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Sprache war für Paulus als Missionar das Handwerkszeug, mit dem er die christliche Botschaft vermittelte. Welches Verständnis aber hat der Apostel von Sprache? Die älteste Quelle des Christentums für ein eigenes Sprachverständnis ist das 14. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Es liefert damit den historischen und sachlichen Ausgangs¬punkt für die Arbeit, die v.a. auch die in der Forschung bisher vernachlässigten Verse 1 Kor 14,10f analysiert. Sie führt auch in die zentralen sprach¬philosophischen Fragestellungen der Antike ein und untersucht das Sprachver¬ständnis Philons von Alexandria. Der Vergleich mit Philon präzisiert die Einordnung des paulini¬schen Sprachverständ¬nisses in den antik-philosophischen Sprachdiskurs, da beide den Kontext des hellenistischen Judentums teilen. Die Arbeit zeigt, inwiefern Paulus im antiken sprachphilosophischen Diskurs positioniert werden kann und stützt damit Forschungsbeiträge, die eine neue Sicht auf das intellektuelle Profil des Apostels werfen: Paulus darf nicht nur eine pharisäische Bildung gesprochen werden, sondern auch eine (sprach)phi¬lo¬sophische.
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Seitenzahl: 919
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Nadine Treu
Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0011-9
Meinen Eltern
Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2016 als Dissertation der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet. Eine solche Arbeit kann nicht ohne Unterstützung erfolgen. Deshalb möchte ich mich bei den Personen bedanken, die mich in der Entstehungszeit der Dissertation in irgendeiner Weise begleitet und unterstützt haben:
Prof. Dr. Dr.h.c Oda Wischmeyer, herzlichen Dank für das Angebot zur Promotion, für die fachliche Unterstützung und für jede nette Unterhaltung über Philon, Paulus, Reisen, Kindererziehung u.Ä. Ich hoffe, wir führen diese Gespräche auch in Zukunft fort.
Prof. Dr. Lukas Bormann, danke für die Erstellung des Zweitgutachtens der Arbeit und für die langjährige Begleitung vom Grundstudium in Bayreuth an bis hin zur Promotion in Erlangen.
Dr. Maximilian Paynter, danke für die viele gemeinsame Zeit, die wir zusammen in unserem Zimmer in der Bibliothek verbracht und gearbeit haben; danke aber auch für die gemeinsamen Kaffeepausen und die fachlichen Unterhaltungen.
Dr. Daniel Wanke, danke für das Korrekturlesen der Arbeit und für das Mutmachen in allen Lebenssituationen.
Nina Irrgang, M.A., danke für das Korrekturlesen der Arbeit, stundenlanges Tüfteln über Philotexten und die langjährige Freundschaft.
Vom Narr Francke Attempo Verlag danke ich Isabel Johe und Vanessa Weihgold für die unkomplizierte Zusammenarbeit.
Den Herausgebern von NET danke ich herzlich für die Aufnahme in die vorliegende Reihe.
Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung bin ich der Evang.-luth. Kirche in Bayern, der Vereinigten Evang.-luth. Kirche Deutschlands und der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung zu Dank verpflichtet.
Jana Kraus, Pia Neidhardt und Daniela Wallner, euch gilt ein ganz besonderer Dank für eure Freundschaft, in der ihr immer viel Geduld mit mir und meinen Fragen und Problemen beweist.
Ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei meiner Familie, meinen Eltern Rosemarie und Gerhard Wedel, meiner Schwester Nicole Wedel und meinem Ehemann Tobias Treu für die Unterstützung in jeder denkbaren Lebenslage. Schön, dass wir eine solche enge Bindung haben und dass ihr immer für mich da seid.
Altenthann, Juni 2017
Nadine Treu
Eine Welt ohne Sprache wäre (…) eine sehr arme Welt. Aber vermutlich mehr noch: Es wäre eine Welt, in der es vieles, was uns in unserer Lebensform als wesentlich gilt, nicht gäbe. Eine menschliche Lebensform ohne Sprache ist wohl keine menschliche Lebensform.1
Was Georg W. Bertram in seiner Einführung in die Sprachphilosophie schreibt, gilt im 21. Jahrhundert ebenso wie für die Autoren der gesamten Antike und für Paulus im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Nicht nur die Tatsache, dass Sprache zum Wesen des Menschen gehört, ist festzuhalten, sondern auch, dass es seit der Antike einen intensiven Diskurs über Sprache und ihr Wesen gibt; dieser stellt – die Stoa ausgenommen – allerdings keinen eigenständigen Bereich der Philosophie dar, sondern ist eingebettet in den der Ontologie, der Metaphysik oder der Erkenntnislehre.2 Auch für Paulus spielt die Sprache eine große Rolle; sie ist das Handwerkszeug, mit dem er arbeitet – ungeachtet dessen, dass er in 2 Kor 11,6 als unkundig in der Rede angefeindet wird. Sie ermöglicht es ihm, in Form von mündlicher Kommunikation, das Evangelium weiterzugeben, und dient ihm in schriftlicher Form dazu, mit seinen Gemeinden in Kontakt zu bleiben. Diese praktische Sprachtätigkeit des Paulus liegt nicht im Interesse der Untersuchung, sie kann und soll nicht in Bezug zu der aktiven Sprachtätigkeit der antiken Philosophen oder Philons gesetzt werden, obgleich auch Philon gelehrt und Vorträge gehalten hat. Es soll auch nicht erarbeitet werden, was Inhalte des paulinischen Sprechens und der paulinischen Verkündigung sind und wie die praktische Verwendung von Sprache durch Paulus aussieht. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Paulus, wenn er selbst in derart hohem Maß mit Sprache konfrontiert ist, sich auch auf einer theoretischen Ebene mit Sprache auseinandersetzt, ob er Fragen des antiken Sprachdiskurses aufgreift, und ob er als eigene Stimme in diesem Diskurs positioniert werden kann. Im Allgemeinen ist das für die paulinischen Briefe nicht der Fall. Paulus reflektiert Sprache auf theoretischer Ebene kaum, obwohl er fortwährend mit Sprache zu tun hat. Eine Ausnahme scheint 1 Kor 14 zu sein: Im Rahmen der Charismenlehre in 1 Kor 12–14 verwendet Paulus besonders konzentriert Vokabular aus dem Bereich ‚Sprache’. Das zeigt die folgende Übersicht, ohne dass dabei eine vollständige Untersuchung des lexikalisch-semantischen Paradigmas erfolgen kann und soll.3
Die Übersicht zeigt, dass Paulus zwar nicht alle Lexeme des Wortfelds ‚Sprache’ verwendet, dass die Lexeme dieses Wortfelds in 1 Kor 12–14 insgesamt aber gehäuft vorkommen. Das gilt v.a. für γλῶσσα, λαλέω, διδαχή, φωνή, ἑρμηνεύω/διερμηνεύω, ἑρμηνεία und διερμηνευτής. Die vier zuletzt genannten Lexeme werden ausschließlich in diesen drei Kapiteln verwendet. Die Lexeme γλῶσσα, λαλέω und φωνή sind auch in weiteren Paulusbriefen belegt, treten in 1 Kor 12–14 aber konzentriert auf. Besonders verdichtet ist das Vokabular aus dem sprachlichen Bereich in 1 Kor 14,6–12. Bereits im ersten Vers wird durch die Wendungen γλώσσαις λαλεῖν, λαλεῖν ἐν ἀποκαλύψει/ἐν γνώσει/ἐν προφητείᾳ/ἐν διδαχῇ der Fokus auf die sprachlichen Äußerungen gerichtet. In 1 Kor 14,7–11 finden sich alle Belege des Lexems φωνή für 1 Kor; von besonderem Interesse ist 1 Kor 14,10 f und die Formulierung δύναμις τῆς φωνῆς. Auch das Lexem λαλέω verzeichnet ¼ seines Vorkommens im 1. Korintherbrief in den genannten Versen.
