Der Sünde Lohn - Andrea Schacht - E-Book

Der Sünde Lohn E-Book

Andrea Schacht

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Beschreibung

Alyss’ Neffe Tilo und der Geschäftspartner und Freund des Hauses, John of Lynne, wurden auf der Überfahrt über die Nordsee von Vitalienbrüdern entführt. Bang fragt sich Alyss, ob sie sich aus eigener Kraft aus den Fesseln der Piraten befreien können. Und auch in Köln droht schreckliche Gefahr: Ein Mann mit Wolfsmaske schleicht durch die Gassen und stellt Frauen nach. Eines Tages schleppt sich die junge Inse schwer verletzt vor Alyss’ Hof. Mit letzter Kraft haucht sie noch: »Ketzer …«

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Andrea Schacht

Der Sünde Lohn

Historischer Roman

1. Auflage

Originalausgabe Juli 2011 bei Blanvalet Verlag, München,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

© 2011 by Blanvalet Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Dr. Rainer Schöttle

Umschlaggestaltung: © HildenDesign, München, unter Verwendung von Motiven von The Bridgeman Art Library und akg-images

lf ∙ Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-05835-7

www.blanvalet.de

Könnt zerspringen mir das Herze garvon vielem Leiden, wär ich lang tot,die Reine, sie nimmt mich nicht wahr,zuwider bin ich ihr, das ist mein’ Not.

Dramatis Personae

Alyss – Wein- und Pelzhändlerin mit einem Weingarten, die die Verantwortung für fünf Heranwachsende, einen Hauspfaff und allerlei Getier trägt.

Marian – Heiler in der Ausbildung, der seiner Zwillingsschwester in allerlei Mühsal zur Seite steht.

Das Hauswesen

Arndt van Doorne – Alyss’ Ehemann, kaum noch eine Schliere Hühnerkacke wert.

Merten van Doorne – Arndts Stiefsohn, der sich aus schierer Geldnot bereit erklärt, für Alyss’ Weinhandel zu arbeiten.

Hilda – die Haushälterin mit einem Hang zur Reinlichkeit und zum Aberglauben.

Peer – Handelsknecht, im Dienste ergraut und fähig, auf sich und andere aufzupassen.

Leocadie – Alyss’ Base, eine ihrer Schutzbefohlenen mit Herzeleid.

Frieder und Lauryn – Geschwisterpaar, das sich auf allerlei Arten bemüht, die Trauer um den verstorbenen Vater zu überwinden.

Hedwigis – Alyss’ Base, deren böses Mundwerk geläutert wurde. Kurzfristig.

Tilo – Alyss’ junger Vetter, der auf Reisen seinen Horizont erweitert hat.

Magister Hermanus – der Hauspfaff, der auf dem Weg der Tugend ins Stolpern zu geraten scheint.

Magister Jakob – Notarius von hohem Verstand und heimlichem Heldentum.

Malefiz – schwarzerKater, doch kein böses Omen.

Benefiz – junger Spitz in der Ausbildung zum Wachhund.

Jerkin – ein weißer Jagdfalke, zurzeit flügellahm.

Herold – ein martialischer Hahn, der unbarmherzige Künder des Morgens.

Gog und Magog – Ganter und drei Gänse, benannt nach den heidnischen Völkern der Bibel und von ebenso schlechtem Benehmen.

Freunde, Bekannte, Verwandte

John of Lynne – befreundeter Tuchhändleraus England, derzeit etwas flügellahm, nichtsdestotrotz wehrhaft und auf der Suche nach Lösungen.

Catrin von Stave – Alyss’ und Marians Ziehschwester, eine Begine von stiller Weisheit.

Mats Schlyffers – Messerschleifer mit Wolfsrachen, der allerlei interessante Schneidwerkzeuge kennt.

Gislindis – Mats’ Tochter, die sich ihre Silberlinge redlich verdient.

Mechtild – Tilos Mutter und geschäftige Gattin des Tuchhändlers Reinaldus Pauli.

Pater Nobilis – Pfarrer von St. Kolumba, der großzügig Ablässe verteilt.

Fabio – Reliquienhändler, der Marian die maurische Sprache lehrt.

Theis und Joos – zwei Baderknechte mit nicht allzu sauberem Ruf.

Arbo von Bachem – edler Ritter von hohem Stolz, in Notlagen jedoch ein verlässlicher Kämpe.

Pitter – Bader und ein Mann, der an seinen Ruf zu denken hat.

Franziska und Simon – die Adlerwirte mit reichem Nachwuchs und ständig wohlgefülltem Kessel.

Trine und Jan van Lobecke – Apotheker, die nicht nur Arzneien, sondern auch gewisse Luxusgüter herstellen.

Jens Husmann – Gutspächter und Magister Hermanus’ Bruder.

Lore – sittenstrenge Päckelchesträgerin, Gänsehirtin und Born des Gassenwissens.

Odilia – Taschenmacherin mit Nebeneinkünften.

Julika – Brauersgehilfin mit Nebeneinkünften.

Und natürlich dürfen nicht fehlen

Almut und Ivo vom Spiegel – Alyss’ und Marians liebende Eltern.

Vorwort

Ketzerei – das ist und war die Abweichung von der vorgegebenen Meinung der Kirche. Man nennt dieses Verhalten auch Häresie, die selbstgewählte Anschauung. Pfui über die Menschen, die es wagen, sich selbst ein Bild vom Leben zu machen.

Das Leben im Mittelalter jedoch war etwas anders strukturiert als unsere heutige Gesellschaft. Vor allem das Wissen um die Natur der Welt war noch recht begrenzt, mehr als den biblischen Schöpfungsmythos kannte man nicht; kaum einer konnte lesen, schon gar nicht die im Grunde recht fortschrittlichen Schriften der Römer und Griechen zu den Naturwissenschaften.

Deshalb war es wichtig, dass es eine Institution gab, die im Besitz der endgültigen Wahrheit war – die Kirche. Die wusste Bescheid und hatte recht. Ihre Priester waren die Lehrer des Volkes, diejenigen, die auf die Fragen des Seins eine Antwort geben konnten. Und wer das Recht hat, hat auch Gesetze. Wer Gesetze hat, gibt Regeln vor, um jene zu bestrafen, die die Grenzen überschreiten.

