Der Insider - Myron Bolitar ermittelt - Harlan Coben - E-Book

Der Insider - Myron Bolitar ermittelt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Nachdem vor Jahren ein folgenschwerer Unfall die aktive Basketballkarriere von Myron Bolitar beendete, hat er sich notgedrungen eine neue Existenz als Sportagent aufgebaut. Daher ist seine Verblüffung groß, als ihn jetzt noch einmal ein NBA-Manager anheuern will. Doch es geht nicht wirklich um Myrons Qualitäten am Ball: Als Insider soll Bolitar das Verschwinden des großen Superstars der Mannschaft aufklären. Ein Auftrag, der ihn gefährlich nahe an die dunklen, bisweilen lebensgefährlichen Abgründe des Spitzensports heranführt. Und ihm bewusst macht, dass er mit seiner eigenen Vergangenheit noch nicht abgeschlossen hat ...

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Harlan Coben

Der Insider

Myron Bolitar ermittelt

Thriller

Deutsch von Gunnar Kwisinski und Kathrin Passig

Buch

 

Es ist Jahre her, dass ein Unfall bei einem wichtigen Spiel die Basketballkarriere von Myron Bolitar beendete. Seitdem konnte er sich eine neue Existenz als Sportagent aufbauen; völlig verblüfft ist er allerdings, als ihn einer der mächtigsten Manager der NBA für seine Mannschaft anheuern will. Schnell stellt sich heraus, dass Myron nicht wirklich zurück aufs Spielfeld soll. Stattdessen soll er als Insider das Verschwinden des Stars der Mannschaft aufklären.

Da sich Bolitar nach seinem Abschied vom aktiven Spitzensport für eine Weile beim FBI verdingt hatte, ist er schon öfter in die Rolle des Detektivs wider Willen geschlüpft. Doch diesmal liegt die Sache anders: Denn Greg Downing, der verschwundene Spielmacher der New Jersey Dragons, ist beileibe kein Fremder für ihn. Beide waren früher nicht nur auf dem Spielfeld erbitterte Kontrahenten, sondern auch Rivalen im Kampf um das Herz einer ganz besonderen Frau. Bolitars Suche gerät so unversehens zu einer Reise in die eigene Vergangenheit, und er spürt, dass manche Wunden nie verheilen.

Doch als er bei seinen Ermittlungen in Downings Wohnung auf eine Blutlache und wenig später auf eine Frauenleiche stößt, geht es schnell um wesentlich mehr als nur eine schmerzliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Mit einem Mal wird Bolitar in einen Strudel von Gewalt und Liebe, Lügen und Intrigen gezogen – in die Abgründe des Daseins eines Sportsuperstars, der in seinem Leben mehr als eine falsche Entscheidung getroffen hat …

 

Weitere Informationen zu Harlan Coben sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Fade Away« bei Dell Publishing, a division of Bantam Doubleday Dell Publishing Group, Inc., New York.

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 1996 by Harlan Coben Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007, 2016 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Sigrun Zühlke Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: © FinePic®, München Th · Herstellung: Str.

eISBN 978-3-641-17840-6V002

www.goldmann-verlag.de

 

 

 

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Für Larry und Craig, die coolsten Brüder, die man haben kann. Und wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie sie doch einfach.

Inhaltsverzeichnis

CopyrightWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42DanksagungÜber den Autor

1

»Benehmen Sie sich anständig.«

»Ich?«, sagte Myron. »Ich bin doch immer ganz entzückend.«

Myron Bolitar wurde von Calvin Johnson, dem neuen Manager der New Jersey Dragons, durch einen Korridor in der unbeleuchteten Meadowlands-Arena geführt. Das Klicken der Absätze auf den Fliesen hallte zwischen den leeren Harry-M.-Stevens-Kiosken, Carvel-Eiskarren, Brezelbuden und Souvenirständen. Die Wände verströmten den Geruch von Sportstadion-Hotdogs – ein gummiartiges, chemisches und dabei doch herrlich nostalgisches Aroma. Die Stille des Ortes hüllte sie ein. Es gibt nichts Hohleres und Lebloseres als ein leeres Sportstadion.

Calvin Johnson blieb vor der Tür zu einer VIP-Loge stehen. »Auch wenn das Ganze Ihnen gleich ein bisschen seltsam vorkommt«, sagte er, »spielen Sie einfach mit, okay?«

»Okay.«

Calvin griff zur Klinke und atmete tief durch. »Clip Arnstein wartet da drin auf uns, der Eigentümer der Dragons.«

»Und doch erzittere ich nicht«, sagte Myron.

Calvin Johnson schüttelte den Kopf. »Verhalten Sie sich nicht wie ein Vollidiot.«

Myron deutete sich auf die Brust. »Ich hab doch sogar ’ne Krawatte um und alles.«

Calvin Johnson öffnete die Tür. Die VIP-Loge lag direkt über der Platzmitte. Ein paar Arbeiter montierten gerade den Basketballboden über dem Eishockey-Eis. Gestern hatten die Devils gespielt. Heute waren die Dragons dran. Die Loge war gemütlich eingerichtet: vierundzwanzig Polsterstühle, zwei Fernsehmonitore, auf der rechten Seite ein holzvertäfelter Tresen für das Essen – normalerweise Brathähnchen, Hotdogs, Kartoffelteigtaschen, Würstchen, Paprika-Sandwichs und Ähnliches. Links stand ein Messingkarren mit einer gut sortierten Bar und einem Minikühlschrank. Die Loge hatte sogar eine eigene Toilette – damit die erfolgreichen Geschäftsleute nicht inmitten des ungewaschenen Volks urinieren mussten.

Clip Arnstein drehte sich zu ihnen um. Er trug einen dunkelblauen Anzug und eine rote Krawatte. Über den Ohren zierten graue Haarbüschel seine Glatze. Er war ein kräftig gebauter Mann, der auch mit über siebzig Jahren noch eine breite, muskulöse Brust hatte. Auf seinen großen Händen zeigten sich braune Flecken und die Venen traten wie Gartenschläuche hervor. Keiner sagte etwas. Keiner bewegte sich. Clip musterte Myron einige Sekunden lang von Kopf bis Fuß.

»Wie gefällt Ihnen die Krawatte?«, fragte Myron.

Calvin Johnson warf ihm einen warnenden Blick zu.

Der Alte machte keine Anstalten, ihnen entgegenzukommen. »Wie alt sind Sie jetzt, Myron?«

Interessante Einstiegsfrage. »Zweiunddreißig.«

»Spielen Sie noch?«

»Ein bisschen«, sagte Myron.

»Halten Sie sich fit?«

»Soll ich ein paar Muskeln spielen lassen?«

»Nein danke, nicht nötig.«

Keiner bot Myron einen Stuhl an oder setzte sich. Natürlich gab es hier nur die Zuschauersitze, trotzdem war es eigenartig, bei einer Geschäftsbesprechung zu stehen. Da saß man eigentlich. Und so wurde das Stehen plötzlich schwierig. Myron fühlte sich ganz kribbelig. Er wusste nicht, wohin mit den Händen. Er zog einen Stift aus der Tasche und hielt ihn in der Hand, aber auch das fühlte sich falsch an. Zu Bob-Dole-artig. Er steckte die Hände in die Taschen und stellte sich seltsam schräg, wie der lässige Kerl im Sears-Versandhauskatalog.

»Myron, wir möchten Ihnen ein interessantes Angebot machen«, sagte Clip Arnstein.

»Angebot?« Der Verhörspezialist hakte nach.

»Ja. Sie wissen natürlich, dass ich es war, der Sie damals gedrafted hat.«

»Klar.«

»Vor zehn, elf Jahren, als ich noch bei den Celtics war.«

»Ich weiß.«

»In der ersten Runde.«

»Das weiß ich alles, Mr Arnstein.«

»Sie waren ein wirklich vielversprechender Spieler, Myron. Sie waren klug. Sie hatten unglaubliches Gespür fürs Spiel. Sie waren ein Riesentalent.«

»I coulda been a contenda«, sagte Myron.

Arnstein runzelte die Stirn. Sein Stirnrunzeln war berühmt, er hatte es fünfzig Jahre lang im professionellen Basketballgeschäft kultiviert. Zum ersten Mal war es in die Öffentlichkeit getreten, als Clip in den vierziger Jahren für die inzwischen aufgelösten Rochester Royals gespielt hatte. Größere Bekanntheit erreichte es, als die Boston Celtics unter ihm als Trainer zahlreiche Meisterschaften gewannen. Zum legendären Markenzeichen war es geworden, als er als Manager der Mannschaft die vielen berüchtigten Spielerwechsel durchzog (und dabei der Konkurrenz die Flügel stutzte, daher der Spitzname Clip.) Vor drei Jahren war er Mehrheitseigner der New Jersey Dragons geworden, so dass das Stirnrunzeln jetzt in East Rutherford residierte, gleich an der Ausfahrt 16 der New Jersey Turnpike. Er fragte mürrisch: »Sollte das Brando sein?«

»Gespenstisch, stimmt’s? Als wäre Marlon mitten unter uns.«

Clip Arnsteins Gesicht wurde weich. Er nickte bedächtig und warf Myron aus den dunklen Rehaugen einen väterlichen Blick zu. »Sie reißen Witze, um den Schmerz nicht an sich ranzulassen«, sagte er ernst. »Das verstehe ich.«

Dr. Joyce Brothers.

»Was kann ich für Sie tun, Mr Arnstein?«

»Sie haben als Basketballprofi nicht ein einziges Spiel gemacht, oder, Myron?«

»Nein. Das wissen Sie doch.«

Clip nickte. »Ihr erstes Vorbereitungsspiel. Im dritten Viertel. Sie hatten schon achtzehn Punkte gemacht, gar nicht schlecht für einen Rookie in seinem ersten ernsthaften Test. Und dann hat das Schicksal zugeschlagen.«

Das Schicksal in Gestalt des riesigen Burt Wesson von den Washington Bullets. Ein Zusammenstoß, ein stechender Schmerz, und dann war alles vorbei.