Das Lexem λόγος kommt vergleichsweise selten vor, was zeigt, dass 1 Kor 14 nicht vorrangig geformte Sprache thematisiert und dass nicht der Inhalt einer sprachlichen Äußerung, wie etwa der λόγος τοῦ σταυροῦ, im Vordergrund steht. 1 Kor 14 beschäftigt sich in erster Linie mit den ‚formalen’ Aspekten von Sprache, mit deren Funktion, Wirkung und Ziel. Diese Ansicht wird dadurch unterstützt, dass Ausdrücke wie beispielsweise εὐαγγέλιον und κήρυγμα fehlen. Paulus stellt Überlegungen an, die auf die Funktionen und Wirkungen einer sprachlichen Äußerung gerichtet sind und deren ethische Relevanz betonen.
Die Begriffe, die zur Umschreibung der Charismen der Prophetie und der Glossolalie dienen, setzt Paulus in 1 Kor 12–14 besonders häufig ein. Das weist die prophetische und glossalische Rede als die beiden Sprachgaben aus, die für die Erarbeitung des paulinischen Sprachverständnisses von besonderer Bedeutung sind. Insgesamt gibt die konzentrierte Verwendung der Lexeme in 1 Kor 14, v.a. in 1 Kor 14,6–12, die dem Wortfeld Sprache zuzurechnen sind, Anlass, das Kapitel unter diesem Aspekt zu untersuchen.
Die genannte Texteinheit ist die älteste Quelle des Christentums für ein eigenes Sprachverständnis und liefert damit zugleich den historischen und sachlichen Ausgangspunkt für den Umgang des frühen Christentums mit Sprache. Daraus ergibt sich die exegetische Fragestellung der Arbeit: Welche Sicht hat Paulus auf das Thema ‚Sprache’? Die Steuerungsfragen können durch die Exegese von 1 Kor 12–14 und durch die Beschäftigung mit der Entwicklung der Sprachphilosophie differenzierter gestellt werden: Wie ist die Entstehung von Sprache zu denken? Wie funktioniert Sprache? Welche Relationen zwischen Wort und Sache können ausgemacht werden? Welche Funktionen, Aufgaben und Ziele hat Sprache? Wo werden Grenzen von Sprache deutlich? Paulus thematisiert diese Fragen zum Thema Sprache wie andere Themen situationsbezogen bzw. praktisch, indem er von einer konkreten Problemstellung in der Gemeinde ausgeht. Er behandelt das Thema Sprache nicht als Gegenstand einer eigenen thematischen Untersuchung, sondern äußert sich im Rahmen der Charismenlehre über den Nutzen solcher Gaben, die als Wort- oder Sprachgaben bestimmt werden können. Das führt ihn zu theoretischen Überlegungen, die Thema der Untersuchung sind. Um sie richtig verstehen und einordnen zu können, ist die Kenntnis des historischen Kontexts von Bedeutung; erst vor diesem Hintergrund können die Spezifika des paulinischen Sprachverständnisses als solche bestimmt werden und erst im Anschluss daran kann folgender Frage nachgegangen werden: Wie ist die paulinische Sprachauffassung im historischen Kontext positioniert?
Der antike Diskurs über Sprache wird als Sprachphilosophie bezeichnet. Der Terminus hat sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts etabliert.4 Allgemein kann Sprachphilosophie definiert werden als „die Aufgabe, den Begriff der Sprache aufzudecken, also grundlegende Fragen in Bezug auf Sprache zu beantworten.“5 Diese Fragen betreffen „die Entstehung, Entwicklung, Bedeutung und Funktion von Sprache“6. Dabei ist anzumerken, dass es nicht die eine Sprachphilosophie gibt, sondern eine große Anzahl an Fragestellungen, die unterschiedlich bearbeitet und beantwortet werden.7 Gelegentlich werden Sprachphilosophie und Sprachtheorie synonym verwendet. Erstere kann sinnvoll so definiert werden, dass sie die „phonetischen, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekte der Sprache als ihren genuinen Gegenstand“8 im Blick hat. Auf theoretischer Ebene hat wohl erst die Stoa all diese Aspekte betrachtet. Zuvor wird Sprache im Zusammenhang mit verschiedenen philosophischen Teildisziplinen behandelt. Die Autoren haben jeweils Teilbereiche, die zu einer Sprachtheorie gehören, im Blick, decken aber nicht alle Aspekte ab. Die Sprachphilosophie ist außerdem von der Sprachethik abzugrenzen. Sie ist nicht Teil der antiken Sprachphilosophien, wird aber einen Teil des philonischen Sprachverständnisses kennzeichnen.
Von einer paulinischen Sprachphilosophie kann nicht gesprochen werden, da Paulus sich nicht im Rahmen philosophischer Überlegungen mit Sprache beschäftigt; stattdessen wird sowohl für Paulus als auch für Philon der Begriff des Sprachverständnisses gebraucht. Dieser kann und wird sowohl sprachphilosophische und bei Philon auch sprachethische Aspekte in sich vereinen, lässt aber dennoch Raum für die paulinischen und philonischen Spezifika, weil er nicht den bereits vorhandenen Definitionen der Sprachphilosophie unterliegt.
Die Forschungsbereiche bezüglich der Sprache des Neuen Testaments beziehen sich auf das konkrete Sprachsystem (langue), also das hellenistische Griechisch im ersten nachchristlichen Jahrhundert,1 und auf die realisierten Texte (parole).2 Das hellenistische Griechisch als Sprachsystem ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Für den zweiten Bereich, der parole, lassen sich hauptsächlich Analysen zu den Argumentationsstrukturen biblischer Texte,3 zu Rhetorik,4 Semantik5 und Stil6 finden.
Das Sprachverständnis des Paulus hat in der ntl. Forschung bisher keine eigene thematische Bearbeitung gefunden, so dass die Arbeit keine bereits vorliegenden Forschungsdiskurse weiterführen kann, sondern ihre Fragestellung selbst anhand der Textanalysen erarbeiten muss. In Fachlexika wird in den Artikeln zur Sprache regelmäßig auf die Ausgangskapitel dieser Arbeit hingewiesen;7 dies hat im Wesentlichen aber keine Arbeiten zur Sprachthematik nach sich gezogen. Die Kommentarliteratur beschäftigt sich ausführlich mit 1 Kor 14. Dabei gilt für die gesamte Forschungsliteratur, dass sie das Kapitel hauptsächlich unter ‚nichtsprachlichen’ Aspekten behandelt: Sie thematisiert die urchristliche Prophetie,8 die paulinische Vorstellung des Geistes9 sowie das Verständnis und die Entwicklung der Charismenlehre.10 Für die beiden zentralen Charismen, die Prophetie und die Glossolalie, finden sich in der Kommentarliteratur häufig Exkurse, die zeigen, dass hier ein erhöhter Erklärungsbedarf besteht.11 Das Thema Sprache wird also lediglich in Bezug auf die Sprachgaben der Zungenrede und der Prophetie behandelt, die Frage nach einem Sprachverständnis des Paulus oder einer Beziehung zum antiken sprachphilosophischen Denken ist nicht gestellt worden. Dasselbe gilt für die umfangreichen Untersuchungen, die sich vor allem mit Argumentationsanalysen12 und der rhetorischen Analyse13 beschäftigen und in denen 1 Kor 12–14 untersucht wird. Diese Monographien verorten sich im Kontext der Rhetorikforschung und setzen sich nicht mit dem paulinischen Sprachverständnis auseinander.