Wer also etwas anderes behauptete als die Kirche und gegen ihre Regeln verstieß, stellte sich damit außerhalb der Gesellschaft.

Was nicht heißt, dass es nicht auch schon im Mittelalter genug kluge Menschen gegeben hätte, die sich ihre eigenen Gedanken gemacht haben. Alyss, Marian und John tun es, aber sie halten sich dennoch an die gesellschaftlichen Regeln, weil sie es nicht anders kennen. Ihre Zeitgenossen, etwa Jan Hus oder John Wycliffe, dachten auch über die Diskrepanz zwischen Kirchenmacht und christlichem Glauben nach, sprachen laut darüber und wurden dafür als Ketzer verfolgt. Jan Hus starb auf dem Scheiterhaufen, und knapp ein halbes Jahrhundert nach seinem (natürlichen) Tod ließ man John Wycliffes Gebeine ausgraben und verbrennen. Ketzerei wurde mit Feuer bekämpft.

Der Aberglaube ist ein Verwandter der Ketzerei, denn auch er bedeutet eine Abweichung von den dogmatischen Lehren der Kirche. Allerdings ist der Aberglaube eher rückwärts gerichtet. Heidnisches Gedankengut und heidnische Riten waren im Mittelalter noch sehr lebendig unter einer dünnen Kruste Christentum. Zaubersprüche, Omendeutung, Naturgeister oder gar Hexerei gehörten zu dem abergläubischen Umfeld.

Selbstredend wurden solche Praktiken ebenfalls von der Kirche verboten, denn sie entzogen ihr Macht und natürlich auch Geld. Wer die Zaubersche bezahlte, bezahlte eben nicht den Priester.

Aus dieser Verteufelung der heidnisch-abergläubischen Gedanken entstand später, in der frühen Neuzeit, die Hexenverfolgung.

Noch aber wurde Aberglaube wenn auch nicht gutgeheißen, so doch zähneknirschend geduldet und vieles davon eben schlicht in die christlich-religiösen Praktiken integriert.

Osterwasser wird noch heute in vielen Gegenden geholt und soll gar wundersame Wirkung entfalten.

Probieren Sie es selbst. Aber nicht schwatzen, während Sie es aus der heiligen Quelle holen und nach Hause tragen. Sonst geht der Zauber baden.

1. Kapitel

Wie so oft waberte feuchtkalter Nebel durch die Gassen nahe der Themse. Die Hafenleute, Schiffsbesatzungen und Handelsknechte hatten Zuflucht in den zahlreichen Tavernen gesucht, um der klammen Nacht zu entfliehen. Vielgestaltig war das Stimmengewirr im Red Lion. Aus vieler Herren Länder hörte man fremdländische Worte. Weiches Portugiesisch mischte sich mit melodischem Singsang der Venedigfahrer, arabische Laute mit hartem Dänisch, Gezänk in welscher Zunge übertönte derbes Kölsch, und hier und da klang sogar das englische Idiom der Einheimischen durch die von rußigen Kienspänen, starkem Bier und dem Geruch nach fettem Hammelfleisch getränkte Luft.

Drei Männer aber verhielten sich schweigsam und ließen nur ihre Blicke unter gesenkten Lidern über die Gäste streifen. Selbst zwischen den kräftigen Kranenarbeitern und Lastträgern fielen jedoch ihre breiten Schultern ins Auge, und die Arme, die ihre Fellwesten nicht bedeckten, wiesen harte Muskeln auf. Blond waren die drei, was man nur an ihren struppigen Bärten erkannte, denn ihre Köpfe hatten sie mit dunklen Kappen bedeckt. Langsam tranken sie ihr Bier, und keiner der Gäste wagte, sich der beinahe sichtbaren Bedrohung zu nähern, die sie ausstrahlten.

Die Friesen waren ein hartes, wortkarges Volk und die Kaperfahrten der Vitalienbrüder noch lange nicht vergessen.

Als einige englische Seeleute den Wirt um die Zeche riefen, hätte ein aufmerksamer Beobachter bemerken können, dass die drei Männer sich ein heimliches Zeichen gaben. Kaum waren die Engländer aus der Tür getreten, standen auch die Friesen auf und verließen die Spelunke. Unerwartet leichtfüßig folgten sie den Seeleuten durch die engen, dunklen Gassen.

Nicht lange.

Nicht weit.

Dann schlugen sie zu.

Die Leichen der Unseligen versanken im Hafenwasser.

Der Kapitän der Handelskogge war sauer. Gerne nahm er nicht Passagiere mit, und diesmal hatte er sogar mehrere an Bord. Zudem befanden sich neben wertvollen Tuchballen und Fässern zehn Käfige mit weißen Gerfalken unter der Ladung. Die sollten so schnell wie möglich nach Kampen gelangen, denn ein jeder der Vögel war das Mehrfache seines Gewichts an Gold wert. Lebend. Tot taugten die Viecher nicht mal für die Suppe. Ihr Besitzer hatte ihm das sehr eindringlich klargemacht, und die Bodmereischuld war verdammt hoch für diese Fracht. Um die Versicherung nicht zahlen zu müssen, war er gezwungen, in vier Tagen den Hafen am Festland zu erreichen, und nun kam die Flut – nicht aber drei seiner besten Seemänner.

Schon hatten der Handelsherr und sein Gehilfe ein mahnendes Wort gesprochen, und der Ritter, von zwei Knappen begleitet, hatte seine aristokratische Braue ob der Verzögerung hochgezogen. Seine Rösser waren Seefahrten nicht eben wohlgeneigt.

Daher war der Kapitän erleichtert, als drei hochgewachsene, breitschultrige Friesen in dürren Worten darum baten, anheuern zu dürfen. Er fragte nicht viel nach Herkunft und Können, die schwieligen Hände sprachen für sich, und die Nordmänner hatten allesamt Meerwasser in den Adern.

