Das Spiel des Sängers - Andrea Schacht - E-Book

Das Spiel des Sängers E-Book

Andrea Schacht

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Beschreibung

Liebe, Mord und Minnesang …

Burg Langel im ausgehenden Mittelalter. Seit dem gewaltsamen Tod des Burgherrn Eberhard ist die Lehensnachfolge ungeklärt, und Ritter Ulrich muss die Burg neu vergeben. Eine erlauchte Gesellschaft findet sich ein, und jeder von ihnen erhebt Anspruch auf das Lehen. Bis man sich einig wird, soll Minnesänger Hardo Lautenschläger des Abends für Unterhaltung sorgen. Niemand ahnt, welches Geheimnis Hardo mit Burg Langel verbindet – und mit der holden, aber spitzzüngigen Engelin van Dyke, die an Hardos abendlichen Gesängen so gar keinen Gefallen zu finden scheint …

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Inhaltsverzeichnis
Das Spiel des Sängers
Präludium
Der erste Tag
Die Ankunft des Helden
Die Dame auf dem weißen Zelter
Im ritterlichen Gemach
Ihrer Herren Diener
Baden und Barbieren
Kemenatengetuschel
Die sieben Todsünden
Copyright
Das Spiel des Sängers
Der aller Minne Liebeskraft, der hochgelobten edlen Minne Meisterschaft, der Liebensfreude gebend Minne, der süßen Minne bergend Frucht, die den hehren Geist mit ihrer Gotteszucht all umschoss, der Meisterin Minne, der will ich singen mein Lied …1
Präludium
Man nennt mich Hardo Lautenschläger.
Ich bin ein Minnesänger - wenn es mir nützlich erscheint. Denn ich habe auf meinen Fahrten unzählige Lieder gelernt und mannigfaltige Geschichten gehört. Schöne und schreckliche, ergreifende und erschütternde, grausige und liebliche, vor allem aber wahre und unwahre.
Und weil ich sie zu erzählen weiß, empfängt man mich gewöhnlich mit Freude, um meinem Vortrag zu lauschen.
Doch es gibt auch immer wieder Menschen, die einen Sänger wie mich mit Verachtung strafen. Sie verhöhnen mich als Gaukler und Weiberheld oder tadeln mich, mein Gefieder eitel zu spreizen. Manchen ist meine Stimme nicht gefällig genug, und anderen behagt mein Lautenspiel nicht.
Nichts von alldem stört mich jedoch.
Auch sind einigen meine Verse zu schlüpfrig, anderen sind sie zu rührselig; diese wollen Sauf- und Rauflieder, jene die der frommen Minne. Die einen verlangen Liebesgeschichten, die anderen blutrünstige Abenteuer; diese wünschen, von mysteriösen Ereignissen zu hören, jene erwarten christliche Erbauung.
Sie bekommen, was sie verlangen, und dass ich es nicht immer jedem damit recht machen kann, weiß ich auch, und auch das stört mich nicht.
Denn trotz aller Krittelei - wenn ich zu erzählen beginne, wenn die Saiten erklingen, dann habe ich sie noch immer alle in meinen Bann gezogen.
Ich singe die Lieder der hohen und der niederen Minne, die die ruhmreichen Trouvères der Vergangenheit zum Lob der hehren Damen und lieblichen Maiden gedichtet haben, und dennoch hat man mir sogar schon vorgeworfen, ich würde die Frauen verachten und sie mit meinen Worten schmähen.
Das stört mich allerdings sehr. Denn es entspricht nicht der Wahrheit.
Ich liebe die Frauen, ich achte und verehre sie (auch wenn ich sie manchmal nicht verstehe, aber das erhöht nur ihren Reiz).
Nicht alle natürlich, denn die berechnenden, die dummdreisten und die lasterhaften unter ihnen meide ich gern - wie ich es auch bei den Männern gleichen Charakters tue. Nichtsdestotrotz hat Gott auch sie geschaffen, und wer bin ich, dass ich seine Werke bemängeln sollte!
Ich liebe die Frauen, doch nicht alle auf die gleiche Art. Denn die Minne hat viele Seiten.
Ich habe die lachende und die weinende Minne kennengelernt, die zärtliche und die wilde, die sehnsüchtige und die erfüllte. Ich habe tröstliche Liebe geschenkt, sanft und inniglich, und heiteres Necken unter den Linden gespielt.
Manche Frauen, ja, die liebe ich heißblütig und leidenschaftlich, andere hoffnungslos und verlangend, einige in stiller Traulichkeit und andere mit munterer Kameradschaft.
Aber nur einer, nur einer Einzigen gilt meine wahre Liebe.
Doch sie weiß es nicht.
Aber ihretwegen singe ich dies minniglich Lied.
Der erste Tag
O Fortuna rasch wie Luna wechselhaft und wandelbar, ewig steigend und sich neigend: Fluch der Unrast immerdar! Eitle Spiele, keine Ziele, also trügst den klaren Sinn; Not, Entbehren, Macht und Ehren schwinden wie der Schnee dahin.2