Gerade die Sätze, in denen Paulus seine Überlegungen zur Sprache präzisiert, 1 Kor 14,6–12, werden in der Forschung vernachlässigt und verkürzt behandelt:
Die Beispiele von den undeutlichen Musikinstrumenten und dem verblasenen Signal zum Kampf (…) sind ohne weiteres in sich einsichtig.14
V. 7–11 bringen eine Reihe von Beispielen (…) für Verständlichkeit und Unverständlichkeit: Melodie (7), Signal (8), mit Anwendung (9); dann Sprache (Verstehen) (10 f) mit Anwendung.15
Die Beispiele sind ohne weiteres verständlich.16
Die Verse sind aber weder nur als Beispiele zu verstehen noch ohne weitere Ausführungen verständlich. Sie führen vielmehr in das Zentrum des paulinischen Zeichenverständnisses, was einzig Wolfgang Schenk in seinem Aufsatz „Die Aufgabe der Exegese und die Mittel der Linguistik“17 wahrgenommen hat. Sein Beitrag ist von der frühen Begeisterung für die neue Disziplin der Linguistik getragen, die vor allem in den Arbeiten von Güttgemanns zum Ausdruck kam. Schenk zeigt, ausgehend von James Barr, die Notwendigkeit der Linguistik für die Exegese auf. Er kommt in diesem Zusammenhang auf 1 Kor 14,7–11 zu sprechen. Schenk sieht in diesem Text „die Berechtigung einer linguistisch bestimmten Arbeitsweise für Verkündigung und Exegese“18. Er bezeichnet 1 Kor 14,6–12 als das „linguistische Manifest des Paulus“19 und benennt die linguistischen Aspekte, die diese Verse kennzeichnen: Das paulinische Zeichenverständnis. Da Schenk mit seinem Aufsatz das Interesse verfolgt, die Notwendigkeit der Linguistik für die Exegese aufzuzeigen, dient ihm 1 Kor 14 als neutestamentliche Begründung hierfür. Er stellt fest, dass es zwei Seiten des Zeichens gibt,20 fragt aber nicht nach den Aspekten, die ein paulinisches Sprachverständnis konkret kennzeichnen. Wann und warum die Inhaltsseite eines Zeichens verständlich ist, ist ebenso wenig Thema wie 1 Kor 14,10; diesen Vers lässt Schenk in seinem Aufsatz unbeachtet. Aber gerade er wird einen entscheidenden Aspekt des paulinischen Zeichenverständnisses liefern. Schenk versucht auch keine Einordnung seines Ergebnisses in den antiken sprachphilosophischen Diskurs. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an. Darüber hinaus soll das paulinische Sprachverständnis nicht ausschließlich unter dem Aspekt des sprachlichen Zeichens untersucht werden, sondern unter allen oben genannten Leitfragen.
Einen wichtigen Beitrag leistet auch der Aufsatz „Mit Engelszungen? Vom Charisma der verständlichen Rede in 1 Kor 14“21 von Hans-Joseph Klauck. Er verfolgt das Ziel, „den eigenartigen Gegensatz (…) zwischen Geist (πνεῦμα) und Vernunft (νοῦς) (…) etwas besser zu verstehen“22, und beschreibt zunächst die Glossolalie. Anschließend nimmt er „einen zielgerichteten Durchgang durch 1 Kor 14“ vor, dessen „Schwerpunkt er bei V. 14–19“23 setzt. Auch Klauck beschäftigt sich also im Wesentlichen nicht mit 1 Kor 14,6–12, stellt aber für 1 Kor 14,10 f fest, dass diese Verse „den Ansatz einer Sprachtheorie [enthalten], wenn es [das Gleichnis in 1 Kor 14,10 f, Anm.] die Übermittlung von Sinn und Bedeutung als Aufgabe der Sprache hinstellt“24. Weitere Ausführungen einer solchen Sprachtheorie folgen nicht. Klauck versteht die Verse als Gleichnis, bei dem es um Kommunikation in Fremdsprachen geht; auch hierzu folgt eine kritische Auseinandersetzung. Hilfreich ist der Aufsatz v.a. für das Verständnis und die Rolle des Verstandes.25
Das Sprachverständnis des Paulus wurde also in der Fachliteratur bisher nur unzureichend berücksichtigt. Für die antike Sprachphilosophie und das frühjüdische Sprachverständnis verhält es sich anders. Die Forschung zur griechisch-römischen Sprache liefert zahlreiche Arbeiten zur Rhetorik,26 aber auch eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit der antiken Sprachphilosophie beschäftigen,27 so dass für diese Thematik auf eine breite Grundlage zurückgegriffen werden kann. Auch für den Vergleich mit dem frühjüdischen Autor Philon von Alexandria liegen mit den Untersuchungen von Klaus Otte28 und Gertraut Kweta29 zwei Monographien zum Thema vor. Beide werden, ebenso wie weitere Aufsätze, zu Beginn des Philonkapitels vorgestellt.
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Beginn und der Entwicklung sprachphilosophischer Fragestellungen. Es ist erforderlich, weil „die Verflechtung des Christentums in die allgemeine Geschichte“ zu berücksichtigen ist und weil „die Aufgabe seiner Erforschung und Wertung nur von dem großen Zusammenhang der Gesamtgeschichte“1 her in Angriff genommen werden kann, wie Ernst Troeltsch in seinem epochalen Aufsatz über die Methoden der Theologie formuliert hat. Was für den gesamtgeschichtlichen Zusammenhang und das Christentum allgemein gilt, trifft auch für Paulus und für einzelne thematische Aspekte, wie den der Sprache, zu. Weil sich die Theologie und die Philosophie gegenseitig beeinflusst haben, stellt sich mit Schnelle die Frage, „ob einzelne ntl. Autoren wie Paulus und Johannes gezielt an philosophisch-religiösen Diskursen teilnahmen“ und ob „sie bewusst Schlüsselbegriffe der antiken Philosophie in ihre Argumentation [integrierten], um so gezielt Anschlussfähigkeit herzustellen“2. In diesen Fragen geht es nicht um
passive Vorgänge wie traditions- bzw. religionsgeschichtliche Beeinflussungen, sondern [um] aktive Prozesse: die Übernahme philosophischer Begriffe und Ideen, die Integration philosophischer Themen in die eigene Argumentation, die Teilnahme an umfassenden philosophisch-theologischen Diskursen.3
Die Auseinandersetzung mit den theoretischen Überlegungen zur Sprache, die sich in der antiken Umwelt entwickelt haben und im ersten nachchristlichen Jahrhundert vorhanden sind, liefert also die Voraussetzung dafür, das Spezifische des paulinischen Sprachverständnisses herausstellen zu können. Nur wenn man die antiken sprachphilosophischen Begriffe und Ideen berücksichtigt, kann aufgezeigt werden, wo Paulus an bereits erarbeitete Sprachvorstellungen anknüpft, welche Fragestellungen er nicht aufgreift oder wo er eigene, neue Positionen formuliert. Damit diese Einordnung erfolgen kann, ist es notwendig, die Entwicklung der antiken Sprachphilosophie mit ihren wichtigsten Frage- und Problemstellungen darzulegen. Ernst Troeltsch fasst dies unter dem Kriterium der Kritik zusammen: Die ntl. Texte unterliegen vorerst der „historischen Kritik“, weil „jede Einzeltatsache unsicher“4 ist.5 Damit Aussagen an Wahrscheinlichkeit gewinnen, muss „die Erklärung und Darstellung vom Gesamtzusammenhang ausgehen“, denn „nur vom Gesamtzusammenhang aus kann ein Urteil über das Christentum gewonnen werden“6. Dieser Gesamtzusammenhang, von dem aus sich das paulinische Sprachverständnis erhellen lässt, ist zum einen die antike Sprachphilosophie, zum anderen das frühjüdische Sprachverständnis Philons. Weil „[j]eder Moment und jedes Gebilde der Geschichte (…) nur im Zusammenhang mit anderen und schließlich mit dem Ganzen gedacht werden kann“7, ist es unerlässlich, zu versuchen, dieses Ganze auch für einen bestimmten Themenkomplex zu erfassen. Indem die zentralen Entwicklungen und Fragestellungen der antiken Sprachphilosophie aufgezeigt werden, wird versucht, den allgemeinen Rahmen für die Auseinandersetzung mit Sprache zu erschließen, obgleich dies nie vollständig geschehen kann. Das paulinische Sprachverständnis soll also nicht isoliert betrachtet werden, sondern im Kontext der wichtigsten sprachphilosophischen Fragestellungen der Antike. Zugleich ist es dabei notwendig, sich auf die zentralen Autoren und Entwicklungen zu beschränken.8 Neben der Kritik führt Troeltsch zwei weitere Kriterien an, die zum historischen Verstehen beitragen:9 Analogie und Korrelation. Durch Analogien können die Wahrscheinlichkeiten einzelner Aussagen erhöht werden; indem nach Analogien gesucht wird, wird die Kritik bzw. der Unsicherheitsfaktor historischen Verstehens ernst genommen und der Versuch unternommen, den Faktor der Unwahrscheinlichkeit zu verringern.10 Für die vorliegende Untersuchung ist nach Analogien in zwei Richtungen zu fragen: Zum einen nach Analogien in philosophischen, profangriechischen Texten, die sich theoretisch mit dem Thema Sprache auseinandersetzen, zum anderen in den Texten Philons, die Analogien für den jüdisch-hellenistischen Kontext ermöglichen; beide sind nach thematischen und begrifflichen Analogien zum paulinischen Sprachverständnis zu befragen, um dieses besser verstehen und einordnen zu können. Damit einher geht die dritte von Troeltsch geforderte Kategorie, die Korrelation: Es gibt keine „Erscheinungen des geistesgeschichtlichen Lebens, wo keine Veränderung an einem Punkte eintreten kann ohne vorausgegangene und folgende Aenderung an einem anderen, so daß alles Geschehen in einem beständigen korrelativen Zusammenhange steht“11. Das heißt nicht, dass nichts Neues entstehen kann, sondern allein, dass geschichtliche, philosophische, kulturelle und religiöse Ereignisse dort, wo neue Gedankengänge entwickelt werden, zum besseren Verständnis dieser beitragen können, weil sie der „Wechselwirkung aller Erscheinungen des geistesgeschichtlichen Lebens“12 unterliegen. Vor dem Hintergrund der profangriechischen sprachphilosophischen Entwicklungen und Fragestellungen kann eine Einordnung des paulinischen Sprachverständnisses in den antik-philosophischen Sprachdiskurs vorgenommen werden. Der Vergleich mit Philon präzisiert diese Einordnung, indem der kulturelle und religiöse Rahmen mit dem hellenistischen Judentum exakter abgegrenzt werden kann.