Pünktlich verließ die schwere Kogge den Londoner Hafen.

2. Kapitel

Das Hauswesen summte und brummte, schnatterte und krakeelte, kläffte und fauchte, gackerte und giggelte. Für einige dieser Laute waren Herold, der martialische Hahn, und sein Hühnervolk verantwortlich, für andere Kater Malefiz und der Bewacher des Hofes, Benefiz, der Spitz. Das Schnattern aber stammte aus den Schnäbeln der Gänse, die nach dem biblischen Heidenvolk Gog und Magog gerufen wurden.

Die ersten Märztage des Jahres 1404 waren mild und sonnig. Schon zeigte sich ein wenig Grün in den Beeten, und auf der Mauer zum Weingarten saßen fünf Spatzen und tschilpten um die Wette.

Alyss, die Herrin des Hauses, lehnte an der Küchentür und überblickte zufrieden ihr kleines Reich. Auf dem Hof pickten Hühner die Körner, die Hedwigis aus ihrer aufgesteckten Schürze ausstreute. Ein Anblick, der vor einem halben Jahr noch nicht denkbar gewesen wäre. Die Tochter des Baumeisters Peter Bertolf, der ein Onkel von Alyss war, und seiner hochnäsigen Patriziergattin war sich bisher für solche niederen Arbeiten immer zu fein gewesen. Nun, man würde sehen, ob die neue Bescheidenheit andauern würde. Malefiz, der schwarze Kater, saß auf dem Dach des Verschlages, der einst den weißen Gerfalken beherbergt hatte, und beäugte die Hühnerschar mit peitschendem Schwanz. Bescheidenheit war ihm fremd und würde es auch bleiben. Ebenso wie seinem Erzfeind, dem schwarzen Hahn. Anders als Benefiz, der vor beiden einen gesunden Respekt zeigte, sehr wohl aber jeden Fremdling in seinem Revier mit lautem Gekläff empfing. Die Gänse hingegen zischten unterschiedslos Freund und Feind an, und nur die Tatsache, dass sie ein Geschenk waren, das nicht das hielt, was man sich von ihm versprochen hatte, hinderte Alyss daran, mindestens einen der vier Vögel in die Röhre zu schieben. Es wäre, so hatte Magister Jakob sie belehrt, der Vernichtung eines Beweismittels gleichgekommen.

Die Gänse legten nämlich nicht, wie Master John es behauptet hatte, goldene Eier.

Der englische Tuchhändler, der im Laufe des vergangenen Jahres zum Freund des Hauswesens geworden war, hatte sich bei Alyss damit eingeführt, dass er ihr zuerst einen weißen Gerfalken als Gastgeschenk mitgebracht, ihr dann den schwarzen Hahn Herold beschert und schließlich im vergangenen Herbst die Schnattertiere geschenkt hatte.

Immerhin, gewöhnliche Eier legten die drei Gänse, die das heidnische Volk Magog bildeten, worauf insbesondere ihr Beherrscher, der bissige Ganter Gog, stolz war.

Leocadie kam mit Hilda durch die Hofeinfahrt, beide trugen schwere Körbe am Arm. Die Haushälterin nahm wechselweise die Jungfern, die Alyss zur Erziehung anvertraut worden waren, mit zum Markt, um sie in die Kunst des Handelns und Feilschens einzuweisen und sie anzuhalten, auf die Qualität der angebotenen Waren zu achten. Leocadie, Alyss’ achtzehnjährige Base, war ein gutherziges Mädchen, eine stille Schönheit, und, seit sie in den Ritter Arbo von Bachem verliebt war, wechselweise todunglücklich oder völlig entrückt. Wenigstens war sie inzwischen von dem wahnwitzigen Gedanken kuriert, der Welt entsagen und den Schleier nehmen zu wollen.

Benefiz sprang auf die beiden zu und umtänzelte sie mit kleinen, jiependen Lauten. Er roch den Fastenspeck, den gesalzenen Walspeck in den Körben, vermutete Alyss.

Dann aber blieb er plötzlich stehen und spitzte die Ohren.

Gleich darauf raste er durch das Tor, und in einem ekstatischen Kläffen überschlug sich seine Stimme.

Ein Wagen rumpelte in den Hof, und Alyss stieß sich vom Türpfosten ab. Mit eiligen Schritten lief sie den Ankömmlingen entgegen.

»Lauryn, Frieder, willkommen. Marian, mein Bruder, du bringst erwünschte Fracht.«

Die sechzehnjährige Lauryn und ihr um ein Jahr jüngerer Bruder waren die Kinder des Pächters, der das Gut in Villip betreute, das Alyss’ Vater gehörte. Beide waren, wie Leocadie und Hedwigis, Alyss zur Ausbildung anvertraut worden.

Sie reichte dem Mädchen die Hand und half ihm von der Ladefläche, auf der es zwischen Fässern und Säcken gesessen hatte. Auch die beiden anderen Jungfern kamen herbeigelaufen und umarmten ihre Freundin. Frieder sprang ohne Hilfe vom Karren herunter, und als Alyss ihn mit Worten des Beileids umarmen wollte, reckte er seine Schultern und nickte nur kühl.

»Habt Dank für Euer Mitgefühl, Frau Alyss«, sagte er gemessen und machte sich daran, die Bündel abzuladen.

Marian verließ den Bock, auf dem er neben dem Fuhrknecht gesessen hatte, und ging mit einem kleinen Lächeln auf seine Schwester zu.

»Sie tragen beide schwer am Verlust ihres Vaters, Schwesterlieb, doch der junge Heros will Härte zeigen«, erklärte er leise. »Lass ihn seine Haltung wahren; sie dünkt mich brüchig genug.«

Alyss nickte und sah ihren Bruder prüfend an.

»Du aber siehst gut aus für dein Alter«, bemerkte sie trocken, und er grinste.

»Du auch, obwohl nun seit heute die Last eines weiteren Lebensjahres auf uns liegt.«

Fünfundzwanzig Winter drückten zwar seit diesem Tag auf die Schultern der Zwillinge, ihre Gemüter bedrückte dieser Umstand jedoch nicht sonderlich.