Die Ankunft des Helden

Den morgendlichen Dunst über dem Rhein durchdrang die Sonne, und ihr Licht spielte neckisch auf den kleinen Wellen der Strömung. Wir warteten auf die Fähre nach Langel, die sich an ihrer langen Kette gemächlich über den Fluss schwang.
»Ziemlich mickrig, die Burg da drüben!«, murrte Ismael neben mir.
»Wird sich zeigen. Du bist anspruchsvoll geworden, mein Junge.«
Er grinste, und drei Wäschermädchen blieben stehen, um ihn mit bewundernden Blicken anzustarren.
Ismaels Gesicht war das eines gefallenen Engels, der sich beim Aufprall auf dem irdischen Boden einen Schneidezahn angeschlagen hatte.
Dieser kleine Makel verlieh ihm einen besonderen Zauber. Seine Wangen, fast bartlos noch, waren tief gebräunt, seine Augen dunkel, sein Haar glänzte schwarz und fiel ihm glatt auf die Schultern. Die würden vielleicht mit den Jahren noch etwas breiter werden, denn er hatte eben siebzehn Lenze gesehen. Abwechslungsreiche Lenze, die ihn klüger als manchen Älteren hatten werden lassen.
Er war so etwas wie mein Diener, Begleiter, Schutzbefohlener oder vielleicht auch mein dunkler Engel. Jetzt hielt er unsere Pferde im Zaum und warf den Wäscherinnen freche Scherzworte zu.
Neben uns versammelten sich weitere Gestalten, die zum anderen Ufer übersetzen wollten. Die Fähre war groß genug, um auch Wagen und Tiere aufzunehmen, und das Entladen brauchte seine Zeit. Ein magerer Kerl mit stechenden Augen drängte sich an unseren Rössern vorbei, eine Krämerin zeterte, weil er ihre Kiepe angerempelt hatte, ein behäbiger Handwerker wich ihm aus und trat einem Bierkutscher auf den Fuß. Dessen Kommentar war lehrreich für uns alle.
Endlich konnten auch wir unsere Pferde auf die hölzernen Bohlen der Fähre führen. Ismael entrichtete den Lohn aus seinem Beutel, und das Gefährt machte sich, von der Strömung getrieben, auf seinen beschaulichen Weg zum linken Rheinufer auf.
Unsere Tiere waren ausgezeichnet ausgebildet, sie zeigten keine Aufregung, selbst als der magere Mann sich ihnen näherte.
Ich blieb ebenso gelassen, doch als ich seine Hand an meinem Gürtel bemerkte - eine windhauchzarte Berührung nur -, erlaubte ich mir, sie zu fassen, ihm das Gelenk umzudrehen und ihn auf die Knie zu zwingen.
Er stöhnte gepeinigt auf. Gut so; ich wusste, was wehtat. Freundlich lächelte ich ihn an.
»Ein Beutelschneider!«
»Aber nein, Herr«, winselte der Magere. »Es war nur das Schwanken der Fähre.«
Doch die Aufmerksamkeit der anderen Passagiere war geweckt, und ein jeder tastete nach seiner Barschaft. Die Krämerin, der Handwerker und der Bierkutscher hatten daraufhin nichts dagegen, dass ich den Kerl in den Fluss warf.
Der Fährmann zuckte mit den Schultern, als ein Pfaffe zu protestieren begann.
»Er wird in der nächsten Biegung ans Ufer gespült, wenn er nicht so dumm ist unterzugehen«, beschied der Flussmann ihn.
»Und beschwerendes Gut trägt er ja auch nicht mehr bei sich«, erklärte Ismael und händigte den drei Bestohlenen ihre Beutel aus.
So viel zu Taschendieben.
Die Burg Langel ragte in der Stromschleife über dem Auenwald auf. Nicht eine Anhöhe schützte sie vor Eindringlingen, sondern ein Wassergraben, der sich rund um die trutzigen Ringmauern zog. Wir ritten in gemütlichem Schritt auf sie zu, und in stillem Einvernehmen schlugen wir nicht den direkten Weg zur Torburg ein, sondern umrundeten die Anlage zunächst einmal. Es war eine Erfahrung aus vielen Jahren, dass es immer gut war, sich mit dem Gelände vertraut zu machen, auf dem man die nächste Zeit verbringen würde.
Gen Süden schlossen sich an die langgestreckte Mauer mit dem Wehrgang die Felder an, deren saftig grüne Halme im leichten Wind wie Wellen wogten. Hier ragte auf der Landseite der Palas auf, ein viereckiger Wohnturm, doch zinnenbewehrt. Wenige Schritt weiter hatten wir den östlichen Wehrturm umrundet und trafen auf das Dörfchen, das sich im Schutz der Burg angesiedelt hatte. Kein großes Dorf, nur eine lockere Ansammlung von Häusern um eine Kirche, von deren Turm das blecherne Scheppern einer gesprungenen Glocke erklang.
»Da scheint jemand was zu verkünden zu haben«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf die Gruppe von Weibern, Kindern und in staubigen Kitteln steckenden Landarbeitern.
»Euer Kommen, Meister?«
»Kaum, Junge. Eher das Kommen eines großen Unheils.«
»Meinte ich doch.«
»Bengel!«
Wir blieben in gebührendem Abstand stehen, um der laut tragenden Stimme des Predigers zuzuhören, der das Publikum in seinen Bann geschlagen hatte. Da er seine feurige Rede vor der Kirche hielt, nahm ich an, dass es sich nicht um den örtlichen Pfarrer handelte, sondern um einen der zahllosen Wanderprediger, die derzeit das kosmische Geschehen zum Anlass nahmen, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, um sie dann für ihre Erlösung zahlen zu lassen.
Und richtig: Auch hier war der fallende Stern, der seit zehn Tagen am nächtlichen Himmel seinen immer länger werdenden Schweif zeigte, Gegenstand der Mahnungen. Wortreich beschwor der Mann das Ende der Welt, die Vernichtung der Sünder, das Kommen von Seuchen und Überschwemmungen, Hunger, Elend und plötzlichen Tod. Es verfehlte nicht seine Wirkung, das gutgläubige Volk seufzte und schauderte, heulte und klapperte mit den Zähnen.
Und mit den Münzen.
Ein billiges Spiel, und so gefahrlos. Denn der Stern würde nicht fallen, sondern seine Bahn über das Firmament ziehen, so wie die Gelehrten es vorhersagten. Aber das war für die einfältigen Bauern nicht einsichtig, sie glaubten lieber an die hereinbrechenden Katastrophen. Das war bei Weitem unterhaltsamer, vor allem, wenn man sich ausmalen konnte, wie es den sündigen Nachbarn traf.
»Reiten wir weiter, Ismael, sonst betrachten sie dich noch als den Boten der Hölle.«
»Mich, Meister?«
»Du hast ein diabolisches Grinsen.«
»Und Ihr seht aus wie die Sünde, Meister, und die Weiber erkennen in Euch den höllischen Versucher.«
»Ich sehe nicht aus wie die Sünde, ich bin eine Augenweide«, stellte ich richtig und trieb mein Ross an. Manchmal war es angebrachter, den lüsternen Augen die Weide zu entziehen, vor allem, wenn fanatische Priester in der Gegend waren.
Wir erreichten unbehelligt den nördlichen Wachturm, hinter dem hoch der runde Bergfried aufragte. Entlang der Wehrmauer schloss sich hier ein kleiner Lindenhain an; ein liebliches Wäldchen, in dem es honigsüß aus den kleinen weißen Blüten duftete und das von Bienen summte.
Ich lenkte mein Pferd ein wenig näher an den Wassergraben. Mochten die Mannen auf dem Wehrgang uns ruhig sehen, wir waren geladene Gäste, die in Kürze am Tor Einlass erhalten würden. Immerhin gab es Wachen, die einen Blick über das Land hielten. Ich sah ihre Helme im Sonnenlicht blinken.
»Hübsch hier, wenn man ein Plätzchen zum Tändeln sucht«, meinte Ismael kenntnisreich und ließ seinen Blick über das weiche Grün am Boden schweifen.
»Mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Die Burgfräulein haben den Ruf, sehr sittsam zu sein.«
Der Blick, den ich mit dieser Bemerkung erntete, sprach Bände. Der Junge war eindeutig bis ins Mark verdorben. Und um sein Seelenheil besorgt hielt ich mein Ross an und stieg ab. Am Rande des Wassergrabens hatte ich ein Heiligenhäuschen erspäht.
»Ihr wollt beten, Meister?«
»Für deine Errettung, Junge.«
»Da ist nichts mehr zu retten, Meister, bemüht Euch nicht. Aber vielleicht hilft’s Euch ja noch.«
»Weiß man’s? Schaden kann es nie. Sieh, es ist die Madonna im Ährenkleid, die hier ihre schützende Hand über das liebliche Fleckchen hält. Und wie es den hohen Frauen gebührt, wollen wir ihr ein Blütenopfer bringen. Runter vom Pferd, Junge. Frommer Minnedienst ist gefordert.«
Man musste dem Schlingel zugute halten, dass er manche Dinge nicht nur willig, sondern auch gerne und äußerst geschickt erledigte. Maiblumen und Veilchen schmückten bald den Kranz, den ich aus wildem Efeu geflochten hatte. Noch weitaus geschickter aber erwies Ismael sich darin, das starke Gitter vor dem Standbild in dem kleinen Häuschen zu öffnen. Der Riegel und die Scharniere waren verrostet, doch Ismael war für solche Probleme wie immer gerüstet. Mit einem Krüglein Öl und seinem langen Messer hatte er die alte Gittertür bald bezwungen.
»Scheint kaum noch jemand zu interessieren, die Ährenmadonna.«
»Sieht so aus. Schade, denn es ist eine hübsche Statue.«
Ich räumte ein altes Vogelnest zu Mariens Füßen weg, kehrte die trockenen Lindenblätter von ihrem Sockel und Spinnweben von ihrem Haupt. Von ihrer Krone war die Vergoldung fast ganz abgeblättert, das Blau ihres faltenreichen Gewandes verblichen, die Ähren darauf kaum noch zu erkennen. Doch der eiserne Sockel, auf dem sie stand, war unversehrt, und ihr Antlitz strahlte ruhige Güte aus. Demütig hielt sie den Blick gesenkt, ein liebliches Bild vollendeter Weiblichkeit, wie Männer es sich immer ersehnen. Manche. Nicht alle.
»Die Jungfrau mag für Eure Seele bitten, aber ehrlich, Meister, ein keckes Mädchen bereitet mehr Spaß«, lautete Ismaels blasphemischer Kommentar.
Ich antwortete nicht darauf - man soll jungen Leuten schließlich ein Vorbild sein - und legte den Kranz vor Maria nieder. Dann kniete ich mich auf das rechte Bein und legte die Hände zum stummen Gebet zusammen.
Ismael hielt sich hinter mir. Ich spürte seine wachsame Gegenwart und war es zufrieden. Schließlich erhob ich mich und schloss das Gitter wieder. Dazu, dass ich den Riegel nicht zuschob, sagte Ismael nichts. Der Junge hatte tatsächlich ein Talent, keine überflüssigen Fragen zu stellen.
Wir saßen auf und wandten uns durch den duftenden Hain in Richtung des westlichen Wachturms und der Vorburg, an deren Pforte wir klopfen würden.