Dieser Rahmen stellt die erste von zwei wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen Philon und Paulus dar, die die Grundlage dafür bilden, weshalb gerade philonische Texte als zusätzlicher und vergleichender Bezugsrahmen gewählt wurden. Wenn also abschließend das paulinische Sprachverständnis mit dem philonischen verglichen werden soll, ist es unumgänglich, das Verhältnis der beiden Autoren und ihrer Texte zu reflektieren. Der Versuch einer solchen Standortbestimmung wurde 2003 auf dem I. Internationalen Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum in Eisenach und Jena unternommen.13
Philon selbst kannte die Jesusbewegung mit großer Sicherheit nicht. Ob die ntl. Schriftsteller Philon bewusst wahrgenommen haben, kann nicht abschließend geklärt werden, bleibt aber unwahrscheinlich.14 Einzig die Möglichkeit, dass der Jude Apollos philonische Ideen und Konzepte in Korinth verbreitet hat, erscheint möglich.15 In der aktuellen Forschung wird Philon eigenständig und unabhängig von den ntl. Schriften behandelt. Das wirkt der Philoninterpretation der Alten Kirche entgegen, die die Schriften „als Kronzeugen für die eigene, christliche Theologie heranzog und (…) zur Erklärung des Alten und Neuen Testaments gebrauchte“16. Die Untersuchung zu Philon und Paulus soll nicht im Sinn eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines Ableitungsmodells vorgenommen werden – das gilt auch in Bezug auf die zeitgenössische Philosophie17 –, sondern von zwei Seiten Bedeutung erlangen und einer wechselseitigen Erhellung dienen: Die Ergebnisse der Philonuntersuchungen können dazu beitragen, die ntl. Texte besser zu verstehen und ihren kulturellen und religiösen Rahmen aufzuzeigen, gleichzeitig sollen von den ntl. Schriften Impulse für das Verständnis der Texte des Diaspora-Judentums ausgehen.18
Philon und Paulus teilen zwei Gemeinsamkeiten: Die erste liegt, wie bereits angesprochen, im hellenistischen Judentum als kulturell-religiösem Kontext. Philon, eine knappe Generation vor Paulus geboren, lebte wie der Apostel selbst in der antiken Welt des ersten nachchristlichen Jahrhunderts; Philon ist ein Autor, „den wir als Persönlichkeit fassen können“, und deshalb schlussfolgert Pohlenz richtig, wenn er schreibt, dass darin „seine geistesgeschichtliche Bedeutung“19 liegt. Philon und Paulus stammen aus dem Diasporajudentum. Dies liefert ihre kleinste gemeinsame Schnittmenge. Zudem wird auch für Paulus vermutet, dass er von der hellenistischen Philosophie beeinflusst ist. Wie weit diese aufgegriffen, bearbeitet, neu gedacht oder gar nicht bedacht wird, kann der Vergleich zeigen. Dabei liegt in der Tatsache, dass uns eine Vielzahl der philonischen Schriften erhalten ist, ihre besondere Relevanz. Die philonische Argumentation umfasst in der Regel mehrere Bereiche und Ebenen;20 so wird in den Texten ein breites Spektrum von jüdisch-hellenistischem Gedankengut sichtbar, das auch als geistiger Horizont für die Texte des frühen Christentums gilt.21 Die größere Textbasis bei Philon erlaubt es, mehrere Faktoren zu berücksichtigen, als es für das Corpus Paulinum überhaupt möglich ist. Das wird sich auch bei der Erarbeitung der Sprachverständnisse zeigen. Die Verwendung gemeinsamen Gedankenguts ist auf eine indirekte Linie zurückzuführen, da beide im gleichen geistigen Milieu verortet werden können;22 dennoch ist keine direkte Linie zwischen paulinischen und philonischen Texten herzustellen, ebenso wie eine literarische Abhängigkeit abzulehnen ist.23 Auch die Ziele, derentwegen die jeweiligen Texte verfasst wurden, sind unterschiedlicher Art. Philon schreibt apologetische Schriften, um das Judentum nach außen zu verteidigen und zu repräsentieren. Die allegorischen Traktate, zu dem auch Conf zu zählen ist, sind primär für ein ausgewähltes, gebildetes jüdisches Publikum verfasst,24 nicht als Briefe, sondern gezielt als literarische Texte. Paulus hingegen schreibt Briefe an die von ihm gegründeten christlichen Gemeinden. Er ist in erster Linie Missionar, in diesem Zusammenhang aber argumentiert er auch theologisch und begründet seine Argumentationen mit Rückgriff auf die atl. Schriften.25
Im Bezug auf die Schrift liegt ihre zweite Gemeinsamkeit.26 Für Philon zeigt sich dies besonders in den allegorischen Schriften, aber auch darüber hinaus ist die Schrift für Philon Hauptbezugstext. Runia hat vermutlich nicht Unrecht, wenn er sagt, dass Philon sich selbst in erster Linie als Kommentator gesehen hat und sich durch diesen Blick ein wesentlicher Zugang zu den philonischen Texten eröffnet.27 Auch in der Untersuchung zum Sprachverständnis wird sich deutlich zeigen, dass Philon in der Tradition der Schrifterklärung steht; so stellt beispielsweise der Genesistext über den Turmbau zu Babel den Rahmen für den Traktat Conf. Das philosophische Interesse Philons ist damit nicht abzuwerten, aber es erlangt nicht dieselbe Autorität wie die Schrift; Philon benutzt die Philosophie dazu, die atl. Schriften zu erklären. Auch das frühe Christentum war „weder eine ‚schriftlose’ oder gar illiterate Gruppierung“, auch sie „hatten die Schrift, die sie reichlich benutzten und als interpretierende – und neu interpretierte – Grundlage ihrer eigenen Religion verwendeten“28. Dies gilt auch für Paulus: Er zitiert aus verschiedensten Teilen der Schrift,29 greift z.B. in 1 Kor 14,21 auf Jesaja zurück. In 1 Kor wird aber noch an weiteren Textstellen ersichtlich, dass Paulus davon ausgeht, dass die Gemeinde mit den Inhalten der Schrift vertraut ist. Er spielt in 1 Kor auf Aspekte der Schöpfungs- oder Exoduserzählung, auf Regeln und Verbote der Tora oder auf allgemeine jüdische Praktiken oder jüdisches Gedankengut an, ohne sie näher zu erklären.30 Für eine große Anzahl an direkten oder indirekten Zitaten gilt aber, dass sie, auch ohne dass die atl. Kontexte offengelegt werden, verständlich sind.31 Paulus untermauert seine eigene Argumentation durch Schriftzitate; dabei hat die Schrift nicht nur „als – hoch geschätztes – Gesetz des Mose“ Autorität, „sondern als Prophezeiung des Kommens Jesu“32. Paulus verleiht auch seinen eigenen Texten Autorität, indem er der Schrift eine solche zuspricht und sie in seinen Briefen zitiert.33 Paulus greift die Schrift auch auf, ohne sie als Zitat kenntlich zu machen, oder er modifiziert den Wortlaut;34 dann sind die Zitate als solche für die Korinther – sofern sie die Originalstellen nicht dezidiert kannten – nicht erkenntlich.35 Wie Paulus die Schrift interpretiert und einsetzt, gibt also nicht nur Auskunft über sein Schriftverständnis, sondern auch über sein eigenes Denken. 