»Bevor wir dem Siechtum noch näher rücken, wollen wir die Fracht abladen. Ich habe Wein und Rosinen, allerlei Eingelegtes und Geräuchertes für deine Speisekammer von unserem Gut mitgebracht«, schlug Marian vor.

Auf seine Aufforderung packten alle mit an, und Alyss hatte lediglich die Aufgabe, ihre Helfer anzuweisen, was wo zu lagern war. Sie tat es freudig, denn nun wurde ihr Reich nicht nur von Hühnervolk und Schnattergänsen bevölkert, sondern auch ihr Jungvolk war wieder, bis auf Tilo, vollständig vertreten. Erfreut sah sie dem Treiben zu.

Den ganzen Winter über hatte sie sich manchmal ein wenig einsam gefühlt, denn lediglich Leocadie hatte ihr Gesellschaft geleistet. Und die war nicht eben erheiternd, denn das junge Mädchen trug schwer an seinem Herzeleid. Hedwigis, eine oftmals mürrische Fünfzehnjährige, war im Herbst wegen ihres unbotmäßigen Benehmens zu ihren Eltern zurückgeschickt worden und erst vor zwei Wochen wieder in Gnaden bei ihr aufgenommen worden. Tilo, sechzehnjähriger Sohn ihrer Tante Mechtild und deren Gatten Reinaldus, dem Tuchhändler, war mit Master John auf seine erste lange Handelsreise ins ferne England aufgebrochen, die Geschwister Lauryn und Frieder kurz vor dem Christfest zu ihrem kranken Vater auf das Gut in Villip zurückgekehrt. Beide waren länger geblieben als erwartet, denn der Pächter siechte dahin und starb in den dunklen Januartagen. So waren seine Kinder dort geblieben, um ihrer Mutter beizustehen. Marians Aufgabe war es gewesen, im Februar den neuen Pächter, den ihr Vater bestimmt hatte, in seinen Dienst einzuweisen. Dies schien nun zur Zufriedenheit geschehen zu sein, und daher hatte ihr Bruder die beiden jungen Leute wieder mitgebracht, damit sie, wie vor einem Jahr vereinbart, unter Alyss’ Fittichen ihre Ausbildung erhielten. Wozu auch gehörte, dass ihnen einige raue Kanten abgeschliffen werden sollten, was vor allem bei Frieder ein eifriges Hobeln bedeutete.

Weniger betrüblich als die Abwesenheit ihrer Schutzbefohlenen empfand Alyss die Absenz ihres Gatten Arndt van Doorne, der im November auf eine seiner ausgedehnten Reisen in die südlichen Weinbaugebiete des Frankenlandes aufgebrochen war. Ja, dann und wann vergaß sie sogar völlig seine Existenz.

»Frau Alyss, die Glocken haben schon lange zur Sext geläutet«, unterbrach die Haushälterin ihre Gedanken. »Ich habe das Essen fertig, und Magister Hermanus sitzt bereits am Tisch und klappert ungeduldig mit dem Löffel.«

»Oh, ach ja, füttern wir das ewig hungrige Hauswesen.«

Es bedurfte keiner großen Aufforderungen, die kleine Schar in die Küche zu treiben, und schon bald saß man über den mit Kohl und Fastenspeck gefüllten Schüsseln.

»Wie trägt es deine Mutter, Lauryn?«, wollte Leocadie mitfühlend wissen. »Und du vor allem, du Ärmste? Meine Tränen würden kaum versiegen, würde mein Vater von uns gehen.«

Da Leocadies Tränen sich häufig im Überfluss befanden, nickte Lauryn nur ernst, zeigte aber keine bodenlose Trauer.

»Mutter ist betrübt, doch sie hat sich gefasst. Der Herr vom Spiegel war großzügig, und sie wird weiterhin auf dem Gut wohnen bleiben und die Aufsicht über die Molkerei führen. Aber sie hat Angst vor dem neuen Pächter.«

»Der Pächter wird auf Anweisung des Herrn handeln, Lauryn. Da sollte sie unbesorgt sein«, beruhigte sie Alyss.

»Das denke ich auch, Frau Alyss, aber sie ist jetzt sehr ängstlich und macht sich Gedanken um meine Zukunft. Und darum …«

Lauryn sah in die Runde, und ihre Wangen röteten sich.

»Will sie etwa jetzt schon wieder heiraten?«, fragte Hedwigis mit leiser Empörung in der Stimme.

»Nein, nein. Aber sie möchte, dass ich bald einem Mann angetraut werde. Ich … sie hat mich dem Wulf versprochen.«

Sprach’s und rührte verlegen in ihrer leeren Schüssel herum. Den Ansturm von Fragen beantwortete Marian mit ruhiger Stimme.

»Der Stallmeister Wulf ist ein achtbarer Mann von dreißig Jahren. Du weißt, Alyss, unsere Eltern schätzen ihn.«

Es schwang etwas Unausgesprochenes in seinen Worten mit, und während Frieder und ihr Bruder die weiteren Fragen beantworteten, dachte Alyss darüber nach. Ja, sie kannte Wulf als einen gut aussehenden, vernünftigen Mann, der seinen Platz im Leben gefunden hatte. Doch mehr als Stallmeister würde er nie werden. Lauryn aber war unter ihrer vernünftigen Art auch ein einfühlsames und gewitztes Mädchen, das ihrer Meinung nach einem vornehmeren Haus vorstehen sollte. Außerdem ahnte sie, dass Lauryn in Herzensnöte kommen würde, sobald Tilo zurückkehrte. Denn bisher hatte sie eine stetige und wohl auch tiefe Neigung zu dem Sohn und Erben des Tuchhändlers entwickelt. Wenngleich dieser noch immer Kälberaugen bekam, wenn er Leocadie ansah – die ihn jedoch keines minniglichen Blickes würdigte, denn ihre Treue galt nun mal Ritter Arbo.

Ach Herzelieb, ach Herzeleid.