Die Dame auf dem weißen Zelter

Engelin van Dyke ritt einen weißen Zelter, ein Geschenk ihres Vaters, das sie mit einem kleinen, gut verborgenen spöttischen Lächeln angenommen hatte. Adlige Frauen, Burgherrinnen, Hofdamen, Prinzessinnen mochten auf solch edlen Tieren reisen, nicht die Tochter eines Spezereienhändlers, oder, wie man die Handelsherren wie ihren Vater auch manchmal abschätzig nannte, eines Pfeffersacks.
Mit Pfeffer und anderen kostbaren Gewürzen konnte man ein Vermögen machen, und das hatte ihr Vater auch getan. Er ritt vor ihr, Puckl, sein Secretarius und Neffe, an ihrer Seite. Sie betrachtete Hinrich van Dykes breiten Rücken. Ein verlässlicher, treuer Rücken eines guten Vaters.
Warum konnte er nur nicht zufrieden sein mit dem, was er erreicht hatte? Seine beiden Söhne waren gesund und klug und arbeiteten an seiner Seite, ihre jüngere Schwester hatte einen Pelzhändler geheiratet und ihm bereits zwei Enkelkinder geschenkt, ihre Mutter war eine umsichtige Hausfrau, die auch genügend Geschäftssinn besaß, um ihm bei der Buchführung zu helfen. Er war Mitglied der angesehenen Gaffel Himmelreich und schon einmal in den Rat der Stadt gewählt worden.
Doch war es ihm nicht genug.
Er wollte unbedingt eine Verbindung zum Adel.
Um sein Ziel zu erreichen, hatte er sogar dem Erzbischof große Summen geliehen.
Und das, obwohl - oder wahrscheinlich eher, weil - er ein sehr geschäftsmäßiges Verhältnis zur Kirche hatte. Er glaubte auf seine Weise, und die bedeutete, dass man die Gunst der himmlischen Mächte erkaufen konnte - mit Ablasszahlungen, Kerzenopfern und Almosen. Andererseits war er aber nie besonders erstaunt darüber, wenn sie ihren Verpflichtungen nicht nachkamen.
Bei den irdischen Vertretern dieser Mächte sah das anders aus.
Die hatten ihren Vertrag zu erfüllen.
»Schau, da liegt die Burg!«
Puckl riss Engelin aus ihrer philosophischen Betrachtung und wedelte begeistert mit der Hand.
Trutzig lag die Wehrmauer vor ihnen. Sie hatten den Rhein schon in Köln überquert und waren den Windungen des Stromes nach Süden gefolgt. Nun bewegten sie sich auf die wuchtige Torburg zu.
»Mann, ist die groß! Hoffentlich lassen sie mich auf die Wehrtürme!«
Engelin lächelte ihren Vetter an. Er war auf seine Weise ebenso von den Rittern fasziniert wie ihr Vater. Doch selbst wenn er ein Edelknabe von Geburt wäre, dachte sie traurig, sein Wunsch, ein kämpferisches Leben zu führen, würde nie in Erfüllung gehen.
Seine verwachsene Schulter war ein Hindernis, das es ihm auf immer versagte.
So wie ihrem Vater der Wunsch versagt geblieben war, dass sie einen Herrn von Adel ehelichte, nur um Hinrich van Dyke zu diesen Kreisen Zutritt zu verschaffen.
Sie hatte das schon einmal in ihrem jungen Leben sehr deutlich gemacht.
Nicht dass sie sich gegen eine Ehe gewehrt hätte. Durchaus nicht, und ihr war auch vollkommen klar, dass das so vielbesungene Gefühl der minniglichen Liebe nur etwas war, was in der schönen Dichtung vorkam. Bei einer Heirat kam es darauf an, dass die wirtschaftlichen Bedingungen stimmten; eine Frau musste versorgt sein, damit sie ihre Kinder mit Anstand großziehen konnte. Von Vorteil war es auch, wenn die Eheleute sich in Freundschaft begegneten, so wie ihre Eltern es taten.
Aber sie würde nie einen Mann heiraten, der ihr zuwider war.
Das hatte, trotz allem, ihr Vater nun verstanden.
Aber von seiner Sehnsucht ließ er nicht ab, und darum waren sie nun auf dem Weg zur Burg Langel, die ein zu vergebendes Lehen war, das dieser Tage einem neuen Herrn zugesprochen werden sollte.
In diese Angelegenheit hatte ihr Vater investiert, als er Friedrich von Saarwerden, dem ewig von Schulden geplagten Kölner Erzbischof, Kredite gewährt hatte. Der und der Herzog von Jülich und Berg waren nämlich gemeinsam Eigentümer der vor ihnen aufragenden Burg, und van Dyke hoffte, seine reichen Gaben würden das Zünglein an der Waage zu seinen Gunsten ausschlagen lassen.
Sie würde es ihm gönnen. Die Einkünfte aus einem solch großen Lehen waren nicht unbeträchtlich, und es war in den letzten Jahren immer mal wieder üblich geworden, auch reichen Kaufleuten, nicht nur ritterlichen Vasallen, derartige Ländereien zuzusprechen.
Wenngleich ihr Vater nicht viel über die Gesellschaft gesprochen hatte, die sich auf der Burg versammeln würde, so war es Engelin doch vollkommen klar, dass es auch andere Anwärter auf das Lehen gab. Er hatte ihr erlaubt, ihn zu begleiten, und das hatte sie Casta zu verdanken, der Tochter der Äbtissin von Rolandswerth, die sie vor vier Jahren in Koblenz kennengelernt hatte. Seither verband sie beide eine innige Freundschaft, und das edle Fräulein wiederzutreffen erfüllte Engelin mit heiterer Freude und Dankbarkeit ihrem Vater gegenüber.
Außerdem, das musste sie zugeben, war auch sie neugierig darauf, wie sich das Leben auf einer Burg abspielte. Von außen hatte sie schon oft diese gewaltigen Bauwerke betrachtet, die Türme mit ihren Zinnen, die mächtigen Mauern, die sie umgaben. Sie hatte von prachtvollen Rittersälen gehört, von heimeligen Kemenaten, von ummauerten, zauberhaften Gärten und natürlich auch von finsteren Kerkern.
Lange würden sie vermutlich nicht bleiben; ihr Vater wollte seine Geschäfte nicht ohne seine Aufsicht lassen. Aber sie hoffte doch, dass es, wenn der neue Burgherr ernannt worden war, eine Feier geben würde. Ein schönes Gewand lag in dem Bündel auf dem Packpferd. Ah, ein Fest mit einem Rittermahl und Gauklern, mit Spielleuten und einem Minnesänger.
Nein, besser keinen Minnesänger.
Die taugten nichts.
Nein, lieber ein Fest mit Edelknaben und Knappen und vornehmen Damen und Reigentanz und Geschichten aus fremden Ländern.
Sie wusste, dass sie träumte.
Mit einem Lächeln ritt sie über die Zugbrücke.
Die Unglücksomen, von denen der fallende Stern künden sollte, über den sie so viel hatte predigen hören, nahm sie nicht ernst.

