie soll trotz ihrer Ehe mit Claudius eine zweite Ehe mit einem weit jüngeren Senator, Gaius Silius, eingegangen sein, dem sie die Herrschaft übertragen wollte. All das ist rational wenig stimmig; das Ergebnis aber war eindeutig: Messalina wurde in ihren Gärten von einem Prätorianertribun erstochen, Claudius war damit Witwer und der Platz an der Seite des Kaisers wieder frei. Diese Chance ließ sich Agrippina nicht entgehen. Sie wollte die wichtigste Position, die eine Frau im damaligen Rom erreichen konnte: Frau des Kaisers zu sein. Wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist, muss wiederum ungeklärt bleiben. Angeblich hat jeder der drei Freigelassenen, denen Claudius viele der Regierungsgeschäfte überlassen hatte, versucht, seine eigene Kandidatin durchzusetzen. Sieger sei Pallas geworden, der eben Agrippina gefördert hat. Angeblich hatten beide ein sexuelles Verhältnis miteinander. Das kann stimmen, es kann aber ebenso spätere Erfindung sein, als mit allen Mitteln versucht wurde, das Bild Agrippinas in dunkelsten Farben zu malen. Agrippina setzte sich jedenfalls durch, was in Rom durchaus als Skandal angesehen wurde. Denn Claudius war der Onkel Agrippinas, damit war eine Ehe unmöglich, weil das Verwandtschaftsverhältnis zu eng war. Darüber äußerte man sich freilich nicht offen. Ganz im Gegenteil: Man inszenierte eine totale Zustimmung. Und da alle, die in Rom und in der Umgebung des Kaisers etwas zu sagen hatten, diese Ehe aus verschiedenartigsten Gründen wollten, fand man auch einen Weg: Man änderte die rechtlichen Regeln: Eine Ehe von Onkel und Nichte sollte in Zukunft erlaubt sein, nicht freilich zwischen Tante und Neffe; denn dafür gab es keinen aktuellen Bedarf. Der Antrag wurde im Senat enthusiastisch begrüßt und genehmigt. Die Hochzeit konnte stattfinden.