Das Spiel seines Lebens - Myron Bolitar ermittelt - Harlan Coben - E-Book

Das Spiel seines Lebens - Myron Bolitar ermittelt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Rasches Handeln ist angesagt für den New Yorker Sportagenten Myron Bolitar: Der Vertrag mit dem Profi-Footballspieler Christian Steele steht kurz vor der Unterzeichnung, da wird Christian verdächtigt, seine Verlobte umgebracht zu haben. Allerdings schwört er, von der spurlos verschwundenen Kathy unlängst noch einen Anruf erhalten zu haben. Auch Kathys Schwester Jessica glaubt nicht an die offizielle Version der Polizei. Sie beauftragt Myron Bolitar, eigene Nachforschungen anzustellen. Und das ist ganz in Myrons Sinne, denn der hat wenig Lust, seinen besten Klienten demnächst im Gefängnis zu besuchen ...

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Harlan Coben

Das Spiel seines Lebens

Myron Bolitar ermittelt

 

Thriller

 

 

Deutsch von Gunnar Kwisinski

 

 

 

 

 

 

 

 

Buch

 

Myron Bolitar hat allen Grund zur Freude: Der clevere New Yorker Sportagent hat Christian Steele als Klienten gewonnen, den vielversprechendsten Einsteiger in die National Football League. Doch noch bevor dessen erster großer Vertrag unterschrieben ist, überstürzen sich die Ereignisse: Christian entdeckt das Bild seiner ehemaligen Verlobten Kathy in einem Pornoheft und erhält einen mysteriösen Anruf von ihr – obwohl Kathy als tot gilt. Ihr Verschwinden vor achtzehn Monaten hatte einiges Aufsehen erregt, denn Kathy war nicht nur jung, äußerst attraktiv und Christians Verlobte, sondern obendrein auch noch die Schwester der bekannten Autorin Jessica Culver.

Deren Leben wird zurzeit von mehr als einer privaten Katastrophe erschüttert. Nicht nur Kathy gilt als verschollen; zusätzlich muss Jessica auch noch den Verlust ihres Vaters verkraften. Der wurde ermordet – angeblich bei einem Raubüberfall, doch daran will Jessica nicht glauben. Sie ist überzeugt, dass die Tat etwas mit Kathys mysteriösem Verschwinden zu tun hat. Und so bittet Jessica Myron, den sie von früher kennt, sich der seltsamen Vorfälle in ihrer Familie anzunehmen. Myron willigt ein, denn zu allem Überfluss gerät auf einmal Christian unter Mordverdacht. Myron muss ihn entlasten, wenn er seinen besten Klienten nicht demnächst im Gefängnis besuchen will …

 

Weitere Informationen zu Harlan Coben sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Deal Breaker« bei Dell Publishing, a division of Bantam Doubleday Dell Publishing Group, Inc., New York.

 

Der Übersetzer bedankt sich bei Kathrin Passig.

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

 

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

 

Neuausgabe Juni 2016 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Copyright © der Originalausgabe 1995 by Harlan Coben Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007, 2016 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Marie-Luise Bezzenberger Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München Covermotiv: © FinePic®, München Th · Herstellung: Str.

ISBN 978-3-641-17850-5V008

www.goldmann-verlag.de

 

 

 

 

 

Dies und alles andereist für Anne.

 

 

Der Autor bedankt sich hiermit bei Sunandan B. Singh, M. D., Chief Medical Examiner von Bergen County, New Jersey, Bob Richter, Rich Henshaw, Richard Curtis, Jacob Hoye, Shawn Coyne und natürlich Dave Bolt.

1

Otto Burke, der Großmeister des Schmus, setzte noch eins drauf.

»Na komm schon, Myron«, drängelte er mit neoreligiöser Inbrunst. »Ich bin sicher, dass wir zu einem Arrangement kommen können. Ihr gebt ein bisschen. Wir geben ein bisschen. Die Titans sind ein Team. Ich würde uns alle gerne als Team sehen, im umfassenden Sinne. Dich eingeschlossen. Ein echtes Team. Was hältst du davon, Myron?«

Myron Bolitar legte die Fingerspitzen aneinander. Er hatte irgendwo gelesen, dass Menschen, die ihre Fingerspitzen aneinander legten, geistreich aussahen. Er kam sich albern vor.

»Nichts wäre mir lieber, Otto«, sagte er, und gab damit die untaugliche Vorlage zum zigsten Mal zurück. »Würde ich wirklich sofort tun, aber wir haben alles gegeben, was wir geben können. Jetzt seid ihr an der Reihe.«

Otto nickte begeistert, als hätte er gerade eine philosophische Weisheit sokratischen Zuschnitts vernommen. Er legte den Kopf schräg und sah den Trainer des Teams mit seinem aufgesetzten Lächeln an. »Was sagst du dazu, Larry?«

Auf das Stichwort hin donnerte Larry Hanson seine hamsterartig behaarte Faust auf den Tisch. »Bolitar soll sich zum Teufel scheren!«, rief er und markierte den Aufgebrachten. »Verstanden, Bolitar? Klar? Sie können sich zum Teufel scheren.«

»Ich kann mich zum Teufel scheren«, wiederholte Bolitar nickend. »Ja, das hab ich verstanden.«

»Wollen Sie mich verarschen? Was? Raus damit! Wollen Sie mich verarschen?«

Myron sah ihn an. »Sie haben da ein Mohnkörnchen zwischen den Zähnen.«

»Verdammter Klugscheißer.«

»Sie sind hübsch, wenn Sie sich so aufregen. Ihr ganzes Gesicht strahlt.«

Larry Hansons Augen weiteten sich. Er blickte kurz zu seinem Boss hinüber, sah Myron wieder an und sagte: »Das hier ist eine Nummer zu groß für Sie, Bolitar. Und das wissen Sie auch.«

Myron antwortete nicht. Unglücklicherweise hatte Larry Hanson nicht ganz Unrecht. Eigentlich war die Sache zu groß für ihn. Er war erst seit zwei Jahren Sportagent, der größte Teil seiner Klienten waren Grenzfälle – Jungs, die glücklich darüber waren, dass sie es in die Profiliga geschafft hatten, und für die Mindestgage der Liga anheuerten. Außerdem war Football nicht gerade sein Spezialbereich. Er hatte nur drei NFL-Spieler unter Vertrag, von denen nur einer regelmäßig in der Startaufstellung seiner Mannschaft stand. Jetzt saß Myron dem 31-jährigen Wunderkind Otto Burke, dem jüngsten Teameigner in der National Football League, und Larry Hanson, ehemals Football-Legende und jetzt Starmanager, gegenüber und verhandelte über einen Vertrag, aus dem selbst in seinen unerfahrenen Händen das höchste Anfangsgehalt für einen Rookie in der Geschichte der NFL herausspringen würde.

Jawohl, er – Myron Bolitar – hatte sich den heißesten Neuprofi, den begehrtesten Rookie, Christian ›Hot Prop‹ Steele unter den Nagel gerissen; den zweimaligen Gewinner der Heismann-Trophy als bester Quarterback aller College-Mannschaften; den Burschen, der drei Mal hintereinander den ersten Platz in der AP und der UPI-Rangliste erreicht hatte; der vier Jahre hintereinander ins All American Team gewählt worden war. Und – als wäre das nicht genug – der Junge war der perfekte Schwiegersohn: ein Einser-Student, gut aussehend, redegewandt, höflich und weiß (natürlich spielte das eine Rolle).

Und das Beste: Er gehörte Myron.

»Das Angebot liegt auf dem Tisch, Gentlemen«, setzte Myron das Gespräch fort. »Wir halten es für mehr als fair.«

Otto Burke schüttelte den Kopf.

»Das ist doch alles Scheiße!«, schrie Larry Hanson. »Sie sind ein gottverdammter Idiot, Bolitar. So geht die Karriere von dem Jungen den Bach runter.«

Myron breitete die Arme aus. »Wie wär’s, wenn wir uns jetzt alle ganz lieb in den Arm nehmen?«

Larry wollte gerade noch einen Kraftausdruck nachlegen, aber Otto unterbrach ihn, indem er eine Hand hob. Als Larry noch spielte, hatten Dick Butkus und Ray Nitzschke ihn mit Körperhaken nicht stoppen können. Jetzt brachte dieser knapp siebzig Kilo schwere Harvard-Abgänger ihn mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen.

Otto Burke beugte sich vor. Er lächelte weiter, gestikulierte weiter und sah Myron weiter ins Gesicht – der Fleisch gewordene Anthony-Robbins-Persönlichkeitsentwicklungs-Werbespot. Höllisch nervig. Otto war ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mann mit den winzigsten Fingern, die Myron je gesehen hatte. Er hatte dunkles Haar, das ihm in Heavy-Metal-Länge auf die Schultern fiel. Ein alberner Spitzbart, der aussah wie mit dem Bleistift aufgemalt, zierte sein Milchgesicht. Er rauchte eine sehr lange Zigarette – zumindest sah sie in seinen kurzen Fingern so aus.