Im ritterlichen Gemach

Die Tore waren offen, die Zugbrücke war heruntergelassen, das Fallgitter hochgezogen, und dumpf hallten die Hufschläge unserer Rösser auf den Bohlen über dem Graben, als Ismael und ich einritten. Gewappnete empfingen uns mit gekreuzten Lanzen, und Ismael übernahm es, den Herold zu spielen.
»Meister Hardo Lautenschläger wünscht den edlen Ritter Ulrich von der Arken zu sehen!«, verkündete er mit unnachahmlicher Großmäuligkeit. Aber es war wohl eher die Order des Ritters, uns einzulassen, als Ismaels hochnäsiges Auftreten, die die Wachen dazu brachten, uns in den Torzwinger der Burg zu geleiten. Stallburschen kamen gerannt, um uns die Pferde abzunehmen und zu den Stallungen zu führen. Ich nahm die Laute an mich; die Bündel mit unserem Gepäck würden wir später holen.
Um in den eigentlichen Burghof zu gelangen, mussten wir unter dem gewölbten Übergang zwischen der Kapelle und den Quartieren der Mannen gehen. Links vor uns ragte, von einem spitzen Holzdach gekrönt, der Bergfried auf, von rechts warfen der Palas und der Rittersaal mit seinen doppelten Bogenfenstern ihre Schatten in den kühlen Hof. Dazwischen lagen Wirtschaftsgebäude, und hölzerne, efeuberankte Arkaden auf Höhe des ersten Stockwerks verbanden die Gebäude miteinander. Ein Dutzend Hühner umflatterten uns aufgeregt, als wir stehenblieben, um uns umzuschauen. Die Frau am Backes vor der Küche war eben dabei, Brotlaibe in den Ofen zu schieben. Sie hielt mitten in der Bewegung inne. Einer anderen fiel der hochgehaspelte Eimer Wasser in den Brunnen zurück, und zwei Mägde starrten uns mit offenem Mund an. Ismael und ich erlebten oft diese Wirkung unseres Auftretens. Wir ertrugen sie gefasst, denn sie gehörte zu dem Eindruck, den wir der Welt vermitteln wollten.
Mit energischen Schritten kam ein hochgewachsener Recke auf uns zu. Nach dem Wappenrock in Rot und Silber zu schließen musste es der Ritter sein, der mich zu diesem Treffen eingeladen hatte. Sein Haupt hatte er unbedeckt gelassen. Dunkle, kurze Locken umgaben sein ernstes Gesicht, dessen Entstellungen zum Teil von dem sauber gestutzten Vollbart bedeckt waren. Doch die vernarbte Wunde über seinem Auge verlieh ihm einen düsteren, grüblerischen Anblick, der mich auf seltsame Weise berührte. Doch für Gefühle war derzeit kein Platz.
»Meister Hardo Lautenschläger, ich heiße Euch willkommen auf Burg Langel.«
»Wohledler Herr von der Arken!«
Ich erlaubte mir eine mäßig tiefe Verbeugung. Ismael war so aufmerksam, die seine tiefer ausfallen zu lassen. Der Junge hatte Gespür für höfische Feinheiten - so dann und wann.
»Hattet Ihr eine gute Reise, Meister Hardo?«
»Ohne Zwischenfälle, Herr Ulrich.«
Der Ritter gab sich freundlich, doch ich wollte mir noch ein genaueres Bild von ihm machen. Die Einladung, die er mir vor zwei Monaten hatte überbringen lassen, war eine Überraschung für mich gewesen, und viel hatte sein Knappe Dietrich auch nicht dazu sagen können. So sah ich jetzt mit einer gewissen Vorsicht dem Treffen entgegen.
»Folgt mir, Meister Hardo, ich will Euch und Eurem Diener Eure Unterkunft zeigen.«
Diese war nun die zweite Überraschung. Gästen wurde oft in einem der Nebengebäude oder im Bergfried eine schlichte Kammer zugewiesen, aber der Ritter, in höchst eigener Person, wandte sich dem Palas zu und erklomm die hölzerne Außenstiege zum ersten Stock. Wir folgten ihm und traten in den herrschaftlichen Wohnturm ein. Eine steinerne Wendeltreppe führte im Vorraum nach oben, zwei Türen in die beiden großen Gemächer, die der Burgherr bewohnte. Mit einem kurzen Nicken wies er auf das größere der beiden.
»Hier findet Ihr mich. Für Euch habe ich das zweite Gemach herrichten lassen.«
Der Raum war kleiner als der andere mit seinem hohen Bett, aber ebenso wohnlich eingerichtet.
»Fürstlich!«, flüsterte Ismael, als wir eintraten.
»Eine Ehre, Herr Ulrich.«
»Eine Notwendigkeit.« Er wies auf eine zweite Tür zwischen den Gobelins an den Wänden. »Wenn Ihr mich sprechen wollt, könnt Ihr durch diese Tür zu mir kommen. Doch steigt nicht in die Kemenaten über Euch, dort sind zwei edle Jungfern und eine Hofdame untergebracht, und die Äbtissin von Rolandswerth hält über sie Wacht.«
Die dritte Überraschung.
»Die Äbtissin Margarethe von Fleckenstein?«
»Ihr kennt sie?«
»Flüchtig.«
Mein Lächeln blieb schütter.
»Eine Novizin wartet ihr auf. Hildegunda meine ich sie genannt gehört zu haben. Eine Kammerjungfer dient der Hofdame.«
Das Novizchen und die Jungfer mochten Ismaels Interesse erregen, ich stellte die wichtigere Frage: »Wen habt Ihr ansonsten noch eingeladen, Herr Ulrich?«
»Ihr werdet sie bei der Abendandacht kennenlernen, Meister Hardo.«
»Ich ziehe es vor, jetzt schon ihre Namen zu wissen.«
»Kein Freund von Überraschungen, was?«
»Ebenso wenig wie Ihr, Herr Ulrich.«
Ja, es war ein Kräftemessen.
Der Ritter gab nach, und ich erfuhr, dass ein achtbarer Gelehrter der Kölner Universität und der Stiftsherr von Sankt Gereon zu Köln am Vortag eingetroffen waren.
Ich nickte, Gelehrte, Stiftsherren und eine Äbtissin. Und dann wir. Na ja. Als er mir zudem noch den Domgraf von Speyer, einen Höfling König Ruperts und seine Begleiterin, Frau Loretta, ankündigte, bemühte ich mich um völlige Ausdruckslosigkeit und sah, dass Ismael ein ähnlich unbewegtes Gesicht zeigte. Das konnte heiter werden!
»Ein Handelsherr aus Köln mit seiner Tochter erreichten die Burg kurz vor Euch, Meister Hardo.«
Heilige Apollonia von den Zahnschmerzen, was für ein Auftrieb.
»Ein erlauchter Kreis, Herr Ulrich. Und zu welchem Zweck treffen wir uns hier?«
»Um Eurer Kunst zu lauschen, Meister Lautenschläger. Singt uns Euer minniglich Lied, und erzählt uns Heldenmären, um uns zu erbauen.«
»Wie Ihr wünscht, Herr Ulrich. Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing«, sagte ich mit einer übertriebenen Verbeugung.
»Eine nützliche Einstellung, Meister Lautenschläger«, erwiderte er mit ausdrucksloser Miene. »Die Galerie der Musikanten steht Euch zur Verfügung. Ich verlasse Euch nun. Wenn Ihr etwas benötigt, schickt nach den Knechten. Euer junger Freund kann sich mit meinem Knappen Dietrich zusammentun, er kennt sich hier bereits aus.«
Mit einem höflichen Abschiedsgruß verließ der Ritter das Gemach, und ich setzte mich in den breiten Scherensessel am Fenster, um die Situation zu überdenken.
»Ich hole unser Gepäck, Meister«, erklärte sich Ismael unaufgefordert bereit. Ich nickte ihm nur kurz zu.
Was hatte sich Ulrich von der Arken nur dabei gedacht?
Er hatte sich etwas dabei gedacht, das war ganz sicher.
Ob er aber auch bedacht hatte, was die eingeladenen Personen für mich bedeuteten?
Wusste er überhaupt, dass einige von ihnen meinen Weg bereits gekreuzt hatten?
Nicht immer zu unserer gegenseitigen Freude.
Ich fragte mich, wer von ihnen mich heute noch erkennen würde.
In der Stille des herrschaftlichen Gemachs mit seinen mit Wandteppichen behängten Mauern spann ich meine Gedankenfäden und versuchte, ein Muster darin zu erkennen. Es gab natürlich eins, und so ganz langsam wurde aus der einen Silbe hier und der anderen dort ein Reim und ein Vers, schließlich sogar die erste Strophe eines ganzen Liedes.
Minniglich war es nicht.

