Keine zweite Chance - Harlan Coben - E-Book

Keine zweite Chance E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

„Als die erste Kugel in meine Brust einschlug, dachte ich an meine Tochter.“ Als Marc Seidman wieder zu Bewusstsein kommt, liegt er auf der Intensivstation, seine Frau ist tot, und von seiner sechs Monate alten Tochter Tara fehlt jede Spur. Doch Tara lebt: Eine Lösegeldforderung trifft ein, die Marc neue Hoffnung gibt. Die Entführer geben Marc allerdings nur eine Chance, seine Tochter wieder zu sehen. Doch die Lösegeldübergabe geht schief …

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Harlan Coben

KEINEZWEITE CHANCE

Roman
Aus dem Amerikanischen
von Gunnar Kwisinski

Buch

»Als die erste Kugel in meine Brust einschlug, dachte ich an meine Tochter …«

Als Marc Seidman wieder zu Bewusstsein kommt, liegt er schwer verletzt auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Noch zwölf Tage zuvor schien das Leben des erfolgreichen Chirurgen perfekt: eine wunderschöne Frau, eine kleine Tochter, ein traumhaftes Zuhause. Nun ist seine Frau tot – von unbekannten Eindringlingen erschossen; er selbst überlebte nur knapp. Und von der sechs Monate alten Tara fehlt jede Spur. Doch gerade als Marc auch seine Tochter verloren glaubt, gibt ihm eine Lösegeldforderung neue Hoffnung. Obwohl die Botschaft mit einer klaren Drohung verbunden ist: »Wenn Sie die Behörden informieren, verschwinden wir. Sie werden nie erfahren, was mit ihr passiert ist. Sie bekommen keine zweite Chance.« Während Marc alles tut, um das Leben seiner Tochter zu retten, konzentrieren sich die Ermittlungen in dem Fall auf einen Hauptverdächtigen: Marc selbst. Und der droht in einem Gewirr aus Lügen und alten Geheimnissen langsam die Orientierung zu verlieren …

Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nach einem Studium der Politikwissenschaften arbeitete er in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er hat bislang zehn Thriller geschrieben, die in über zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Harlan Coben wurde als erster Autor mit den drei wichtigsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet, dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in New Jersey.

Mehr zu Autor und Buch unter www.harlancoben.com

 

Von Harlan Coben bereits bei Goldmann erschienen:

Kein Sterbenswort. Roman (45251)

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorKapitel 1Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Kapitel 24 Kapitel 25 Kapitel 26 Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30 Kapitel 31 Kapitel 32 Kapitel 33 Kapitel 34 Kapitel 35 Kapitel 36 Kapitel 37 Kapitel 38 Kapitel 39 Kapitel 40 Kapitel 41 Kapitel 42 Kapitel 43 Kapitel 44 Kapitel 45 Kapitel 46 Epilog DanksagungCopyright

In liebevoller Erinnerung an meine SchwiegermutterNancy Armstrong

 

 

Und zu Ehren ihrer Enkel:

 

 

Thomas, Katharine, McCallum, Reilly,Charlotte, Dovey, Benjamin, Will, Ana,Eve, Mary, Sam, Caleb und Annie

1

Als die erste Kugel in meine Brust einschlug, dachte ich an meine Tochter.

Das möchte ich zumindest glauben. Ich verlor ziemlich schnell das Bewusstsein. Und wenn man es ganz genau nimmt, erinnere ich mich nicht einmal mehr daran, dass auf mich geschossen wurde. Ich weiß, dass ich viel Blut verloren habe. Ich weiß, dass eine zweite Kugel meinen Kopf gestreift hat, obwohl ich da vermutlich schon bewusstlos war. Ich weiß auch, dass mein Herz aufgehört hat zu schlagen. Trotzdem möchte ich glauben, dass ich an Tara gedacht habe, als ich im Sterben lag.

Zu Ihrer Information: Ich habe weder ein helles Licht noch einen dunklen Tunnel gesehen. Und falls doch, kann ich mich auch daran nicht mehr erinnern.

Tara, meine Tochter, ist erst sechs Monate alt. Sie lag in ihrem Kinderbett. Ich frage mich, ob die Schüsse sie erschreckt haben. Müssen sie eigentlich. Wahrscheinlich hat sie angefangen zu weinen. Ich frage mich, ob das vertraute, durchdringende Geräusch ihrer Schreie irgendwie durch den Nebelschleier an mein Ohr gedrungen ist, ob ich es tatsächlich gehört habe. Aber auch daran kann ich mich nicht erinnern.

Ganz genau hingegen erinnere ich mich an Taras Geburt. Ich weiß noch, wie Monica — Taras Mutter — all ihre Kraft zusammennahm und ein letztes Mal presste. Dann erschien ihr Kopf. Ich sah meine Tochter als Erster. Wir alle haben im Laufe unseres Lebens schon oft am Scheideweg gestanden. Wir wissen, dass man gelegentlich eine Tür schließt, indem man eine andere öffnet. Wir kennen die Zyklen des Lebens und den Wechsel der Jahreszeiten. Aber der Augenblick, in dem das eigene Kind geboren wird … ist mehr als überirdisch. Man schreitet durch ein Portal wie bei Raumschiff Enterprise, durch einen voll funktionstüchtigen Realitäts-Transformer. Alles wird anders. Man verwandelt sich — ein einfaches Element kommt in Kontakt mit einem gewaltigen Katalysator und wird zu etwas viel Komplexerem. Das alte Universum ist verschwunden; es schrumpft — hier jedenfalls — auf dreitausendeinhundertfünfzig Gramm zusammen.

Vaterschaft verwirrt mich. Ich weiß, nach nur sechs Monaten bin ich noch Amateur. Lenny, mein bester Freund, hat vier Kinder. Ein Mädchen und drei Jungen. Seine Älteste, Marianne, ist zehn, sein Jüngster gerade ein Jahr alt geworden. Wenn ich Lennys ewig mattes, aber glückliches Lächeln und den ständig Fast-Foodverklebten Boden seines Geländewagens sehe, wird mir bewusst, dass ich noch gar nicht mitreden kann. Das ist mir vollkommen klar. Aber wenn ich mich angesichts der vor mir liegenden Aufgabe, ein Kind zu erziehen, einmal so richtig verloren fühle oder Angst bekomme, brauche ich nur das hilflose Bündel in der Wiege anzusehen, und wenn Tara dann zu mir aufblickt, frage ich mich, was ich alles tun würde, um sie zu beschützen. Natürlich wäre ich ohne jedes Zögern bereit, mein Leben zu opfern. Und, um ehrlich zu sein, wenn es hart auf hart käme, selbstverständlich auch Ihres.

Daher möchte ich glauben, dass ich, als die beiden Kugeln in meinen Körper eindrangen, als ich mit dem halb aufgegessenen Müsliriegel in der Hand auf das Linoleum des Küchenfußbodens sackte und in der sich ausbreitenden Lache meines eigenen Blutes lag, und sogar als mein Herz zu schlagen aufhörte, noch immer versucht habe, meine Tochter zu beschützen.

Ich kam im Dunkeln wieder zu mir.

Anfangs hatte ich keine Ahnung, wo ich war, doch dann piepte es rechts von mir. Ich kannte das Geräusch. Ich rührte mich nicht, lauschte nur den Pieptönen. Mein Gehirn fühlte sich zäh an, wie in Sirup eingelegt. Die erste Regung, die ich verspürte, war elementar: Durst. Ich wollte Wasser. Ich hätte nie gedacht, dass eine Kehle sich so trocken anfühlen könnte. Ich versuchte zu schreien, aber meine Zunge klebte in der ausgedorrten Mundhöhle.