»Habt ihr in der Zwischenzeit Nachricht von John erhalten?«, fragte Marian leise in das Geplapper hinein, und Alyss’ aufmüpfiges Herz verspürte einen schmerzlichen Stich. Nein, sie vermisste ihn nicht. Überhaupt nicht. Noch viel weniger als Arndt.

Aber leider schlüpfte er, anders als ihr Gatte, immer mal wieder in ihre Gedanken. Meistens nachts.

Mist.

Sie riss sich zusammen und schüttelte den Kopf.

»Nein, weder von Tilo noch von ihm, was Frau Mechtild schrecklich beunruhigt. Aber gehen wir davon aus, dass keine Nachrichten gute sind, denn schlechte Nachrichten reisen schnell.«

»Ja, aber es ist schrecklich weit nach England, und das Meer ist so gefährlich«, seufzte Leocadie und bekam schon wieder feuchte Augen.

»Leocadie, wenn wir uns um jeden Reisenden beständig Sorgen machen müssten, kämen wir zu keinem vernünftigen Gedanken mehr«, mahnte Alyss sie. »Ritter Arbo ist auf Mission für unseren König Rupert, und wenn er sich am Londoner Hof Verdienste erwirbt, wird ihm das sicher hoch anerkannt.«

»Aber Großvater vom Spiegel hasst ihn.«

»Unser Vater hasst ihn nicht. Er hat nur sehr strenge Ansichten, was Aufrichtigkeit und Verantwortung betrifft. Üb dich in Geduld, vielleicht ist er beim nächsten Treffen milder gestimmt. Und nun tragt die Schüsseln ab, die Pflichten warten.«

Die Jungfern gingen Hilda, der Haushälterin, zur Hand, Frieder wurde beauftragt, das Feuerholz zu hacken, und Alyss machte sich auf, den Weingarten zu inspizieren. Marian schloss sich ihr an.

Noch lagen die Pflanzen zugedeckt unter Reisig, standen die Pfähle, an denen die Reben ranken sollten, zu Pyramiden zusammengestellt am Ende der Reihen, war der lehmige Boden matschig, und die Obstbäume waren an den Spalieren blattlos.

»Wir müssen anfangen, den Boden aufzulockern und den Dung einzubringen«, murmelte Alyss. »Gut, dass Frieder wieder da ist.«

»Da werden auch die Jungfern sich schmutzige Finger holen.«

»Sicher. Aber das wird ihnen nicht schaden.«

»Hedwigis wird maulen.«

»Vielleicht. Aber in den zwei Wochen, seit sie wieder hier ist, hat sie wenig gemuckt. Ich gestehe allerdings, dass ich sie nicht ohne Misstrauen beobachte. Aber möglicherweise läutert sie die Strafe, die ihr Vater ihr auferlegt hat.«

»Welcherart Strafe? Trägt sie ein härenes Büßergewand unter ihrem Kittel?«

»Fast so schlimm. Er hat ihr jeglichen Putz untersagt, und neue Kleider wird sie dieses Jahr auch nicht bekommen.«

»Ei wei! Hast du übrigens deinem Hauspfaff auch neuen Putz untersagt, Schwesterlieb? Er hat heute einen so gemäßigten Tischsegen gesprochen.«

»O nein. Wir haben ihm sogar eine fellgefütterte Jacke machen lassen. Aber seit einigen Tagen ist er erfreulich wortkarg in seinen Sermonen. Ich fürchtete schon, dass er wieder unter entzündeten Mandeln leiden könnte. Aber als ihn Gog und Magog ins Kelterhaus jagten, wurde er doch wieder sehr stimmgewaltig.«

»Die der Satan verführte und sie zum Kampf versammelte, und sie umringten das Heerlager der Heiligen. Wann wirst du sie werfen in den Pfuhl von Feuer, Schwester mein?«

»Bald«, knurrte Alyss. »Sowie John zurückgekommen ist und sieht, dass diese Gänse keine goldenen Eier legen. Dann kommt die Apokalypse über sie, und wir werden uns an dem Braten mästen.«

Marian kicherte. Und über Alyss’ Gesicht huschte eines ihrer seltenen Lächeln.

»Wenn Magister Hermanus je biblische Namen für Tiere guthieß, dann die dieser gottlosen Heidengänse«, sagte sie. »Gog ist ein ausgesucht schlecht gelaunter Ganter und höllisch schnell mit dem Zwicken. Die Einzige, die ihm Respekt einflößt, ist Lore. Ich weiß nicht, wie diese Gassengöre es hinbekommt, aber an ihr hat er einen Narren gefressen.«

»Sie hat einen ebenso scharfen Schnabel wie er.«

»Das kannst du wohl sagen.«

3. Kapitel

Die scharfschnäbelige Lore zischte mit einigen unflätigen Sätzen den Gänserich Gog an und schaute dann grinsend zu Alyss hoch, die ihre lehmverschmierten Pantinen vor der Küchentür auszog.

»Ich erzähl ihm bloß was von Gänsebraten, Frau Herrin. Das versteht er«, beantwortete sie deren unausgesprochene Frage.

»In der Fastenzeit hat er da ja nichts zu befürchten, Lore, aber deinen hungrigen Blick kann er wohl richtig deuten. Wasch dir die Hände und komm zu Tisch.«

Alyss und ihre Helferinnen und Helfer hatten den sonnigen Vormittag damit verbracht, den Weingarten aus seinem Winterschlaf zu wecken, und wie jeden Freitag hatte sich Lore, die magere Päckelchesträgerin, eingefunden, um Gog und Magog zum Tümpel auf dem Nachbargrundstück zu führen, wo sie gerne in dem Schlamm eines kleinen Teiches gründelten. Mittags aber scheuchte sie sie zurück auf den Hof und bekam als Lohn für ihre Aufsicht ein reichhaltiges Essen.