Ihrer Herren Diener

Ismael hatte sich einen schnellen, aber gründlichen Überblick über die Burg verschafft. Das war eines seiner Talente, und er war stolz darauf. Er besaß einen guten Orientierungssinn und einen Instinkt für allerlei Annehmlichkeiten. Zunächst hatte er sich im Hof umgesehen, im Geist den Gebäuden in etwa ihre Funktion zugeordnet, war dann wieder durch den Torbogen zwischen Kapelle und Mannschaftsquartieren geschlüpft, um eine Runde durch den Zwinger zu machen. Wichtig war es immer zu wissen, wie man aus einem Gebäude, das man betreten hatte, wieder herauskam. Das war etwas, das ihm Meister Hardo nicht erst hatte erklären müssen. Und ebenso wichtig war es zu wissen, wo die Pferde standen.
Meister Hardo hatte die unerwartete Einladung angenommen, aber ihm wenig Erklärungen dazu gegeben. Ismael war ihm zwar willig nach Langel gefolgt, doch da er seinen Herrn recht gut kannte, hatte er auch dessen leichte Anspannung gespürt, die sich vertiefte, je näher sie der Burg gekommen waren. Also sah er, sein Diener und Gefolgsmann, es als seine Aufgabe an, so viel wie möglich über die Umstände des Besuchs in Erfahrung zu bringen. Insbesondere der Ritter hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Auch über ihn hatte Hardo kein Wort verloren.
Im Stall fand er ihre Pferde gut untergebracht, und nachdem er ihre beiden Satteltaschen an sich genommen hatte, wollte er versuchen, einige Auskünfte über Ulrich von der Arken einzuholen. Der Knappe des Ritters mochte ihm dazu nützlich sein, denn entweder war er bereit, allerlei über seinen Herrn auszuplaudern, oder er gab sich loyal und schwieg. Beides würde ihm einiges über den Charakter des Mannes offenbaren. Ein kleiner, schmuddeliger Stallbursche verwies ihn in den Stall nahe der Torburg, und hier fand er den jungen Mann dann auch.
Ismael stellte das Gepäck ab und lehnte sich lässig an einen Pfosten am Eingang.
»Du bist doch der edle Knabe, der dem schartigen Ritter aufwartet«, sagte er zu dem Knappen, der auf einem Schemel saß und das Lederzeug eines großen, schwarzen Schlachtrosses ölte.
Der Jüngling, flachsblond, schlank und schlicht, aber vornehm gewandet, sah ihn mit ruhigen Augen an.
»Ja, ich bin der Knappe des Herrn Ulrich von der Arken.«
»Und warum machst du dir dann die Finger an dem Zeug hier schmutzig? Das gibt doch später schmierige Flecken auf seiner blanken Rüstung.«
»Es gehört zu meinen Aufgaben, für das Pferd meines Herrn zu sorgen.«
Aha, ein Gefolgsmann der schweigsamen Art, schloss Ismael und ging zum Angriff über.
»Und wozu sind die Stallburschen da? Na, ist ja dein Vergnügen. He, weißt du, wo man hier baden kann?«
»Es mag zwar meine niedrige Aufgabe sein, für das Ross meines Herrn zu sorgen, hergelaufenen Fremden Auskünfte zu geben, gehört nicht zu meinen Pflichten.«
»Wir sind ebenso standesgemäß hergeritten, Knapperich, wie die Edelleute.«
»Ihr mögt auf edlen Pferden geritten sein …«
Der Jüngling stand auf und hängte das Zaumzeug an einen Haken an der Wand, dabei drehte er Ismael demonstrativ den Rücken zu. Weshalb er das kleine, boshafte Lächeln nicht bemerkte, das um dessen Mundwinkel zuckte. Ismael genoss es, andere herauszufordern.
»Dein Herr hat mir anempfohlen, mich deiner Hilfe zu versichern.«
»Dann versuch das mal.«
Ismael zog eine Silbermünze aus dem Beutel und warf sie gekonnt auf und ab.
»Willst du geschmiert werden?«
Kühl wurde er von oben bis unten gemustert.
»Huch, was sind wir hochnäsig.« Geschmeidig trat Ismael einen Schritt vor und streifte dabei leicht den Knappen, der unwillig zurückwich.
»Könnte ich deine Hilfe möglicherweise damit erkaufen?«
Grinsend schlenkerte er ein goldenes Kettchen am Finger, an dem ein zierliches Kreuz hing.
Ein wenig fassungslos starrte der Knappe erst darauf, dann fasste er in die Tasche am Gürtel.
»Gibt das sofort wieder her, du Langfinger!«
»Dein Beutel hängt unversehrt an dem Gurt, aber die Kette schlüpfte so gefällig in meine Finger. Du solltest sie am Hals unter dem Wams tragen, sonst wird sie dir noch geklaut.«
Mit freundlicher Miene, aber durchaus zufrieden über die Reaktion seines Gegenübers, betrachtete Ismael den Knappen. Der rang mit seiner Haltung; vermutlich wäre er gerne handgreiflich geworden. Stattdessen blieb er gefasst und nickte nur.
»Ich werde meinen Herrn bitten, dir zu befehlen, mir das Kreuz zurückzugeben. Und nun lass mich meine Arbeit hier erledigen.«
»Schade!«
»Was heißt schade?«
»Ich hätte mich gerne mit dir gerauft. Knappen werden doch im Kämpfen ausgebildet, oder nicht?«
»Wir kämpfen in der Schlacht, nicht gegen Schwächere oder niedriger Gestellte.«
Ismael lachte auf. Immerhin konnte der steife Jüngling ordentlich mit Worten fechten.
»Also, ich kämpfe auch gegen hochnäsige Edelknaben. Aber alles zu seiner Zeit. Hier, dein Kreuz. Wo ist die Badestube? Meister Hardo Lautenschläger wünscht ein Bad.«
In der ausgestreckten Hand hielt Ismael dem jungen Mann das Kettchen hin. Der sah ihn misstrauisch an, nahm es mit links an sich und nickte dann.
»Du bist Meister Hardos Kammerdiener?«
»Wie’s scheint.«
»Das hättest du gleich sagen können.«
»Dann wärst du gefälliger gewesen?«
»So hat mein Herr es mir aufgetragen.«
»Und du tust alles, was dein Herr sagt?«
»Du nicht?«
Ismael grinste.
»Manchmal mehr, manchmal weniger.«
Wieder nickte der Knappe.
»Ich heiße Dietrich von Lingenfeld, und du?«
»Nenn mich Ismael.«
»Wie du willst. Die Badestube ist hinter der Küche. Aber erwarte nicht zu viel, es gibt nur einen Bottich und eine Kohlepfanne zum Wärmen. Wenn dein Herr Seifen und Öle braucht, musst du sie selbst beschaffen.«
»Habe ich dabei. Seife aus Aleppo, das Barbiermesser aus Damaszenerstahl und duftende Öle aus Alexandria.«
Dietrich schnaubte leise.
»Ein anspruchsvoller Herr, dein Meister.«
Ismael grinste den Knappen an.
»Verwendet der deine Sand und Bimsstein zur Reinigung?«
Das erste Mal huschte ein kleines Lächeln über Dietrichs ernstes Gesicht.
»Auf den Mund gefallen bist du nicht, was?«
»Auf alle möglichen anderen Körperteile zwar schon, aber auf den nicht. Du hast meinem Herrn die Einladung des Ritters überbracht. Weißt du, warum er ihn hierhaben will?«
»Ich nehme an, um den Anwesenden aufzuspielen. Das ist doch sein Beruf.«
Ismael nickte. Der Knappe wusste in der Sache augenscheinlich auch nicht mehr. Aber über die Anwesenden konnte er ihm das eine oder andere noch verraten, und das tat er auch einigermaßen bereitwillig. Vor allem verriet er ihm, dass der weiße Zelter, der neben dem schwarzen Ross des Ritters friedlich sein Heu malmte, der Jungfer Engelin gehörte, der Tochter des Kölner Handelsherrn Hinrich van Dyke. Es kostete Ismael äußerste Mühe, seine Bemerkung dazu bei sich zu behalten.
Als er schließlich mit seiner Ausbeute an Informationen zufrieden war, nahm er das Gepäck wieder auf, und während er die Treppe zu den hölzernen Außengängen emporstieg, schloss er, dass Dietrich ein loyaler Jüngling von großer Selbstzucht war, was entweder auf einen gut ausgeprägten Überlebensinstinkt oder echte Achtung und Respekt vor dem Ritter Ulrich zeugte. Trotzdem, irgendwas war ihm an dem Knappen aufgefallen, das an ihm nagte. Irgendeine Ungereimtheit. Er schob die Frage aber erst einmal beiseite, stellte das Gepäck vor dem Eingang zum Palas ab und machte noch einen Abstecher in die Küche, um einer Magd Anweisungen zu geben, Wasser im Kessel heiß zu machen. Dann suchte er wieder das Gemach auf, das ihnen zugewiesen worden war.