36 Indem Paulus lediglich aus jüdischen Schriften und nicht aus der Profangräzität zitiert, wird die Bedeutung ersterer für Paulus deutlich.37
Mit dem jüdischen Hintergrund und dem Bezug auf die Schrift weisen Philon und Paulus zwei Gemeinsamkeiten auf, die die profangriechischen Autoren nicht bieten können. Es ergibt sich daraus nicht nur der Nutzen, dass die philonischen und paulinischen Texte in ihren Besonderheiten näher erklärt werden können, sondern sogar eine Notwendigkeit,
[d]enn erst wenn auch das Neue Testament als eine in großen Teilen jüdische Schriftensammlung selbstverständlicher Teil der Beschäftigung mit dem Frühjudentum38 ist, kann von der Überwindung der alten, religiös bedingten Gegensätze in der Erforschung dieser sensiblen Zeitepoche um die Zeitenwende gesprochen werden.39
Die Perspektive auf das Thema ‚Sprache’ ist also insgesamt eine historische. Die historisch-kritische Exegese stellt den methodischen Rahmen der Arbeit dar; sie wird v.a. durch die historische Linguistik in Form der linguistischen Semantik unterstützt. So liegt ein Schwerpunkt dieser Arbeit auf der semantischen Analyse verschiedener Lexeme, die in 1 Kor 14 vorkommen (u.a. χάρισμα, πνεῦμα, νοῦς, δύναμις, προφητεία, γλῶσσα, φωνή, σημεῖον, διδαχή oder οἰκοδομή). Diese Analyse kann dazu beitragen, das paulinische Sprachverständnis als eigenständigen Beitrag zu charakterisieren, ebenso aber mit den antiken Begriffen und Fragestellungen zu vergleichen. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Analyse der Struktur der Texte, um zu sehen, wie Paulus bei der argumentativen Entfaltung seines Sprachverständnisses vorgeht.
Leitendes Ziel dieser Untersuchung ist es, das paulinische Verständnis von Sprache anhand von 1 Kor 14 herauszuarbeiten. Dieses entwickelt sich seinerseits im Rahmen des antiken Sprachdiskurses, der in besonderer Deutlichkeit von der griechischen Philosophie einerseits und frühjüdischen Positionen andererseits abgebildet wird. Ein zweites Ziel ist es daher, das paulinische Verständnis als qualifizierten Beitrag im frühkaiserzeitlichen Diskurs über Sprache zu werten und in diesem Diskurs als eigene Stimme zu positionieren.
Die Bedeutung der Untersuchung für die neutestamentliche Wissenschaft liegt damit zu allererst im Bereich der Paulusforschung. Das christliche Verständnis von Sprache wird an seinem Beginn erfasst, indem das erste schriftliche Zeugnis, 1 Kor 14, thematisch untersucht wird. Das Sprachverständnis des Paulus wird sich als eine wichtige Komponente seiner Geisttheologie erweisen. Die Einbeziehung der antiken Sprachphilosophie schafft dabei einen ebenso weiten wie genauen Interpretationsrahmen, der die Herausarbeitung der Schwerpunkte und Eigenarten des paulinischen Umgangs mit dem Thema Sprache und seine historische und sachliche Kontextualisierung ermöglicht.
Daraus ergibt sich die Gliederung der Arbeit: Sie führt zunächst in die wichtigen sprachphilosophischen Fragestellungen der Antike ein und untersucht nachfolgend das Sprachverständnis Philons. Im Anschluss daran wird das paulinische Sprachverständnis erarbeitet. In einem letzten Teil erfolgt der Vergleich zwischen Paulus und der antiken Sprachphilosophie bzw. Philon, der in das abschließende Resümee mündet. Dieses zeigt die positiven und negativen Analogien zwischen Paulus und den profangriechischen und den frühjüdischen Texten auf und positioniert das paulinische Sprachverständnis im antiken Sprachdiskurs. Abschließend wird thematisiert, inwiefern die Ergebnisse einen Beitrag zum intellektuellen Profil des Paulus liefern können.
Das folgende Kapitel gibt eine Einführung in die sprachphilosophische Entwicklung von ihren Anfängen bis zur Stoa und liefert damit einen Überblick über repräsentative Stationen der antiken Sprachphilosophie.1 Die Darstellung erfolgt in einem zeitgeschichtlichen Ablauf anhand der Autoren. Dabei werden die leitenden Fragestellungen der antiken Sprachphilosophie und ihre Vertreter benannt. Berücksichtigt werden Heraklit, Parmenides, Platon, Aristoteles und die Stoa. Erst vor diesem Hintergrund kann das philonische und paulinische Sprachverständnis untersucht und das jeweilige Spezifikum ausgemacht werden; ebenso ist es erst im Anschluss daran möglich, beide Autoren im Rahmen der antiken Sprachverständnisse zu verorten.
Die Darstellung liefert themenzentrierte Einzelinterpretationen, d.h. die jeweiligen zentralen sprachphilosophischen Termini und die Hauptthematik zu Sprache werden vorgestellt und um das Verhältnis von ‚Name’ und ‚Sache’ zentriert, das einen Schlüssel zum Verständnis der griechischen Sprachphilosophie darstellt. Zudem werden hierdurch Grundlinien der Sprachauffassungen von Philon und Paulus erschlossen. Auf eine literarhistorische Einordnung, Nennung und Charakterisierung der literarischen Gattungen sowie eine zeitgeschichtliche Einordnung, Motiv- und Problemgeschichte der einzelnen Schriften der behandelten Autoren muss in diesem Zusammenhang verzichtet werden.