»Tragische Geschichte«, sagte Clip.

»Mhm.«

»Hat mir immer leidgetan, dass ausgerechnet Ihnen das passiert ist. Wirklich jammerschade.«

Myron warf Calvin Johnson einen Blick zu. Der wirkte abwesend, er hatte die Arme verschränkt, und seine glatten schwarzen Züge waren still wie ein Teich. »Mhm«, sagte Myron wieder.

»Deshalb möchte ich Ihnen eine zweite Chance geben.«

Myron war sich sicher, dass er sich verhört hatte. »Wie bitte?«

»Wir haben einen Platz frei im Team. Ich möchte Sie unter Vertrag nehmen.«

Myron wartete ab. Er sah zu Clip. Dann sah er zu Calvin Johnson. Keiner der beiden lachte. »Wo ist sie?«, fragte Myron.

»Was?«

»Die Kamera. Es muss so eine Sendung mit der versteckten Kamera sein, stimmt’s? Die mit Ed McMahon? Ich bin ein großer Fan von ihm.«

»Das ist kein Witz, Myron.«

»Es muss ein Witz sein, Mr Arnstein. Ich habe zehn Jahre lang nicht ernsthaft gespielt. Mein Knie ist völlig kaputt gewesen. Daran erinnern Sie sich doch noch?«

»Nur zu gut. Aber wie Sie selbst gerade sagten, ist das zehn Jahre her. Ich weiß, dass Sie in der Reha waren, um wieder in Form zu kommen.«

»Und Sie wissen auch, dass ich ein Comeback versucht habe. Das war vor sieben Jahren. Und das Knie hat nicht gehalten.«

»Vielleicht war das noch zu früh«, erwiderte Clip. »Sie haben doch gerade gesagt, dass Sie wieder spielen.«

»Hobbymäßig am Wochenende. Das ist nicht das gleiche wie die NBA.«

Clip tat den Einwand mit einer Handbewegung ab. »Sie sind in Form. Sie wollten sogar die Muskeln spielen lassen.«

Myron kniff die Augen zusammen und ließ den Blick von Clip zu Calvin Johnson und wieder zurück zu Clip schweifen. Ihre Mienen waren neutral. »Warum kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren«, fragte Myron, »dass ich irgendwas nicht mitkriege?«

Endlich lächelte Clip. Er warf Calvin Johnson einen Blick zu. Calvin Johnson erwiderte das Lächeln etwas forciert.

»Vielleicht sollte ich mich weniger …«, Clip zögerte und suchte nach dem Wort, »… undurchsichtig ausdrücken.«

»Das könnte ein Anfang sein.«

»Ich hätte Sie gern im Team. Ob Sie spielen oder nicht, interessiert mich dabei nur am Rande.«

Wieder wartete Myron ab. Als niemand fortfuhr, sagte er: »Das kommt mir immer noch ziemlich undurchsichtig vor.«

Clip stieß einen langen Seufzer aus. Er ging zur Bar, öffnete so einen kleinen Kühlschrank, wie man sie in Hotelzimmern findet, und nahm eine Dose Yoo-Hoo-Schokomilch heraus. Sie hatten Yoo-Hoos besorgt. Hm. Clip war gut vorbereitet. »Trinken Sie das Zeug immer noch?«

»Ja«, sagte Myron.

Er warf Myron die Dose zu und schenkte etwas aus einer Karaffe in zwei Gläser. Eins davon reichte er Calvin Johnson. Er deutete auf die Sitze am Fenster. Genau über der Mittellinie. Sehr hübsch. Dazu viel Beinfreiheit. Sogar der zwei Meter große Calvin konnte sich halbwegs ausstrecken. Die drei Männer saßen nebeneinander und blickten in die gleiche Richtung; auch wieder seltsam für eine geschäftliche Besprechung. Da saß man sich an einem Schreibtisch oder einem Konferenztisch gegenüber. Stattdessen saßen sie Schulter an Schulter und sahen den Arbeitern beim Verlegen des Basketballbodens zu.

»Prost«, sagte Clip.

Er nippte an seinem Whiskey. Calvin Johnson hielt seinen in der Hand. Myron befolgte die Gebrauchsanweisung auf der Dose und schüttelte sein Yoo-Hoo.

»Soweit mir bekannt ist«, fuhr Clip fort, »sind Sie jetzt Anwalt.«

»Ich habe eine Anwaltszulassung«, sagte Myron, »arbeite aber kaum in dem Bereich.«

»Sie sind Sportagent.«

»Ja.«

»Ich traue Agenten nicht«, sagte Clip.

»Ich auch nicht.«

»Die meisten sind unverschämte Blutsauger.«

»Wir bevorzugen die Bezeichnung ›parasitäre Lebensformen‹«, sagte Myron. »Das ist politisch korrekter.«

Clip Arnstein beugte sich vor und starrte Myron in die Augen. »Woher weiß ich, dass ich Ihnen vertrauen kann?«

Myron deutete auf sich selbst. »Mein Gesicht«, sagte er. »Die Vertrauenswürdigkeit schreit förmlich heraus.«

Clip lächelte nicht. Er beugte sich noch ein bisschen weiter vor. »Was ich Ihnen jetzt erzähle, muss unter uns bleiben.«

»Okay.«

»Versprechen Sie mir, dass das diesen Raum nicht verlassen wird?«

»Ja.«

Clip zögerte, blickte zu Calvin Johnson und rutschte etwas nach vorne. »Sie kennen doch Greg Downing.«

Natürlich. Myron war mit Greg Downing aufgewachsen. Sie waren schon Rivalen, seit sie in der sechsten Klasse zum ersten Mal gegeneinander angetreten waren – in der Jugendliga einer Kleinstadt, keine dreißig Kilometer von Myrons gegenwärtigem Aufenthaltsort entfernt. Als Greg und Myron auf die High School gekommen waren, war Gregs Familie in die Nachbarstadt Essex umgezogen, weil Gregs Vater nicht wollte, dass sein Sohn den Basketballruhm mit Myron teilen musste. Das beflügelte ihre Rivalität. In der High School hatten sie acht Mal gegeneinander gespielt, wobei jedes Team vier Spiele gewann. Myron und Greg galten als die vielversprechendsten Basketball-Talente in New Jersey, und sie waren an Universitäten mit großer Basketball-Tradition und einer legendären Rivalität gegangen – Myron war nach Duke gegangen, Greg nach North Carolina.

Die persönliche Rivalität bekam weiteren Aufwind.

Im Laufe der Zeit in den Universitätsmannschaften waren sie zweimal gemeinsam auf dem Cover der Sports Illustrated erschienen. Beide Teams gewannen zweimal den Titel in der Atlantic Coast Conference, ACC, aber Myron holte zusätzlich eine Landesmeisterschaft. Myron und Greg wurden beide in die erste Mannschaft der Landesauswahl berufen, beide als Aufbauspieler. Bis zu ihrem Abschluss waren Duke und North Carolina zwölfmal gegeneinander angetreten. Das Duke-Team unter Myron hatte acht Spiele gewonnen. Beim NBA-Draft wurden beide in der ersten Runde ausgewählt.

Ihre Rivalität stürzte ab und ging in Flammen auf.

Myrons Karriere endete, als er mit dem Riesen Burt Wesson zusammenprallte. Greg Downing schlüpfte dem Schicksal durch die Finger und wurde zu einem der besten Aufbauspieler in der National Basketball Association, NBA. Im Laufe seiner zehnjährigen Karriere bei den New Jersey Dragons wurde Downing achtmal ins All-Star-Team gewählt. Zweimal hatte er die meisten Dreipunktwürfe der Liga verwandelt, viermal die beste Freiwurfquote und einmal die meisten Treffer vorbereitet. Er war dreimal auf dem Cover der Sports Illustrated abgebildet gewesen und hatte eine NBA-Meisterschaft gewonnen.

»Ich kenne ihn«, sagte Myron.

»Haben Sie viel Kontakt gehabt?«, fragte Clip Arnstein.

»Nein.«

»Wann haben Sie sich das letzte Mal gesprochen?«

»Weiß ich nicht mehr.«

»In den letzten Tagen?«

»Ich glaube, wir haben seit mindestens zehn Jahren nicht miteinander geredet«, sagte Myron.

»Oh«, sagte Clip. Er trank noch einen Schluck. Calvin hatte seinen Drink noch nicht angerührt. »Aber von seiner Verletzung haben Sie doch bestimmt gehört.«

»Das war irgendwas mit seinem Knöchel«, sagte Myron. »Man kann keine Vorhersage machen. Kann sich täglich ändern. Er hat sich zurückgezogen, um daran zu arbeiten.«

Clip nickte. »So haben wir das den Medien erzählt. Leider entspricht es nicht ganz den Tatsachen.«

»Ach?«

»Greg ist nicht verletzt«, sagte Clip. »Er ist verschwunden.«

»Verschwunden?« Wieder hakte der Verhörspezialist nach.

»Ja.« Clip nahm noch einen Schluck. Myron nippte ebenfalls, was bei einem Yoo-Hoo nicht ganz einfach war.

»Seit wann?«, fragte Myron.

»Jetzt seit fünf Tagen.«

Myron sah Calvin an. Calvin wirkte ungerührt, aber das lag einfach an seinem Gesicht. Als er noch gespielt hatte, war sein Spitzname »Frosty« gewesen, weil er niemals Emotionen zeigte. Im Moment machte er seinem alten Spitznamen alle Ehre.