»Also, Myron«, sagte Otto, »lass uns vernünftig reden, okay?«

»Vernünftig. Okay.«

»Sehr gut, Myron, so kommen wir weiter. Tatsache ist, dass Christian Steele eine unbekannte, ungetestete Größe ist. Er hat noch nie ein Profitrikot getragen. Er könnte der Flop des Jahrhunderts werden.«

Larry schnaubte. »Mit sowas müssten Sie sich doch auskennen, Bolitar – Spieler, aus denen nichts geworden ist. Spieler, die einfach abkacken.«

Myron beachtete ihn nicht. Das hatte er schon öfter gehört. Solche Beleidigungen prallten von ihm ab. Mit Worten konnte man ihn nicht verletzen. »Wir reden hier vielleicht über das größte Quarterback-Talent aller Zeiten«, wiederholte er gerührt. »Um die Rechte an ihm zu bekommen, habt ihr drei Tauschaktionen durchgeführt und sechs Spieler abgegeben. Das macht ihr doch nicht, wenn ihr davon ausgeht, dass er es nicht packt.«

»Aber dieser Vertragsentwurf« – Otto unterbrach sich, blickte zur Decke, als suche er da nach dem richtigen Wort, »ist schon fast sittenwidrig.«

»Scheiße ist der«, fügte Larry hinzu.

»Er ist unser letztes Wort«, sagte Myron.

Otto schüttelte den Kopf und lächelte ungerührt. »Jetzt sprechen wir das mal in Ruhe durch, okay? Wir gucken uns die Sache noch mal von allen Seiten genau an. Das ist Neuland für dich, Myron. Ein Ex-Sportler, der sich seine Sporen als Agent verdienen will. Ich habe großen Respekt vor sowas. Ein junger Bursche, der sein Glück versucht. Klasse. Ich bewundere das. Ehrlich.«

Myron schluckte seine Antwort hinunter. Er hätte darauf hinweisen können, dass er genauso alt war wie Otto, aber irgendwie stand er einfach auf diese herablassende Art. Ging uns doch wohl allen so.

»Wenn du hier einen Fehler machst«, fuhr Otto fort, »wäre das so eine Geschichte, die dir die Karriere verbauen könnte. Verstehst du, was ich meine? Viele Leute glauben jetzt schon, dass du dem nicht gewachsen bist – einen Klienten von diesem Kaliber zu vertreten. Ich gehöre natürlich nicht dazu. Ich denke, dass du ein wirklich kluger Bursche bist. Scharfsinnig. Aber so wie du dich jetzt verhältst …« Er schüttelte den Kopf wie ein Lehrer, der von seinem Lieblingsschüler enttäuscht ist.

Larry stand auf und starrte finster auf Myron herab. »Warum geben Sie dem Jungen nicht einen guten Tipp?«, fragte er. »Sagen Sie ihm, er soll sich einen richtigen Agenten suchen.«

Myron hatte mit dieser ganzen Guter-Bulle-Böser-Bulle-Nummer gerechnet. Eigentlich hatte er sogar Schlimmeres erwartet. Bisher hatte Larry Hanson noch kein Wort über die sexuellen Vorlieben irgendwelcher Mütter verloren. Trotzdem war Myron der böse Bulle lieber als der gute. Larry Hanson griff frontal an – Myron sah, was auf ihn zukam und konnte darauf reagieren. Otto Burke war das Minenfeld, in dessen hohem Gras es von Giftschlangen wimmelte.

»Dann hat sich unser Gespräch wohl erst einmal erledigt«, sagte Myron.

»Ich denke, es wäre nicht klug, das aufzuschieben, Myron«, sagte Otto. »Christians blitzsauberes Image könnte Schaden nehmen. Denk an seine Werbeverträge. Und dich könnte das eine Stange Geld kosten. Du willst doch kein Geld verlieren, Myron.«

Myron sah ihn an. »Will ich nicht?«

»Nein, willst du nicht.«

»Das muss ich mir eben aufschreiben.« Er nahm einen Bleistift und notierte: »Will … kein … Geld … verlieren.« Er grinste beide Männer an. »Mann, das sind aber auch wieder Tipps heute.«

Larry grummelte: »Verdammter Klugscheißer.«

Ottos Lächeln war fest auf Autopilot eingestellt. »Mag ja ein bisschen dreist sein«, sagte er, »aber ich glaube, Christian muss sehen, dass er schnell Kasse macht.«

»Ach?«

»Manche Leute haben erhebliche Vorbehalte, was Christian Steeles Zukunft betrifft. Einige glauben« – Otto nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette – »dass er irgendetwas mit dem Verschwinden dieses Mädchens zu tun hat.«

»Ah«, sagte Myron, »das wurde auch langsam Zeit.«

»Was wurde Zeit?«

»Endlich fangt ihr an, ihn in den Dreck zu ziehen. Einen Augenblick lang dachte ich schon, ich hätte nicht genug gefordert.«

Larry Hanson zeigte mit dem Daumen auf ihn. »Kaum zu glauben, was dieses beschissene Stück Entengrütze hier abzieht. Du weist ihn vollkommen zu Recht auf Probleme mit Christians Ex-Schnalle hin, die für dessen Wert als Werbeträger absolut zentral sind –«

»Dumme Gerüchte«, unterbrach Myron ihn. »Das hat nie jemand geglaubt. Wenn überhaupt, haben sie in der Öffentlichkeit Mitleid für Christians Tragödie geweckt. Und nennen Sie Kathy Culver nicht Schnalle.«

Larry hob eine Augenbraue. »Ach je, sind wir nicht ein bisschen empfindlich für einen jämmerlichen Sesselfurzer?«, fragte er.

Myron verzog keine Miene. Er hatte Kathy Culver vor fünf Jahren kennen gelernt, in ihrem zweiten Jahr auf der High School. Schon damals war sie eine aufblühende Schönheit gewesen. Genau wie ihre Schwester Jessica. Vor 18 Monaten war Kathy unter mysteriösen Umständen vom Campus der Reston University verschwunden. Bis heute wusste niemand, wo sie war oder was mit ihr geschehen war. Die Geschichte bot all die schmackhaften Häppchen, die die Medien gerne verschlangen: eine hinreißende Studentin, verlobt mit dem Football-Star Christian Steele, Schwester der Romanautorin Jessica Culver, und als zusätzliche Würze den Verdacht auf ein Sexualverbrechen. Die Presse war nicht zu halten. Sie stürzten sich auf die Geschichte wie ausgehungerte Verwandte aufs kalte Büfett.

Doch erst vor kurzem hatte eine zweite Tragödie die Familie erschüttert. Adam Culver, Kathys Vater, war vor drei Tagen bei einem ›missglückten Raubüberfall‹, wie die Polizei es nannte, ermordet worden. Myron hatte erwogen, sich bei der Familie zu melden, hatte auch darüber nachgedacht, ob er mehr als nur sein Beileid bekunden sollte, war dann aber doch auf Distanz geblieben, weil er nicht sicher war, ob es ihnen recht gewesen wäre, und eigentlich sogar davon ausging, dass das wohl nicht der Fall war.

»Wenn wir also –«

Es klopfte, die Tür ging auf, und Esperanza streckte den Kopf herein. »Ein Anruf, Myron«, sagte sie.

»Schreib’s auf.«

»Geh lieber ran.«

Esperanza blieb in der Tür stehen. Ihre dunklen Augen verrieten nichts, aber er verstand.

»Ich komme sofort«, sagte er.

Sie verschwand.

Larry Hanson pfiff anerkennend. »Heiße Braut, Bolitar.«

»Hey, danke, Larry. Wenn Sie das sagen, bedeutet es mir besonders viel.« Er stand auf. »Ich bin gleich wieder da.«

»Wir können uns hier nicht den ganzen Tag einen runterholen.«

»Dachte ich mir schon.«

Er ging aus dem Konferenzzimmer zu Esperanzas Schreibtisch.

»Deine Altersversorgung«, sagte sie. »Es wäre dringend.«

Christian Steele.

Ihr zierlicher Körperbau hätte nur wenige Menschen auf den Gedanken gebracht, dass sie früher ihr Geld als Profi-Catcherin verdient hatte. Sie war drei Jahre lang als ›Little Pocahontas‹ durchs Land getourt. Die Tatsache, dass Esperanza Diaz lateinamerikanischer Abstammung war, hatte die Verantwortlichen der FLOW (Fabulous Ladys of Wrestling) nicht gestört. Ein unbedeutendes Detail, sagten sie. Lateinamerikanerin, Indianerin, das ist doch Haarspalterei.

Auf dem Höhepunkt ihrer Catcherinnen-Karriere war jede Woche in Stadien überall in den Vereinigten Staaten die gleiche Show abgelaufen. Esperanza (›Pocahontas‹) betrat den Ring in Moccassins, einem Wildlederkleid mit Fransen und einem Stirnband, das die langen schwarzen Haare aus ihrem dunklen Gesicht hielt. Das Wildlederkleid legte sie vor dem Kampf ab, worauf sie in einem etwas frivoleren und nicht unbedingt traditionell indianischem Outfit dastand.

Das Profi-Catchen folgt einem sehr einfachen und schmerzlich variationsarmen Schema. Manche Kämpfer sind böse, manche gut. Pocahontas war gut, ein Liebling der Massen. Sie war hübsch, klein und flink und hatte einen straffen, durchtrainierten Körper. Alle mochten sie. Sie war immer drauf und dran, den Kampf auf Grund ihrer Geschicklichkeit zu gewinnen, bis ihre Gegnerin etwas Verbotenes tat – ihr Sand in die Augen warf, ein Furcht erregendes Hilfsmittel … irgendeinen Gegenstand … zu Hilfe nahm, den jeder Mensch in der freien Welt mit Ausnahme des Ringrichters sehen konnte – worauf sich das Blatt wendete. Dann brachte die böse Catcherin ein paar Mitstreiterinnen ins Geschäft und verbündete sich drei zu eins mit ihnen gegen die arme Pocahontas, worauf alle zum unüberhörbaren Schrecken und Kummer des Ansagers, der das jede Woche erlebte, erbarmungslos auf die tapfere Schöne einprügelten.