Eine Vorstufe der Sprachphilosophie stellt die mythisch-magische Sprachauffassung dar.1 Ihr Merkmal ist, dass das Wort/der Name und die Sache/Wirklichkeit als Einheit gedacht wird. Das ist v.a. im frühgriechischen Epos bei Homer und Hesiod zu finden.2 So zeigt Homer in der Odyssee, dass Sprache Wirklichkeit abbilden kann, wenn er einen guten Sänger dahingehend beschreibt, dass dieser so erzählen kann, als sei man selbst dabei gewesen.3 „Weil der Mythos durch Sprache Wirklichkeit setzt, kann diese Wirklichkeit mit der Sprache noch gar nicht in Konflikt geraten, kann der Name die Sache noch völlig beherrschen.“4 Es wird also noch nicht das Verhältnis von Name und Sache reflektiert, weil „der Name die Sache nicht bezeichnet, sondern ist“5. Nennen und Existieren werden gleichgesetzt.6 Im 7. Jh. v. Chr. beginnt in der griechischsprachigen Welt ein Umdenken: Die griechischen Philosophen setzen sich kritisch mit dem Mythos auseinander, weil sie „die überlieferten religiösen Riten und Göttervorstellungen [als] unwahr und unsittlich“7 empfinden. Die Welt des Menschen ist nicht mehr die des Mythos, sondern die, die durch die Sinne erfahren wird. Das mythische Denken wird somit vom logischen abgelöst. Diese Auffassung hat nicht nur auf das Verständnis der Weltwirklichkeit Auswirkungen, sondern auch auf das der Sprache: Sie erhält die Aufgabe, die mit den Sinnen wahrgenommene Wirklichkeit zu beschreiben. Die veränderte Wirklichkeitsauffassung bedingt, dass Name und Objekt nicht mehr identifiziert, aber als unmittelbar aufeinander bezogene Relationen verstanden werden.8 Die Reflexion über Sprache und über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit beginnt also dort, wo Sprache ihre Selbstverständlichkeit verliert und Mythen angezweifelt werden.9
Die griechische Philosophie kennt anfangs kein Wort für Sprache, dennoch entwickelt sich eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten, die Teil einer Sprache sind.10 Im λόγος findet sich ein Begriff, der die Trennung dieser Einheit von Wort/Name und Sache/Wirklichkeit ermöglicht und damit auch die Unterscheidung zwischen Vernunft bzw. Denken und Sprache. In der Vernunft liegt eine Einheit von Wort und Sache vor, in der Sprache auf Grund der Verschiedenheit der Namen eine Vielfalt. Durch die Erkenntnis von Letzterem entsteht gegenüber dem mythischen Denken ein neuer Ansatz: Namen können als veränderbare Zeichen nicht die wahre Wirklichkeit enthalten. Dies führte zu einer Abwertung der Sprache als erkenntnisermöglichendem Medium. Als solches gilt nun die Vernunft.11
In den Fragmenten Heraklits (ca. 550–480 v. Chr.) finden sich erstmals sprachphilosophische Fragestellungen.1 Eine Sprachphilosophie im eigentlichen Sinn kann nicht rekonstruiert werden, aber sprachphilosophisches Denken, das sich von der mythischen Sprachauffassung abwendet, beginnt.2 Im Zentrum des sprachphilosophischen Denkens Heraklits stehen zwei Aspekte: Erstens der aufgekommene λόγος-Begriff und sein Bezug zur Sprache, zweitens die Frage, wie zuverlässig ein Name die Wirklichkeit wiedergibt.3 Mit dem λόγος-Begriff umfasst Heraklit sowohl den Bereich der Sprache als auch den des Denkens und der Wirklichkeit;4 er ist ein „Titel für den Gesamtbezug von Sein, Denken, Sprechen und Handeln“5. Für Heraklit ist der λόγος „ein Ordnungsprinzip, das die Wirklichkeit strukturiert und analog dazu das Denken und die Sprache“6. Zwischen Wirklichkeit und Sprache besteht also keine Identifikation, sondern eine Analogie. Wird der λόγος in der Heraklit-Forschung unterschiedlich interpretiert, so ist auf jeden Fall der enge Bezug zwischen λόγος und Sprache zu betonen: „Die Frage nach dem Wesen der Sprache (Sprachphilosophie) ist in ihrem historischen Beginn gekoppelt an die Frage nach der Wahrheit des Seins (Ontologie).“7 Diese Wahrheit versucht Heraklit durch den λόγος zu fassen. Deshalb kann für Heraklit nichts gesagt werden, was nicht ist.8 Die Wahrheit alles Seienden hat ihren Grund im λόγος. Dieser hat sowohl eine objektive als auch eine subjektive Seite, d.h. er bezieht sich sowohl auf die ‚echte’ Wirklichkeit, auf das „objektive Weltgesetz“, als auch auf die vom Menschen wahrgenommene Wirklichkeit, die „subjektive Rede des Philosophen“9. „Für die Rede über diese Wirklichkeit bedeutet dies aber, daß sie, wenn sie wahr sein will, nach ebendemselben Verhältnis strukturiert sein muß wie die Wirklichkeit selbst“10. Zwischen Wirklichkeit und Sprache besteht also ein enger Zusammenhang. Die Wirklichkeit kann den Menschen durch die Sprache erschlossen werden, weil der λόγος nach Fragment B1 gehört werden kann. Die Struktur der Wirklichkeit zeigt sich in Gegensätzen. Das gilt also analog auch für die Sprache und den Zusammenhang von Name und Ding; dies wird im Bogenfragment deutlich:11
τῶι οὖν τόξωι ὄνομα βίος, ἔργον δὲ θάνατος. (Heraklit, Fragm. B48, DK I, 161)
Des Bogens Name also ist Leben (…), sein Werk aber Tod. (Heraklit, Fragm. B48, DK I, 161)
Heraklit zeigt einerseits, dass ein Bogen zwei antithetische Aspekte in sich vereint: „[Z]zum einen die todbringende Wirkung, zum anderen seinen Namen, der ‚Leben’ bedeutet.“12 Andererseits expliziert Heraklit einen weiteren Gegensatz: Das Lexem βιός wird in der epischen Literatur für Bogen verwendet; βίος heißt aber auch Leben. Ein Name kann also zwei Dinge bezeichnen und nimmt damit nicht zwingend auf das Bezug, was er aussagt.13 Damit zeichnet sich bei Heraklit bereits ein Problembewusstsein dafür ab, dass Sprache trügerisch sein kann, weil im Namen, d.h. in der Benennung, keine Eindeutigkeit besteht.14 Die meisten Menschen bleiben im Bereich der Meinungen und des Scheins (δόξα), weil sie sich weder auf das rechte Reden noch auf das rechte Hören verstehen.15 Sie verstehen den λόγος nicht und begnügen sich mit dem Schein, statt sich der Wahrheit zu nähern. Nichtsdestotrotz bleibt Heraklit im Wesentlichen der archaischen Auffassung, dass Name und Objekt unmittelbar miteinander korrelieren, treu.16
In der Forschung gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, woher die Sprache nach Heraklit ihre Legitimation erhält. Es wurde versucht, ihn einer Position im φύσει-θέσει/νόμῳ-Streit eindeutig zuzuordnen. Demnach beruht die Richtigkeit der Namen einmal auf einer natürlichen Zuordnung von Wort und Sache (φύσει), einmal auf einer vom Menschen gesetzten (θέσει). Lersch17, Di Cesare18 und Leiss19 vertreten die Ansicht, dass die heraklitischen Fragmente mit der φύσει-These einhergehen. Grund für diese Annahme liefert auch der Kratylosdialog Platons, in welchem Kratylos, ein Schüler Heraklits, die These von der natürlichen Sprachentstehung vertritt.20 Heraklit kann aber keiner der beiden Positionen explizit zugeordnet werden,21 weil er die Differenzierung, ob die Richtigkeit von Namen als φύσει oder θέσει zu bestimmen ist, noch nicht in der Form im Blick hat, wie sie sich im weiteren Verlauf des sprachphilosophischen Denkens entwickelt.22
Als Gegenspieler zu Heraklit wird häufig Parmenides (ca. 540–470 v. Chr.) genannt.23 Dies ist vor allem der Fall, wenn man Heraklit der φύσει-Theorie zuordnet. Beide Denker weisen jedoch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf und sind fest im Denken der archaischen Logik verwurzelt. Parmenides nimmt einen untrennbaren Zusammenhang von Denken, Sprechen und Sein an, wonach das Nichtseiende weder gedacht noch gesagt werden kann, „οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐὸν – οὐ γὰρ ἀνυστόν – οὔτε φράσαις“24 (denn weder erkennen könntest du das Nichtseiende – das ist ja unausführbar – noch aussprechen). Er ist der erste, der das Sein mit einem Namen versieht und es als τὸ ὄν bezeichnet.25 Das τὸ ὄν ist der Ort des Denkens. Im Denken ist das Sein bereits ‚als Gesagtes’ vorhanden: „οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ὧι πεφατισμένον ἐστιν, εὑρήσεις τὸ νοεῖν“26 (denn nicht ohne das Seiende, in dem es als Ausgesprochenes ist, kannst du das Denken antreffen). Das Gesagte impliziert für Parmenides Wirklichkeit, weil er eine Wesenszusammengehörigkeit von Denken und Wahrheit annimmt, auf die sich der Mensch einlässt, wenn er spricht.27 Für Parmenides besteht in der Tradition des archaischen Denkens ein unanzweifelbarer Zusammenhang zwischen Wort und Sache.28 Dieser entsteht durch Übereinkunft;29 dennoch versteht Parmenides die Namen nicht als willkürliche Setzung; die Namen stammen zwar vom Menschen, sind aber dennoch keine „revidierbare Konvention, wohl aber etwas, was überhaupt zu Lasten des Menschen geht, im Unterschied zu dem, was jeglichem menschlichen Tun vorgegeben ist“30. Auch hier tritt die Unterscheidung zwischen φύσει und θέσει nicht derart deutlich hervor, wie dies in der Folgezeit der Fall ist. Es kann für Parmenides kein Gegensatz zwischen den beiden Theorien ausgemacht werden, da er die Theorie, dass die richtige Zuordnung von Wort und Sache aus einem natürlichen Zusammenhang resultiert, nicht einmal aufgreift.31
Dem engen Zusammenhang von Name und Sache steht der Doxa-Teil des parmenidischen Lehrgedichts gegenüber.32 Der philosophischen Erkenntnis der Wahrheit sind auch bei Parmenides die Meinungen entgegengesetzt.33 Er warnt, ebenso wie Heraklit, davor, sich von den gesprochenen Worten täuschen zu lassen. Da die Namen auf einer Festsetzung beruhen, kommt in ihnen δόξα zum Tragen. In der δόξα ist das Werden manifestiert, dem Parmenides einen großen Stellenwert beimisst. Alle Sterblichen nehmen dieses Werden wahr, beispielsweise wenn der Tag zur Nacht wird. Der Mensch aber macht einen Fehler bei der Benennung von Phänomenen des Werdens: Er hätte nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden und zwei Namen ausmachen dürfen, sondern nur einen, weil es sich um das eine, um τὸ ὄν, handelt. Die Menschen haben aber nicht Sein und Nichtsein – welches sowieso unmöglich zu denken und zu sprechen ist34 – unterschieden, sondern zwischen Licht und Nacht, deshalb entsteht δόξα, während sich in der ἀλήθεια die tatsächliche Unterscheidung zwischen Sein (ὄν) und Nichtsein (μὴ ἐόν) widerspiegelt.35 Indem also der Einheit des Seins als dem Objekt der Erkenntnis eine Vielfalt von Namen entgegenstellt wird, entsteht δόξα36.