Eine Gestalt kam ins Zimmer. Als ich versuchte, mich aufzurichten, schoss ein heißer Schmerz wie ein Messerstich meinen Nacken hinab. Mein Kopf fiel nach hinten. Und wieder versank alles in Dunkelheit.

Das nächste Mal erwachte ich am Tag. Grelle Sonnenstrahlen drangen zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch ins Zimmer. Ich blinzelte. Ein Teil von mir verspürte den Drang, die Hand zu heben und das Licht von meinen Augen fern zu halten, aber die Erschöpfung hielt mich davon ab. Meine Kehle war noch immer knochentrocken.

Ich hörte etwas, und plötzlich beugte sich eine Frau über mich. Ich erblickte eine Krankenschwester. Die ungewohnte Perspektive brachte mich aus der Fassung. Das passte alles nicht. Sonst war ich derjenige, der neben dem Krankenbett stand und auf den Patienten hinabsah. Eine weiße Haube — so ein steifes, dreieckiges Modell — saß wie ein Vogelnest auf dem Kopf der Schwester. Ich hatte einen Großteil meines Lebens in den unterschiedlichsten Krankenhäusern gearbeitet, kann aber nicht sagen, ob ich, außer in Fernsehserien oder Spielfilmen, je so eine Kopfbedeckung gesehen habe. Die Schwester war untersetzt und schwarz.

»Dr. Seidman?«

Ihre Stimme klang wie warmer Ahornsirup. Ich brachte ein unmerkliches Nicken zustande.

Die Schwester musste meine Gedanken gelesen haben, hielt sie doch schon einen Becher mit Wasser in der Hand. Sie steckte mir einen Strohhalm zwischen die Lippen, und ich saugte gierig.

»Schön langsam«, sagte sie sanft.

Ich wollte fragen, wo ich mich befand, doch das war eigentlich deutlich zu erkennen. Ich öffnete den Mund, um zu fragen, was passiert war, aber wieder kam sie mir zuvor.

»Ich hole den Doktor«, sagte sie und ging zur Tür. »Entspannen Sie sich.«

Ich krächzte: »Meine Familie …«

»Ich bin gleich wieder da. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Ich ließ meine Augen durchs Zimmer schweifen. Mein Blick war durch einen medikamentenbedingten Duschvorhang benebelt. Trotzdem gab es genug Anhaltspunkte für einige Schlussfolgerungen. Ich lag unverkennbar in einem Krankenhauszimmer. Zu meiner Linken stand ein Tropf mit Infusionsbeutel und Perfusor, von dem sich ein Schlauch zu meinem Arm schlängelte. Die Energiesparlampen summten fast, aber nicht ganz, unhörbar. In der oberen rechten Zimmerecke hing ein kleines Fernsehgerät auf einem Schwenkarm.

Knapp zwei Meter vom Fußende des Bettes entfernt befand sich ein großes Fenster. Ich kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht hindurchsehen. Wahrscheinlich stand ich unter Beobachtung. Das bedeutete, dass ich auf einer Intensivstation lag. Und das wiederum hieß, dass es mir ziemlich schlecht ging.

Meine Schädeldecke juckte, und irgendetwas zog mir an den Haaren. Bestimmt ein Verband. Ich versuchte eine erste Selbstdiagnose, doch mein Kopf versagte mir die Zusammenarbeit. Ein dumpfer Schmerz erfasste mich, ohne dass ich sagen konnte, woher er eigentlich kam. Meine Gliedmaßen waren schwer, meine Brust schien in Blei gegossen zu sein.

»Dr. Seidman?«

Ich blickte zur Tür. Eine kleine Frau betrat das Zimmer, in kompletter Operationsausrüstung einschließlich Papierhaube. Der obere Verschluss ihres Mundschutzes war geöffnet, so dass er wie ein kleines Lätzchen auf ihre Brust herabhing. Ich bin vierunddreißig. Sie schien in meinem Alter zu sein.

»Ich bin Dr. Heller«, sagte sie und trat näher ans Bett. »Ruth Heller.« Sie nannte mir ihren Vornamen. Professionelle Höflichkeit unter Kollegen. Ruth Heller musterte mich eindringlich. Ich bemühte mich, sie anzusehen. Mein Hirn war noch träge, schien jedoch langsam auf Touren zu kommen. »Sie sind im St. Elizabeth Hospital«, sagte sie mit angemessenem Ernst.

Die Tür hinter ihr wurde geöffnet, und ein Mann betrat das Zimmer. Durch den Duschvorhang-Nebel konnte ich ihn nicht richtig erkennen, ich glaubte aber nicht, dass ich ihn kannte. Der Mann verschränkte die Arme und lehnte sich mit geübter Lässigkeit an die Wand. Kein Arzt, dachte ich. Wenn man lange genug mit Ärzten arbeitet, erkennt man so was.

Dr. Heller warf dem Mann einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf mich.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Jemand hat auf Sie geschossen«, sagte sie. Dann fügte sie hinzu: »Sie haben zwei Schüsse abbekommen.«

Sie ließ das einen Moment im Raum stehen. Ich sah den Mann an der Wand an. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Dr. Heller fuhr fort: »Eine Kugel hat Ihren Schädel gestreift. Sie hat Ihnen förmlich ein Stück von der Kopfhaut abgezogen, die, wie Sie sicher wissen, sehr stark durchblutet ist.«

Ja, das wusste ich. Große Kopfwunden bluten, als hätte man einem die Rübe abgehackt. Okay, dachte ich, das erklärt das Jucken am Schädel. Als Ruth Heller zögerte, fragte ich: »Und die zweite Kugel?«

Heller seufzte. »Das war etwas komplizierter.«

Ich wartete.

»Die Kugel ist in Ihre Brust eingedrungen und hat den Herzbeutel verletzt. Dadurch ist eine große Menge Blut in den Raum zwischen Herz und Herzbeutel geflossen. Die Sanitäter konnten fast keine Lebenszeichen mehr ausmachen. Wir mussten den Brustkorb öffnen …«

»Doktor?«, unterbrach sie der an der Wand lehnende Mann — und im ersten Augenblick dachte ich, er spräche mit mir. Ruth Heller hielt sichtlich verärgert inne. Der Mann löste sich von der Wand. »Können Sie die Einzelheiten später erklären? Die Zeit drängt.«

Sie warf ihm einen mürrischen Blick zu, ohne ihm jedoch wirklich böse zu sein. »Ich bleibe hier und behalte den Patienten im Auge«, sagte sie, »falls Sie nichts dagegen haben.«

Dr. Heller trat einen Schritt zurück und der Mann beugte sich über mich. Sein Kopf war zu groß für seine Schultern, so dass man befürchten musste, sein Hals könnte unter dem Gewicht einknicken. Seine Haare waren kurz geschoren, nur vorne waren sie länger und hingen ihm in einer römischen Ponyfrisur über die Augen. Ein Unterlippenbart, ein hässlich hingeschmierter Haarstreifen, hing wie ein Engerling an seinem Kinn. Alles in allem sah er aus wie ein ehemaliges Mitglied einer wirklich heruntergekommenen Boygroup. Ohne jegliche Herzlichkeit lächelte er zu mir herab. »Ich bin Detective Bob Regan vom Kasselton Police Department«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie im Moment verwirrt sind.«

»Meine Familie …«, setzte ich an.