Wenn die Situation schließlich hoffnungslos schien, stürmte Big Chief Mama, eine mammutartige Gestalt, aus dem Umkleideraum und riss die Ungeheuer von der wehrlosen Pocahontas. Gemeinsam besiegten Big Chief Mama und Little Pocahontas dann die Mächte des Bösen.

Wahnsinnig unterhaltsam.

»Stell ihn durch«, sagte Myron.

Beim Betreten des Büros fiel ihm das Messingschild auf seinem Schreibtisch ins Auge – ein Geschenk seiner Eltern.

 

Myron BolitarSportagent

 

Er schüttelte den Kopf. Myron Bolitar. Er verstand noch immer nicht, wie man ein Kind Myron nennen konnte. Als seine Familie nach New Jersey gezogen war, hatte er allen erzählt, dass er Mike hieße. Nein, nichts zu machen. Dann hatte er versucht, sich den Spitznamen Mickey zuzulegen. Keine Chance. Nach ein paar Wochen nannten ihn alle wieder Myron; der Name war nicht totzukriegen – wie das Monster in einem Horrorfilm.

Um die sich aufdrängende Frage zu beantworten: Nein, er hatte es seinen Eltern nie verziehen.

Er nahm den Hörer ab. »Christian?«

»Mr. Bolitar? Sind Sie das?«

»Ja. Und bitte nenn mich … Myron.« Das Akzeptieren des Unvermeidlichen zeichnete den Weisen aus.

»Tut mir Leid, Sie zu stören. Ich weiß, wie viel Sie zu tun haben.«

»Ich handle gerade deinen Vertrag aus. Otto Burke und Larry Hanson sitzen nebenan.«

»Das ist wirklich nett, Mr. Bolitar, aber es ist sehr wichtig.« Seine Stimme zitterte. »Ich muss sofort mit Ihnen reden.«

Er nahm den Hörer in die andere Hand. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Christian?«

Mr. Einfühlsam.

»Ich – darüber möchte ich am Telefon lieber nicht reden. Könnten Sie zu mir auf dem Campus kommen?«

»Aber klar. Wann?«

»Sofort, bitte. Ich – ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich möchte, dass Sie es sich ansehen.«

Myron holte tief Luft. »Kein Problem. Ich setz Otto und Larry an die Luft. Kann den Verhandlungen nur gut tun. In einer Stunde bin ich da.«

 

Es dauerte erheblich länger.

Myron ging die kurze Strecke von seinem Büro an der Park Avenue zur Kinney-Garage in der 46th Street. Er nickte Mario, dem Parkhauswächter zu, kam an der Preistafel mit dem kleinen Hinweis ›zuzüglich 97 % Steuern‹ vorbei, und ging weiter zu seinem Wagen, der eine Ebene tiefer stand. Ein Ford Taurus. Die klassische Aufreißerkiste.

Er wollte gerade die Tür aufschließen, als er das Zischen hörte. Wie eine Schlange. Oder – eher noch – wie Luft, die aus einem Reifen strömte. Das Geräusch kam von seinem rechten Hinterreifen. Ein kurzer Blick zeigte Myron, dass jemand ein Loch hineingestochen hatte.

»Hi, Myron.«

Er fuhr herum. Zwei Männer grinsten ihm ins Gesicht. Einer war so groß wie ein kleiner Drittweltstaat. Myron war groß – über einsneunzig und fast 100 Kilo schwer – aber er schätzte, dass dieser Kerl an die zwei Meter ging und 140 Kilo wog. Ein Gewichtheber – Superschwergewicht. Sein ganzer Körper war aufgeblasen. Er sah aus, als trüge er eine Schwimmweste unter seiner Kleidung. Der andere Mann war mittelgroß. Er trug einen Fedorahut.

Der große Mann stapfte mit steif schwingenden Armen auf Myrons Wagen zu. Er hielt den Kopf schief, ein wenig abgeknickt an jenem Körperteil, das man bei normal gebauten Menschen als Hals bezeichnen würde.

»Ärger mit dem Wagen?«, fragte er glucksend.

»Platter Reifen«, sagte Myron. »Im Kofferraum ist ein Reserverad. Wechseln Sie’s.«

»Wohl kaum, Bolitar. Das war nur eine kleine Warnung.«

»Oh?«

Der Berg von einem Mann griff nach dem Revers von Myrons Jackett. »Lass die Finger von Chaz Landreaux. Er ist schon unter Vertrag.«

»Erst wechseln Sie meinen Reifen.«

Das Grinsen wurde breiter. Es war ein dummes, grausames Grinsen. »Beim nächsten Mal bin ich nicht mehr so freundlich.« Er zog Myron zu sich. Das Jackett und die Krawatte verrutschten in seinem Griff. »Verstanden?«

»Ihnen ist sicher bewusst, dass durch die Einnahme von Anabolika Ihre Eier schrumpfen.«

Das Gesicht des Mannes lief rot an. »Ach ja? Vielleicht sollte ich dir die Fresse einschlagen, was? Vielleicht sollte ich dich zu Haferbrei schlagen.«

»Haferbrei?«

»Yeah.«

»Hübsches Bild, wirklich.«

»Halt’s Maul.«

Myron seufzte. Im selben Moment schien sein ganzer Körper schlagartig in Bewegung zu geraten. Zuerst versetzte er dem großen Mann einen Kopfstoß auf die Nase. Es knirschte, als träte man auf einen Käfer. Blut strömte heraus.

»Du Arsch –«

Myron griff um den Kopf den großen Mannes herum und nutzte den Hebel, um ihm den Ellbogen mit solcher Wucht in den Adamsapfel zu stoßen, dass die Luftröhre fast völlig eingedrückt wurde. Der große Mann röchelte kurz. Dann war nichts mehr zu hören. Myron verpasste dem Mann noch einen Handkantenschlag direkt unter dem Schädelknochen ins Genick.

Der große Mann sank zusammen wie ein nasser Sack.

»Okay, das reicht!«

Der Mann mit der Fedora hatte eine Pistole auf Myrons Brust gerichtet und trat einen Schritt vor.

»Gehen Sie weg von ihm. Sofort!«

Myron warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ist das wirklich eine echte Fedora?«

»Sie sollen von ihm weggehen!«

»Okay, okay, ich geh ja schon.«

»Das wäre überhaupt nicht nötig gewesen«, sagte der kleinere Mann, beleidigt wie ein Kind. »Er hat doch nur seine Arbeit gemacht.«

»Ein armer missverstandener Jugendlicher«, sagte Myron. »Ich fühle mich wirklich schrecklich.«

»Lassen Sie einfach die Finger von Chaz Landreaux, okay?«

»Nein, nicht okay. Sagen Sie Roy O’Connor, ich habe gesagt, dass es nicht okay ist.«

»Hey, eine Antwort ist nicht im Preis inbegriffen. Ich werde nur dafür bezahlt, eine Nachricht zu überbringen.«

Schweigend half der Mann mit der Fedora seinem gefallenen Kumpel auf die Beine. Auf dem Weg zum Wagen hielt der Schläger sich mit einer Hand die Nase und massierte sich mit der anderen die Luftröhre. Die Nase war gebrochen, aber noch mehr schmerzte seine Kehle, besonders beim Schlucken.

Sie stiegen ein und fuhren davon. Sie dachten nicht daran, Myrons Reifen zu wechseln.

2

Myron wählte Chaz Landreauxs Nummer auf seinem Autotelefon.

Mangels handwerklicher Fähigkeiten hatte Myron eine halbe Stunde gebraucht, um den Reifen zu wechseln. Die ersten paar Kilometer war er langsam gefahren, da er gefürchtet hatte, das Rad könnte nach seiner Bastelei Fluchtgedanken hegen. Erst langsam hatte er aufgehört, sich Sorgen zu machen, Gas gegeben und sich auf den Weg zu Christian gemacht. Als Chaz ans Telefon ging, erzählte er ihm kurz, was geschehen war.

»Waren schon hier«, antwortete Chaz. Es war sehr laut im Hintergrund. Ein Kind schrie. Irgendetwas fiel herunter und zerbrach. Kinder lachten. Chaz brüllte, dass sie ruhig sein sollten.

»Wann?«, fragte Myron.

»Vor ’ner Stunde. Drei Männer.«

»Bist du verletzt?«

»Nee. Haben mich nur festgehalten und gedroht. Haben gesagt, dass sie mir die Beine brechen, wenn ich den Vertrag nicht einhalte.«

Die Beine brechen, dachte Myron. Wie originell.

Chaz Landreaux war Basketballspieler im letzten Studienjahr an der Georgia-State-University und würde wahrscheinlich schon in der ersten Runde von einem Profi-Team der NBA gedraftet werden. Er war auf den Straßen von Philadelphia aufgewachsen und wohnte mit seiner Mutter, sechs Brüdern, zwei Schwestern und ohne Vater in einem Viertel, das man – wenn man kräftig in die Infrastruktur investierte – in einigen Jahren vielleicht als ›einkommensschwaches Getto‹ würde bezeichnen können.

Während Chaz’ erstem Studienjahr war ein Handlanger von Roy O’Connor, einer großen Nummer unter den Sportagenten, an ihn herangetreten – vier Jahre bevor Chaz berechtigt war, mit einem Agenten in Kontakt zu treten. Der Mann hatte Chaz einen ›Vorschuss‹ von 5000 Dollar und monatliche Zahlungen von 250 Dollar angeboten, wenn er einen Vertrag unterzeichnete, in dem stand, dass er O’Connor zu seinem Agenten machen würde, sobald er Profi wurde.