Heraklit und Parmenides thematisieren Sprache als Wort, d.h. die eben behandelte Frage nach dem Verhältnis von Wort und Gegenstand. Die Beziehung zwischen einzelnen Wörtern als Satz ist dagegen noch nicht Gegenstand des archaischen Denkens.37 Hauptsächlich thematisieren Heraklit und Parmenides jedoch Sprache im Allgemeinen, d.h. „als eine Form des Universums, die dieselbe Struktur wie die übrigen Formen des Universums (…) aufweist (…) oder nicht aufweist“38. Ein Bewusstsein für diese unterschiedlichen Fragestellungen tritt erst in platonischer Zeit ein.39
Zusammenfassung:
Im Mittelpunkt der Sprachphilosophie von Heraklit und Parmenides steht der λόγος-Begriff. Der von Heraklit und Parmenides angenommene Zusammenhang von Wirklichkeit/Sein, Denken und Sprache bestimmt die weiteren sprachphilosophischen Überlegungen. Er durchbricht das magisch-mythische Einheitsdenken von Wort und Sache, indem durch die Einführung des λόγος-Begriffs Sprache mit Denken und Vernunft verbunden und in Bezug zueinander gesetzt wird. Zwischen Sprache und Wirklichkeit besteht für diese Philosophen ein unmittelbarer Zusammenhang. So ergibt sich für Heraklit und Parmenides zwar keine Einheit von Name und Sache, aber ein unmittelbarer Bezug beider Komponenten. Allerdings weist Heraklit bereits darauf hin, dass der Bezug von Name und Objekt auseinanderfallen kann; auch Parmenides weist auf trügerische Namen hin, die nicht die Einheit des Seins wiedergeben. Ob die Sprache ihre Begründung φύσει oder θέσει erhält, lässt sich bei Heraklit nicht abschließend klären, für Parmenides ist letzteres anzunehmen. Insgesamt werden bei Heraklit und Parmenides sprachphilosophische Überlegungen angestoßen, die im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte eine wichtige Rolle spielen und ausführlich diskutiert werden.
Es ist fraglich, ob bei Platon (428/427–348/347 v. Chr.) bereits von Sprachphilosophie als einer eigenen philosophischen Disziplin gesprochen werden kann. Sprache ist aber ein wichtiges Thema in den Dialogen Platons: Der platonische Sokrates und dessen Dialogpartner diskutieren über den Ursprung, die Funktion und die Legitimation von Sprache sowie über das Wesen des Zeichens und über das Verhältnis von Denken, Sprechen und Sein.1 Die Auseinandersetzung mit diesen sprachphilosophischen Aufgaben bringt das Hauptanliegen Platons mit sich, die Ermittlung und Vermittlung von Erkenntnis.2 Die Thematisierung von Sprache hat bei Platon eine grundlegende Bedeutung, die darüber stattfindenden Reflexionen können als „Leitfaden seines Philosophierens“3 angesehen werden,4 da Platon einen direkten Bezug zwischen einem Missverhältnis zur Sprache und einem Missverhalten zur Wahrheit und zu den Mitmenschen herstellt.5 Ohne Sprache ist Philosophie für Platon undenkbar.6
Im Folgenden werden anhand ausgewählter Schriften die wichtigsten sprachphilosophischen Fragstellungen und Ansichten Platons dargestellt: (1) Im Kratylosdialog wird das Verhältnis von Name und Ding diskutiert. (2) Im Theaitetos und Sophistes wird der Zusammenhang von Sprache und Erkenntnis erörtert. Ebenso wird Sprache als Satz thematisiert. (3) Im Phaidros und dem Siebten Brief ist eine Sprachskepsis auszumachen, zugleich tritt das λόγος-Verständnis Platons hervor. (4) Abschließend wird ein kurzer Blick auf die Rezeption der platonischen Fragestellungen geworfen.
(1) Die wichtigste Auseinandersetzung Platons mit sprachphilosophischen Fragen findet sich im Kratylos7, „dem ersten zusammenhängend überlieferten sprachphilosophischen Text der griechischen Literatur“8. Es handelt sich um ein Streitgespräch zwischen Kratylos und Hermogenes9 um die Richtigkeit von Namen, in das Sokrates verwickelt wird. Was das eigentliche Thema des Dialogs ist, ist in der Forschung umstritten. Es werden der Ursprung der Sprache, die kommunikative und wissensvermittelnde Funktion der Sprache oder die Etymologien als zentraler Inhalt herausgestellt.10 Um den Dialog richtig einordnen zu können, ist vorab in Erinnerung zu rufen, dass ὄνομα im Griechischen nicht nur Eigennamen bezeichnet, sondern allgemein ein Wort.11
Die Einheit von Wort und Sache, die im mythisch-magischen Denken vorliegt, wird im Kratylos durch einen Bezug zwischen Wort und Sache ersetzt.12 Angestoßen durch die Annahme der Naturphilosophen und Atomisten, dass Sprache keinen „Bezug zur physikalischen Wirklichkeit“13 besitze, wurde die direkte Beziehung von Wort und Gegenstand in Frage gestellt. Das Problem diskutiert Platon im Krat. Verstärkt wurden die Zweifel an einer naturgegebenen Beziehung von Wort und Sache durch die Rhetorik der Sophisten, die versuchten, ihre Ziele durch die Uneindeutigkeit von sprachlichen Äußerungen voranzubringen. Dem strebt Platon entgegen, wobei sich bei dem Versuch seiner Problemlösung immer eine enge Verbindung zu seiner Gesamtphilosophie (Erkenntnistheorie, Ontologie,…) zeigt.14 Im Dialog selbst entfalten Kratylos und Hermogenes ihre Positionen bezüglich der Richtigkeit von Namen. Kratylos vertritt die These, dass es für alle Dinge von Natur aus richtige Namen gibt:15
Κρατύλος φησὶν ὅδε, ὦ Σώκρατες, ὀνόματος ὀρθότητα εἶναι ἑκάστῳ τῶν ὄντων φύσει πεφυκυῖαν, καὶ οὐ τοῦτο εἶναι ὄνομα ὃ ἄν τινες συνθέμενοι καλεῖν καλῶσι, τῆς αὑτῶν φωνῆς μόριον ἐπιφθεγγόμενοι, ἀλλὰ ὀρθότητά τινα τῶν ὀνομάτων πεφυκέναι καὶ Ἕλλησι καὶ βαρβάροις τὴν αὐτὴν ἅπασιν. (Krat. 383a-b)
Kratylos hier, o Sokrates, behauptet, jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung, und nicht das sei ein Name, wie einige unter sich ausgemacht haben etwas zu nennen, indem sie es mit einem Teil ihrer besonderen Sprache anrufen; sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen und Barbaren insgesamt die nämliche. (Krat. 383a-b)
Hermogenes stellt sich gegen diese Ansicht und spricht sich dafür aus, dass alle Namen in Übereinkunft getroffen werden und hierdurch ihre Richtigkeit erhalten:
καὶ μὴν ἔγωγε, ὦ Σώκρατες, πολλάκις δὴ καὶ τούτῳ διαλεχθεὶς καὶ ἄλλοις πολλοῖς, οὐ δύναμαι πεισθῆναι ὡς ἄλλη τις ὀρθότης ὀνόματος ἢ συνθήκη καὶ ὁμολογία. (…) οὐ γὰρ φύσει ἑκάστῳ πεφυκέναι ὄνομα οὐδὲν οὐδενί, ἀλλὰ νόμῳ καὶ ἔθει τῶν ἐθισάντων τε καὶ καλούντων. (Krat. 384c-d)
Ich meinesteils, Sokrates, habe schon oft mit diesem und vielen anderen darüber gesprochen und kann mich nicht überzeugen, daß es eine andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet. (…) Kein Name eines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen. (Krat. 384c-d)
Durch menschliche Vereinbarung (συνθήκῃ) werden also Namen gebildet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass das im Krat. diskutierte Problem nicht historisch, sondern systematisch zu verstehen ist: Es geht nicht darum, zu erörtern, ob Namen von Natur aus oder durch menschliche Übereinkunft entstanden sind, sondern darum, „ob der Namengeber bei seinem Geschäft völlig willkürlich verfahren konnte oder sich an einer naturgegebenen Richtigkeit zu orientieren hatte“16.