»Dazu komme ich gleich«, unterbrach er mich. »Aber zuerst habe ich ein paar Fragen an Sie, okay? Bevor wir über die Details sprechen.«

Er wartete auf eine Antwort. Ich versuchte, den Nebel beiseite zu wischen, und antwortete: »Okay.«

»Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern können?«

Ich ging den Morgen noch einmal durch. Ich erinnerte mich ans Aufwachen und Anziehen. Ich erinnerte mich, dass ich Tara betrachtet hatte. Ich erinnerte mich, dass ich das schwarzweiße Mobile über ihrer Wiege anschalten wollte, ein Geschenk einer Kollegin, die mir versichert hatte, es würde die Gehirntätigkeit des Babys anregen oder so. Das Mobile hatte sich weder bewegt noch seine kurze blecherne Melodie gespielt. Die Batterien waren leer. Ich versuchte, mir zu merken, dass ich neue besorgen musste. Danach war ich nach unten gegangen.

»Ich habe einen Müsli-Riegel gegessen«, sagte ich.

Regan nickte, als hätte er diese Antwort erwartet. »In der Küche?«

»Ja. An der Spüle.«

»Und dann?«

Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber mir fiel weiter nichts ein. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin vorher schon mal aufgewacht. Nachts. Ich glaube, das war hier.«

»Mehr nicht?«

Ich versuchte es noch einmal, kam aber nicht weiter. »Nein, mehr nicht.«

Regan zog einen Block aus der Tasche. »Wie die Ärztin Ihnen schon gesagt hat, wurde zweimal auf Sie geschossen. Erinnern Sie sich, dass Sie eine Pistole gesehen oder einen Schuss gehört haben?«

»Nein.«

»Das ist wohl verständlich. Sie waren in keinem guten Zustand, Marc. Die Sanitäter dachten, Sie wären tot.«

Meine Kehle war wieder trocken. »Wo sind Tara und Monica?«

»Immer schön der Reihe nach, Marc.« Regan schaute nicht mich an, sondern seinen Block. Ich spürte, wie die Angst meine Brust beschwerte. »Haben Sie gehört, wie ein Fenster eingeschlagen wurde?«

Ich fühlte mich benebelt. Ich versuchte, den Aufkleber auf dem Infusionsbeutel zu lesen, um festzustellen, womit sie mich ruhig stellten. Die Schrift war zu klein. Auf jeden Fall ein Schmerzmittel. Wahrscheinlich war Morphin im Tropf. Ich versuchte, gegen die Wirkung anzukämpfen. »Nein«, sagte ich.

»Sind Sie sicher? Hinten war ein Fenster eingeschlagen. Vielleicht ist der Täter dort ins Haus eingedrungen.«

»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich gehört hätte, wie ein Fenster eingeschlagen wurde«, sagte ich. »Wissen Sie, wer …«

Regan unterbrach mich. »Nein, bisher nicht. Deshalb stelle ich Ihnen diese Fragen. Um rauszufinden, wer das getan hat.« Er blickte von seinem Block auf. »Haben Sie irgendwelche Feinde?«

Hatte er das wirklich gefragt? Ich versuchte, mich aufzurichten, eine etwas andere Perspektive zu bekommen, doch ich hatte keine Chance. Mir gefiel das Patientendasein nicht, ich fühlte mich unwohl in dieser anderen Rolle am Krankenbett. Es heißt, Ärzte seien die schlimmsten Patienten. Wahrscheinlich liegt es an diesem abrupten Rollentausch.

»Ich will wissen, was mit meiner Frau und meiner Tochter passiert ist.«

»Das verstehe ich«, sagte Regan, wobei etwas in seiner Stimme lag, das mir wie ein eiskalter Stich ins Herz drang. »Aber wir müssen uns auf den Täter konzentrieren, Marc. Gedulden Sie sich noch einen Moment. Sie wollen uns doch helfen, oder? Dann müssen Sie meine Fragen beantworten.« Er sah wieder auf seinen Block. »Tja, haben Sie nun Feinde?«

Weiter mit ihm zu streiten wäre vergeblich, wenn nicht gar schädlich gewesen, also fügte ich mich widerwillig. »Jemand, der mich erschießen würde?«

»Ja.«

»Nein. Niemanden.«

»Und Ihre Frau?« Er musterte mich eingehend. Eins meiner liebsten Bilder von Monica — das Strahlen in ihrem Gesicht, als wir zum ersten Mal die Raymondkill Falls gesehen hatten, als sie mich in gespielter Angst umklammerte, während das Wasser auf uns hinabstürzte — kam mir in den Sinn. »Hatte sie Feinde?«

Ich sah ihn an. »Monica?«

Ruth Heller trat einen Schritt vor. »Ich glaube, das reicht für heute.«

»Was ist mit Monica?«, fragte ich.

Dr. Heller stand jetzt Schulter an Schulter neben Detective Regan. Beide sahen mich an. Heller wollte wieder protestieren, aber ich unterbrach sie.

»Kommen Sie mir nicht mit diesem Mist zum Schutz des Patienten« , versuchte ich zu schreien, während Angst und Wut gegen das ankämpften, was mein Gehirn vernebelte. »Sagen Sie mir, was mit meiner Frau ist!«

»Sie ist tot«, sagte Detective Regan. Einfach so. Tot. Meine Frau. Monica. Es war, als hätte ich ihn gar nicht gehört. Die Worte kamen nicht an.

»Als die Polizei ihre Haustür aufgebrochen hat, war auf sie beide geschossen worden. Sie konnten gerettet werden. Aber für Ihre Frau war es zu spät. Es tut mir Leid.«

Wieder schoss mir ein Bild durch den Kopf — Monica auf Martha’s Vineyard, in ihrem beigen Badeanzug am Strand. Das schwarze Haar wehte ihr über die Wangenknochen, während sie mich mit ihrem rasiermesserscharfen Lächeln ansah. Mit einem Blinzeln wischte ich das Bild beiseite. »Und Tara?«

»Ihre Tochter?«, setzte Regan an und räusperte sich kurz. Wieder sah er auf seinen Block, aber ich glaube nicht, dass er etwas notieren wollte. »Sie war an diesem Morgen zu Hause, ja? Ich meine, als es passiert ist?«

»Ja, natürlich. Wo ist sie?«

Mit einer energischen Bewegung klappte Regan seinen Block zu. »Als wir dort eintrafen, war sie nicht am Tatort.«

Meine Lunge wurde zu Stein. »Das verstehe ich nicht.«

»Anfangs hatten wir gehofft, sie sei bei einem anderen Mitglied der Familie oder bei Freunden. Oder bei einem Babysitter, aber …« Seine Stimme erstarb.

»Sie meinen, Sie wissen nicht, wo Tara ist?«

Diesmal zögerte er nicht. »Ja, das stimmt.«

Mir war, als drücke mir eine riesige Hand auf die Brust. Ich kniff die Augen zu und ließ den Kopf ins Kissen sinken. »Seit wann?«, fragte ich.

»Seit wann sie vermisst wird?«

»Ja.«

Dr. Heller ergriff hastig das Wort. »Sie müssen das verstehen. Sie waren schwer verletzt. Wir hatten wenig Hoffnung, dass Sie überleben würden. Sie sind maschinell beatmet worden. Ein Lungenflügel war zusammengefallen. Außerdem hatten Sie noch eine Infektion. Sie sind selbst Arzt, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie ernst das in einer solchen Situation ist. Wir haben versucht, die Medikamentendosis langsam zu reduzieren, damit Sie so schnell wie möglich wieder zu sich kommen  …«

»Seit wann?«, fragte ich noch einmal.