Myron versuchte es noch einmal. »Wenn Greg verschwunden ist …«

»Weg«, fiel ihm Clip ins Wort. »Vom Erdboden verschluckt. In Luft aufgelöst. Nennen Sie’s, wie Sie wollen.«

»Haben Sie die Polizei alarmiert?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

Wieder winkte Clip ab. »Sie kennen Greg. Er ist ein unkonventioneller Typ.«

Die Untertreibung des Jahrtausends.

»Er tut nie das, was man erwartet«, sagte Clip. »Er kann den Ruhm nicht ausstehen. Er ist gern ungestört. Er ist auch früher schon mal verschwunden, aber nicht während der Vorbereitung zu den Playoffs.«

»Und was heißt das?«

»Das heißt, es kann gut sein, dass er einfach so unzuverlässig ist wie immer. Greg trifft einfach traumhaft, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Der Mann hat nicht alle Tassen im Schrank. Wissen Sie, was Downing nach dem Spiel macht?«

Myron schüttelte den Kopf.

»Er fährt Taxi in New York. Ja, ein verdammtes gelbes Taxi in New York City. Er behauptet, dass er dadurch in Kontakt mit den einfachen Leuten bleibt. Greg lehnt sämtliche Sponsorentermine ab und macht keine Werbung. Er gibt keine Interviews. Und nicht mal Benefizsachen. Er zieht sich an, als wäre er einer Sitcom aus den Siebzigern entsprungen. Der Mann ist echt durchgeknallt.«

»Und genau das macht ihn so enorm beliebt bei den Fans«, sagte Myron. »Ist gut für den Kartenverkauf.«

»Da haben Sie recht«, sagte Clip, »aber das unterstreicht nur meinen Standpunkt. Wenn wir die Bullen rufen, kann das ihm und dem Team schaden. Stellen Sie sich doch mal vor, was passiert, wenn die Medien Wind davon kriegen?«

»Das wäre nicht sehr erfreulich«, gab Myron zu.

»Genau. Und jetzt nehmen wir mal an, Greg hängt einfach nur in French Lick rum oder wie das Kuhkaff heißt, wo er in der Off-Season zum Angeln hinfährt. Dann hängt uns die Geschichte immer nach. Aber es kann natürlich auch sein, dass er irgendwas ausbrütet.«

»Irgendwas ausbrütet?«, wiederholte Myron.

»Ach, ich weiß doch auch nicht. Ich denke nur laut nach … Aber einen verdammten Skandal kann ich jetzt wirklich nicht brauchen. Jetzt nicht. Nicht wenn die Playoffs vor der Tür stehen. Können Sie mir folgen?«

Myron konnte das eigentlich nicht, entschied sich aber, es erst mal gut sein zu lassen. »Wer weiß sonst noch davon?«

»Nur wir drei.«

Die Arbeiter rollten die Körbe herein. Es gab noch zwei Reservekörbe, falls jemand einen auf Darryl Dawkins machte und das Brett zu Kleinholz schlug. Dann fingen sie an, weitere Sitze zu montieren. Wie in den meisten Stadien gab es auch im Meadowlands beim Basketball mehr Zuschauerplätze als beim Eishockey – in diesem Fall etwa tausend mehr. Myron nahm noch einen Schluck Yoo-Hoo und ließ ihn auf der Zunge zergehen. Er schluckte und stellte dann die naheliegende Frage. »Und was soll ich da jetzt machen?«

Clip zögerte. Er atmete tief, fast angestrengt. »Ich weiß ein bisschen was über Ihre Jahre beim FBI«, sagte er schließlich. »Keine Details natürlich. Eigentlich nicht mal was Ungefähres, aber es reicht, um zu wissen, dass Sie sich in solchen Dingen auskennen. Wir möchten, dass Sie Greg finden. Unauffällig.«

Myron sagte nichts. Seine »Undercover«-Arbeit fürs FBI schien das schlechtestgehütete Geheimnis in den gesamten Vereinigten Staaten zu sein. Clip nippte an seinem Drink. Er warf einen Blick auf Calvins volles Glas, dann auf Calvin. Calvin trank endlich einen Schluck. Dann wandte Clip seine Aufmerksamkeit wieder Myron zu. »Greg hat sich scheiden lassen«, fuhr er fort. »Im Grunde ist er ein Einzelgänger. Alle seine Freunde – ach was, alle seine Bekannten – sind Teamkameraden. Sie sind seine Selbsthilfegruppe, wenn man so will. Seine Familie. Wenn irgendjemand weiß, wo er ist – wenn irgendjemand ihm beim Untertauchen geholfen hat, muss es einer von den Dragons sein. Ich will ganz ehrlich sein. Diese Jungs sind ganz schöne Nervensägen. Eingebildete, verwöhnte Diven, die glauben, dass wir nur dazu da sind, sie zu bedienen. Aber eins haben sie alle gemeinsam. Sie sehen im Management ihren Hauptfeind. Wir gegen den Rest der Welt und solcher Blödsinn ist das gängige Weltbild. Uns sagt hier keiner die Wahrheit. Den Reportern auch nicht. Und wenn Sie sie in Ihrer Eigenschaft als, äh, ›parasitäre Lebensform‹ ansprechen, sagen die Ihnen auch nichts. Sie müssen ein Spieler sein. Das ist die einzige Möglichkeit, an sie ranzukommen.«

»Ich soll also einen Spielervertrag kriegen, damit ich nach Greg suchen kann.«

Myron hörte den leisen Unterton von Gekränktheit in seiner Stimme. Er war unbeabsichtigt. Aber seine beiden Gesprächspartner hatten ihn auch gehört. Er wurde rot vor Verlegenheit.

Clip legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich habe das ganz ernst gemeint, Myron. Sie hätten es weit bringen können. Ganz nach oben.«

Myron nahm einen großen Schluck Yoo-Hoo. Schluss mit dem Nippen. »Tut mir leid, Mr Arnstein. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

Das Stirnrunzeln war wieder da. »Was?«

»Ich habe zu tun. Ich bin Sportagent. Ich muss mich um meine Klienten kümmern. Ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen.«

»Sie bekommen das Spieler-Mindestgehalt. Das sind fast zweihunderttausend Dollar. Und es sind nur noch ein paar Wochen bis zu den Playoffs. Bis dahin behalten wir Sie auf jeden Fall.«

»Nein. Meine Tage als Basketballspieler sind vorbei. Und ich bin kein Privatdetektiv.«

»Aber wir müssen ihn finden. Vielleicht ist er in Gefahr.«

»Tut mir leid. Ich bleibe beim Nein.«

Clip lächelte. »Und wenn ich Ihnen das Angebot versüße?«

»Nein.«

»Fünfzigtausend Dollar Bonus bei Vertragsunterzeichnung.«

»Tut mir leid.«

»Greg könnte morgen wieder auftauchen, und Sie könnten das Geld trotzdem behalten. Fünfzig Riesen. Und ein Anteil an den Playoff-Geldern.«

»Nein.«

Clip lehnte sich zurück. Er starrte in seinen Drink, tauchte einen Finger hinein, rührte um. Seine Stimme klang desinteressiert. »Sie sind doch Agent, ja?«

»Ja.«

»Ich verstehe mich sehr gut mit den Eltern von drei Jungs, die in der ersten Runde gedraftet werden. Wussten Sie das?«

»Nein.«

»Nehmen wir mal an«, sagte Clip langsam, »ich garantiere Ihnen, dass einer davon bei Ihnen unterschreibt.«

Myron spitzte die Ohren. Ein Spieler aus der ersten Runde des Drafts. Er versuchte, gleichgültig zu wirken – so wie Frosty – aber sein Herz raste. »Wie würden Sie das denn anfangen?«

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.«

»Es klingt unsauber.«

Clip schnaubte. »Myron, jetzt spielen Sie nicht den Klosterschüler. Sie tun mir diesen Gefallen, und MB SportsReps kriegt einen Spieler aus der ersten Runde des Drafts. Garantiert. Unabhängig davon, wie die Sache mit Greg ausgeht.«

MB SportsReps. Myrons Unternehmen. Myron Bolitar, daher das MB. Repräsentiert Sportler, daher das SportsReps. Zusammen MB SportsReps. Myron hatte sich den Namen selbst ausgedacht, aber bislang hatte ihn noch keine große Werbeagentur unter Vertrag nehmen wollen.

»Sagen wir hunderttausend Dollar Bonus bei Vertragsabschluss«, sagte Myron.

Clip lächelte. »Sie haben viel dazugelernt, Myron.«

Myron zuckte die Achseln.

»Fünfundsiebzigtausend«, sagte Clip. »Und das nehmen Sie sowieso, also versuchen Sie gar nicht erst, den Bauernfänger reinzulegen.«

Die beiden Männer gaben sich die Hand.

»Ich hab dann noch ein paar Fragen zu Gregs Verschwinden«, sagte Myron.

Clip stützte sich auf beide Armlehnen, stand auf und sah auf Myron herab. »Calvin wird alle Ihre Fragen beantworten«, sagte er und nickte seinem Manager zu. »Ich muss jetzt gehen.«

»Und wann fang ich mit dem Training an?«

Clip wirkte überrascht. »Training?«

»Ja, wann soll ich anfangen?«

»Wir haben heute Abend ein Spiel.«

»Heute Abend?«

»Klar«, sagte Clip.

»Ich soll heute Abend aufs Spielfeld?«

2

Als Clip die Loge verlassen hatte, erlaubte sich Calvin Johnson ein kleines Lächeln. »Ich hab Ihnen ja gesagt, dass es komisch wird.«

»Wirklich urkomisch«, stimmte Myron zu.