Baden und Barbieren

Ismael traf mich in Grübeleien versunken an und legte die Bündel auf das Bettpolster neben meine Laute in ihrem Lederwams.
»Ihr seht aus, als ob großmächtige Gedanken Euer Hirn bewölkten.«
»Je nun, Ismael. ›Ich saß auf einem Steine …‹«
»Stimmt nicht, Meister, Ihr sitzt in einem Sessel.«
Ich nahm Denkerhaltung ein.
»›…und kreuzte meine Beine, darauf stützt’ ich den Ellenbogen und hielt in meiner Hand geborgen das Kinn und meine Wange.‹«
»Also gut, stimmt. Eine prächtige Pose. Sie steht Euch.«
»›Ich fragte mich grad bange, wie man in dieser Welt jetzt sollte leben.‹«
»Und?«
»›Keinen Rat konnt ich mir geben.‹«
»Nanu, Meister, Ihr seid doch sonst nicht so ratlos?«
»Tja, der Herr Walter wird eben reichlich überschätzt, wenn du mich fragst, Ismael. Er hatte auch nicht auf alles eine Antwort.«
»Oh, Ihr habt aus dem Buch zitiert.«
»Richtig. Du bist ein schlauer Bursche. Und der Meister von der Vogelweide war ein Auftragsschreiber, weshalb man ihn zu jedem passenden oder unpassenden Anlass zitieren kann. ›Wes’ Brot ich ess …‹ und so weiter.«
»Auch heute Abend?«
»Nein, mein Junge, da werde ich wohl die Lieder aus den bäuerlichen Gesängen bemühen. Die niedere Minne erheitert doch meist die Gemüter. Und heiter könnte es werden.«
»Dann solltet Ihr zuvor ein Bad nehmen und Euch barbieren lassen, damit Ihr auch ein heiteres Bild abgebt.«
»Ein guter Vorschlag. Du hast die Badestube gefunden?«
»Hinter der Küche, Meister, wie zu erwarten. Ich habe die Magd bereits angewiesen, das Wasser für Euch zu erhitzen.«
Ein Musterknabe, dieser Ismael!
Während das Badewasser wärmte, packte Ismael unsere Habseligkeiten aus, und ich besuchte die Burgküche. Sie lag im ersten Stock über den Hühnerställen, und man gelangte vom Palas durch einen Gang dorthin, der ebenfalls in den Rittersaal führte. Das war klug eingerichtet, denn so konnten die Speisen direkt vom Herd zu den Tafeln getragen werden. Ich wollte die Köchin um einen Happen für mich und Ismael bitten. Wenn wir für die Abendunterhaltung zu sorgen hatten, dann war es ratsam, vorher etwas zu essen, denn an den gedeckten Tischen war kein Platz für den Sänger.
In dem geräumigen Gelass mit dem riesigen Kamin sah man überall Spuren der Geschäftigkeit, doch nur ein Weib werkelte an einem mehlbestäubten Tisch. Sie sah mich an, und ihre Augen wurden groß.
»Herr …«
»Meister. Und Hardo Lautenschläger ist mein Name, Weib«, unterbrach ich ihr Gestammel. Doch nicht unfreundlich, denn Küchen waren schon immer mehr heiliger Ort für mich gewesen als jede Kapelle. Ja, sie waren der Inbegriff des weiblichen Mysteriums; ich liebte sie, und ihren Herrscherinnen brachte ich tiefe Achtung entgegen.
Hier wurde aus milder Sahne schaumige Creme, gesüßt mit Mandeln und Honig, hier schmolz goldene Butter in weißem Mehl und verband sich mit dottergelben Eiern zu zarten Soßen. Hier weihten frisch gepflückte Kräuter ihr Aroma feinstem Öl, und trockene Gewürze entfalteten ihren Wohlgeruch, wen sie in Mörsern zu Staub zerrieben wurden.
Hier schnitten lange, scharfe Messer und Beile durch die Knochen auf dem blutbefleckten Hackklotz, spitze Gabeln bohrten sich in rohes Fleisch, blutiges Gedärm ringelte sich in Tontöpfen, schmieriges Fett verklebte Federn und Hautreste - Spuren von Tod und Schlachten.
Doch auf dem Spieß drehten sich wohlgenährte Hühner, deren knuspriger Hülle würzige Düfte entströmten, hier simmerte im Kessel das Suppenfleisch, hingen im Rauch die schweren Schinken und die herzhaften Würste. Das Mus von reifen, saftigen Früchten weichte süßes, duftiges Gebäck, Nüsse in Honig gaben ihm Biss, und in kühlen Krügen lagerte schwerer Wein, dem Zimt und Paradieskörner geschmackliche Fülle verliehen.
»Ihr habt eine lange Reise hinter Euch, Meister Hardo Lautenschläger«, sagte die Köchin mit einem zaghaften Lächeln. »Stärkt Euch, denn wenn Ihr die Laute schlagen müsst, wird es lange dauern, bis Ihr Euer Abendessen bekommt.«
»Darum wollte ich Euch bitten. Richtet mir einen Happen, Köchin.«
»Euch und dem Jungen. Ich heiße Ida, Meister, und bin das Weib des Burgvogts Sigmund. Und nicht die Köchin. Doch wenn viele Gäste zu beköstigen sind, beaufsichtige ich auch die Küche.«
Ich nickte. Es war richtig, dass sie das klarstellte. Sie wies mir einen Platz an dem Tisch an, den sie mit geschwinden Bewegungen gesäubert hatte, und wandte sich dem dunklen Brotlaib zu, um ihn wie ein Kind an die Brust zu nehmen und mit einem gezahnten Messer Scheiben davon abzuschneiden. Mich lenkte jedoch eine Berührung unter dem Tisch von diesem traulichen Anblick ab, und als ich mich nach unten beugte, sah ich in die grünen Augen eines grauen Katers.
»Schubst ihn weg, wenn er Euch stört, Meister Hardo Lautenschläger. Er ist unser Mäusefänger.«
»Ein nützliches Tier und offensichtlich nicht scheu.«
»Die Küche ist sein Reich, Ihr seid nur zu Gast, Meister. Patta hält Audienz.«
Der Kater ließ sich sogar so weit herab, mein Kosen an seinem Hals zu dulden, ja er hieß es tatsächlich mit einem leisen Brummeln aus seiner Kehle gut.
Auf einem Schneidbrett reichte Ida mir Brot, Butter, ein Käsestück und Scheiben von einem Schinken mit einem dicken Speckrand. Und in dem Steingutbecher schäumte das Bier. Während des Essens entlockte ich Ida dann so nach und nach die Beschreibungen der Burginsassen und Gäste, soweit sie sie kannte.
Dann war schließlich auch das Wasser im Kessel heiß, und ich begab mich nach hinten in die Badestube. Sie war, ehrlich gesagt, keine luxuriöse Einrichtung. Immerhin war das Gelass warm durch den großen Kamin, und durch eine unverglaste Mauerluke fiel etwas Tageslicht auf einen ovalen Bottich. Er war bereits halb mit heißem Wasser gefüllt, und ein Knecht leerte zwei weitere Schaff hinein. Ich entledigte mich der Reisekleider - Ismael würde Wäscherinnen finden, die sich ihrer annahmen - und stieg ins Nass. Es fühlte sich verdammt gut an, auch wenn weder Duftöle meiner Nase schmeichelten noch sich blütenbekränzte Badermaiden in dünnen Hemden meiner Bedürfnisse annahmen.
Das tat Ismael allerdings unaufgefordert. Er wusch mir die Haare, eine Aufmerksamkeit, die ich zu schätzen wusste, denn heuer fielen sie mir lang und schwer über den Rücken und lockten sich, sodass das Entwirren eine aufwendige Angelegenheit war. Er hatte auch sein Barbierzeug dabei, und als meine Wangen durch warmes Wasser und Seife genug eingeweicht waren, machte er sich mit seinen geschickten Fingern daran, sie abzuschaben. Er war ein Künstler in diesen Dingen, und deswegen konnte ich es mir leisten, einen schmalen Kinn- und Oberlippenbart zu tragen. Es war nicht ganz schmerzlos, wenn er sich mit der Pinzette an die Feinarbeit machte, aber ein gestandener Mann wie ich überwand auch diese Tortur ohne Schmerzlaut.
»Die anderen Gäste sind im Bergfried untergebracht«, murmelte Ismael während seiner filigranen Tätigkeit. »Außerdem wohnen der Verwalter und sein Weib und der Kaplan im Haus zwischen Kapelle und Bergfried.«
»Das war zu erwarten«, sagte ich mit fast unbewegten Lippen, um seine Arbeit nicht zu behindern.
»Und ein Pächter mit seinem Weib ist ebenfalls eingetroffen.«
»Hilfsdienste, vermutlich.«
»Vermutlich. Zwanzig Mannen unter Waffen.«
»Gut zu wissen.«
»Ein niedliches Kammerjüngferchen bedient die Frau Loretta. Ich traf sie eben auf der Stiege.«
»Lass die Finger davon.«
»Mal sehen … Ach ja, und Jungfer Engelin kam auf einem weißen Zelter.«
Fast wäre ich im Bottich ertrunken. Als ich wieder auftauchte, fügte er mit ausdrucksloser Stimme hinzu: »Sie begleitet ihren Vater Hinrich van Dyke.«
Er reichte mir ein Leinentuch. Ich stieg aus dem Zuber und trocknete mich ab, während meine Gedanken Kapriolen schlugen.
Die Jungfer Engelin war mir keine Unbekannte.
Heilige Apollonia von den Zahnschmerzen, das konnte wahrlich heiter werden.
Ismael hatte auch meine Kleider zurechtgelegt, und während ich sie anlegte und das kurze Lederwams darüberzog, entkleidete er sich und stieg ebenfalls ins Wasser. Ich schob meine eigenen Gedanken zur Seite und sah zu, wie er sich mit der kostbaren Seife bediente. Mochte er seine Finger von dem Jüngferchen lassen; ich könnte die Maid verstehen, wenn sie sich die ihren nach ihm lecken würde.
Dann widmete ich mich wieder meiner Vollendung und flocht mir zwei dünne Schläfenzöpfe, damit mir die Haare nicht ins Gesicht fielen. Anschließend bürstete ich die feuchten Locken. Gewöhnlich trugen die Männer ihre Haare kurz geschoren, aber lange Haare waren ein Zeichen meines Standes und wollten sorgsam gepflegt sein. Anschließend ordnete ich den Fuchsschwanzbesatz meines Wamses. Ich hatte den Buntwörter beauftragt, ihn so anzubringen, dass er meine Schultern betonte. Meine Hüften gürtete ich mit silberbeschlagenem Leder und befestigte den Dolch in seiner Scheide daran. Man wusste ja nie.
Ihr mögt jetzt vielleicht denken, dass ich eitel sei - und damit habt Ihr recht. Doch erstens hat mir Gott ein wohlgefälliges Aussehen geschenkt, und zweitens bin ich es meinem Beruf schuldig, dieses nicht zu verstecken. Ein Minnesänger muss auch minnigliche Gefühle wecken. Selbst wenn er dabei den Zuhörern als Augenweide dient.
Immerhin verdeckt dieser äußere Glanz all das, was ich nicht zu zeigen beabsichtige. Weder Euch noch den Anwesenden auf der Burg. Ihr werdet noch zu verstehen lernen, warum.
Als ich mit meinem Aussehen zufrieden war, überließ ich Ismael seinen Planschereien. Sauber, wohl gesättigt und mit allerlei nützlichen Kenntnissen versehen, war ich bereit, mich den Burginsassen zu stellen, als das Glöckchen der Burgkapelle zur Abendandacht rief.