Regan und sie sahen sich an, dann sagte Heller etwas, das mir erneut den Atem verschlug. »Sie waren zwölf Tage bewusstlos.«

2

Wir tun, was wir können«, verkündete Regan in einem Tonfall, der so einstudiert klang, als hätte er diesen Satz während meiner Bewusstlosigkeit unablässig an meinem Bett geprobt. »Wie gesagt, wir waren anfangs nicht sicher, ob wirklich ein Kind vermisst wird. In dieser Phase haben wir wertvolle Zeit verloren, aber inzwischen sind wir wieder dran. Taras Foto wurde an sämtliche Polizeireviere, Flughäfen, Mautstationen, Bus- und Zugbahnhöfe und so weiter im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern geschickt. Wir haben die Hintergründe aller vergleichbaren Entführungen untersucht, um festzustellen, ob wir ein Muster erkennen können.«

»Zwölf Tage«, wiederholte ich.

»Wir haben Abhöreinrichtungen an Ihren Telefonen — zu Hause, im Büro und an Ihrem Handy …«

»Wieso?«

»Falls jemand Lösegeld verlangt.«

»Hat schon jemand angerufen?«

»Nein, bisher nicht.«

Mein Kopf sank wieder ins Kissen. Zwölf Tage. Ich hatte zwölf Tage in diesem Bett gelegen, während mein Baby … ich verdrängte den Gedanken.

Regan kratzte sich den Bart. »Wissen Sie noch, was Tara an diesem Morgen angehabt hat?«

Ich wusste es genau. Ich habe mir eine Art morgendliches Ritual angewöhnt — früh aufstehen, auf Zehenspitzen zu Taras Wiege schleichen, sie ansehen. Babys machen nicht nur Freude. Das ist mir klar. Ich weiß, dass es Zeiten träger Langeweile gibt. Ich weiß, dass die Nervenenden durch ihr Geschrei in manchen Nächten wie mit einer Käsereibe bearbeitet werden. Ich will das Leben mit einem Kleinkind keinesfalls idealisieren. Aber mir gefiel meine Morgenroutine. Taras winzige Gestalt anzusehen gab mir Kraft. Mehr noch, es versetzte mich in eine Art Verzückung. Manche Menschen geraten in Gotteshäusern in Verzückung. Ich — ja, ich weiß wie kitschig das klingt — ich geriet beim Anblick dieser Wiege in Verzückung.

»Einen rosa Strampelanzug mit schwarzen Pinguinen«, sagte ich. »Monica hat ihn bei Baby Gap gekauft.«

Er schrieb es auf. »Und Monica?«

»Was ist mit ihr?«

Er sah wieder auf seinen Block. »Was hatte sie an?«

»Jeans«, sagte ich und dachte daran, wie sie über ihre Hüfte glitten, »und eine rote Bluse.«

Regan schrieb weiter.

Ich sagte: »Und es — ich meine, haben Sie irgendwelche Spuren?«

»Wir ermitteln noch in alle Richtungen.«

»Das habe ich nicht gefragt.«

Regan sah mich nur an. Ich konnte diesem Blick nicht standhalten.

Meine Tochter. Dort draußen. Allein. Seit zwölf Tagen. Ich dachte an ihre Augen, die Wärme darin, die nur Eltern sehen, und sagte etwas Albernes. »Sie lebt.«

Regan legte den Kopf schief wie ein Welpe, der ein unbekanntes Geräusch hört.

»Geben Sie nicht auf«, sagte ich.

»Bestimmt nicht.« Er sah mich weiter mit seinem neugierigen Blick an.

»Es ist bloß … haben Sie Kinder, Detective Regan?«

»Zwei Mädchen«, sagte er.

»Es klingt vielleicht albern, aber ich würde es spüren.« Genauso, wie ich bei Taras Geburt gespürt hatte, dass die Welt nie wieder so sein würde wie vorher. »Ich würde es spüren«, wiederholte ich.

Er antwortete nicht. Mir wurde klar, dass das, was ich sagte — besonders für einen Mann, der spöttisch auf Wunder, alles Übernatürliche oder Esoterische herabsah –, lächerlich war. Ich wusste, dass dieses Gespür einzig und allein auf meiner Sehnsucht basierte. Man will etwas mit so unbändiger Macht, dass das Gehirn sämtliche Wahrnehmungen diesem Ziel unterordnet. Aber ich hielt mich trotzdem daran fest. Ob richtig oder falsch, es war mein Rettungsanker.

»Wir brauchen noch weitere Informationen von Ihnen«, sagte Regan. »Über Sie, Ihre Frau, Freunde, Finanzen …«

»Später.« Dr. Heller ging wieder dazwischen. Sie trat zwischen uns, als müsste sie mich vor seinen Blicken schützen. Mit fester Stimme sagte sie: »Er braucht jetzt Ruhe.«

»Nein, jetzt«, sagte ich zu ihr und versuchte, noch entschlossener zu klingen als sie. »Wir müssen meine Tochter finden.«

Monica war im Familiengrab der Portmans auf dem Grundstück ihres Vaters beigesetzt worden. Die Beerdigung hatte ich natürlich verpasst. Ich weiß nicht genau, was ich dabei empfand, aber ich hatte, zumindest in jenen tristen Momenten, in denen ich mir selbst gegenüber ehrlich war, meiner Frau schon immer mit gespaltenen Gefühlen gegenübergestanden. Monica besaß die Schönheit der Privilegierten, die fast schon zu fein modellierten Wangenknochen, das glatte, seidenglänzende schwarze Haar und dieses ewig energisch vorgereckte Country-Club-Kinn, das sowohl störte als auch erregte. Unsere Ehe war von altem Schrot und Korn — eine Mussehe. Okay, das ist jetzt etwas übertrieben. Monica war schwanger gewesen. Ich unentschlossen. Die bevorstehende Niederkunft hatte mich in den Hafen der Ehe getrieben.

Den Bericht über das Begräbnis erhielt ich von Carson Portman, Monicas Onkel und das einzige Mitglied ihrer Familie, zu dem wir regelmäßig Kontakt gehalten hatten. Monica hatte ihn von ganzem Herzen geliebt. Carson saß mit gefalteten Händen an meinem Krankenbett. Mit seiner dicken Brille, der fadenscheinigen Tweed-Jacke und dem ungebändigten Albert-Einstein-begegnet-Don-King-Haarschopf erinnerte er an einen netten alten College-Professor. Aber seine braunen Augen schimmerten, als er in traurigem Bariton erzählte, dass Edgar, Monicas Vater, dafür gesorgt hatte, dass das Begräbnis meiner Frau eine kleine geschmackvolle Angelegenheit war.

Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Insbesondere das kleine erschien mir plausibel.

In den nächsten Tagen besuchten mich diverse Leute im Krankenhaus. Meine Mutter — alle nannten sie Honey — kam jeden Morgen wie mit Düsenantrieb ins Zimmer gesaust. Sie trug weiß glänzende Reebok-Sportschuhe und einen blauen Trainingsanzug mit goldenen Ziernähten — als wolle sie die St. Louis Rams trainieren. Ihre Haare waren sorgfältig frisiert, aber spröde vom häufigen Färben. Und immer umgab sie der Geruch ihrer letzten Zigarette. Moms Make-up konnte den Schmerz über den Verlust ihres einzigen Enkelkinds kaum überdecken. Mit beeindruckender Energie saß sie Tag für Tag bei mir am Bett und strahlte eine beständige Hysterie aus. Das war gut. Es war, als wäre sie auch stellvertretend für mich hysterisch, und auf eigenartige Weise halfen ihre unkontrollierten Gefühlsausbrüche mir, ruhig zu bleiben.

Trotz der unerträglichen Hitze — und meiner andauernden Proteste — legte Mom eine weitere Decke über mich, wenn ich schlief. Einmal wachte ich auf — natürlich schweißgebadet — und hörte, wie meine Mutter der schwarzen Krankenschwester mit der gestärkten Haube von meinem früheren Aufenthalt im St. Elizabeth erzählte, als ich erst sieben Jahre alt gewesen war.