Chaz war ziemlich durcheinander. Er wusste, dass es ihm nach den Regeln der NCAA verboten war, etwas zu unterschreiben, solange er noch in der Ausbildung war. Man würde den Vertrag für null und nichtig erklären. Doch Roys Mann versicherte ihm, dass das kein Problem sei. Sie würden den Vertrag einfach vordatieren, sodass es so aussähe, als hätte Chaz ihn nach seinem letzten Jahr an der Universität unterzeichnet. Das Schriftstück bliebe bis dahin unter Verschluss. Da käme nie einer hinter.

Chaz war unsicher. Er wusste, dass es illegal war, wusste aber auch, was so viel Geld für seine Mom und seine acht Geschwister in ihrem Zwei-Zimmer-Drecksloch bedeutete. Roy O’Connor war persönlich auf den Plan getreten und hatte den letzten Anstoß gegeben: Wenn Chaz es sich irgendwann anders überlegte, könnte er das Geld zurückzahlen und den Vertrag zerreißen.

Vier Jahre später überlegte Chaz es sich anders. Er versprach, jeden Cent zurückzuzahlen. Ist nicht drin, sagte Roy O’Connor. Du stehst bei uns unter Vertrag. Du bleibst hier.

Das war kein ungewöhnlicher Vorgang. Viele Agenten machten das so. Norby Walters und Lloyd Bloom, zwei der bekanntesten Spielervermittler, hatte man dafür verurteilt. Drohungen waren an der Tagesordnung. Normalerweise war bei Drohungen dann aber auch Schluss. Kein Agent wollte das Risiko eingehen aufzufliegen. Wenn der Junge standhaft blieb, zog sich der Agent zurück.

Roy O’Connor war anders. Roy O’Connor ließ die Muskeln spielen. Myron war überrascht.

»Ich möchte, dass du für eine Weile die Stadt verlässt«, fuhr Myron fort. »Hast du was, wohin du dich ein paar Tage verziehen kannst?«

»Yeah. Ich penn bei einem Freund in Washington. Aber wie geht’s dann weiter?«

»Ich kümmere mich darum. Lass dich einfach erst mal nicht blicken.«

»Okay, yeah, geht klar. Ach, Myron, da ist noch was.«

»Und?«

»Einer von den Typen, die mich festgehalten haben, hat gesagt, er kennt dich. ’n echtes Monster. Riesengroß. Finsterer Motherfucker.«

»Hat er gesagt, wie er heißt?«

»Aaron. Er hat gesagt, ich soll Grüße von Aaron ausrichten.«

Myrons Schultern sanken herab. Aaron. Ein Name aus seiner Vergangenheit. Und kein angenehmer Name. Bisher ließ Roy O’Connor wirklich nur die Muskeln spielen – wenn er es drauf anlegte, konnte er es richtig krachen lassen.

 

Drei Stunden nachdem er sein Büro verlassen hatte schob Myron den Vorfall in der Tiefgarage beiseite und klopfte an Christians Tür. Obwohl er vor zwei Monaten sein Examen gemacht hatte, wohnte Christian noch in dem Wohnheim, in dem er auch während seines letzten Studienjahrs gelebt hatte, und arbeitete als Berater für das Football-Sommercamp der Reston University. Übermorgen jedoch fing das Mini-Trainingscamp der Titans an, und Christian würde dabei sein. Myron hatte nicht die Absicht, Christian hinzuhalten.

Christian öffnete sofort. Bevor Myron die Gelegenheit hatte, sich für seine Verspätung zu entschuldigen, sagte Christian: »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«

»Äh, klar, kein Problem.«

Aus Christians Gesicht war auch der letzte Rest gesunder Gesichtsfarbe gewichen. Keine rosigen Wangen mehr, in denen sich Grübchen bildeten, wenn er lächelte. Kein breites, offenes, Ach-was-solls-Grinsen, das die Kommilitoninnen ins Schwärmen brachte. Selbst die berühmten ruhigen Hände zitterten sichtlich.

»Kommen Sie rein«, sagte er.

»Danke.«

Christians Zimmer hätte eher in eine Familienkomödie aus den Fünfzigern gepasst, als in ein modernes Studentenwohnheim. Zum einen, weil es sauber und ordentlich war. Das Bett war gemacht, die Schuhe standen in einer Reihe darunter. Auf dem Fußboden lagen weder Socken noch Unterhosen. An den Wänden hingen Wimpel. Richtige Wimpel. Myron konnte es nicht fassen. Keine Poster, kein Kalender mit Claudia Schiffer, Cindy Crawford oder den Barbi Twins. Nur altmodische Wimpel. Myron kam sich vor, als hätte er gerade Wally Cleavers Studentenbude betreten.

Anfangs sagte Christian nichts. Sie standen sich unbehaglich gegenüber wie zwei Fremde auf einer Cocktailparty, die keine Drinks hatten, an denen sie sich festhalten konnten. Christian sah zu Boden wie ein Kind, das gerade ausgeschimpft worden war. Er hatte kein Wort über das Blut auf Myrons Anzug verloren. Wahrscheinlich war es ihm nicht aufgefallen.

Myron entschloss sich, einen seiner patentierten Sprüche abzulassen, um das Eis zu brechen: »Was gibt’s?«

Christian fing an, im Zimmer auf- und abzugehen – gar nicht einfach in einem Zimmer, das kaum größer war als eine durchschnittliche Waffenkammer. Myron sah, dass Christians Augen gerötet waren. Er hatte geweint, die Tränenspuren waren auf seinen Wangen noch zu erkennen.

»War Mr. Burke sauer über das abgesagte Meeting?«, fragte er.

Myron zuckte die Achseln. »Er hat sich ganz schön angestellt, aber das wirft ihn nicht um. Hat nichts zu sagen. Mach dir deswegen keine Sorgen.«

»Das Minicamp fängt Donnerstag an.«

Myron nickte. »Bist du nervös?«

»Schon ein bisschen.«

»Wolltest du deshalb mit mir reden?«

Christian schüttelte den Kopf. Er zögerte kurz und sagte dann: »Ich – versteh’s nicht, Mr. Bolitar.«

Jedes Mal, wenn Christian ihn mit Mr. Bolitar ansprach, musste Myron sich verkneifen, sich nach seinem Vater umzudrehen.

»Was verstehst du nicht, Christian? Worum geht’s?«

Er zögerte wieder. »Es geht …« Er unterbrach sich, holte tief Luft und setzte noch einmal an: »Es geht um Kathy.«

Myron dachte, er hätte sich verhört. »Kathy Culver?«

»Sie haben sie gekannt«, sagte Christian. Myron wusste nicht, ob es sich um eine Feststellung oder eine Frage handelte.

»Das ist lange her«, antwortete Myron.

»Als Sie mit Jessica zusammen waren.«

»Ja.«

»Dann verstehen Sie vielleicht, dass ich Kathy vermisse. Mehr, als irgendjemand sich vorstellen kann. Sie war etwas ganz Besonderes.«

Myron nickte ermutigend. Wie Phil Donahue in seiner Talkshow.

Christian trat einen Schritt zurück und stieß sich dabei fast den Kopf an einem Bücherregal. »Alle haben ein Riesentheater darum gemacht, was mit ihr passiert ist«, fing er an. »Die Boulevardpresse hat sich darum gerissen, und in A Current Affair haben sie Geschichten über ihr Verschwinden gebracht. Das war wie ein Spiel für die. Eine Fernsehshow. Sie haben uns immer ›das Traumpaar‹ genannt.« Er zeichnete mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Als würde das mit dem Traum sowas wie unecht bedeuten. Gefühllos. Alle haben gesagt, dass ich jung bin. Dass ich schnell drüber wegkommen würde. Kathy war bloß eine hübsche Blondine, ein Typ wie ich könnte an jedem Finger so eine haben. Von mir haben sie erwartet, dass ich sie vergesse und mein Leben weiterlebe wie vorher. Sie war verschwunden. Es war vergessen und vorbei.«

Christians jungenhafte Ausstrahlung – die ihn in Myrons Augen zu einem Werbestar machen würde – hatte plötzlich ganz andere Züge angenommen. Statt des scheuen, bescheidenen, kleinen Jungen aus Kansas sah Myron plötzlich die Realität: ein verängstigtes, in die Ecke getriebenes kleines Kind, dessen Eltern gestorben waren, das keine richtige Familie und wahrscheinlich auch keine richtigen Freunde hatte, sondern nur Leute, die ihn als Helden anhimmelten oder sich an ihm eine goldene Nase verdienen wollten. (So wie er selbst?)

Myron schüttelte den Kopf. Niemals. Andere Agenten schon. Er nicht. Er war nicht so. Trotzdem blieb ein Rest von Schuldbewusstsein und stach ihn wie mit einem spitzen Finger zwischen die Rippen.