»Sind Sie fertig mit Ihrem nahrhaften Schokoladengetränk?«

Myron setzte die Dose ab. »Ja.«

»Dann wollen wir Sie mal für Ihr großes Debüt ausstatten.«

Calvin Johnson ging mit federnden Schritten und in extrem gerader Haltung voraus. Er war schwarz, zwei Meter groß, schlank, wirkte dabei aber nicht hager oder unproportioniert. Er trug einen olivefarbenen Anzug von Brooks Brothers. Maßgeschneidert. Dazu eine perfekt gebundene Krawatte und perfekt polierte Schuhe. Sein krauses Haar wich bereits zurück, so dass seine große Stirn auffällig glänzte. Als Myron sich an der Duke University eingeschrieben hatte, war Calvin in seinem letzten Studienjahr an der North Carolina University gewesen. Also musste er ungefähr fünfunddreißig Jahre alt sein, er wirkte allerdings älter. Calvin hatte elf Jahre lang erfolgreich als Profi gespielt. Als er vor drei Jahren aufgehört hatte, war allen klar gewesen, dass er dem Basketball erhalten bleiben würde. Er hatte als Assistenztrainer angefangen, sich ins Management hochgearbeitet und war erst kürzlich zum Vizepräsidenten und Manager der New Jersey Dragons befördert worden. Das war aber nur die offizielle Seite. Der starke Mann im Club war Clip. Manager, Vizepräsidenten, Verwaltungsangestellte und sogar der Trainer fügten sich seinem Willen.

»Ich hoffe, Sie kommen mit der Situation zurecht«, sagte Calvin.

»Wieso nicht?«

Calvin zuckte die Achseln. »Ich hab gegen Sie gespielt«, sagte er.

»Na und?«

»Sie waren der ehrgeizigste Hund, mit dem ich’s je zu tun hatte«, sagte Calvin. »Sie wären jedem auf den Kopf gestiegen, um zu gewinnen. Und jetzt werden Sie ein unbedeutender Ergänzungsspieler, der den Platz auf der Reservebank warm hält. Wie wird Ihnen das schmecken?«

»Ich komm schon klar«, sagte Myron.

»Mhm.«

»Ich bin im Lauf der Jahre ruhiger geworden.«

Calvin schüttelte den Kopf. »Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Nicht?«

»Sie glauben vielleicht, dass Sie ruhiger geworden sind. Und vielleicht glauben Sie sogar, dass Sie mit dem Basketball abgeschlossen haben.«

»Hab ich auch.«

Calvin blieb stehen, lächelte und breitete die Arme aus. »Klar. Sie sollten sich mal sehen. Sie könnten ein leuchtendes Beispiel dafür abgeben, dass es ein Leben nach dem Sport gibt. Ein ausgezeichnetes Vorbild für Ihre Sportskameraden. Als Ihnen die Karriere als Profisportler um die Ohren geflogen ist, haben Sie sich nicht entmutigen lassen. Sie haben weiterstudiert – und das sogar an der juristischen Fakultät in Harvard. Sie haben eine eigene Firma gegründet – ein aufstrebendes Unternehmen in der Beratung von Profisportlern. Sind Sie immer noch mit dieser Schriftstellerin zusammen?«

Er meinte Jessica. Ob sie zusammen waren oder nicht, war oft schwer zu sagen, aber Myron erwiderte: »Natürlich.«

»Sie haben also eine hervorragende Ausbildung, einen Job und eine fantastische Freundin. Tja, von außen betrachtet sind Sie ein glücklicher Mann, der seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat.«

»Nicht nur von außen betrachtet.«

Calvin schüttelte den Kopf. »Das sehe ich anders.«

Hielt sich denn hier jeder für Dr. Joyce Brothers? »He, ich bin nicht hergekommen und hab darum gebettelt, dass ich mitspielen darf.«

»Nein, aber Sie haben sich auch nicht lange bitten lassen – außer als es um den Preis ging.«

»Ich bin Agent. Das ist mein Job. Ich treibe Preise in die Höhe.«

Calvin blieb stehen und sah Myron an. »Glauben Sie wirklich, dass Sie im Team sein müssen, wenn Sie Greg finden wollen?«

»Clip schien dieser Ansicht zu sein.«

»Clip ist ein großer Mann«, sagte Calvin, »aber er hat oft versteckte Motive.«

»Nämlich welche?«

Calvin antwortete nicht. Er ging weiter.

Sie erreichten den Aufzug. Calvin drückte den Knopf und die Türen öffneten sich sofort. Sie stiegen ein und fuhren nach unten. »Sehen Sie mir in die Augen«, sagte Calvin. »Sehen Sie mir in die Augen, und sagen Sie mir, dass Sie nie daran gedacht haben, wieder professionell Basketball zu spielen.«

»Wer träumt nicht gelegentlich davon?«, entgegnete Myron.

»Ja, aber Sie können mir nicht erzählen, dass Sie nicht noch einen Schritt weiter gehen. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie niemals die Augen schließen und von einem Comeback träumen. Sie können mir nicht erzählen, dass es Sie nicht heute noch in den Fingern juckt, wenn Sie ein Spiel im Fernsehen verfolgen. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie nie an Greg und den Fankult und den Ruhm denken. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie nie sagen ›Ich war besser als er‹ – das waren Sie nämlich. Greg ist toll. Einer der Top Ten Spieler der Liga. Aber Sie waren besser, Myron. Und das wissen wir beide.«

»Ist aber lange her«, sagte Myron.

Calvin lächelte. »Yeah«, sagte er. »Natürlich.«

»Was soll das heißen?«

»Sie sind hier, um Greg zu suchen. Sobald er wieder auftaucht, sind Sie weg vom Fenster. Der Reiz des Neuen hat sich bis dahin auch abgenutzt. Clip kann dann sagen, er hätte Ihnen eine Chance gegeben, die Sie aber nicht nutzen konnten. Er steht dann immer noch als der gutherzige alte Mann da und bekommt eine gute Presse.«

»Gute Presse«, wiederholte Myron und musste an die bevorstehende Pressekonferenz denken. »Ist das eins von seinen versteckten Motiven?«

Calvin zuckte die Achseln. »Das spielt keine Rolle. Aber Sie müssen verstehen, dass Sie keine Chance haben. Sie werden nur eingesetzt, wenn’s nicht mehr drauf ankommt. Und da wir meistens ziemlich knapp gewinnen oder verlieren, kommt das nur selten vor. Und selbst wenn es häufiger vorkommt und selbst wenn Sie dann groß aufspielen, wissen wir doch beide, dass es eigentlich nicht von Bedeutung ist. Außerdem werden Sie nicht gut spielen, weil Sie so ein ehrgeiziger Hund sind und nur dann Ihr Bestes geben können, wenn es noch um was geht.«

»Verstehe«, sagte Myron.

»Das will ich hoffen, mein Freund.« Calvin sah zur beleuchteten Etagenanzeige empor. Das Licht spiegelte sich flimmernd in seinen braunen Augen. »Träume sterben nie. Manchmal glaubt man, sie wären tot, dabei liegen sie nur im Winterschlaf wie ein fetter, alter Bär. Und ein Traum, der lange Winterschlaf gehalten hat, ist nach dem Aufwachen schlecht gelaunt und hungrig.«

»Sie sollten Countrysongs schreiben«, sagte Myron.

Calvin schüttelte den Kopf. »Das ist nur eine Warnung an einen Freund.«

»Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Dann können Sie mir jetzt ja mal erzählen, was Sie über Gregs Verschwinden wissen.«

Der Aufzug hielt, und die Tür öffnete sich. Calvin ging voran. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Wir haben in Philadelphia gegen die Sixers gespielt. Nach dem Spiel ist Greg mit den anderen in den Bus gestiegen. Als wir hier ankamen, ist er mit den anderen ausgestiegen. Zum letzten Mal haben wir ihn dann gesehen, als er sich in seinen Wagen gesetzt hat. Ende Gelände.«

»Was hat Greg an dem Abend für einen Eindruck gemacht?«

»Einen guten. Er hat gut gespielt. Siebenundzwanzig Punkte gemacht.«

»Und seine Stimmung?«

Calvin dachte nach. »Mir ist nichts aufgefallen«, sagte er.

»Gibt’s irgendwas Neues in seinem Leben?«

»Was Neues?«

»Irgendwelche Veränderungen, oder so?«

»Na ja, die Scheidung«, sagte Calvin. »War eine ziemlich hässliche Angelegenheit. Emily kann wohl ziemlich giftig werden.« Er blieb wieder stehen und grinste Myron an. Das Grinsen erstreckte sich über sein ganzes Gesicht. Myron blieb stehen, erwiderte das Grinsen aber nicht.

»Haben Sie was, Frosty?«

Das Grinsen wurde noch breiter. »Sind Sie nicht auch mal mit Emily zusammen gewesen?«

»Das ist so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist.«

»Eine Uni-Liebschaft, wenn ich richtig informiert bin.«

»Sag ich doch, ist schon gar nicht mehr wahr.«

»Also«, sagte Calvin und ging wieder los, »haben Sie auch bei den Frauen mehr Erfolg gehabt als Greg.«

Myron ignorierte die Bemerkung. »Weiß Clip von meiner sogenannten Vergangenheit mit Emily?«

»Er ist sehr gründlich.«

»Das erklärt dann auch, warum Ihr mich ausgesucht habt«, sagte Myron.