»Er hatte Salmonellen«, verkündete Honey mit verschwörerischem Bühnenflüstern, nur unwesentlich lauter als ein Megafon. »Einen solchen Durchfall hatte die Welt noch nicht gerochen. Es ist nur so aus ihm herausgeflossen. Der Gestank hat sich sogar in den Tapeten festgesetzt.«

»Nach Rosen duftet er jetzt auch nicht gerade«, erwiderte die Schwester.

Die beiden Frauen lachten.

Am zweiten Tag meiner Erholung stand Mom über mein Bett gebeugt, als ich erwachte.

»Kannst du dich daran noch erinnern?«, fragte sie.

Sie hatte einen ausgestopften Oscar aus der Mülltonne in der Hand, den mir irgendjemand während meines Salmonellen-Aufenthaltes geschenkt hatte. Das Grün war zu einem hellen Mint verblichen. Sie sah die Schwester an. »Das ist Marcs Oscar«, erläuterte sie.

»Mom«, sagte ich.

Sie wandte sich mir wieder zu. Heute hatte sie ihr Mascara etwas zu dick aufgetragen, so dass es sich in ihren Augenfalten sammelte. »Oscar hat dir damals Gesellschaft geleistet, weißt du noch? Er hat dir geholfen, wieder gesund zu werden.«

Ich rollte die Augen und schloss sie dann. Eine Erinnerung stieg in mir auf. Ich hatte mir die Salmonellen durch rohe Eier geholt. Mein Vater hatte immer welche in Milchshakes getan, wegen der Extraportion Protein. Ich weiß noch, was für einen Schrecken ich damals bekommen hatte, als ich gehört hatte, dass ich die Nacht im Krankenhaus verbringen musste. Mein Vater, dem kurz vorher beim Tennis die Achillessehne gerissen war, hatte ein Gipsbein und fortwährend Schmerzen. Doch als er meine Angst sah, brachte er, wie immer, ein Opfer. Nachdem er den ganzen Tag in der Fabrik gewesen war, harrte er die ganze Nacht auf dem Stuhl an meinem Krankenhausbett aus. Ich hatte zehn Tage im St. Elizabeth verbracht. Mein Vater hatte jede Nacht auf dem Stuhl geschlafen.

Plötzlich wandte Mom sich ab und ich sah, dass ihr dasselbe durch den Kopf gegangen war. Die Schwester entschuldigte sich schnell. Ich legte meiner Mutter eine Hand auf den Rücken. Sie bewegte sich nicht, aber ich spürte, wie ein Schauer sie erfasste. Sie starrte den ausgeblichenen Oscar in ihrer Hand an. Behutsam nahm ich ihn ihr ab.

»Danke«, sagte ich.

Mom wischte sich die Tränen aus den Augen. Diesmal würde Dad nicht ins Krankenhaus kommen, und obwohl ich sicher war, dass Mom ihm erzählt hatte, was geschehen war, wusste man nicht, ob er es verstanden hatte. Mit einundvierzig Jahren hatte mein Vater seinen ersten Schlaganfall gehabt — ein Jahr, nachdem er die Nächte bei mir im Krankenhaus verbracht hatte. Ich war damals acht gewesen.

Ich habe auch noch eine jüngere Schwester, Stacy, die entweder drogenkrank ist (für die Anhänger einer politisch korrekten Sprache) oder ein Junkie (für diejenigen, die die Dinge beim Namen nennen). Manchmal sehe ich mir alte Bilder aus der Zeit vor dem ersten Schlaganfall meines Vaters an, auf denen eine junge, zuversichtliche, vierköpfige Familie und ein zotteliger alter Hund zu sehen sind, auf einem gepflegten Rasen vor einem Basketballkorb und einem von Holzkohle und Anzündern überquellenden Grill. Ich suche nach Hinweisen auf das zukünftige zahnlose Lächeln meiner Schwester, nach ihrer dunklen Seite vielleicht, nach irgendwelchen Vorzeichen. Aber ich finde keine. Das Haus haben wir noch, es kommt mir jedoch vor wie eine alte Filmkulisse. Dad lebt noch; mit seinem Absturz zerbrach allerdings alles in tausend Stücke, wie Humpty-Dumpty. Besonders Stacy.

Stacy hatte mich nicht besucht, oder auch nur angerufen, aber bei ihr überrascht mich nichts mehr.

Schließlich drehte sich meine Mutter wieder zu mir um. Ich drückte den ausgeblichenen Oscar etwas fester an mich, als mir etwas durch den Kopf ging: Wir waren wieder allein. Dad vegetierte nur noch vor sich hin. Stacy war weg, nur noch eine leere Hülle. Ich griff nach Moms Hand und spürte ihre Wärme und die in letzter Zeit dicker gewordene Haut. Wir verharrten so, bis die Tür wieder geöffnet wurde. Die Schwester von vorhin streckte den Kopf herein.

Mom richtete sich auf und sagte: »Marc hat auch mit Puppen gespielt.«

»Mit Action-Figuren«, korrigierte ich sie hastig. »Das waren Action-Figuren, keine Puppen.«

Auch mein bester Freund Lenny und seine Frau Cheryl schauten jeden Tag im Krankenhaus vorbei. Lenny Marcus ist ein prominenter Strafverteidiger, der für mich allerdings auch Kleinigkeiten regelt, wie die Sache mit dem Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und den Vertragsabschluss für unser Haus. Als er sein Examen gemacht hatte und für den Staatsanwalt arbeitete, gaben ihm Gegner und Freunde wegen seines aggressiven Auftretens im Gericht bald den Namen Bulldog. Irgendwann war man dann zu dem Schluss gekommen, dass der Name zu mild für Lenny war, worauf sich dann Cujo durchsetzte. Ich kenne Lenny seit der Grundschule. Ich bin der Patenonkel seines Sohnes Kevin. Und er ist Taras Patenonkel.

Ich habe nicht viel geschlafen. Ich liege im Bett, starre an die Decke, zähle die Pieptöne, lausche den anderen Geräuschen im Krankenhaus und versuche mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln nicht an meine kleine Tochter und die unendlich vielen Dinge zu denken, die ihr widerfahren sein könnten. Es gelingt mir nicht immer. Das Gehirn ist, wie ich erfahren musste, wahrhaftig eine finstere Schlangengrube.

Später kam Detective Regan mit einer möglichen Spur vorbei.

»Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester«, fing er an.

»Wieso?«, fragte ich zu hastig. Ehe er eine Erklärung abgeben konnte, hob ich die Hand, um ihn zu bremsen. Meine Schwester war drogensüchtig. Wo es Drogen gab, kamen auch andere kriminelle Elemente ins Spiel. »Wurde etwas gestohlen?«, fragte ich.

»Vermutlich nicht. Es scheint nichts zu fehlen, aber die Wohnung war verwüstet.«

»Verwüstet?«

»Irgendjemand hat alles durcheinander geworfen. Haben Sie eine Ahnung, warum?«

»Nein.«

»Dann erzählen Sie mir von Ihrer Schwester.«

»Haben Sie Stacys Akte?«, fragte ich.

»Ja.«

»Ich wüsste nicht, was ich dem noch hinzufügen könnte.«

»Sie beide haben sich entfremdet, stimmt’s?«

Entfremdet? Passte das auf unser Verhältnis? »Ich liebe sie«, sagte ich langsam.

»Und wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«

»Vor sechs Monaten.«

»Gleich nach Taras Geburt.«

»Ja.«

»Wo?«

»Wo ich sie gesehen habe?«

»Ja.«

»Stacy war im Krankenhaus«, sagte ich.