Das stand dann auch schon dampfend auf dem Tisch. Man bediente sich aus dem Kessel mit dickem Erbsenbrei. Auch die gesalzenen Heringe, frisches Brot, Butter und ein gewaltiger Berg von süßen Wecken wurden in Windeseile verzehrt. Alyss bekam dabei aus dem Augenwinkel mit, dass mindestens drei der Wecken in Lores geräumigen Kitteltaschen verschwanden. Das Gebäck war, nach anfänglichem Zögern, weil sie die Rosinen darin zunächst für Käfer hielt, sehr schnell zu ihrem Lieblingsfutter geworden.

Die Jungfern waren schon dabei, den Tisch abzuräumen, als es an der Haustür pochte. Hilde führte gleich darauf zwei Herren in die warme Küche. Der eine war hochgewachsen, weißhaarig, und nur die Brauen und zwei dunkle Strähnen in seinem Bart zeugten von früherer Schwärze. Über seinem grauen Gelehrtengewand trug er eine mit kostbarem Pelz gefütterte Schaube. Der andere Herr mochte jünger sein, doch seine blasse Haut und seine gebeugte Haltung wiesen ihn als einen Stubengelehrten aus.

Kaum waren sie eingetreten, verstummte alles Geplapper und Geklapper, die Jungfern versanken in Reverenzen, Frieder und Peer verbeugten sich tief, Lore verschwand im Hintergrund, und Magister Hermanus erhob sich mit einem Nicken.

»Herr Vater, welche Freude, Euch zu sehen«, grüßte Alyss die Besucher und trat auf Ivo vom Spiegel zu. Sie lächelte ihn an und wurde in seine Arme gezogen. Dann löste er sich und nickte seinem Begleiter zu.

»Kind, wir bringen erfreuliche Nachrichten. Der Notarius hat heute Morgen vor dem Rat gesprochen und mit großer Überzeugungskraft dein Anliegen vertreten. Man stimmte der Brautschatzfreiung in deinem Falle zu.«

Das war tatsächlich eine höchst erwünschte Neuigkeit, und Alyss gab sich für einen kleinen Moment der Erleichterung hin. Die Tatsache, dass sie nun nicht mehr für die Schulden ihres Gatten aufkommen musste und ihr die ausschließliche Verfügungsgewalt über ihre Mitgift zustand, gestattete ihr ein unabhängigeres Handeln.

»Ich danke Euch, Magister Jakob. Ich hoffe, es waren nicht der Mühen zu viel, die Ihr dafür auf Euch nehmen musstet.«

»Es bedurfte einiger Schriftsätze, gewisser citationes und argumentationes, denen sich die Ratsmitglieder schließlich nicht entziehen konnten. Auch diejenigen, in deren Hirnen Wassersuppe schwappt, und solche, deren Schädel beweglich wie Basaltblöcke scheinen«, antwortete er in dem leidenschaftslosen Tonfall, der ihm eigen war.

»›Hast du denn einen Arm wie Gott, dröhnst du wie er mit Donnerstimme?‹, wie der Herr seinen Knecht Hiob schon fragte.«

Die Lippen des Notarius verzogen sich zu einem pergamentdünnen Lächeln.

»Ich war in der Tat gezwungen, kurzzeitig meine Stimme zu erheben, Frau Alyss. Manche Kreaturen bedürfen der lautstarken Argumente mehr als der sachlichen.«

»›Er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme‹«, zitierte Alyss mit verständnisvollem Nicken den Evangelisten Johannes, und um die Augen des Herrn vom Spiegel bildeten sich kleine Fältchen.

»›Wiewohl jetzt, siehe, ist’s eitel Freude und Wonne, Ochsen würgen, Schafe schlachten …‹«, brummte er.

»›… Fleisch essen, Wein trinken, und ihr sprecht: Lasst uns essen und trinken, wir sterben doch morgen!‹ So sprach Jesaja«, ergänzte Magister Jakob, und Alyss gab Hilda einen Wink.

»Setzt Euch, Magister Jakob, und auch Ihr, Herr Vater. Ich habe Würzwein angesetzt, und von den Gütern erhielt ich gestern einige vortreffliche geräucherte Forellen.«

»Kind, wir haben gespeist, und der wackere Notarius wollte dich nur mit seiner Kenntnis der Schrift blenden.«

»Das auch, Herr vom Spiegel, doch ich bin auch befugt, den Würzwein der Frau Alyss zu verkosten. Denn ich habe ihn einem Klienten empfohlen und will seine Qualität prüfen.«

»Ein verständliches Vorgehen. Nun, ich verlasse dich, Geschäfte verlangen meine Aufmerksamkeit. Besuche uns, wenn es deine Pflichten erlauben. Deine Mutter schwelgt in Erinnerungen an die Zeit, als sie dir und deinem Bruder das Leben schenkte.«

Alyss versprach es und geleitete ihren Vater zur Tür, dann kredenzte sie dem Notarius den Wein. Sie waren alleine in der Küche; das vielfüßige Hauswesen hatte sich auf leisen Sohlen davongemacht, um nicht zu stören.

Während Magister Jakob an dem Wein nippte, berichtete er in seiner trockenen Tonlage, wie er den Rat von der Unantastbarkeit ihres Brautschatzes überzeugt hatte. Dieses zwar nicht eben alltägliche, doch rechtlich durchaus vorgesehene Verfahren war nötig geworden, nachdem Alyss festgestellt hatte, dass Arndt van Doorne nicht nur seinen Weinhandel völlig heruntergewirtschaftet und dabei die Gelder, die zu ihrer Mitgift gehörten, ebenfalls verschwendet hatte, sondern dass sie auch noch für seine Schulden aufkommen musste. Die Rückzahlung der Mitgift hatte sie selbst erstritten, doch um ihr den Betrag zurückzuerstatten, hatte Arndt den Weingarten hinter dem Haus verkauft, den Alyss in den fünf Jahren ihrer Ehe eigenhändig zu neuem Leben erweckt hatte. Der Garten hatte, dank ihrer sorgsamen Pflege, im vergangenen Herbst erstmals wieder einen Ertrag abgeworfen. Die reifen Trauben an den Stöcken verfaulen zu sehen hatte ihr fast das Herz gebrochen, doch Magister Jakob war just zu dieser Zeit bei ihr vorstellig geworden und hatte ihr das Angebot des neuen Besitzers, eines Ritters von Merheim, unterbreitet, den Weingarten für ihn gegen Entgelt zu bearbeiten. Seit jenem Zeitpunkt hatte Alyss eine gewisse Zuneigung zu dem spröden Notarius gefasst, dessen Sprechweise so eintönig wie das Wassertröpfeln aus einem schadhaften Dach war. Als sich dann herausstellte, dass Arndt van Doorne auch noch ihre kostbare goldene Brautkrone entwendet hatte, hatte Magister Jakob ihr die Brautschatzfreiung vorgeschlagen. Nach einigem Zögern hatte Alyss zugestimmt und dabei Unterstützung bei ihren Eltern gefunden.