»Ich hab nie richtig geglaubt, dass Kathy tot ist«, fuhr Christian fort. »Das hat es wohl noch schlimmer gemacht. Die Unsicherheit nimmt einen irgendwann ziemlich mit. Irgendwie – irgendwie hab ich manchmal schon fast gehofft, dass sie endlich ihre Leiche finden, bloß damit es vorbei ist. Ist es schrecklich von mir, so etwas zu sagen, Mr. Bolitar?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Christian sah ihn eindringlich an. »Ich muss immer wieder an ihren Slip denken. Wissen Sie davon?«

Myron nickte. Der einzige Hinweis in dem ganzen Mysterium war Kathys zerrissener Slip gewesen, den man auf dem Müllplatz des Unigeländes gefunden hatte. Es hieß, er wäre mit Blut und Sperma verschmiert gewesen. Für die Öffentlichkeit war das die Bestätigung dessen, was sie schon längst vermutet hatte: Kathy Culver war tot. Es war eine traurige, jedoch keineswegs außergewöhnliche Geschichte. Sie war von einem zufällig vorbeikommenden Psychopathen vergewaltigt und ermordet worden. Die Leiche würde man wahrscheinlich nie finden – oder möglicherweise würden ein paar Jäger irgendwann im Wald auf ihr Skelett stoßen und den Medien ein großes, quotenträchtiges Rätsel für die Abendnachrichten bescheren, worauf die Kameras wieder ins Spiel kämen, in der Hoffnung, einen Schnappschuss von einem tränenüberströmten Verwandten zu ergattern.

»Sie haben es dargestellt wie etwas Schmutziges«, fuhr Christian fort. »Immer haben sie ›pink‹ und ›Seide‹ dazugesagt. Sie haben nie Unterwäsche gesagt, nicht einmal einfach nur Slip. Es war immer ein pinkfarbener Seidenslip. Als ob das wichtig wäre. Ein Fernsehsender hat sogar ein Mannequin für Unterwäsche um einen Kommentar gebeten. Ein pinkfarbener Seidenslip. Als hätte sie es herausgefordert. Kathy so in den Dreck zu ziehen …«

Seine Stimme wurde immer leiser. Myron sagte nichts. Christian steuerte auf irgendetwas zu. Myron hoffte nur, dass es kein Nervenzusammenbruch war.

»Ich glaube, ich sollte langsam mal auf den Punkt kommen«, sagte Christian schließlich.

»Lass dir Zeit. Ich lauf nicht weg.«

»Ich habe heute etwas gesehen. Ich –« Er unterbrach sich und sah Myron an. Flehentlich. »Kathy könnte noch am Leben sein.«

Seine Worte trafen Myron wie ein Schlag mit einem nassen Handtuch. Er hatte selbst nicht genau gewusst, was er erwarten sollte, worauf Christian hinaus wollte, doch die Nachricht, dass Kathy Culver noch am Leben sein könnte, war in seinen Überlegungen nicht vorgekommen.

»Was?«

Christian drehte sich um und öffnete die Schublade seines Schreibtischs. Auch der sah aus wie in der Sechziger-Jahre-Fernsehserie Leave it to Beaver. Perfekt aufgeräumt. Zwei Behälter, einer mit Bic-Kugelschreibern, einer mit gespitzten HB-Bleistiften. Eine altmodische Schreibtischlampe. Unterlage mit Kalender. Rechtschreib-, Synonym- und Stilwörterbuch in einer Reihe zwischen zwei runden Buchstützen.

»Das war heute in der Post.«

Er gab Myron ein Magazin. Auf der Vorderseite war eine nackte Frau. Sie gut gebaut zu nennen wäre so, als würde man den Zweiten Weltkrieg als Meinungsverschiedenheit bezeichnen. Die meisten Männer haben ein Faible für große Brüste, und auch Myron war über solche Gefühle nicht erhaben, doch das hier war eindeutig abartig. Das Gesicht der Frau war nicht schön, eher hart. Der Blick, mit dem sie in die Kamera sah, sollte einladend wirken, ließ Myron jedoch eher an Verstopfung denken. Sie leckte sich die Lippen, hatte die Beine gespreizt, und forderte den Leser mit dem Finger zum Näherkommen auf.

Äußerst subtil, dachte Myron.

Das Magazin hieß Nips. Dem Schriftzug, der auf ihrer rechten Brust prangte, konnte man das Thema des Leitartikels entnehmen. »Wie bringe ich sie dazu, sich die Pussy zu rasieren?«

Myron sah fragend auf. »Was soll das?«

»Die Büroklammer.«

»Was?«

Aber Christian war anscheinend zu schwach, sich zu wiederholen. Er deutete darauf. Am oberen Rand des Magazins sah Myron einen silbrigen Punkt. Jemand hatte eine Büroklammer als Lesezeichen angebracht.

»Es ist so gekommen«, erläuterte Christian.

Myron blätterte schnell durch die Seiten, kurze Blicke auf viel nackte Haut, bis zur Büroklammer. Er blinzelte verwirrt. Es war eine Anzeigenseite, die allerdings noch mehr Sexfotos enthielt als die anderen Seiten. Am oberen Rand stand:

 

Live Fantasy Phone – Wählen Sie Ihr Girl

 

Nacktfotos von Frauen nahmen den Rest der Seite ein, drei Reihen aus jeweils vier Bildern. Myron überflog die Bildunterschriften. Er konnte kaum glauben, was er las. »Asiatische Girls warten auf dich!« »Heiße, feuchte Lesben!« »Peitsch mich aus!« »Scharfe Huren!« »Kleine Titten!« (offenbar für diejenigen, denen das Titelbild nicht zusagte) »Reite mich hart!« »Pflück meine Pflaume!« »Lass mich nach mehr betteln!« »Gesucht: Robocock!« »Deine Herrin befiehlt: Ruf mich an!« »Geile Hausfrau!« »Suche übergewichtige Männer!« Über jedem befand sich das passende Foto – aufreizende Posen mit Telefonnummern.

Ein paar waren erheblich pikanter. Crossdresser. Frauen mit männlicher Ausstattung. Einige verstand Myron nicht einmal. Sie kamen ihm vor wie unergründliche wissenschaftliche Experimente. Die Telefonnummern entsprachen den Erwartungen. 1–800–888-SLUT. 1–900–46-HEISS. 1–800-ICH-KOMM. 1–900-BAD-GIRL.

Myron verzog das Gesicht. Er verspürte das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen.

Dann sah er es.

Es war das zweite Bild von rechts in der untersten Reihe. Die Bildunterschrift lautete »Ich mache alles!« Die Telefonnummer war 1–900–344-LUST. 3 Dollar 99 pro Minute. Diskret über die Telefonrechnung oder per Kreditkarte zu bezahlen. Visa/Mastercard wurden akzeptiert.

Die Frau auf dem Foto war Kathy Culver.

Myron spürte, wie sich etwas Kaltes in seinen Körper bohrte. Er schlug die Umschlagseite auf und sah nach, wann das Magazin erschienen war. Es war die aktuelle Ausgabe.

»Wann hast du das gekriegt?«

»Es war heute in der Post«, sagte Christian und griff nach einem Umschlag. »Da drin.«

Myron wurde schwummrig im Kopf. Er versuchte, gegen die Benommenheit anzukämpfen, doch das Bild von Kathy warf ihn immer wieder zurück. Der Briefumschlag war aus schlichtem braunem Packpapier. Es war kein Absender angegeben – das wäre auch zu einfach gewesen. Briefmarken oder ein Poststempel waren auch nicht drauf. Nur die Adresse:

 

Christian SteeleBox 488

 

Keine Stadt und kein Bundesstaat. Also musste er auf dem Universitätsgelände abgeschickt worden sein. Die Adresse war von Hand geschrieben.

»Du bekommst doch bestimmt jede Menge Fanpost, oder?«, fragte Myron.

Christian nickte. »Aber die kommt nicht hierher. Das war in meinem privaten Postfach. Die Nummer steht nirgends.«

Myron griff vorsichtig nach dem Umschlag, achtete darauf, etwaige Fingerabdrücke nicht zu verwischen. »Es könnte eine Fotomontage sein«, sagte Myron. »Sie könnten ihren Kopf auf –«

Mit einem Kopfschütteln unterbrach Christian ihn. Er sah wieder zu Boden. »Das ist nicht nur ihr Gesicht, Mr. Bolitar«, sagte er verlegen.

»Oh«, sagte Myron, wie immer blitzschnell von Begriff. »Verstehe.«

»Meinen Sie, dass wir das der Polizei übergeben müssen?«, fragte Christian.

»Vielleicht.«

»Ich will nichts falsch machen«, sagte Christian und ballte die Hände zu Fäusten. »Aber sie dürfen Kathy nicht noch einmal in den Dreck ziehen. Sie haben ja gesehen, was sie ihr angetan haben, als sie ein Opfer war. Was werden sie tun, wenn sie das in die Finger kriegen?«

»Amok laufen«, pflichtete Myron bei.

Christian nickte.

»Aber wahrscheinlich ist es nur ein schlechter Witz«, fuhr Myron fort. »Bevor wir irgendetwas unternehmen, check ich das mal ab.«

»Wie?«

»Überlass das einfach mir.«

»Da ist noch etwas«, sagte Christian. »Die Handschrift auf dem Umschlag.«

Myron sah sie sich noch einmal an. »Was ist damit?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber es sieht ganz nach Kathys aus.«

3

Als er sie sah, blieb Myron wie angewurzelt stehen.

Er war gerade etwas rammdösig in die Bar gestolpert. Er konnte sich nicht konzentrieren. In seinem Kopf ging es drunter und drüber. Er versuchte zu sortieren, was er bei Christian gehört und gesehen hatte, die Fakten in eine logische Reihenfolge zu bringen und zu einem wohl überlegten Ergebnis zu kommen.

Es gelang ihm nicht.