»Um ihre Nichte zu sehen.«

»Ja.«

»Was ist bei diesem Besuch passiert?«

»Stacy war high. Sie wollte das Baby auf den Arm nehmen.«

»Sie haben es ihr nicht erlaubt?«

»Genau.«

»War sie wütend?«

»Sie hat kaum eine Reaktion gezeigt. Wenn meine Schwester auf Drogen ist, ist sie ziemlich lahm.«

»Aber Sie haben sie rausgeworfen.«

»Ich habe ihr gesagt, dass sie in Taras Leben nichts zu suchen hat, solange sie nicht clean ist.«

»Verstehe«, sagte er. »Sie haben gehofft, sie auf diese Weise dazu zu bringen, in eine Entzugsklinik zu gehen.«

Vielleicht habe ich gegluckst. »Nein, eigentlich nicht.«

»Wie soll ich das verstehen?«

Ich überlegte, wie ich das ausdrücken sollte. Ich dachte an ihr Lächeln auf dem Familienfoto und an das andere, ohne Vorderzähne. »Wir haben Stacy schon Schlimmeres angedroht«, sagte ich. »Tatsache ist, dass meine Schwester nicht aufhören wird. Die Drogen haben sie fest im Griff.«

»Sie haben also keine Hoffnung auf einen erfolgreichen Entzug?«

Das Nein wollte mir einfach nicht über die Lippen. »Ich konnte ihr meine Tochter nicht anvertrauen«, sagte ich. »Belassen wir es dabei.«

Regan ging zum Fenster und schaute hinaus. »Wann sind Sie in Ihr jetziges Haus gezogen?«

»Monica und ich haben das Haus vor vier Monaten gekauft.«

»Es ist nicht weit von den Häusern Ihrer Eltern entfernt, nicht wahr?«

»Das stimmt.«

»Kannten Sie sich schon lange?«

Die Frage überraschte mich. »Nein.«

»Obwohl Sie im selben Ort aufgewachsen sind?«

»Wir haben in unterschiedlichen Kreisen verkehrt.«

»Ah ja«, sagte er. »Also, nur damit ich richtig verstehe: Sie haben Ihr Haus vor vier Monaten gekauft und Ihre Schwester seit sechs Monaten nicht gesehen, richtig?«

»Richtig.«

»Ihre Schwester hat Sie also nie in Ihrem jetzigen Haus besucht.«

»So ist es.«

Regan wandte sich zu mir. »Wir haben Stacys Fingerabdrücke in Ihrem Haus gefunden.«

Ich sagte nichts.

»Sie wirken nicht sehr überrascht, Marc.«

»Stacy ist drogensüchtig. Ich glaube nicht, dass sie in der Lage wäre, auf mich zu schießen und meine Tochter zu entführen, aber ich habe schon mehrmals unterschätzt, wie tief sie sinken kann. Haben Sie ihre Wohnung überprüft?«

»Seit auf Sie geschossen wurde, ist sie nicht mehr gesehen worden«, sagte er.

Ich schloss die Augen.

»Wir glauben nicht, dass Ihre Schwester so etwas alleine bewerkstelligen könnte«, fuhr er fort. »Sie könnte einen Komplizen haben — einen Liebhaber, einen Dealer, irgendjemanden, der weiß, dass Ihre Frau aus einer wohlhabenden Familie stammt. Fällt Ihnen dazu irgendwas ein?«

»Nein«, sagte ich. »Sie denken also, das Ganze war eine Entführung?«

Regan fing wieder an, sein Unterlippenbärtchen zu kratzen. Dann zuckte er kurz die Achseln.

»Aber sie haben versucht, uns umzubringen«, wandte ich ein. »Wie soll man Lösegeld erpressen, wenn die Eltern tot sind?«

»Sie könnten unter Drogen gestanden und einen Fehler gemacht haben«, sagte er. »Oder sie haben gedacht, sie könnten das Geld von Taras Großvater bekommen.«

»Und warum haben sie das nicht versucht?«

Regan antwortete nicht. Aber ich kannte die Antwort. Der Stress nach der Entführung, besonders aber nach der Schießerei, hätte einen Junkie überfordert. Junkies können nicht besonders gut mit Konflikten umgehen. Das ist einer der Gründe dafür, dass sie damit anfangen, Drogen zu schnupfen oder zu spritzen — um zu fliehen, zu verschwinden, abzutauchen, in die Unendlichkeit auszurücken. Die Medien hatten den Fall bestimmt groß aufgemacht. Die Polizei ermittelte. Unter solchem Druck würden Junkies durchdrehen. Sie würden abhauen und alles stehen und liegen lassen.

Und sämtliche Beweise vernichten.

Doch die Lösegeldforderung kam zwei Tage später.

Jetzt, wo ich wieder bei Bewusstsein war, heilten die Schusswunden überraschend gut. Vielleicht lag es daran, dass ich mich ganz darauf konzentrierte, wieder auf die Beine zu kommen, oder dass der zwölftägige quasi-katatonische Zustand meinen Verletzungen Zeit zum Heilen gegeben hatte. Oder ich litt an einem Schmerz, der viel größer war als der, den man dem Körper zufügen konnte. Wenn ich an Tara dachte, blieb mir aus Angst vor dem Unbekannten die Luft weg. Wenn ich an Monica dachte, daran, dass sie tot war, wurde mein Innerstes wie mit stählernen Klauen zerfetzt.

Ich wollte raus.

Mir tat noch alles weh, trotzdem überredete ich Ruth Heller, mich zu entlassen. Mit der Bemerkung, ich sei ein ausgezeichneter Beweis für die Behauptung, dass Ärzte die schlimmsten Patienten seien, unterschrieb sie widerstrebend die Papiere. Wir einigten uns darauf, dass täglich ein Physiotherapeut zu mir kommen würde. Und um ganz sicher zu gehen, würde regelmäßig eine Schwester vorbeischauen.

Am Morgen meiner Entlassung aus St. Elizabeth war meine Mutter im Haus — dem ehemaligen Tatort — und bereitete es für meine Ankunft vor, was immer das heißen mochte. Seltsamerweise hatte ich keine Angst vor der Rückkehr. Ein Haus besteht aus Mörtel und Backstein. Ich erwartete nicht, dass mich allein der Anblick aus der Bahn werfen würde, doch vielleicht ließ ich solche Gedanken auch einfach nicht an mich heran.

Lenny half mir beim Packen und Anziehen. Er ist groß und drahtig und bekommt schon sechs Minuten nach dem Rasieren einen Homer-Simpson-Bartschatten. Als Kind hatte er eine Flaschenbodenbrille und zu dicke Kordklamotten getragen, selbst mitten im Sommer. Sein lockiges Haar war oft so lang gewesen, dass er aussah wie ein streunender Pudel. Heutzutage hält er seine Locken gewissenhaft kurz. Vor zwei Jahren hat er sich die Augen mit Laser operieren lassen, so dass er die Brille nicht mehr braucht. Er trägt inzwischen teure Markenanzüge.

»Bist du sicher, dass du nicht die ersten paar Tage bei uns wohnen willst?«, fragte Lenny.

»Du hast vier Kinder«, erinnerte ich ihn.

»Ach ja, stimmt.« Er schwieg. »Kann ich bei dir wohnen?«

Ich versuchte zu lächeln.