»Es spielt mit rein, aber ich glaube nicht, dass das besonders wichtig war.«

»Ach ja?«

»Greg hasst Emily. Ihr würde er sich bestimmt nicht anvertrauen. Aber seit sie sich über das Sorgerecht streiten, hat er sich definitiv verändert.«

»Inwiefern?«

»Zum einen hat er einen Deal mit Forte Sneakers unterschrieben.«

Myron war überrascht. »Greg? Einen Werbevertrag?«

»Da weiß noch keiner was von«, sagte Calvin. »Sie wollten es Ende des Monats bekannt geben, direkt vor den Playoffs.«

Myron pfiff durch die Zähne. »Die müssen ein fettes Bündel Scheine hingeblättert haben.«

»Soweit ich weiß, sind das mindestens anderthalb Bündel. Über zehn Millionen im Jahr.«

»Klingt logisch«, sagte Myron. »Ein so beliebter Spieler, der sich mehr als zehn Jahre lang geweigert hat, für irgendwas Werbung zu machen – für die ist das ein Schnäppchen. Forte macht ganz gute Umsätze mit Jogging- und Tennisschuhen, aber unter Basketballern sind sie ziemlich unbekannt. Mit Greg haben sie da einen Fuß in der Tür.«

»So sieht’s aus«, stimmte Calvin zu.

»Haben Sie eine Ahnung, wieso er nach so langer Zeit weich geworden ist?«

Calvin zuckte die Achseln. »Vielleicht ist Greg klar geworden, dass auch er nicht jünger wird, und er wollte noch mal richtig absahnen. Vielleicht spielt auch die Scheidungsgeschichte mit rein. Oder er hat einen auf die Nuss gekriegt und ist mit einem Funken gesundem Menschenverstand wieder aufgewacht.«

»Wo wohnt er denn seit der Scheidung?«

»In seinem Haus in Ridgewood. Das liegt in Bergen County.«

Myron kannte Ridgewood. Calvin schrieb ihm Gregs Adresse auf. »Und was ist mit Emily?«, fragte Myron. »Wo wohnt sie jetzt?«

»Sie ist mit den Kindern zu ihrer Mutter gezogen. Ich glaube, die wohnt in Franklin Lakes oder zumindest in der Umgebung.«

»Haben Sie schon irgendwas überprüft – Gregs Haus, die Kreditkarten oder die Bankkonten?«

Calvin schüttelte den Kopf. »Clip war die Sache zu brenzlig, um sie irgendeiner Detektei anzuvertrauen. Darum haben wir Sie angerufen. Ich bin ein paar Mal an Gregs Haus vorbeigefahren, und ein Mal hab ich auch gehalten und an die Tür geklopft. Es war kein Auto in der Einfahrt oder in der Garage. Licht hat auch nicht gebrannt.«

»Und im Haus war noch niemand?«

»Nein.«

»Es kann also gut sein, dass er in der Badewanne gestürzt ist und sich am Kopf verletzt hat?«

Calvin sah ihn an. »Es war kein Licht an, hab ich gesagt. Glauben Sie, er badet im Dunkeln?«

»Stimmt auch wieder«, sagte Myron.

»Toller Privatdetektiv.«

»Ich muss halt erst warm werden.«

Sie kamen zum Mannschaftsraum. »Warten Sie draußen«, sagte Calvin.

Myron zog sein Handy heraus. »Kann ich zwischendurch mal telefonieren?«

»Machen Sie ruhig.«

Calvin verschwand durch die Tür. Myron schaltete das Handy ein und wählte. Jessica ging beim zweiten Klingeln dran. »Hallo?«

»Ich muss unser Essen heute Abend leider absagen«, sagte Myron.

»Ich hoffe, du hast eine gute Ausrede«, sagte Jessica.

»Eine spitzenmäßige. Ich spiele im NBA-Spiel für die New Jersey Dragons.«

»Wie nett. Dann viel Glück, Schatz.«

»Im Ernst. Ich spiele für die Dragons. Na ja, ›spielen‹ trifft’s vielleicht nicht ganz. Genauer gesagt werd ich mir wohl vom Rumsitzen Blasen am Arsch holen.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ist ’ne lange Geschichte, aber ja, ich bin jetzt offiziell Basketball-Profi.«

Stille.

»Ich hab noch nie mit einem Basketball-Profi gevögelt«, sagte Jessica. »Da komm ich mir ja vor wie Madonna.«

»Like a virgin«, sagte Myron.

»Wow. Die Anspielung hat ihr Haltbarkeitsdatum aber schon lange überschritten.«

»Na ja, was soll ich sagen. Ich bin ein Mann der Achtziger.«

»Also, Mr Achtziger, dann erzähl doch mal eben, was da los ist?«

»Dafür hab ich jetzt keine Zeit. Das machen wir heute Abend. Nach dem Spiel. Ich lass ein Ticket für dich hinterlegen.«

Calvin steckte den Kopf durch den Türspalt. »Was haben Sie für einen Hüftumfang? Vierunddreißig?«

»Sechsunddreißig. Vielleicht siebenunddreißig.«

Calvin nickte und zog sich wieder zurück. Myron wählte die Privatnummer von Windsor Horne Lockwood III, Präsident der angesehenen Investmentgesellschaft Lock-Horne Securities in Midtown Manhattan. Win ging nach dem dritten Klingeln dran.

»Ich höre«, sagte Win.

Myron schüttelte den Kopf. »Ich höre?«

»Ich sagte ›Ich höre‹, nicht ›wiederholen Sie‹.«

»Wir haben einen Fall«, sagte Myron.

»Oh, yippieh«, sagte Win schleppend in seinem arroganten Philadelphia-Geldadel-Tonfall. »Ich bin entzückt. Ich bin bezaubert. Aber bevor ich mir vollends in das Unterzeug nässe, hätte ich noch eine kurze Frage an dich.«

»Schieß los.«

»Fällt auch dieser Fall in die von dir bevorzugte wohltätige Spezies?«

»Kannst einnässen«, sagte Myron. »Die Antwort lautet: nein.«

»Wie bitte? Kein moralischer Kreuzzug des tapferen Myronleins?«

»Diesmal nicht.«

»Bei allen Göttern, berichte.«

»Greg Downing wird vermisst. Unsere Aufgabe ist es, ihn wiederzufinden.«

»Und für solcherart geleistete Dienste erhalten wir?«

»Mindestens fünfundsiebzig Riesen sowie einen Spieler aus der ersten Runde des Drafts als Klienten.« Es war nicht der richtige Moment, um Win über seinen vorübergehenden Wechsel der beruflichen Laufbahn aufzuklären.

»Ach, ach«, sagte Win beglückt. »Sprich frei heraus, wie fangen wir an?«

Myron gab ihm die Adresse von Gregs Haus in Ridgewood. »Wir treffen uns da in zwei Stunden.«

»Ich nehm das Batmobil«, sagte Win und legte auf.

Calvin kam zurück. Er hielt ein marineblau-dunkelrotes Dragons-Trikot in der Hand. »Probieren Sie das mal an.«

Myron griff nicht gleich danach. Er starrte es an, und sein Magen schlug Purzelbäume. Als er wieder etwas herausbekam, fragte er leise: »Die Vierunddreißig?«

3

Ridgewood war ein nobler Vorort, eine von den alten Kleinstädten, die sich immer noch Dorf nennen, in der fünfundneunzig Prozent aller Schüler auf die Universität gehen und keiner duldet, dass sich seine Kinder mit den restlichen fünf Prozent herumtreiben. Es gab ein paar Wohnblocks, Auswüchse der Explosion der Vororte in den sechziger Jahren, aber zum größten Teil stammten die hübschen Häuser Ridgewoods aus einer älteren, zumindest theoretisch unschuldigeren Zeit.

Myron fand das Downing-Haus ohne Probleme. Alt, viktorianisch, geräumig, aber nicht unförmig, drei Stockwerke mit perfekt ausgebleichten Zedernschindeln. Links hatte es einen runden Turm mit spitzem Dach. Vorne eine große Veranda mit allem, was seit Norman Rockwells Gemälden für die amerikanische Idylle erforderlich war: die Hollywoodschaukel, auf der Atticus und Scout sich in einer heißen Nacht in Alabama eine Limonade teilen könnten, ein umgefallenes Kinderfahrrad, ein Plastikschlitten, obwohl der letzte Schnee vor sechs Wochen weggetaut war. Der obligatorische Basketballkorb hing leicht angerostet über der Einfahrt. An zwei Fenstern im ersten Stock glänzten die rotsilbernen Aufkleber, mit denen die Lage der Kinderzimmer für die Feuerwehr markiert war. Alte Eichen säumten den Gehsteig wie verwitterte Wachtposten.

Win war noch nicht da. Myron parkte und kurbelte ein Fenster herunter. Es war ein perfekter Märztag. Der Himmel war blau wie ein Rotkehlchen-Ei. Die Vögel zirpten auf klischeehafteste Weise. Er versuchte, sich Emily in dieser Umgebung vorzustellen, aber das Bild passte nicht richtig. Sie passte einfach besser in einen New Yorker Wolkenkratzer oder in eine dieser schneeweißen Neureichen-Villen mit Erté-Skulpturen und Silberperlen und viel zu vielen verschnörkelten Spiegeln. Andererseits hatte er seit zehn Jahren nicht mehr mit Emily gesprochen. Vielleicht hatte sie sich verändert. Vielleicht hatte er sie damals auch falsch eingeschätzt. Wäre nicht das erste Mal.

Es war komisch, wieder in Ridgewood zu sein. Jessica war hier aufgewachsen. Sie kehrte nicht gern hierher zurück, aber jetzt hatten die zwei Lieben seines Lebens – Jessica und Emily – noch etwas gemeinsam: das Dorf Ridgewood. Es war ein weiterer Punkt auf der Liste der Gemeinsamkeiten beider Frauen – außer Myron treffen, von Myron umworben werden, sich in Myron verlieben, Myrons Herz wie eine Tomate unter einem Pfennigabsatz zermatschen. Das Übliche halt.