Kemenatengetuschel

Engelin war gleich nach ihrem Eintreffen in der Burg dem ausgesucht höflichen jungen Mann, dem Knappen des Ritters, die Außenstiege in den ersten Stock des Palas gefolgt. Er hielt ihr die Tür auf, sodass sie in den Vorraum eintreten konnte.
»Hier sind die Gemächer des Burgherrn. Es bewohnen sie jetzt mein Herr, der Ritter, und der Minnesänger«, erklärte er. »Ihr steigt bitte diese Wendeltreppe hinauf, oben findet Ihr die Kemenaten.«
»Und Fräulein Casta, hoffe ich.«
Der Knappe verneigte sich und lächelte sie an.
»Natürlich. Soweit ich verstanden habe, freut sie sich auf Euer Kommen. Ich bringe Euch Euer Gepäck gleich nach, wohledle Jungfer. Die linke Tür führt in das Gemach der Burgherrin, das von der ehrwürdigen Mutter bewohnt wird, die erste rechte Kemenate hat eine Hofdame mit ihrer Kammerjungfer bezogen, und für Euch ist das große Gemach dahinter gerichtet.«
Engelin bedankte sich und machte sich daran, die drei Windungen der engen, steinernen Treppe nach oben zu erklimmen.
Neugier, etwas Ängstlichkeit und Vorfreude belebten ihr Gemüt. Diese Burg war einschüchternd mit ihren dicken Mauern, die zahlreichen hölzernen Außentreppen und Gänge hatte sie nicht erwartet, und sie vermutete, dass sie sich bestimmt noch das eine oder andere Mal verlaufen würde. Dann aber betrat sie die Kemenate, die der Knappe ihr genannt hatte, und staunte.
Sie selbst war in einem dreistöckigen Stadthaus aufgewachsen, das mit allem erdenklichen Luxus eingerichtet war. Ihr Vater liebte es, seinen Reichtum zur Schau zu stellen. In einer von außen so nüchtern wirkenden Burg hatte sie karge, finstere und zugige Kammern erwartet, doch in das Gemach, in das sie jetzt trat, fiel das Sonnenlicht durch ein breites Doppelbogenfenster und beleuchtete die farbenprächtigen Wandteppiche mit ihren Blumenmustern. Ein geschnitzter Alkoven barg das Bett, ein mächtiger Schrank wartete auf ihre Kleider, ein Kamin würde an kalten Tagen Wärme spenden, und auf einem der beiden gepolsterten Sessel saß ihre Freundin Casta und stichelte an einem Schleiertuch herum. Sie legte es augenblicklich nieder, als sie Engelins ansichtig wurde, und sprang auf.
»Wie schön, dich wiederzusehen, Engelin.«
Sie umarmten einander und betrachteten sich dann gegenseitig ausgiebig.
»Vier Jahre fast.«
»Ja, fast vier Jahre. Wir haben viel zu erzählen.«
»Ja, aber erst einmal muss ich mich hier ein wenig zurechtfinden.«
»Das ist nicht schwer. Sieh hier, unsere Kemenate schaut zum Garten hinaus«, sagte Casta und öffnete den einen Fensterflügel. »Davor liegen die Weingärten, und dahinter erkennst du den Auenwald. Aber ich glaube, du bist aus der anderen Richtung hergekommen?«
»Ja, von Köln. Wir haben die Fähre bei Sürth genommen. Eine kurze Reise nur, nach der Sext sind wir aufgebrochen. Du hast sicher viel länger gebraucht.«
»Wir sind mit dem Schiff heute Mittag eingetroffen. Es war eine angenehme Reise von Koblenz. Nur zwei Tage. Ich hätte dich schon viel eher besuchen sollen, Engelin.«
»Hättest du, hätte ich dich auch. Haben wir aber nicht.«
Engelin schaute über das Land und gab einen kleinen, sehnsüchtigen Seufzer von sich.
»Ja, reisen …« Dann aber wandte sie sich resolut ab und strahlte ihre Freundin an. »Immerhin, jetzt sind wir gemeinsam hier. Ich werde meinen Vater bitten, dass du uns, wenn diese Lehensvergabe geregelt ist, für ein paar Wochen besuchen darfst.«
Casta nickte, aber sie sah ein klein wenig betreten aus. Engelin kam jedoch nicht dazu, sie nach dem Grund zu fragen, denn eine junge Maid stand in der Tür. Sie war schlank; dennoch zeigte ihr sehr eng geschnürter Surkot wohlgeformte Rundungen. In munterem Ton grüßte sie und verkündete: »Wohledle Fräuleins, der Knappe Dietrich bat mich, euch diesen Packen zu bringen. Ich bin Ännchen und diene der Frau Loretta.«
»Frau Loretta?«
»Eine Dame vom Hof des Königs Rupert, wohledles Fräulein. Sie begleitet den Hofherrn Lucas van Roide.«
»Ich bin kein Fräulein, Ännchen, der Titel gebührt nur Fräulein Casta. Aber danke, dass du mir die Kleider gebracht hast.«
Engelin mahnte sich zur Besonnenheit. Eine edle Gesellschaft hatte sich offensichtlich in der Burg zusammengefunden. Doch wenn sie auch nur eine Krämertochter war, so würde sie sich schon angemessen zu benehmen wissen. Haltung zu bewahren gehörte auf jeden Fall dazu.
»Ich helfe euch gerne beim Anlegen der Kleider und all solchen Sachen«, bot die Kammerjungfer an und lächelte dabei. Dieses Lächeln war käuflich - manchmal war es nützlich, eine Krämerstochter zu sein. Man erkannte recht schnell, wann die Sprache der klingenden Münze ertönen sollte.
Ein Silberpfennig sicherte ihnen die Aufwartung der kecken Maid, die sich sofort daranmachte, das Gewand auszuschütteln und allerlei nützliche Utensilien in dem Schrank zu verteilen. Dabei schwatzte sie fröhlich über den Ablauf des restlichen Tages.
»Wenn gleich die Glocke der Kapelle erklingt, versammeln wir uns zur Abendandacht. Die hält der Hofkaplan. Danach wird es ein Festmahl im Rittersaal geben. Ach, werte Jungfer und Fräulein, dann wird uns ein Minnesänger unterhalten. Das ist ein Mann! Der und sein junger Diener!« Das flinke rosa Zünglein huschte über Ännchens Lippen, als hätte sie süße Sahne abzuschlecken. »Der Junge ist braun wie ein Honigkuchen und sieht genauso köstlich aus. Und der Sänger selbst ist auch nicht zu verachten, groß, mit breiten Schultern und mit langen schwarzen Locken. Aber kein bisschen weibisch, wenn ihr versteht, was ich meine.«
»Dann werden wir nach der Andacht unsere Festgewänder anlegen«, sagte Casta erfreut.
»Das solltet ihr auf jeden Fall tun. Soll ich euch Blumen für die Chapels bringen?«
»Wenn du welche findest.«
»Im Garten habe ich die ersten Rosenknospen gesehen. Ich schaue danach!«
Hurtig klapperte Ännchen die Stufen der Wendeltreppe hinunter.
»Was für ein gefälliger Irrwisch«, meinte Casta, als sie fort war. »Holla, was ist los, Engelin? Hat sie etwas gesagt, was dich beleidigt hat?«
Engelin hatte die Augenbrauen zusammengezogen, glättete die Stirn aber sofort wieder. Nein, sie wollte sich die Laune nicht verderben lassen.
»Hat sie nicht. Es ist nur, dass ich Minnesang nicht so schön finde. All diese schwülstigen Verse von schmerzlicher Sehnsucht und opfervoller Hingabe und steter Treue …«
»Ich höre sie gerne, Engelin.«
Das klang so traurig, dass Engelin sofort mit ihrer Tirade aufhörte und ihre Freundin umarmte.
»Du liebst deinen Ritter noch immer mit schmerzlicher Sehnsucht und steter Treue, nicht wahr?«, sagte sie dabei.
»Ja. Und vielleicht …«
Energisch richtete sich Engelin auf.
»Er ist hier. Das ›Vielleicht‹ müssen wir in ein ›Bestimmt‹ wandeln. Wir werden nachher darüber nachdenken. Jetzt legen wir erst einmal die Schleier an, damit wir zur Andacht gehen können.«
Es war auch an der Zeit, denn das Glöckchen der Kapelle rief sie mit seinem Klang zu den Gebeten.