»Im Ernst«, sagte Lenny, »du solltest nicht allein in dem Haus bleiben.«

»Das geht schon in Ordnung.«

»Cheryl hat ein paar Mahlzeiten für dich gekocht. Sie sind in der Tiefkühltruhe.«

»Das ist nett von ihr.«

»Leider ist sie nach wie vor die schlechteste Köchin der Welt.«

»Ich hab ja nicht gesagt, dass ich sie esse.«

Lenny sah zur Seite und beschäftigte sich mit der schon fertig gepackten Tasche. Ich beobachtete ihn. Wir kennen uns schon ewig — aus der ersten Klasse bei Mrs Roberts; er war vermutlich nicht sehr überrascht, als ich sagte: »Willst du darüber reden, was los ist?«

Er hatte auf eine solche Gelegenheit gewartet und nutzte sie auch sofort. »Hör zu, ich bin dein Anwalt, ja?«

»Stimmt.«

»Als solcher möchte ich dir einen juristischen Rat geben.«

»Und?«

»Ich hätte das schon früher sagen sollen, aber ich wusste, dass du nicht auf mich hören würdest. Jetzt, also, ich glaube, jetzt ist es was anderes.«

»Lenny?«

»Ja.«

»Wovon redest du?«

Trotz der Fortschritte, die Lenny im physischen Bereich gemacht hatte, sah ich in ihm immer noch den Jungen. Es fiel mir daher nicht leicht, seine Ratschläge ernst zu nehmen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wusste, dass er klug war. Ich hatte mit ihm gefeiert, als er erst seine Zulassung für Princeton und dann für die Columbia Law School bekam. Wir hatten gemeinsam unsere SAT-Tests abgelegt und hatten im vorletzten Schuljahr den gleichen Chemiekurs für Fortgeschrittene besucht. Aber der Lenny, den ich vor mir sah, war der, mit dem ich an schwülen Freitag- und Samstagabenden verzweifelt durch die Straßen gezogen war. Wir hatten den Kombi seines Vaters genommen — mit Holzdekor, also nicht unbedingt die klassische Aufreißerkiste — und versucht, auf Partys eingelassen zu werden. Man ließ uns auch immer rein, richtig willkommen waren wir aber nicht. Wir waren ein Teil der großen, unbesungenen Mehrheit der High School. Mit einem Bier in der Hand standen wir in der Ecke, wackelten im Rhythmus der Musik mit dem Kopf und versuchten mit aller Kraft, von irgendjemandem wahrgenommen zu werden. Es klappte nie. Meistens aßen wir hinterher ein überbackenes Käse-Sandwich im Heritage Diner oder, was noch besser war, auf dem Fußballplatz hinter der Benjamin Franklin Middle School, wo wir auf dem Rasen lagen und in die Sterne hinaufblickten. Es redete sich leichter, selbst mit dem besten Freund, wenn man auf dem Rücken lag und die Sterne betrachtete.

»Okay«, sagte Lenny und gestikulierte etwas zu wild, wie meistens. »Folgendes: Ich will nicht mehr, dass du mit der Polizei sprichst, wenn ich nicht dabei bin.«

Ich runzelte die Stirn. »Ist das dein Ernst?«

»Vielleicht täusche ich mich, aber ich kenne solche Fälle. Nicht genau solche, aber du weißt, was ich meine. Die Hauptverdächtigen sind immer die Angehörigen.«

»Meinst du meine Schwester?«

»Nein, ich meine die engsten Angehörigen. Oder noch engere Angehörige, falls das möglich ist.«

»Willst du damit sagen, die Polizei verdächtigt mich?«

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.« Er schwieg, allerdings nicht sehr lange. »Okay, ja, wahrscheinlich.«

»Aber auf mich ist geschossen worden, wie du dich vielleicht noch erinnerst. Mein Kind wurde entführt.«

»Ja, und genau da liegt das Problem.«

»Wie kommst du darauf?«

»Je mehr Zeit vergeht, desto stärker gerätst du unter Verdacht.«

»Wieso?«, wollte ich wissen.

»Weiß ich auch nicht. So läuft das einfach. Pass auf, Entführungen werden vom FBI bearbeitet. Das weißt du doch, oder? Sobald ein Kind vierundzwanzig Stunden verschwunden ist, gehen sie davon aus, dass es über die Grenze des Bundesstaats gebracht wurde, und damit ist es ihr Fall.«

»Und?«

»Also hatten sie die ersten, na ja, zehn Tage oder so, eine ganze Horde Agenten hier. Sie haben deine Telefone abgehört und auf die Lösegeldforderung gewartet und so. Aber vorgestern haben die meisten ihre Zelte wieder abgebrochen. So weit ist das alles völlig normal. Sie können nicht ewig warten, also lassen sie ein oder zwei Agenten da. Damit hat sich allerdings auch ihre Einschätzung der Situation verändert. Jetzt wurde Tara nicht mehr gekidnappt, um ein Lösegeld zu erpressen, es war eine einfache Entführung. Ich vermute allerdings, dass die Telefone immer noch abgehört werden. Ich habe bisher nicht nachgefragt, aber das mach ich noch. Sie behaupten, dass sie die Abhörgeräte eingeschaltet lassen, falls doch noch eine Lösegeldforderung eingeht. Aber sie hoffen auch, dass du dich verrätst.«

»Na und?«

»Also sei vorsichtig«, sagte Lenny. »Denk daran, dass deine Telefone — zu Hause, im Büro und das Handy — aller Wahrscheinlichkeit nach abgehört werden.«

»Trotzdem: Na und? Ich habe schließlich nichts getan.«

»Nichts getan …?« Lenny flatterte mit den Armen, als wolle er abheben.

»Hör zu, sei einfach vorsichtig, sonst nichts. Es mag sich für dich unglaublich anhören — und verschluck dich nicht, wenn du mich so etwas sagen hörst –, aber es gab Fälle, bei denen die Polizei die Beweislage verdreht und Hinweise gefälscht hat.«

»Du bringst mich ganz durcheinander. Willst du damit sagen, dass ich allein deshalb unter Verdacht stehe, weil ich der Vater und Ehemann bin?«

»Ja«, sagte Lenny. »Und nein.«

»Oh, okay, danke. Jetzt ist mir alles klar.«

Das Telefon neben meinem Bett klingelte. Ich war auf der anderen Zimmerseite. »Gehst du mal ran?«, fragte ich.

Lenny nahm den Hörer an. »Dr. Seidmans Zimmer.« Sein Gesicht verfinsterte sich beim Zuhören. Er spuckte das Wort »Moment« aus und reichte mir das Telefon, als wäre es voller Bakterien. Ich sah ihn verwundert an und sagte: »Hallo?«

»Hallo, Marc. Hier ist Edgar Portman.«

Monicas Vater. Daher Lennys Reaktion. Edgar sprach, wie immer, viel zu förmlich. Manche Menschen wägen ihre Worte ab. Einige wenige, wie mein Schwiegervater, legen jedes einzeln auf die Goldwaage, bevor es aus ihrem Mund kommt.

Im erstem Moment war ich überrascht. »Hallo, Edgar«, sagte ich geistlos. »Wie geht’s?«

»Mir geht es gut, danke. Es tut mir natürlich Leid, dass ich dich nicht schon früher angerufen habe. Carson hatte mir mitgeteilt, dass du dabei bist, dich von deinen Verletzungen zu erholen. Ich hielt es für das Beste, dich nicht zu stören.«

»Sehr aufmerksam«, erwiderte ich mit einem Hauch von Ironie.

»Ja, nun gut. Ich habe gehört, dass du heute entlassen wirst.«

»Das stimmt.«

Edgar räusperte sich, was gar nicht recht zu ihm passen wollte. »Ich frage mich, ob du vielleicht mal im Haus vorbeischauen könntest.«

Im Haus. Sein Haus war gemeint. »Heute?«

»So bald wie möglich, ja. Und wenn möglich allein.«

Es entstand eine Pause. Lenny sah mich fragend an.