Das Magazin steckte in der rechten Tasche seines Trenchcoats. Pornoheft und Trenchcoat, dachte Myron. Toll. Ihm ging immer dieselbe nagende Frage im Kopf herum: Konnte Kathy Culver noch am Leben sein? Und wenn ja, was war dann mit ihr passiert? Wie war sie aus der Unschuld ihres Wohnheimzimmers auf die Anzeigenseiten von Nips geraten?

In diesem Augenblick erblickte er die schönste Frau, die er je gesehen hatte.

Sie saß, die langen Beine übereinander geschlagen, auf einem Barhocker und nahm versonnen einen Schluck von ihrem Drink. Sie trug eine weiße Bluse mit offenem Kragen, einen kurzen grauen Rock und schwarze Strümpfe. Alles saß perfekt. Einen winzigen Augenblick lang hielt Myron sie für ein Nebenprodukt seiner Verwirrung, eine blendende Erscheinung, die seine Sinne betörte. Doch das flaue Gefühl in seinem Bauch belehrte ihn schnell eines Besseren. Seine Kehle wurde trocken. Tief im Innersten schlummernde Gefühle brachen über ihn herein wie eine überraschend hohe Welle in der Brandung.

Es gelang ihm, zu schlucken und seine Beine zum Weitergehen zu veranlassen. Sie war einfach atemberaubend. Alles andere in der Bar rückte in den Hintergrund, als wären es nur Requisiten für ihren Auftritt.

Myron trat auf sie zu. »Öfters hier?«, fragte er.

Sie sah ihn an, als wäre er ein alter Mann im Jogginganzug. »Origineller Ansatz«, sagte sie. »Äußerst einfallsreich.«

»Das vielleicht nicht«, sagte er. »Aber lässig gebracht.« Er lächelte. Einnehmend, wie er hoffte.

»Wenn Sie meinen.« Sie griff wieder nach ihrem Drink. »Und jetzt gehen Sie bitte.«

»Wir spielen wohl die Unberührbare.«

»Verschwinden Sie.«

Myron grinste. »Das sollten Sie lassen. Sie machen sich lächerlich.«

»Wie bitte?«

»Merkt doch jeder hier in der Bar.«

»Ach?«, bemerkte sie. »Würden Sie mich dann auch aufklären?«

»Sie sind scharf auf mich. Und wie.«

Sie lächelte fast. »Ist das so offensichtlich?«

»Ist nicht Ihre Schuld. Ich bin unwiderstehlich.«

»Oh-oh. Fangen Sie mich auf, wenn ich in Ohnmacht falle.«

»Ich bin zur Stelle, Zuckerschnute.«

Sie seufzte. Sie war so schön wie immer, genauso schön wie an dem Tag, an dem sie ihn verlassen hatte. Er hatte sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen, doch wenn er an sie dachte, schmerzte es noch immer. Sie anzusehen schmerzte noch mehr. Ihr gemeinsames Wochenende in Wins Haus auf Martha’s Vineyard kam ihm in den Sinn. Er erinnerte sich daran, wie die Meeresbrise ihr durchs Haar blies, wie sie den Kopf beim Sprechen etwas schräg hielt, wie sie in seinem alten Sweatshirt aussah, und wie sie sich anfühlte. An die schlichte, zerbrechliche Glückseligkeit. Das flaue Gefühl in seinem Magen verhärtete sich.

»Hallo, Myron«, sagte sie.

»Hallo, Jessica. Du siehst gut aus.«

»Was machst du hier?«, fragte sie.

»Mein Büro ist hier oben. Ich wohne praktisch hier.«

Sie lächelte. »Ach ja, richtig. Du vertrittst jetzt Sportler, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ist das besser als dieser Undercover-Job?«

Myron antwortete nicht.

»Ich warte auf jemanden«, sagte sie unvermittelt.

»Männlich?«

»Myron …«

»Tut mir Leid. Alter Reflex.« Er sah ihre linke Hand an. Sein Herz schlug einen Salto, als er keinen Ring sah. »Hast du Wie-heißt-er-noch nicht geheiratet?«, fragte er.

»Doug?«

»Stimmt. Doug. Oder war’s doch Dougie?«

»Ausgerechnet du machst dich über andrer Leute Namen lustig?«

Myron zuckte die Achseln. Sie hatte nicht ganz Unrecht. »Was ist mit ihm passiert?«

Sie fixierte einen Glasrand auf der Theke. »Es ging damals nicht um ihn«, sagte sie. »Das war dir ja wohl auch klar.«

Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es brachte nichts, die bittere Vergangenheit aufzuwärmen. »Und was führt dich in die Stadt?«

»Ich werde ein Semester an der New Yorker University unterrichten.«

Sein Herz schlug wieder schneller.

»Du bist wieder nach Manhattan gezogen?«

»Vor einem Monat.«

»Tut mir wirklich Leid, dass dein Vater –«

»Deine Blumen sind angekommen«, unterbrach sie ihn.

»Ich wollte noch mehr tun.«

»Gut, dass du’s gelassen hast.« Sie trank aus. »Ich muss los. War nett, mit dir zu reden.«

»Ich dachte, du triffst hier jemand.«

»Muss mich wohl geirrt haben.«

»Ich liebe dich immer noch, weißt du.«

Sie stand auf, nickte.

»Lass es uns noch mal versuchen«, sagte er.

»Nein.«

Sie ging davon.

»Jess?«

»Was?«

Er überlegte, ob er ihr von dem Foto ihrer Schwester in dem Pornoheft erzählen sollte. »Können wir uns mal zum Mittagessen treffen?«, fragte er. »Nur zum Reden?«

»Nein.«

Jessica drehte sich um und verließ ihn. Schon wieder.

 

Windsor Horne Lockwood III hörte sich Myrons Geschichte mit aneinander gelegten Fingerspitzen an. Bei ihm sah diese Haltung gut aus, viel besser als bei Myron. Als Myron fertig war, sagte er einen Augenblick gar nichts, sondern versenkte sich noch tiefer in seine Fingerspitzen-Konzentration. Schließlich legte er die Hände auf den Schreibtisch.

»Einen aufregenden Tag haben wir da gehabt, was?«

Myron hatte sein Büro bei seinem alten College-Zimmergenossen Windsor Horne Lockwood III gemietet. Myron war oft gesagt worden, er sehe ganz anders aus, als sein Name vermuten ließe, und er verstand das als großes Lob. Windsor Horne Lockwood III hingegen sah genauso aus, wie sein Name klang. Er hatte blondes, vollendet geschnittenes, rechts gescheiteltes Haar. Sein klassisches Patriziergesicht war beinahe zu ebenmäßig, sodass es eher an eine Porzellanfigur als an einen lebenden Menschen erinnerte.

Er kleidete sich stets wie ein reinrassiger Internatsschüler – rosa Hemden, Polohemden, oder Hemden mit Monogrammen, khakifarbene Hosen, Golfhosen (will sagen: wirklich hässlich), weiße Wildlederschuhe (vom Memorial Day im Frühling bis zum Labor Day im Herbst) oder Brogues mit Flügelklappen (vom Labor Day bis zum Memorial Day). Win sprach sogar mit diesem schaurigen Akzent, der nicht aus einer bestimmten Gegend, sondern aus bestimmten Privatschulen wie Andover oder Exeter stammte. (Win hatte Exeter besucht.) Er spielte spitzenmäßig Golf, hatte ein Handicap von drei und vertrat die Familie in der fünften Generation im distinguierten Merion Golf Club in Philadelphia und in der dritten Generation im ebenso distinguierten Pine Valley Golf Club im Süden New Jerseys. Er hatte diesen ganzjährigen Golf-Teint, bei dem nur die Arme (kurzärmlige Hemden) und ein spitz zulaufender Halsausschnitt (offener Hemdkragen) Farbe bekamen. Wins schneeweiße Haut wurde allerdings nicht braun, sondern verbrannte sofort.

Win war ein echtes Bleichgesicht. Der Star-Quarterback Christian Steele wirkte neben ihm wie ein südländischer Laufbursche.

Myron hatte Windsor auf den ersten Blick gehasst. Das ging den meisten Menschen so. Win war es gewohnt. Die Menschen machten sich ein erstes Bild und wollten es bestätigt sehen. In Win sahen sie die reiche, elitäre, arrogante Familie – was ihn, in Kurzform, zu einer astreinen Arschgeige machte. Win konnte nichts dagegen tun. Menschen, die sich ausschließlich auf den ersten Eindruck verließen, interessierten ihn nicht.

Win zeigte auf das Magazin auf seinem Schreibtisch. »Du wolltest Jessica nichts davon erzählen?«

Myron stand auf, ging einmal im Zimmer auf und ab und setzte sich wieder. »Was hätte ich sagen sollen? ›Hi, ich liebe dich, komm zu mir zurück, hier ist ein Foto von deiner angeblich toten Schwester, die in einem Pornoheft Werbung für eine Sex-Hotline macht‹?«

Win überlegte einen Augenblick. »An der Formulierung müsste man noch ein bisschen feilen«, sagte er.

Er blätterte das Pornoheft mit hochgezogener Augenbraue durch, als dächte er ›Hmmmm‹. Myron beobachtete ihn. Er hatte sich entschlossen, Win nichts von Chaz Landreaux und dem Vorfall in der Tiefgarage zu erzählen. Zumindest jetzt noch nicht. Win reagierte komisch, wenn jemand versuchte, Myron wehzutun. Das war nicht immer hübsch anzusehen. Myron sparte sich das für später auf, wenn er wusste, wie er mit Roy O’Connor umgehen wollte. Und mit Aaron.