»Wann erwartet Ihr Euren Gatten zurück?«, fragte er nun und stellte den leeren Becher ab.

»Ich weiß es nicht. Gewöhnlich verbringt er den Winter in Burgund und reist dann im März über Speyer zurück nach Köln, um hier die aufgekauften Weine nach England zu verschiffen. Aber bisher sind noch keine Waren von ihm eingetroffen.«

»Messt Ihr dem eine Bedeutung zu?«

Alyss zuckte mit den Schultern. Sie hatte sich natürlich Gedanken dazu gemacht und teilte dem Notarius nun ihre Vermutung mit.

»Kann sein, dass er diesmal die Fässer gleich von Speyer nach Deventer schickt.«

»Und seinen Verpflichtungen hier im Haus nicht nachkommt.«

»Solange seine Schuldner nicht bei mir auftauchen und ihre Wechsel eingelöst haben wollen, will ich nicht darüber klagen.«

»Wechsel, die Ihr nicht mehr einzulösen gezwungen seid. Ruft mich, sollte ein derartiges Ansinnen an Euch herangetragen werden. Und nun will ich den Weingarten sehen, um dem Klienten Bericht erstatten zu können.«

»Nun, dann folgt mir, Magister Jakob. Doch achtet auf Euren Gewandsaum. Es ist matschig dort.«

Sie traten auf den gepflasterten Hof und hatten kaum zehn Schritte getan, als Gog und Magog zischend und mit gestreckten Hälsen hinter dem Verschlag des Falken hervorschossen. Der Ganter hielt zielstrebig auf die notariellen Waden zu, doch bevor er zubeißen konnte, war Lore zur Stelle und gab ihm eins mit der Faust auf den Schnabel.

»Verpiss dich, du lausige Petschzang!«, geiferte sie los. »Du Drecksvuel, ich drih dir de Hals erüm un däu dir de Schnabel in de Fött. Ich rieß dir die Plümme us und peck se dir ins Auch!«

Empört schnatternd suchten Gog und Magog das Weite.

»Dammich!«, sagte Magister Jakob und betrachtete Lore aufmerksam. »Bemerkenswert bildhaft, die Sprache dieses Kindes. Wenngleich ein wenig unpraktisch, das geschilderte Vorgehen. Ich würde dem Vogel erst die Federn ausreißen, das Auge damit ausstechen, dann den Hals umdrehen und den Schnabel in den Hintern schieben.«

Lore scharrte mit den Füßen und fühlte sich sichtlich unwohl im Lichte dieser Aufmerksamkeit. Alyss wandte sich zu ihr.

»Das hast du gut gemacht, Lore. Dieser Gänserich muss lernen, die Menschen zu respektieren. Aber für heute ist dein Dienst zu Ende. Montag kannst du deine drastischen Maßnahmen durchführen, so sie dann noch von Nöten sind.«

»Ja, wohledle Frau Herrin.«

Und flugs war sie verschwunden.

»Sie gehört zu Eurem Hauswesen, Frau Alyss?«

»Als Gänsehirtin, drei Tage in der Woche. Ansonsten scheint sie Päckchen und Gerüchte herumzutragen.«

Gemessen nickte der Notarius und strebte dann dem durchweichten Weingarten zu. Als er die aufgebrochene, klumpig-feuchte Erde sah, nickte er noch einmal und konstatierte: »Ihr kommt Euren Verpflichtungen nach, wie ich sehe.« Damit drehte er sich, ohne einen Fuß durch das Törchen gesetzt zu haben, um und verließ, den gereizt schnatternden Gänserich keines Blickes würdigend, grußlos den Hof.

Mit mildem Kopfschütteln verfolgte Alyss seinen Abgang. Der Notarius war ein wunderlicher Kauz, aber unter seiner krustigen Oberfläche, so ahnte sie seit geraumer Zeit, schlug ein mitfühlendes Herz.

Was sie bei dem anderen Magister, der ihr Hauswesen vor allem zu Essenszeiten heimsuchte, nicht vermutete. Hermanus, Mesner von Lyskirchen und Vetter ihres Gatten, neigte, wenn er nicht moralinsäuerliche Sermone von sich gab, zu verkniffener Rechthaberei. Umso mehr verblüffte es sie, als sie ihn auf ihrem Weg, ihre Helfer wieder zusammenzurufen, in dem Lagerraum neben dem Kontor antraf. Hier stapelten sich die weichen Pelze, die sie eingekauft hatte, um sie in Speyer auf dem Markt anzubieten. Der Hauspfaff bemerkte ihr Eintreten nicht, und so wurde sie Zeuge, wie er verzückt und mit einem selten glücklichen Lächeln die seidigen Fuchspelze streichelte.

Leise zog sie die Tür hinter sich wieder zu. Es war das erste Mal, dass sie einen solchen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen hatte, und es irritierte sie.

Doch lange hielt dieses Gefühl nicht an, denn schon trampelte Frieder über den Flur und rief, ein Bote sei eingetroffen.

»Nachricht von Master John und Tilo!«, brüllte er durch das stille Haus.

Auf einen Schlag wimmelte es in der Küche wieder von Leben.