»Ist irgendwas, Edgar?«, erkundigte ich mich.

»Vor dem Krankenhaus wartet ein Wagen auf dich. Wir können uns dann hier weiter unterhalten.«

Und bevor ich noch etwas dazu sagen konnte, hatte er aufgelegt.

Der Wagen, ein schwarzer Lincoln, wartete tatsächlich vorm Krankenhaus.

Lenny schob mich nach draußen. Natürlich kannte ich die Gegend. Ich war nur ein paar Kilometer vom St. Elizabeth entfernt aufgewachsen. Als ich fünf Jahre alt gewesen war, war mein Vater mit mir hier in die Notaufnahme geeilt (zwölf Stiche), und mit sieben, na ja, über meinen Salmonellen-Aufenthalt wissen Sie schon mehr als genug. Nach dem Medizinstudium habe ich meine Assistenz im damaligen Columbia Presbyterian in New York absolviert, bin dann aber für ein Praktikum in Augenheilkunde zur Gesichtsrekonstruktion wieder ans St. Elizabeth zurückgekehrt.

Ja, ich bin Schönheitschirurg, aber nicht so einer, wie Sie jetzt vermutlich glauben. Die eine oder andere Nase richte ich schon gelegentlich, aber Sie werden mich nie mit Silikonkissen oder Ähnlichem arbeiten sehen. Ich will das nicht verurteilen, ich mache es nur einfach nicht.

Zusammen mit meiner alten Kommilitonin Zia Leroux, einem Energiebündel aus der Bronx, arbeite ich in der rekonstruktiven plastischen Kinder-Gesichtschirurgie. Wir arbeiten für eine Gruppe namens One World WrapAid. Genau genommen haben Zia und ich sie gegründet. Wir kümmern uns um verunstaltete Kinder, meist im Ausland, egal, ob sie von Geburt an deformiert oder durch Armut oder Krieg entstellt sind. Wir reisen viel. Ich habe an zerschmetterten Gesichtern in Sierra Leone gearbeitet, an Hasenscharten in der Oberen Mongolei, an Crouzon-Syndromen in Kambodscha und an Verbrennungsopfern in der Bronx. Wie die meisten Ärzte in diesem Bereich habe ich eine lange und intensive Ausbildung hinter mir. Ich habe HNO studiert — Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde –, dazu ein Jahr rekonstruktive plastische Chirurgie und, wie schon erwähnt, Augenheilkunde. Zia hat eine ähnliche Ausbildung, allerdings mit dem Schwerpunkt Kieferchirurgie.

Vielleicht halten Sie uns für Weltverbesserer. Damit lägen Sie falsch. Ich hatte die Wahl. Ich konnte Titten vergrößern und Menschen die Haut straffen, die sowieso schon zu schön waren — oder ich konnte verletzten, von Armut gezeichneten Kindern helfen. Ich habe mich für Letzteres entschieden, aber nicht in erster Linie, um Benachteiligten zu helfen, sondern weil es einfach die interessantere Arbeit ist. Die meisten plastischen Chirurgen puzzeln von Natur aus gern. Wir sind schräge Typen. Wir fahren voll ab auf die Freakshows auf Rummelplätzen, auf angeborene Anomalien und riesige Tumore. Kennen Sie die medizinischen Lehrbücher, in denen Abbildungen so grässlich entstellter Gesichter sind, dass Sie sie kaum ansehen können? Zia und ich stehen auf so was. Und es macht uns noch mehr an, das wieder in Ordnung zu bringen — das Zerstörte wieder zu reparieren.

Die frische Luft kribbelte in meiner Lunge. Die Sonne strahlte wie am Jüngsten Tag und schien sich über meine Niedergeschlagenheit lustig zu machen. Ich wandte mein Gesicht in die Sonne und ließ mich von der Wärme beruhigen. Monica hatte das häufig gemacht. Sie behauptete, es lindere den Stress. Dabei verschwanden die Falten aus ihrem Gesicht, als hätten die Strahlen sie sanft massiert. Ich schloss die Augen. Lenny wartete schweigend neben mir und ließ mich gewähren. Ich habe mich immer für etwas überempfindlich gehalten. Bei albernen Filmen fange ich leicht an zu weinen. Meine Gefühle sind leicht zu manipulieren. Der Krankheitsverlauf meines Vaters jedoch hat mich nie zum Weinen gebracht. Und jetzt, nach diesem furchtbaren Schlag, war es — ich weiß nicht, als wären meine Tränen längst versiegt. Eine klassische Verdrängungsstrategie, nahm ich an. Da musste ich durch. Das erinnert an meine Arbeit: Wenn ein Riss auftritt, flicke ich ihn, bevor er immer größer wird.

Lenny kochte immer noch nach Edgars Anruf. »Hast du eine Ahnung, was der alte Drecksack von dir will?«

»Absolut nicht.«

Er sagte nichts. Ich wusste, was er dachte. Lenny gab Edgar die Schuld am Tod seines Vaters. Sein alter Herr hatte im mittleren Management bei ProNess Foods gearbeitet, einem von Edgars Unternehmen. Er hatte sechsundzwanzig Jahre lang für die Firma geschuftet und war gerade zweiundfünfzig geworden, als Edgar eine große Fusion einfädelte. Lennys Vater verlor seinen Job. Ich erinnere mich noch daran, wie Mr Marcus mit eingefallenen Schultern am Küchentisch saß und sorgfältig gefaltete Lebensläufe in Briefumschläge steckte. Er fand keine neue Stelle und starb zwei Jahre nach seiner Entlassung an einem Herzinfarkt. Lenny war nicht davon zu überzeugen, dass zwischen den beiden Ereignissen kein Zusammenhang bestand.

Er fragte: »Soll ich wirklich nicht mit zu dir kommen?«

»Nein, ich schaff das schon.«

»Hast du dein Handy?«

Ich zeigte es ihm.

»Ruf an, wenn du was brauchst.«

Ich bedankte mich und ließ ihn gehen. Der Fahrer öffnete die Tür. Stöhnend nahm ich auf dem Rücksitz Platz. Wir fuhren nicht weit. Kasselton, New Jersey. Meine Heimatstadt. Wir kamen an den Einfamilienhäusern aus den Sechzigern vorbei, den großen Gebäuden im Farmhausstil aus den Siebzigern, den Aluminiumverkleidungen aus den Achtzigern und den Fertigbau-Herrenhäusern aus den Neunzigern. Schließlich standen die Bäume immer dichter. Die Häuser lagen weiter von der Straße entfernt und waren durch saftige Grünflächen vor den ungewaschenen Massen geschützt, die auf der Straße vorbeikommen könnten. Wir näherten uns altem Geld und den dazugehörigen exklusiven Anwesen, auf denen es immer nach Herbst und Holzfeuern roch.

Die Portmans hatten sich gleich nach dem Bürgerkrieg in diesem Dickicht angesiedelt. Wie fast alle heutigen Vororte New Jerseys war dies früher Farmland gewesen. Urgroßvater Portman hatte das Land nach und nach verkauft und so ein Vermögen gemacht. Sie besaßen immer noch sechzehn Acres, damit war ihr Grundstück eins der größten der Umgebung. Als wir die Zufahrt hinauffuhren, wanderte mein Blick nach links — zum Familiengrab.

ENDE DER LESEPROBE

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1. Auflage

Taschenbuchausgabe Januar 2005

Copyright © der Originalausgabe 2003 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: UNO WerbeagenturUmschlagfoto: Getty Images / gsamie - Guillaume SamieSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Redaktion: Marie-Luise Bezzenberger AB · Herstellung: Sebastian StrohmaierISBN 978-3-641-08435-6V002

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