Win ließ das Magazin auf den Schreibtisch fallen. »Fangen wir an?«

»Womit?«

»Ermitteln. Das hattest du doch vor, richtig?«

»Willst du mir helfen?«

Win lächelte. »Aber sicher doch.« Er stellte Myron sein Telefon hin. »Wählen.«

»Die Nummer aus dem Magazin?«

»Großartig, Myron, ich dachte, wir würden im Weißen Haus anrufen«, sagte er trocken. »Mal sehen, ob wir Hillary dazu bringen können, uns schmutzige Worte ins Ohr zu säuseln.«

Myron nahm den Hörer ab. »Hast du schon mal so eine Nummer angerufen?«

»Ich?« Win spielte den Schockierten. »Die Zierde des Debütantinnenballs? Der Gesellschaftshengst der besseren Kreise? Sie belieben zu scherzen.«

»Ich auch nicht.«

»Vielleicht möchtest du dann lieber allein sein«, sagte Win. »Den Gürtel öffnen, die Hose herunterlassen oder so etwas.«

»Sehr witzig.«

Myron wählte die 900er-Nummer unter dem Bild von Kathy. Im Zuge seiner Ermittlungen hatte er Tausende von Telefonaten geführt, sowohl in den Jahren beim FBI als auch in seinem Privatjob im Auftrag von Teambesitzern und -präsidenten. Doch, jetzt fühlte er sich zum ersten Mal wirklich unsicher.

Ein grässlicher Piepton pfiff ihm ins Ohr, dann sagte eine Stimme vom Band: »Leider können wir die Verbindung nicht herstellen. Ihr Anschluss ist für diese Nummer gesperrt.«

Myron blickte auf. »Das Gespräch wird nicht durchgestellt.«

Win nickte. »Hatte ich vergessen. Ich habe die 900er-Nummern sperren lassen. Die Angestellten haben sie dauernd angerufen, und das wurde ganz schön teuer – nicht nur bei Sex-Nummern, sondern auch bei Astrologen, Sport-Ergebnisdiensten, Wahrsagern, Rezepten und sogar Gebetsnummern.« Er griff hinter sich und zog ein anderes Telefon hervor. »Versuch’s damit. Mein Privatanschluss. Keine Sperre.«

Myron wählte noch einmal. Es klingelte zwei Mal, bevor jemand antwortete. Eine Frauenstimme vom Band hauchte: »Hallo. Sie haben die Fantasy Phone Line angerufen. Wenn Sie unter achtzehn sind oder nicht für diesen Anruf bezahlen wollen, legen Sie jetzt bitte auf.« Nach nicht einmal einer Sekunde fuhr sie fort: »Willkommen bei der Fantasy Phone Line. Hier sprechen Sie mit den erotischsten, willigsten, schönsten und begehrenswertesten Frauen der Welt.«

Myron fiel auf, das die Stimme jetzt viel langsamer sprach, als würde sie einer Kindergartengruppe etwas vorlesen. Jedes Wort war ein Satz für sich.

»Willkommen. Bei. Der. Fantasy …«

»In wenigen Augenblicken werden Sie direkt mit einem unserer wundervollen, hinreißenden, sinnlichen, scharfen Girls sprechen, die hier auf Sie warten, um Ihre Lust bis auf neue Höhen der Ekstase zu treiben. Alle Gespräche sind Einzelgespräche. Die Zahlung erfolgt diskret über Ihre Telefonrechnung. Sie werden live mit Ihrem persönlichen Fantasy Girl verbunden.« Die Stimme leierte ihre eigenartigen jambischen Pentameter weiter. Schließlich folgte eine Anleitung: »Wenn Sie ein Tastentelefon haben und sich über die geheime Beichte einer ungezogenen Lehrerin unterhalten wollen, drücken Sie die Eins. Wenn Sie sich …«

Myron sah Win an. »Wie lange ist das bis jetzt?«

»Sechs Minuten.«

»Schon vierundzwanzig Dollar«, sagte Myron. »Ist dir der Ausdruck ›totaler Nepp‹ ein Begriff?«

Win nickte. »Von Wichsern für Wichser.«

Myron drückte einen Knopf, um aus der Bandschleife herauszukommen. Das Telefon klingelte zehn Mal – Mann, die wussten, wie man Zeit schindet – ehe eine andere Frauenstimme sagte: »Hi. Wie fühlst du dich?«

Sie klang genauso, wie Myron erwartet hatte. Tief und rauchig.

»Äh, hi«, improvisierte Myron. »Hören Sie, ich würde gern –«

»Wie heißt du, Schatz?«, fragte sie.

»Myron.« Er schlug sich gegen die Stirn und verschluckte einen Fluch. War er wirklich so dämlich gewesen, seinen richtigen Namen zu nennen?«

»Mmmmm, Myron«, sagte sie, als probiere sie seinen Klang aus. »Der Name gefällt mir. Klingt sexy.«

»Yeah, also, danke, aber –«

»Ich heiße Tawny.«

Tawny. Logisch.

»Woher hast du meine Nummer, Myron?«

»Ich habe sie in einem Magazin gesehen.«

»In welchem Magazin, Myron?«

Die dauernde Nennung seines Namens fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. »Nips.«

»Uuuh. Ich mag das Magazin. Es macht mich so, du weißt schon.«

Diese Eloquenz. »Hör zu, äh, Tawny. Ich habe eine Frage zu deiner Anzeige.«

»Myron?«

»Ja.«

»Ich mag deine Stimme. Du klingst echt heiß. Willst du wissen, wie ich aussehe?«

»Nein, eigentlich ni-«

»Ich habe braune Augen, lange braune Haare, ein bisschen gewellt. Ich bin einsfünfundsechzig groß. Meine Maße sind neunzig-sechzig-neunzig. Körbchengröße C. Manchmal auch D.«

»Das ist sehr schön für dich, aber –«

»Was machst du gerne, Myron?«

»Machen?«

»Zum Spaß.«

»Hör zu, Tawny, du scheinst wirklich sehr nett zu sein, aber kann ich mit dem Mädchen aus der Anzeige sprechen?«

»Ich bin das Mädchen aus der Anzeige«, sagte sie.

»Nein, ich meine das Mädchen, dessen Bild über dieser Telefonnummer abgebildet ist.«

»Das bin ich, Myron. Ich bin dieses Mädchen.«

»Das Mädchen auf dem Foto ist blond und hat blaue Augen«, sagte Myron. »Du hast mir gerade erzählt, dass du braune Augen und braunes Haar hast.«

Win hob den Daumen. Ein Punkt für das geschulte Auge von Myron Bolitar, Meisterdetektiv.

»Habe ich das gesagt?«, fragte Tawny. »Ich meinte blond mit blauen Augen.«

»Ich muss mit dem Mädchen in der Anzeige reden. Es ist sehr wichtig.«

Sie schnurrte noch eine Oktave tiefer. »Ich bin besser, Myron. Ich bin die Beste.«

»Das bezweifle ich nicht, Tawny. Du klingst sehr professionell. Aber jetzt muss ich mit dem Mädchen aus der Anzeige reden.«

»Sie ist nicht hier, Myron.«

»Wann kommt sie wieder?«

»Ich weiß es nicht, Myron. Aber lehn dich einfach zurück und entspann dich. Wir werden unseren Spaß haben –«

»Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich bin wirklich nicht interessiert. Kann ich deinen Boss sprechen?«

»Mit meinem Boss?«

»Ja.«

Sie klang jetzt anders. Geschäftsmäßiger. »Das soll ein Witz sein, oder?«

»Nein. Das ist mein Ernst. Verbinde mich bitte mit deinem Boss.«

»Also, okay«, sagte sie. »Einen Moment.«

Eine Minute verging. Dann die zweite. Win sagte: »Da passiert nichts mehr. Sie wartet nur, wie lange der Gimpel dranbleibt und ihr Geld in den Slip schiebt.«

»Glaub ich nicht«, sagte Myron. »Ihr gefiel meine Stimme. Sie hat gesagt, dass ich heiß klinge.«

»Oh, das war mir nicht bewusst. Wahrscheinlich warst du der Erste, zu dem sie das gesagt hat.«

»Genau das habe ich mir auch gedacht«, sagte Myron. Ein paar Minuten später legte er den Hörer auf. »Wie lange hat das gedauert?«

Win sah auf die Uhr. »Dreiundzwanzig Minuten.« Er griff nach einem Taschenrechner. »Dreiundzwanzig mal dreineunundneunzig.« Er tippte die Zahlen ein. »Der Anruf kostet dich einundneunzig Dollar und sechsundsiebzig Cents.«

»Ein echtes Schnäppchen«, sagte Myron. »Weißt du, was komisch ist? Sie hat kein einziges schmutziges Wort benutzt.«

»Was?«

»Die Frau am Telefon. Sie hat überhaupt nichts Obszönes oder Sexuelles gesagt.«

»Und jetzt bist du enttäuscht.«

»Ist das nicht ziemlich seltsam?«

Win zuckte die Achseln und überflog das Magazin noch einmal. »Hast du dir das mal richtig angeguckt?«

»Nein.«

»Das Heft ist halb voll mit Anzeigen für Telefonsex-Nummern. Ganz offensichtlich ein Bombengeschäft.«

»Safer Sex«, sagte Myron. »Sicherer geht’s nicht.«

Es klopfte an der Tür.

»Herein«, rief Win.