Emily war seine erste Freundin gewesen. Das erste Uni-Jahr war ziemlich spät, um seine Jungfräulichkeit zu verlieren, wenn man den Prahlereien seiner Freunde Glauben schenken durfte. Aber wenn in den späten Siebzigern oder den frühen Achtzigern tatsächlich eine sexuelle Revolution unter amerikanischen Teenagern stattgefunden haben sollte, dann hatte Myron sie entweder verpasst oder auf der falschen Seite gestanden. Frauen hatten ihn immer sympathisch gefunden – daran hatte es nicht gelegen. Doch während seine Freunde bis ins Detail von diversen orgiastischen Erlebnissen berichteten, schien Myron die falschen Mädchen anzuziehen, die netten Mädchen, die, die immer noch Nein sagten – oder gesagt hätten, wenn Myron mutig (oder vorausschauend) genug gewesen wäre, sie zu fragen.

Das änderte sich auf der Universität, als er Emily begegnete.

Leidenschaft. Ein ziemlich überstrapaziertes Wort, aber Myron fand, dass es hier passte. Es war jedenfalls nichts weniger als zügellose Lust gewesen. Emily gehörte zu den Frauen, die Männer eher »scharf« als »schön« nannten. Wenn man eine wirklich »schöne« Frau sah, wollte man sie malen oder ein Gedicht schreiben. Wenn man Emily sah, wollte man ihr und sich selbst die Kleider vom Leib reißen. Sie verkörperte ungebrochene Sexualität; sie war vielleicht fünf Kilo schwerer, als sie hätte sein sollen, aber diese fünf Kilo waren erlesen verteilt. Mit Myron zusammen hatte das eine explosive Mischung ergeben. Sie waren beide noch keine zwanzig Jahre alt, beide zum ersten Mal von zu Hause weg, beide kreativ.

In einem Wort: Kaboom.

Das Handy klingelte. Myron ging ran.

»Ich gehe davon aus«, sagte Win, »dass dein Plan einen Einbruch in die Downing-Residenz vorsieht.«

»Ja.«

»Dann ist es keine unbedingt weise Entscheidung, den Wagen direkt vor besagter Residenz zu parken, oder?«

Myron sah sich um. »Wo bist du?«

»Fahr zur nächsten Querstraße. Bieg links ab, dann die zweite rechts. Ich parke hinter dem Bürogebäude.«

Myron legte auf, ließ den Wagen an und fuhr los. Er folgte Wins Wegbeschreibung und bog in den Parkplatz ein. Win lehnte mit verschränkten Armen an seinem Jaguar. Wie immer sah er aus, als posierte er für das Coverfoto des WASP Quarterly. Sein blondes Haar saß perfekt. Sein Teint war leicht gerötet, seine Züge wie aus Porzellan, fein geschnitten und ein bisschen zu vollkommen. Er trug Khakis, einen blauen Blazer, Mokassins ohne Socken und eine schrille Lilly-Pulitzer-Krawatte. Win sah aus, wie man sich einen Mann namens Windsor Horne Lockwood III vorstellte – elitär, von sich selbst eingenommen, ein Weichei.

Na ja, mit zwei von drei Treffern lag man ja gar nicht so schlecht.

Das Bürogebäude beherbergte eine eklektische Mischung. Gynäkologe. Elektrolyse. Zustellungsdienst für Vorladungen. Ernährungsberater. Frauen-Fitnessclub. Wie man sich denken konnte, parkte Win vor dem Eingang zum Frauen-Fitnessclub. Myron ging zu ihm.

»Woher hast du gewusst, dass ich vor dem Haus parke?«

Win wandte den Blick nicht vom Eingang ab und bewegte nur den Kopf. »Von dem Hügel da drüben hat man mit einem Fernglas eine ausgezeichnete Aussicht.«

Eine wohl gut zwanzigjährige Frau in einem schwarzen Lycra-Aerobicanzug verließ das Gebäude mit einem Baby im Arm. Sie hatte nicht lange gebraucht, um ihre alte Figur zurückzugewinnen. Win lächelte ihr zu. Die Frau erwiderte das Lächeln.

»Ich liebe junge Mütter«, sagte Win.

»Du liebst Frauen in Lycra«, korrigierte Myron.

Win nickte. »Das auch.« Er setzte eine Sonnenbrille auf. »Wollen wir anfangen?«

»Glaubst du, es wird schwierig, da einzubrechen?«

Win machte ein Gesicht, als hätte er die Frage nicht gehört. Eine weitere Frau kam aus dem Fitnessclub, der jedoch leider kein Win-Lächeln vergönnt war. »Berichte«, sagte Win. »Und geh ein Stück zur Seite. Sie sollen freie Sicht auf den Jaguar haben.«

Myron erzählte ihm, was er wusste. In den fünf Minuten, die er dafür brauchte, verließen acht Frauen das Gebäude. Nur zweien wurde das Lächeln zuteil. Eine trug einen getigerten Trikotanzug. Sie bekam das Hundert-Watt-Lächeln, das sogar fast Wins Augen erfasste.

Win schien nichts von Myrons Worten mitzukriegen. Selbst als Myron sagte, dass er vorübergehend Gregs Position bei den Dragons besetzen sollte, wandte Win seinen hoffnungsvollen Blick nicht von der Tür des Fitnessclubs ab. Wins normales Verhalten. Myron schloss seine Ausführungen mit den Worten: »Noch Fragen?«

Win tippte sich an die Unterlippe. »Glaubst du, dass die in dem getigerten Anzug Unterwäsche getragen hat?«

»Keine Ahnung«, sagte Myron, »aber sie hat eindeutig einen Ehering getragen.«

Win zuckte die Achseln. Das kümmerte ihn nicht. Win glaubte nicht an Liebe oder Beziehungen zum anderen Geschlecht. Man hätte das für schlichten Sexismus halten können. Aber man hätte daneben gelegen. Win sah Frauen nicht als Objekte an – manchen Objekten begegnete er mit Respekt.

»Folge mir«, sagte Win.

Bis zum Downing-Haus war es nicht ganz ein Kilometer. Win hatte sich bereits umgesehen und den Weg gefunden, auf dem das Risiko, gesehen zu werden oder Verdacht zu erregen, am geringsten war. Sie gingen nebeneinander her in der behaglichen Stille zweier Männer, die einander sehr lange und sehr gut kannten.

»Es gibt da noch einen interessanten Nebenaspekt«, sagte Myron.

Win wartete.

»Erinnerst du dich an Emily Shaeffer?«, fragte Myron.

»Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Ich bin an der Duke zwei Jahre lang mit ihr zusammen gewesen.« Win und Myron hatten sich an der Duke kennen gelernt. Sie waren dort vier Jahre lang Zimmergenossen gewesen. Win hatte Myron mit dem Kampfsport und dem FBI bekannt gemacht. Jetzt war Win Topmanager bei Lock-Horne Securities in der Park Avenue, einer Wertpapiergesellschaft, die von Wins Familie geleitet wurde, seit es einen Markt für solche Papiere gab. Myron hatte ein Büro in Wins Räumen gemietet, und Win kümmerte sich um alle finanziellen Angelegenheiten der Klienten von MB SPORTSREPS.

Win überlegte kurz. »War das die, die immer diese komischen Affengeräusche gemacht hat?«

»Nein«, sagte Myron.

Win wirkte überrascht. »Und wer war dann die mit den komischen Affengeräuschen?«

»Keine Ahnung.«

»Vielleicht eine von meinen.«

»Möglich.«

Win überlegte und zuckte die Achseln. »Was ist mit ihr?«

»Sie war mit Greg Downing verheiratet.«

»Geschieden?«

»Genau.«

»Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte Win. »Emily Schaeffer. Wahnsinnsfigur.«

Myron nickte.

»Ich hab sie nie gemocht«, sagte Win. »Nur diese komischen Affengeräusche, die hab ich recht interessant gefunden.«

»Sie war nicht die mit den Affengeräuschen.«

Win lächelte milde. »Die Wände waren dünn«, sagte er.

»Und du hast uns belauscht?«

»Nur wenn du das Rollo heruntergelassen hast und ich nicht zusehen konnte.«

Myron schüttelte den Kopf. »Du bist ein Ferkel«, sagte er.

»Besser als ein Affe.«

Sie gingen durch die Gartentür und weiter zum Haus. Der Trick bestand darin, so auszusehen, als gehörte man dorthin. Wenn jemand gebückt zur Hintertür schlich, fiel das auf. Zwei Männer mit Krawatten, die sich der Haustür näherten, legten meist nicht den Gedanken an einen Einbruch nahe.

Am Türrahmen war eine metallene Zifferntastatur angebracht, an der ein rotes Lämpchen leuchtete.

»Eine Alarmanlage«, sagte Myron.

Win schüttelte den Kopf. »Ein Fake. Das ist nur ein rotes Lämpchen. Hat er vermutlich bei so einem Versand für Angeberzubehör gekauft.« Win inspizierte das Schloss und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ein Kwiktight-Billigschloss bei einem Profibasketballer-Einkommen«, sagte er angewidert. »Da hätte er die Tür auch mit Knetgummi abschließen können.«

»Was ist mit dem Riegel?«, fragte Myron.

»Ist nicht vorgeschoben.«

Win hatte seinen Zelluloidstreifen schon gezückt. Kreditkarten waren zu steif. Zelluloid eignete sich viel besser – ›Loiding the lock‹, sagten die Profis. In der gleichen Zeit, die sie mit Schlüssel gebraucht hätten, war die Tür offen, und sie standen in der Diele. Hinter dem Briefschlitz in der Tür lag jede Menge Post. Myron warf einen raschen Blick auf ein paar Poststempel. Hier war seit mindestens fünf Tagen niemand mehr gewesen.