Die sieben Todsünden

Die Kapelle war ein kleines Gebäude, eben groß genug, um die Bewohner der Burg und eine Anzahl Gäste aufzunehmen. Sie befand sich auf der Westseite des Innenhofs, links von ihr ruhten auf dem ummauerten Lichhof die Herren der Burg und ihre Familien, rechts schloss sich ein zweistöckiges Haus an, das der Verwalter und seine Familie sowie der Kaplan bewohnten. Ein schmales, hohes Fenster, durch dessen Grisettegläser mit dem feinen Rankenmuster die Abendsonne fiel, erhellte den weiß gekalkten Innenraum. Zwei bunt bemalte Heilige, ein Weib und ein Bärtiger, wachten in gegenüberliegenden Nischen über die Gläubigen, Blumen in blauen Krügen dufteten zu ihren Füßen. Unter dem Fenster stand der Altar, ein edler Marmortisch, auf dem eine kunstfertig gestickte Altardecke lag. In hohen Leuchtern rechts und links von dem hölzernen Kreuz verströmten goldgelbe Wachskerzen nicht nur Licht, sondern auch sanften Honigduft.
Es hatten sich bereits alle versammelt, als die Äbtissin hereinrauschte wie eine Kogge unter vollen Segeln und sich wie selbstverständlich vorne in der ersten Reihe aufbaute. Das Novizchen dümpelte wie ein leichtes Beiboot in ihrem Kielwasser auf den Wellen hinter ihr her und blieb in gebührendem Abstand von ihr stehen. Ein gekonnter Auftritt; ich musste ihn würdigen.
Magister Johannes, der Burgkaplan, erfüllte seine Pflicht mit Inbrunst. Wie nicht anders zu erwarten, nahm auch er den Schweifstern zum Anlass, darüber zu predigen. Mit salbungsvoller Stimme rezitierte er Jesajas Klage über den Morgenstern, der vom Himmel stürzte und niederfuhr zum Totenreich, hinab in die tiefste Grube. Luzifers Schicksal sollte uns Mahnung sein, uns von den Sünden abzukehren. Außerdem beschwor er die Zuchtrute Gottes, die Jeremias in derartigen Himmelszeichen ankündigte, um uns die Folgen unserer bösen Taten vor Augen zu führen.
Den Wechselgesang der Litaneien jedoch stimmte er nicht sonderlich musikalisch an. Wettgemacht wurde diese Schwäche aber durch den volltönenden Gesang, der bei den Responsorien aus der Kehle der ehrwürdigen Mutter Äbtissin erklang. Dagegen verblassten die Antworten der anderen Gläubigen vollkommen. Ismael warf mir einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte den Kopf. Meine Stimme wollte ich hier nicht ertönen lassen - die Äbtissin durfte ihren Auftritt ganz alleine genießen.
Ich hatte mich schräg hinten in der Kapelle aufgestellt, um kein Aufsehen zu erregen, denn ich wollte mir die Gesellschaft erst einmal in Ruhe ansehen. Während der Kaplan die sieben Todsünden heraufbeschwor, unterdrückte ich meine Belustigung. Ja, Hochmut war anwesend, die edle Frau Äbtissin verbreitete ihn wie eine Gloriole um sich. Den Geiz - der mochte bei den Kaufleuten zu finden sein, doch Hinrich van Dyke geizte zumindest nicht mit prunkvoller Kleidung für sich und seine Tochter. Eher mochte diese Sünde den Pächter plagen: Sein stoppeliges Gesicht trug eine Miene rücksichtsloser Habgier. Neid aber lag in den Augen des Höflings, der unseren Gastgeber, den Ritter Ulrich, verstohlen musterte. Und Zorn gärte unter dem Wams des Burgvogts Sigmund, dessen gerötete Wangen ein cholerisches Temperament verhießen. Faulheit unterstellte ich gerne den Dom- und Stiftsherren, deren reiche Pfründe ihnen oft genug Anlass gaben, sich den Lustbarkeiten der Welt zu widmen, aber vorverurteilen wollte ich hier niemanden. Welches Laster außer der Gelehrsamkeit der ehrwürdige Gelehrte haben mochte, der sich schwer auf seinen Gehstock stützte, wagte ich nicht einzuschätzen. Er zeigte ein ausdrucksloses Gesicht und schien gänzlich in seine eigenen gelehrten Betrachtungen versunken zu sein. Völlerei und Wollust aber dünkten mich die Sünden des wohlbeleibten Kaplans zu sein, der uns mit wollüstiger Leidenschaft vor den Folgen unrechten Tuns warnte.
Ismael an meiner Seite begutachtete ebenfalls die fromme Versammlung, aber wie ich ihn kannte, waren es die Reize der Jungfern und Frauen, die er studierte. Es befanden sich ein paar hübsche Weibsleute darunter. Die hochmütige Äbtissin war eine üppige Matrone mit einem unerwartet sinnlichen Kussmund, Jonata, die Ehefrau des Pächters, trug, wenn auch ein wenig verhärmt, so doch edle Züge. Loretta war ein lockendes Weib, wenngleich mit gierigen Augen. Hatten auch die beiden edlen Maiden, die neben van Dyke beieinanderstanden, ihre Häupter züchtig mit Schleiern verhüllt, so besaßen sie doch höchst anmutige Figuren.
»Das Novizchen ist ein bisschen scheu, aber von hübscher Gestalt, und Ännchen, die Kammerjungfer, hat ein einladendes Hinterteil«, ergänzte Ismael meinen Gedankengang.
»Und wer ist der Buckelige da?«, wisperte ich zurück.
»Der Secretarius des van Dyke. Sie rufen ihn Puckl.«
»Wie einfallsreich.«
Endlich hatte Magister Johannes alles gesagt, was es zu fallenden Sternen und dräuendem Unheil zu sagen gab, und Ritter Ulrich von der Arken trat vor. Er trug nicht mehr seinen Wappenrock, sondern einen schwarzen Surkot, dessen weite Falten mit einem ebenfalls schwarzen, silberbeschlagenen Gürtel zusammengehalten wurden. Doch sein prachtvolles Gewand beeindruckte mich nicht; es ging darum, die Lage zu verstehen, in die er mich gebracht hatte.
Der Ritter ergriff das Wort.
Burg Langel, so erklärte er uns, sei ein verwaistes Lehen, seit der Erbe des verstorbenen Burgherrn Eberhart von Langel sich im vergangenen Jahr dazu entschieden hatte, das Gelübde bei den schweigenden Kartäusern abzulegen. Die Burg samt Dorf und Ländereien aber war ein Kon-Dominium des Kurfürsten und Erzbischofs von Köln und dem Herzog von Jülich und Berg - ein Erblehen, das nun an die Eigner zurückfiel, die es neu vergeben wollten. Dabei gab es aber Ansprüche zu bedenken. Erbberechtigt wäre Casta, die Tochter des verstorbenen Lehnsmanns, oder sein Neffe, der Hofministerial König Ruperts, Lucas van Roide. Beide Personen hatten Fürsprecher benannt, Casta ihren Oheim, den Speyrer Domgrafen Gottfried von Fleckenstein, und Lucas seinen Oheim, den Gelehrten Doktor Humbert von Langel.
»Kann denn ein Weib eine Burg zu Lehen bekommen?«, flüsterte Ismael.
»Ja, als Kunkellehen, sozusagen als Mitgift«, erklärte ich ihm leise.
Herr Ulrich sandte einen schnellen Blick in unsere Richtung und fuhr mit seinen Erklärungen fort. Es schien sich noch ein wenig komplizierter zu gestalten, denn sowohl der Erzbischof als auch der Graf hatten ihre Vorstellungen davon, wer das Lehen erhalten sollte. Wie es aussah, hatte der ständig unter Geldnöten leidende Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden einen umfänglichen Kredit bei Hinrich van Dyke aufgenommen und wollte ihm die Burg und ihre Einkünfte dafür überlassen. Vertreten wurde der Erzbischof von dem Stiftsherrn von Sankt Gereon, Anselm van Huysen. Und er selbst, so erklärte Ritter Ulrich, sei als Vertreter des Herzogs von Jülich und Berg anwesend, der ihm überlassen hatte, nach Gutdünken zu entscheiden.
»Aus diesem Grund habe ich alle Betroffenen hierher eingeladen. In den nächsten Tagen wollen wir die Gründe der Anspruchsberechtigten hören und über sie beraten. Doch heute Abend wollen wir gemeinsam essen und uns von Meister Hardo Lautenschläger unterhalten lassen.«
1
Meister Rumzelant
2
Carmina Burana CB 017, Carl Fischer
1. Auflage
© 2010 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-641-04686-6
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