Frieder reichte Alyss das gesiegelte Pergament, das ein Handelsknecht überbracht hatte. Für einen kleinen Augenblick ruhten ihre Augen auf dem Wappen in dem Wachssiegel. John of Lynne benutzte für seine Dokumente ein Petschaft, das einen Falken umgeben von einer Rebe zeigte. Wehmut beschlich sie – der Falke, den er ihr geschenkt hatte, war im Herbst entflogen. Doch als sich alle um den Tisch versammelt hatten, brach sie entschlossen das Wachs auf.

Tilos saubere Handschrift verkündete ihnen sehr förmlich, dass man die Geschäfte mit den Tuchwebern erfolgreich abgeschlossen habe und die erste Ladung am zehnten Tag des dritten Monats nach Deventer geschickt würde. Zwei Tage später wollten er, Tilo, und John of Lynne mit der zweiten Ladung Tuche und zehn Gerfalken an Bord einer weiteren Kogge gehen und den Heimweg antreten. Und dann folgte eine Botschaft, die Leocadie in heftiges Seufzen ausbrechen ließ. Denn Tilo teilte ihnen auch mit, dass sie den Ritter Arbo von Bachem in London getroffen hatten, der seine Mission am englischen Hof erfolgreich beendet habe und sich auch bald auf den Heimweg machen würde.

»Sie sind gestern aufgebrochen«, flüsterte eine blass gewordene Lauryn, und Leocadie drückte ihre Hände auf ihr Herz.

Alyss unterließ eine solche Geste und nickte nur. Aber sie ahnte, was bei der ansonsten so gleichmütigen Lauryn das Erbleichen verursacht hatte. Nicht die Angst um die Seefahrer war es, wie bei Leocadie, sondern die Tatsache, dass sie in Kürze Tilo wieder gegenüberstehen würde, dem bisher ihre junge Liebe gegolten hatte. Nun aber war sie verlobt mit einem anderen. Das aufgeregte Geplapper unterbrach die Hausherrin mit dem Hinweis: »Ja, gestern sind Tilo und Master John aufgebrochen, doch es wird noch etliche Tage dauern, bis sie in Köln eintreffen. Aber zum Osterfest wird Tilo wohl, wie versprochen, wieder bei uns sein.«

»Und der Ritter?«, fragte Hedwigis mit einem Blick auf die verstummte Leocadie.

»Er wird zum Hof nach Heidelberg reisen, denke ich, um dem König Bericht zu erstatten. Aber seine Schwester Gerlis heiratet in der Woche nach Ostern, und dazu wird er gewiss Urlaub erhalten.«

»Möge Gott das geben«, stöhnte Frieder salbungsvoll und verdrehte die Augen.

Lauryn stieß ihm den Ellenbogen in die Seite, und er grinste.

»Alles in allem haben wir gute Nachricht erhalten«, sagte Alyss, bevor weitere Kommentare geäußert wurden, die den Frieden des Hauswesens in Frage stellten. »Das sollte uns beschwingen, die Arbeit im Weingarten wieder aufzunehmen.«

Dem Getuschel, das bei der schmutzigen Tätigkeit herrschte, gebot sie jedoch keinen Einhalt. Peer, der Knecht, und Frieder schlugen die erste Reihe Pfähle ein, an denen die Reben später aufgebunden werden sollten; die Jungfern entfernten das Reisig und lockerten den Boden auf. Lauryn war sich nicht zu schade, die Körbe mit dem Hühnermist herbeizuschleppen, mit denen die Pflanzen gedüngt werden sollten, und Alyss sammelte den Reisig zu einem Haufen an, der zur späteren Verbrennung vorgesehen war. Erde klebte an ihren Pantinen, ihr Kittelsaum wurde feucht und lehmig, ihre Hände klamm und zerkratzt. Aber sie war es zufrieden, denn die anstrengende Arbeit hielt sie vom Nachsinnen ab. Nur einmal wandte sich ihr Blick hinauf zu dem blassblauen Frühlingshimmel. Hoch oben kreiste ein Vogel. Vielleicht ein Falke. Ein sehr kleiner Seufzer entwischte ihr. Dann wandte sie sich ab und ging auf die Laube am Ende des Weingartens zu. Auch hier hatte sie Tannenreiser über die Rosenstöcke gelegt, die die Wurzeln vor dem Frost schützen sollten. Sie entfernte sie nun und machte sich daran, die verdorrten Triebe herauszuschneiden, die sich um das hölzerne Gerüst rankten. Dabei entdeckte sie ein leeres Rabennest in einer Mauermulde hinter den Apfelbäumen neben der Laube. Erst wollte sie es entfernen, aber dann beließ sie es, wo es war. Wer war sie, den Bewohnern ihr Heim zu nehmen? Vielleicht würden ja auch sie zurückkehren, wenn die Tage schöner würden.

4. Kapitel

Eine Woche später waren die Tage jedoch nicht viel mil der geworden, sondern eine graue Wolkenschicht verhüllte die Sonne und entließ hin und wieder kalte Schauer auf das Rheintal. Marian hatte sich einen warmen Umhang übergeworfen, als er sich vom Eigelstein aus auf den Weg zur Apotheke am Neuen Markt machte. Nachdem er im vergangenen Jahr Unterricht in der bei einem bemerkenswerten Lehrer genommen hatte, widmete er sich in den vergangenen Monaten den weniger groben Techniken der Heilkunst, wenngleich deren Wirkung, wie er inzwischen wusste, den tödlichen Künsten des Scharfrichters in nichts nachstand. Doch Giftmischerei war nicht sein Ziel, und seine beiden Lehrerinnen verstanden sich vor allem auf die wohltuenden Anwendungen von Kräutern und Mineralien. Bis eben hatte er bei der alten Elsa die Zubereitung einer ihrer besonderen Wundsalben ergründet. Die überaus mürrische Begine lebte in dem Konvent am Eigelstein, in dem auch seine Mutter Almut vor Jahren gewohnt hatte und zu dessen Mitgliedern heute seine um acht Jahre ältere Ziehschwester Catrin gehörte. Mit deren Hilfe war es ihm gelungen, der halbtauben Elsa das Geheimnis der kühlenden Wundsalbe zu entlocken.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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