Die Inneneinrichtung war ganz hübsch in einem pseudorustikalen Martha-Stewart-Design gehalten. Die Möbel fielen in die Kategorie »Schlichter Landhausstil«, was bedeutete, dass sie in der Tat schlicht aussahen, der Preis aber unverschämt hoch war. Viel Kiefernholz, Rattan, Antiquitäten und Trockenblumen. Es roch stark und drückend nach einer Blütenduftmischung.

Sie trennten sich. Win ging nach oben ins Arbeitszimmer. Er schaltete den Computer ein und fing an, alles auf Disketten zu kopieren. Myron fand den Anrufbeantworter in einem Raum, den man früher »Wohnzimmer« genannt hätte, der aber jetzt unter so hochtrabenden Bezeichnungen wie »Kalifornia-Raum« oder »Salon« firmierte. Der Anrufbeantworter gab zu jeder Nachricht das Datum und die Uhrzeit an. Äußerst praktisch. Myron drückte einen Knopf. Das Band spulte zurück und startete. Schon bei der ersten Nachricht, die nach den Angaben der digitalen Ansage von 21:18 Uhr des Abends stammte, an dem Greg verschwunden war, landete er einen Treffer.

Eine nervöse Frauenstimme sagte: »Ich bin’s, Carla. Ich warte bis Mitternacht in der hintersten Nische.« Klick.

Myron spulte zurück und hörte sich die Nachricht ein zweites Mal an. Es gab zahlreiche Hintergrundgeräusche – Menschenstimmen, Musik, Gläserklirren. Der Anruf war vermutlich aus einer Bar oder einem Restaurant gekommen, dafür sprach auch die Anspielung auf die hinterste Nische. Aber wer war Carla? Eine Freundin? Wahrscheinlich. Wer würde sonst so spät anrufen, um ein Treffen für den gleichen Abend zu vereinbaren? Wobei das natürlich kein normaler Abend gewesen war. Schließlich war Greg Downing irgendwann zwischen diesem Anruf und dem nächsten Morgen verschwunden.

Ein seltsamer Zufall.

Wo hatten sie sich also getroffen – falls Greg tatsächlich zu diesem Treffen in der hintersten Nische erschienen war? Und warum klang Carla, wer immer sie auch war, so nervös – oder bildete Myron sich das nur ein?

Myron hörte den Rest des Bandes ab. Es gab keine weiteren Nachrichten von Carla. Wenn Greg nicht in der besagten Nische aufgetaucht war, hätte Carla dann nicht ein zweites Mal angerufen? Wahrscheinlich. Vorerst konnte Myron also davon ausgehen, dass Greg Downing Carla kurz vor seinem Verschwinden noch getroffen hatte.

Ein Hinweis.

Auf dem Anrufbeantworter waren noch vier Nachrichten von Gregs Agenten Martin Felder. Er wurde von Anruf zu Anruf bestürzter. Die letzte Nachricht lautete: »Herrgott, Greg, wieso rufst du mich denn nicht zurück? Ist das was Ernstes mit deinem Knöchel oder was? Jetzt lass mich nicht hängen, wo wir gerade dabei sind, den Forte-Deal festzuklopfen. Ruf mich an, okay?« Außerdem hatte ein gewisser Chris Darby vier Nachrichten hinterlassen, der anscheinend für Forte Sports Incorporated arbeitete. Er war ähnlich aufgeregt wie Martin Felder. »Marty will mir nicht sagen, wo Sie sind, Greg. Ich glaube, er spielt irgendein komisches Spielchen mit uns. Vielleicht versucht er, den Preis hochzutreiben oder so. Aber wir hatten doch einen Deal, oder? Ich geb Ihnen mal meine Privatnummer, okay, Greg? Wie schlimm ist es denn überhaupt mit Ihrem Knöchel?«

Myron lächelte. Martin Felders Klient war verschwunden, aber er versuchte alles, um daraus Vorteil zu schlagen. Agenten. Er navigierte durch die verschiedenen Optionen des Anrufbeantworters, bis im LCD-Display die Codenummer erschien, die Greg eingestellt hatte, um seine Anrufe per Fernabfrage abhören zu können: 317. Jetzt konnte Myron jederzeit anrufen, die 317 eingeben und hören, welche neuen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen worden waren. Er drückte die Wahlwiederholungstaste am Telefon, um festzustellen, wen Greg zuletzt angerufen hatte. Am anderen Ende klingelte es zweimal, dann nahm eine Frau ab: »Kimmel Brothers.« Myron hatte keine Ahnung, wer das war. Er legte auf.

Myron fand Win im Arbeitszimmer. Win kopierte weiter Daten auf Disketten, während Myron die Schubladen durchsuchte. Keine hilfreichen Funde.

Dann nahmen sie sich das Schlafzimmer vor. Das große Doppelbett war ordentlich gemacht. Auf beiden Nachttischen stapelten sich Stifte, Schlüssel und Zettel.

Auf beiden.

Seltsam für einen Mann, der angeblich allein lebte.

Myron ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und blieb an einem Sessel hängen, der offenbar vorwiegend als Kleiderablage benutzt wurde. Gregs Kleidung hing über der einen Armlehne und der Lehne. Myron fand das ziemlich normal – es war hier ordentlicher als in seinem Schlafzimmer, was allerdings nicht viel heißen wollte. Aber als er genauer hinsah, entdeckte er etwas Ungewöhnliches auf der anderen Armlehne: Zwei Kleidungsstücke – eine weiße Bluse und einen grauen Rock.

Myron sah Win an.

»Vielleicht gehören sie Miss Affengeräusch«, sagte Win.

Myron schüttelte den Kopf. »Emily ist schon vor Monaten ausgezogen. Wieso sollten ihre Sachen noch auf dem Sessel liegen?«

Auch das Badezimmer erwies sich als interessant. Ein großer Whirlpool auf der rechten Seite, eine große Dampfdusche mit einer Sauna und zwei Waschtische. Sie warfen zuerst einen Blick in die Waschtische. Einer enthielt eine Dose Rasierschaum, einen Deoroller, eine Flasche Polo-Rasierwasser und einen Gillette-Atra-Rasierer. Der andere Waschtisch beherbergte ein offenes Make-up-Etui, Calvin-Klein-Parfum, Babypuder und einen Secret-Deoroller. Auf dem Boden vor dem Schränkchen fand sich eine Spur Babypuder. In der Seifenschale neben dem Whirlpool lagen zwei Damen-Einwegrasierer.

»Er hat eine Freundin«, sagte Myron.

»Ein Basketball-Profi und ein williges Frauenzimmer«, bemerkte Win. »Was für eine Enthüllung. Vielleicht wäre es angebracht, dass einer von uns ›Heureka‹ ruft.«

»Das wirft allerdings eine interessante Frage auf«, sagte Myron. »Wenn ihr Freund plötzlich verschwindet, hätte besagte Freundin das nicht gemeldet?«

»Nicht«, wandte Win ein, »wenn sie zusammen verschwunden sind.«

Myron nickte. Er erzählte Win von Carlas kryptischer Nachricht.

Win schüttelte den Kopf. »Wenn sie sich gemeinsam aus dem Staub machen wollten«, sagte er, »warum sollte sie dann den Treffpunkt ansagen?«

»Sie hat nicht gesagt, wo. In einer hintersten Nische bis Mitternacht.«

»Trotzdem«, sagte Win. »So verhält man sich nicht, bevor man untertaucht. Nehmen wir mal an, dass Carla und Greg aus irgendeinem Grund beschließen, für eine Weile zu verschwinden. Hätte Greg dann nicht vorher gewusst, wann und wo er sie trifft?«

Myron zuckte die Achseln. »Vielleicht hat sie den Treffpunkt geändert.«

»Von der vorderen Nische zur hinteren?«

»Was weiß ich.«

Sie durchsuchten den Rest des Obergeschosses. Es brachte nicht viel. Das Schlafzimmer von Gregs Sohn zierte eine Tapete mit Rennwagendekor und ein Poster, auf dem Daddy mit einem Korbleger an Penny Hardaway vorbeizog. Das Zimmer der Tochter war im klassischen Barney-Stil gehalten – Dinosaurier und Lila. Wieder kein Hinweis. Es gab keinerlei Hinweise, bis sie schließlich in den Keller gingen.

Myron sah es sofort, als das Licht anging.

Der Keller war als Spielzimmer für die Kinder ausgebaut. Auf dem Boden lagen Little-Tikes-Spielzeugautos, Legosteine, Duplo, und am Rand stand ein Kunststoff-Spielhaus mit einer Rutsche. An der Wand hingen Szenen aus Disneyfilmen wie Aladdin und Der König der Löwen. In einem Regal standen ein Fernseher und ein Videorekorder. Es gab auch schon Spielzeug für die Zeit, wenn die Kinder etwas älter wurden – einen Flipper und eine Jukebox. Außenherum standen kleine Schaukelstühle, ein paar Sofas zum Rumtoben, und dazwischen lagen mehrere Matratzen.

Außerdem war Blut zu sehen. Eine ganze Menge Blut in Form von Blutspritzern auf dem Fußboden. Auch die Wände waren blutverschmiert.

4

Eine Leiche war nicht zu finden. Nur das Blut.

Win holte Gefrierbeutel aus der Küche und nahm ein paar Proben. Zehn Minuten später standen sie im Freien. Die Haustür war wieder zu. Ein blauer Oldsmobile Delta 88 fuhr an ihnen vorbei. Zwei Männer saßen auf den Vordersitzen. Myron sah Win an. Der nickte.

»Schon zum zweiten Mal«, sagte Myron.

»Zum dritten«, sagte Win. »Ich hab sie vorhin schon gesehen, als ich vorbeigefahren bin.«

»Experten sind das wohl eher nicht«, sagte Myron.