Esperanza öffnete die Tür. »Ein Anruf für dich. Otto Burke.«

»Sag ihm, ich bin sofort für ihn da.«

Sie nickte und ging.

»Ich habe gerade etwas Zeit«, sagte Win. »Ich versuche mal herauszubekommen, wer die Anzeige aufgegeben hat. Außerdem brauchen wir eine Handschriftprobe von Kathy Culver zum Vergleich.«

»Ich schau mal, was ich kriegen kann.«

Win legte die Fingerspitzen wieder zusammen und klopfte sie sanft und nachdenklich gegeneinander. »Dir ist doch klar«, setzte er an, »dass das Foto wahrscheinlich vollkommen bedeutungslos ist. Vermutlich gibt es dafür eine ganz einfache Erklärung.«

»Möglich«, stimmte Myron zu und stand auf. Dasselbe hatte er sich in den letzten zwei Stunden auch immer wieder gesagt. Er glaubte nicht mehr daran.

»Myron?«

»Ja?«

»Du glaubst nicht, dass es Zufall war – ich meine, Jessica unten in der Bar.«

»Nein«, sagte Myron. »Wohl nicht.«

Win nickte. »Sei vorsichtig«, sagte er. »Nur so als Tipp.«

4

Mistkerl.

Jessica Culver saß bei ihren Eltern in der Küche, auf dem Stuhl, auf dem sie schon als Kind immer gesessen hatte.

Sie hätte es besser wissen müssen. Sie hätte das Ganze von Anfang bis Ende durchdenken und auf alles vorbereitet sein müssen. Und was hatte sie stattdessen getan? Sie war nervös geworden. Hatte gezögert. Sie hatte sich in die Bar in der Nähe seines Büros gesetzt, um etwas zu trinken.

Bescheuert.

Aber das war noch nicht alles. Er hatte sie überrascht und sie war in Panik geraten.

Warum?

Sie hätte Myron die Wahrheit sagen sollen. Sie hätte ihm mit ruhiger, unaufgeregter Stimme erzählen sollen, warum sie wirklich dort war. Doch das hatte sie nicht getan. Sie hatte ahnungslos getrunken, und er war plötzlich aufgetaucht und hatte so gut ausgesehen, und so verletzt und –

Scheiße nochmal, Jessie, du bist vielleicht kaputt.

Sie nickte sich zu. Jawoll. Kaputt. Selbstzerstörerisch. Und dazu noch eine ganze Reihe anderer wenig schmeichelhafter Adjektive, die ihr gerade nicht einfielen. Ihr Verleger und ihr Agent sahen das natürlich anders. Sie schätzten ihre ›Eigenheiten‹ (ihre Formulierung – Jessie zog ›Macken‹ vor) und ermutigten diese sogar. Sie machten Jessie Culver zu einer so außergewöhnlichen Autorin. Sie gaben ihren Texten diesen gewissen ›Biss‹ (wieder ihre Formulierung).

Vielleicht stimmte das. Jessie wusste es nicht. Aber eins wusste sie genau: Diese eigenartigen Macken hatten ihr Leben versaut.

Seht den leidenden Künstler! Es blutet das Herz im Angesicht solch namenloser Qualen!›

Mit einem Kopfschütteln verscheuchte sie den Spott. Sie war heute ungewöhnlich introvertiert, doch das war verständlich. Schließlich war sie Myron begegnet, und das hatte eine Menge ›Was-wäre-wenns‹ nach sich gezogen – eine wahre Lawine nutzloser ›Was-wäre-wenns‹ aus allen möglichen und unmöglichen Blickwinkeln.

Was wäre – sie fing schon wieder damit an.

In ihrer typischen, egozentrischen Art hatte sie die ›Was-wäre-wenns‹ nur auf sich bezogen und Myron völlig außen vor gelassen. Jetzt dachte sie über ihn nach, darüber, wie er es wohl verkraftet hatte, dass seine Welt zerfallen war – nicht auf einen Schlag, sondern langsam, Stück für Stück. Vier Jahre. Sie hatte ihn vier Jahre lang nicht gesehen. Sie hatte Myron in eine verborgene Abstellkammer in ihrem Gedächtnis gesteckt und die Tür abgeschlossen. Sie hatte gedacht (gehofft?), dass es damit erledigt wäre, dass die Tür einen gewissen Druck aushalten würde, ohne sich wieder zu öffnen. Doch als sie ihn heute gesehen hatte, das hübsche, freundliche Gesicht hoch oben über den breiten Schultern, den ruhigen ›Warum-immer-ich‹-Ausdruck in seinen Augen, war die Tür aus den Angeln geflogen wie bei einer Gasexplosion.

Ihre Gefühle hatten Jessica überwältigt. Sie wollte unbedingt mit ihm zusammen sein, also war sie abgehauen, so schnell sie konnte.

Vollkommen logisch, dachte sie, wenn man eine Riesenmacke hat.

Jessica sah aus dem Fenster. Sie wartete auf Paul. Lieutenant Paul Duncan von der Polizei in Bergen County – für sie schon immer Onkel Paul – stand zwei Jahre vor seiner Pensionierung. Er war der beste Freund ihres Vaters gewesen und jetzt war er sein Testamentsvollstrecker. 25 Jahre hatten sie gemeinsam für Recht und Ordnung gearbeitet – Paul als Cop, Adam als Gerichtsmediziner.

Paul kam, um die letzten Einzelheiten des Gedenkgottesdienstes für ihren Vater zu besprechen. Adam Culver würde nicht beigesetzt werden. Davon hatte er nichts wissen wollen. Aber Jessica wollte mit Paul über etwas anderes reden. Allein. Was hier passierte, gefiel ihr gar nicht.

»Hallo, mein Schatz.«

Sie drehte sich um. »Hallo, Mom.«

Ihre Mutter kam aus dem Keller nach oben. Sie trug eine Schürze und ihre Finger spielten mit dem Holzkreuz an ihrer Halskette. »Ich habe den Stuhl nach unten gestellt«, erklärte sie gewollt beiläufig. »Der nimmt hier oben nur Platz weg.«

Erst jetzt fiel Jessica auf, dass der Stuhl ihres Vaters – über den ihre Mutter offenbar sprach – nicht mehr am Küchentisch stand. Der schlichte, ungepolsterte Stuhl, auf dem ihr Vater gesessen hatte, so lange Jessica sich erinnern konnte, der immer so nah am Kühlschrank gestanden hatte, dass er sich ohne aufzustehen umdrehen, die Tür öffnen und Milch aus dem obersten Fach nehmen konnte, stand jetzt in irgendeiner von Spinnweben überzogenen Kellerecke.

Kathys nicht.

Jessies Blick wanderte zu dem Stuhl rechts neben sich. Kathys Stuhl. Er stand noch da. Mutter hatte ihn nicht angerührt. Ihr Vater, na ja, der war tot. Aber Kathy – wer weiß? Theoretisch könnte sie jeden Augenblick hereinspazieren, die Hintertür dabei wie immer gegen die Wand knallen, freundlich lächeln und sich zum Abendessen zu ihnen setzen. Die Toten waren tot. Wenn man mit einem Gerichtsmediziner zusammengelebt hatte, wusste man, wie nutzlos sie waren. Tot und begraben. Mit der Seele war das etwas Anderes. Jessies Mutter war eine fromme Katholikin. Sie ging jeden Morgen zur Messe. In Krisenzeiten wie diesen zahlte sich ihre religiöse Standhaftigkeit aus – wie bei jemandem, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging und die neu antrainierten Muskeln endlich einmal benutzen konnte. Sie zweifelte nicht, sondern glaubte einfach an ein freudiges himmlisches Leben nach dem Tode. Welch ein Trost. Jessica wünschte, sie könnte das auch, doch ihr Glaube war in den letzten Jahren nicht mehr so recht auf die Beine gekommen.

Aber Kathy war vielleicht gar nicht tot. Daher der Stuhl – Mutters Laterne leuchtete weiter, um ihrer Jüngsten den Weg zurück nach Haus zu weisen.

Jessica fuhr morgens beim Aufwachen meist aufrecht im Bett hoch und dachte an – nein – dachte sich neue Möglichkeiten aus, was mit ihrer kleinen Schwester geschehen sein könnte. Lag sie tot in irgendeiner Grube? Von Ästen bedeckt im Wald? Ein von Tieren und Maden abgenagtes Skelett? Steckte ihre Leiche in einem Betonfundament? Stand sie, an den Füßen beschwert, auf dem Grund eines Sees oder Flusses, wie der kleine Unterwassermensch im Wohnzimmer-Aquarium? War sie ohne Schmerzen gestorben? Hatte man sie gequält? Hatte man ihre Leiche in kleine Stücke zerhackt, verbrannt, sie in Säure aufgelöst …

Oder war sie noch am Leben?

Die Hoffnung war nicht totzukriegen.

War Kathy vielleicht entführt worden? Lebte sie als Sklavin unter der Fuchtel eines Scheichs im Mittleren Osten? Oder hatte man sie in Wisconsin an eine Heizung gekettet, wie in einer schlechten Fernsehserie? Könnte sie sich den Kopf gestoßen und vergessen haben, wer sie war, und lebte sie jetzt als Obdachlose ohne Erinnerung an die Vergangenheit? Oder war sie einfach weggelaufen, in eine andere Welt?

Es gab unendlich viele Erklärungen für das Verschwinden eines geliebten Menschen. Selbst die Einfallslosesten bargen noch tausend verschiedene Schreckensszenarien und – schlimmer noch – tausend verschiedene Hoffnungen.