»Nein«, gab Win ihm Recht. »Andererseits konnten sie natürlich nicht wissen, dass für den Job Expertise erforderlich ist.«

»Kannst du den Halter ermitteln?«

Win nickte. »Ich sehe mir auch gleich Gregs Kontobewegungen und seine Kreditkartenzahlungen an«, sagte er. Er entriegelte den Jaguar. »Ich melde mich, sobald ich was habe. Länger als ein paar Stunden dürfte das nicht dauern.«

»Fährst du ins Büro?«

»Zuerst gehe ich zu Master Kwon«, sagte Win.

Master Kwon war ihr Taekwondo-Trainer. Beide hatten schwarze Gürtel – Myron den zweiten Dan, Win den sechsten, womit er einer der besten weißen Taekwondo-Sportler der Welt war. Auf jeden Fall war er der beste Kampfsportler, den Myron je gesehen hatte. Er hatte mehrere unterschiedliche Kampftechniken erlernt, darunter brasilianisches Jiu-Jitsu, Tier-Kung-Fu und Jeet Kune Do. Win, der Widersprüchliche. Wer Win sah, hielt ihn für einen verwöhnten, vornehmen Stutzer; in Wirklichkeit war er ein tödlicher Kämpfer. Wer Win sah, hielt ihn für einen normalen, angepassten Menschen; in Wirklichkeit war er alles andere, nur das nicht.

»Was machst du heute Abend?«, fragte Myron.

Win zuckte die Achseln. »Weiß noch nicht.«

»Ich kann dir eine Karte für das Spiel besorgen«, sagte Myron.

Win schwieg.

»Kommst du?«

»Nein.«

Ohne ein weiteres Wort glitt Win hinter das Steuer seines Jaguar, startete den Motor und parkte mit geringfügig quietschenden Reifen aus. Myron stand da und sah ihm nach, überrascht von der Wortkargheit seines Freundes. Andererseits, um eine der vier Fragen beim Passah-Fest zu paraphrasieren: Warum sollte dieser Tag anders sein als alle anderen Tage?

Er sah auf die Uhr. Bis zur Pressekonferenz hatte er noch ein paar Stunden Zeit. Es reichte, um ins Büro zurückzufahren und Esperanza von der Änderung seiner beruflichen Laufbahn zu erzählen. Schließlich musste sie die ganze Arbeit in der Agentur machen, wenn er für die Dragons spielte.

Er nahm die Route 4 zur George Washington Bridge. Keine Staus an den Mauthäuschen. Ein Gottesbeweis. Aber der Henry Hudson Highway war verstopft. Er bog beim Columbia Presbyterian Medical Center in Richtung Riverside Drive ab. Die Scheibenwascher – die Obdachlosen, die einem die Windschutzscheibe mit einer Mischung aus Schmieröl, Tabasco und Urin wienerten – standen nicht mehr an der Ampel. Bürgermeister Giulianis Werk, vermutete Myron. Stattdessen standen da jetzt Lateinamerikaner und verkauften Blumen sowie etwas Tonpapierartiges. Er hatte einmal gefragt, was das war, und eine Antwort auf Spanisch bekommen. Soweit er sie übersetzen konnte, roch das Papier fein und war eine Zierde für jedes Heim. Vielleicht war es das, was Greg als Raumduft benutzte.

Auf dem Riverside Drive war nicht viel los. Myron fuhr auf den Parkplatz an der 46th Street und warf Mario die Schlüssel zu. Mario parkte den Ford Taurus nicht vorne neben den Rolls Royces, den Mercedessen und Wins Jaguar, sondern weiter hinten, wo es ihm meist gelang, ein lauschiges Plätzchen unter einem Nistplatz inkontinenter Tauben zu finden. Sein Auto wurde diskriminiert. Eine unschöne Sache, und doch unternahm niemand etwas dagegen.

Das Lock-Horne-Securities-Gebäude lag an der Park Avenue Ecke 46th, im rechten Winkel zum Helmsley-Gebäude. Die Mieten waren horrend. Auf der Straße herrschte das geschäftige Treiben der Großfinanz. Mehrere Stretch-Limousinen parkten in zweiter Reihe. Die hässliche moderne Plastik, die aussah wie ein Haufen Eingeweide, stand kläglich auf ihrem Platz. Männer und Frauen im Geschäftsanzug saßen auf den Stufen und schlangen gedankenversunken ihre Sandwichs hinunter, viele sprachen mit sich selbst, bereiteten sich auf ein wichtiges Meeting am Nachmittag vor oder rekapitulierten einen morgendlichen Fehler. Wer in Manhattan arbeitete, lernte rasch, wie man in einer Menschenmenge allein bleiben konnte.

Myron trat in die Lobby und drückte den Fahrstuhlknopf. Er nickte den drei Lock-Horne-Hostessen zu, die allgemein als Lock-Horne-Geishas bekannt waren. Sie waren Möchtegern-Models oder Schauspielerinnen und sollten die großen Tiere zu den Büros der Lock-Horne Securities hinaufbegleiten und dabei hübsch aussehen. Win hatte die Idee auf einer Geschäftsreise nach Fernost aufgeschnappt. Myron ging davon aus, dass man noch sexistischer sein konnte, hätte aber nicht genau sagen können, wie.

Esperanza Diaz, seine geschätzte Geschäftspartnerin, begrüßte ihn, als er durch die Tür kam: »Wo zum Teufel bist du gewesen?«

»Ich muss mit dir reden«, sagte er.

»Später. Du hast eine Million Nachrichten.«

Esperanza trug eine weiße Bluse – absolut umwerfend bei ihrem dunklen Haar, den dunklen Augen und dieser dunklen Haut, die wie das Mittelmeer bei Mondschein schimmerte. Esperanza war mit siebzehn von einem Scout als Model entdeckt worden, aber ihre Karriere hatte ein paar merkwürdige Schlenker gemacht, und schließlich war sie im Profi-Catchen groß rausgekommen. Ja, im Profi-Catchen. Sie war als Little Pocahontas, die tapfere Indianerprinzessin, bekannt geworden, das Prunkstück der Fabulous Ladies of Wrestling (FLOW). Ihr Kostüm war ein Seidenbikini gewesen, und im Moraltheater des Profi-Catchens hatte sie immer die Gute gespielt. Sie war jung, zierlich, straff, schön und trotz ihrer lateinamerikanischen Herkunft dunkelhäutig genug, um als Indianerin durchzugehen. Ethnische Details spielten bei FLOW keine Rolle. Der richtige Name von Mrs Saddam Hussein, der bösen Haremsdame mit dem schwarzen Schleier, war Shari Weinberg.

Das Telefon klingelte. Esperanza nahm ab. »MB SportsReps. Einen Moment, er steht direkt neben mir.« Sie sah Myron an. »Perry McKinley. Das ist schon das dritte Mal heute.«

»Was will er denn?«

Sie zuckte die Achseln. »Manche Leute sprechen nicht gern mit dem Hilfspersonal.«

»Du bist kein Hilfspersonal.«

Sie sah ihn ausdruckslos an. »Gehst du jetzt dran oder nicht?«

Ein Sportagent musste – in der Computerterminologie – multitaskingfähig sein und die unterschiedlichsten Leistungen auf Knopfdruck erbringen können. Es ging nicht nur einfach ums Verhandeln. Von einem Agenten erwartete man, dass er Buchhalter, Finanzplaner, Immobilienmakler, Händchenhalter, Reiseleiter, Familienberater, Eheberater, Chauffeur, Laufbursche, elterlicher Beistand, Lakai, Arschkriecher und so weiter war. Wenn man nicht bereit war, all das für einen Klienten zu erledigen – eine »Full Service Agentur« zu sein – standen die Mitbewerber schon Schlange.

Allein war man verloren. Nur mit einem Team konnte man da mithalten, und Myron fand, dass es ihm gelungen war, eine kleine, aber äußerst effektive Mannschaft zusammenzustellen. Win kümmerte sich um die gesamten Finanzen von Myrons Klienten. Er richtete für jeden Klienten ein spezielles Portfolio ein und traf sich mindestens fünfmal im Jahr mit ihnen, um sicherzugehen, dass sie wussten, was ihr Geld machte und warum. Dass Myron Win hatte, verschaffte ihm einen erheblichen Vorsprung vor der Konkurrenz. Win war in der Finanzwelt nahezu eine Legende. Sein Ruf war makellos (wenn auch nur in der Finanzwelt) und seine Erfolgsgeschichte unübertroffen. Durch ihn hatte Myron immer einen Fuß in der Tür – er konnte in einer Branche glaubwürdig auftreten, in der Glaubwürdigkeit eine Seltenheit war.

Myron war der Jurist. Win war der Betriebswirtschaftler. Esperanza war das Mädchen für alles, das unerschütterliche Chamäleon, das den Laden im Griff hatte. Es funktionierte prächtig.

»Ich muss mit dir reden«, sagte er noch einmal

»Wir reden gleich«, sagte sie knapp. »Aber jetzt geh erst mal ans Telefon.«

Myron betrat sein Büro. Er konnte auf die Park Avenue hinuntersehen. Eine tolle Aussicht. An einer Wand hingen Plakate von Broadway-Musicals, an einer anderen Fotos von Filmausschnitten mit Myrons Lieblingsschauspielern: den Marx Brothers, Woody Allen, Alfred Hitchcock und ein paar anderen Klassikern. Die dritte Wand schmückten Fotos von Myrons Klienten. Sie war etwas kahler, als Myron es sich gewünscht hätte. Er stellte sich vor, wie sie mit einem Spieler aus der ersten Runde des NBA-Drafts in der Mitte aussehen würde.

Gut, stellte er fest. Sehr gut sogar.

Er setzte sein Headset auf.

»Hallo, Perry.«