Von Sokrates schließlich werden beide Thesen zugespitzt und kritisiert. Aus dieser verschärften Darstellung der Theorien ergibt sich, dass es ausschließlich richtige Namen geben kann. Die zugespitzte Position, die Sokrates Kratylos abringt, besteht darin, dass es für alle Dinge nur einen richtigen Namen geben kann, weil lediglich der Begriff, der einen Gegenstand bezeichnet, als Name gewertet werden kann. Alle anderen Lautgebilde sind nichtsaussagend.17 Die These des Hermogenes wird verschärft, indem dieser sich zur Äußerung verleiten lässt, dass jeder Mensch für sich selbst Namen festlegen kann, die dadurch ihre Richtigkeit erlangen.18
Beide Thesen erweisen sich deshalb als unzureichend, weil eine Theorie gesucht wird, nach der es sowohl richtige als auch falsche Namen geben kann.19 Deshalb wohl lässt Platon Sokrates beide Theorien ad absurdum führen. Er vergleicht die radikalisierte Position des Hermogenes mit handwerklichem Tun wie Weben oder Bohren. Wenn von solchen Tätigkeiten ein ordentliches Ergebnis erwartet wird, können sie nicht willkürlich ausgeführt werden, sondern müssen ihrer Sache gemäß angegangen werden. Dies gilt analog für die ὀνόματα. Soll Sprache sachgerecht sein, müssen auch die Gegenstände, mit denen Sprache arbeitet – analog zu Weberladen oder Bohrern – sachgerecht sein: Die Wörter. Das Wort wird von Sokrates deshalb als belehrendes/informierendes und wesensunterscheidendes Werkzeug (ὄργανον) bestimmt.20 Es erfordert vom νομοθέτης/ὀνοματουργός eine besondere Fähigkeit, ein solches entstehen zu lassen, die nur sehr selten vorkommt.21 Indem das Wort als Werkzeug bestimmt wird, stellt Platon erstmals den Aspekt der Pragmatik von Sprache heraus. Der Dialog läuft darauf hinaus, dass nur eine Verbindung beider Theorien sinnvoll ist, weil sowohl die Kommunikation als auch der Seinsbezug zu den wichtigsten Funktionen der Sprache gehören.22 Sokrates analysiert Namen im Folgenden etymologisch und gelangt zu dem Ergebnis, dass es Wörter gibt, die nicht weiter analysiert werden können, z.B. unzusammengesetzte Wörter (= die ersten Wörter, Stammwörter).23 Man gelangt zu einer neuen Analogie, wenn man nicht der vereinfachten Annahme folgen will, dass dies barbarische oder besonders alte Wörter sind: Stumme können sich durch Gestik und Mimik mitteilen, indem sie Dinge nachahmen; dementsprechend muss auch eine Nachahmung von Dingen durch die Stimme und den Mund möglich sein. Entscheidend für diese Nachahmungsprozesse ist, das echte Sein/Wesen der Dinge abzubilden und nicht nur Äußerlichkeiten nachzuahmen.24 Der Bezug zwischen Sein und Sprache wird deutlich herausgestellt. Gegen Ende des Dialogs, wenn Kratylos im Gespräch mit Sokrates zugeben muss, dass eine vollkommene Nachahmung eines Gegenstandes unmöglich ist, da der Gegenstand sonst doppelt vorhanden sein müsste und keine Nachahmung mehr darstellt, wird deutlich, dass eine Verbindung der Theorien von Kratylos und Hermogenes notwendig ist.25 Kratylos muss eingestehen, dass es bessere und schlechtere Namen geben muss, weil Nachahmung selbst besser oder schlechter sein kann. Von dieser Einsicht ausgehend, wird die Notwendigkeit der Verbindung beider Modelle sichtbar, da Kommunikation durch Sprache, wenn es unterschiedlich ‚gut’ gebildete Namen gibt, nicht vollkommen ohne Vereinbarung möglich ist.26Beide Theorien bieten für Platon eine unzureichende Erklärung, da sie allein jeweils nur eine der beiden Funktionen von Sprache konkret in den Blick nehmen und die andere vernachlässigen: Die These des Hermogenes eignet sich, um den kommunikativen Aspekt der Sprache zu erklären, ermöglicht aber keinen Bezug zwischen Name und Sache; die These des Kratylos rückt diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt, vernachlässigt dabei aber die kommunikative Funktion.27 Eine Möglichkeit der Vermittlung zwischen beiden Theorien entsteht durch die Ideenlehre Platons.28 Wörter sind demnach Abbilder der Ideen, nicht die Dinge selbst. Das Wort hat einen Bezug zum echten Sein und zur Wahrheit, weil Ideen nach Platon das eigentlich Seiende sind. Der Namensgeber hat bei der Bildung der Namen also zunächst die Idee vor Augen. 29 Mit der Lehre von den Ideen entsteht ein dreiteiliges Modell von Wort, Sache und Idee. Platon hat stets das Verhältnis von ὄνομα als Lautgestalt und dem Gegenstand (πρᾶγμα) im Blick.30 Der Bildner der Namen gibt die Idee in der konkreten Lautgestalt wieder. Eine Unterscheidung zwischen Lautgestalt und Zeicheninhalt, wie sie bei Aristoteles deutlich hervortreten wird, ist für Platon nicht anzunehmen. Auch wenn er gelegentlich den Inhalt des sprachlichen Zeichens mitbedenkt, zeigt sich kein Bewusstsein für diese Unterscheidung.31
Platon greift in seinen sprachphilosophischen Überlegungen das Modell auf, das bei Heraklit im Mittelpunkt steht, indem er sich der Sprache im Allgemeinen zuwendet. Im Kratylos wird bezüglich der Sprache vorrangig auf der Ebene der einzelnen Wörter argumentiert, auf welcher das Verhältnis von Wort und Gegenstand reflektiert wird. Platon lässt Sokrates neben der Wortebene auch immer wieder auf der Satzebene diskutieren. Es kann letztlich nicht geklärt werden, ob Platon den Satz im Kratylos noch als bloße Aneinanderreihung von Wörtern versteht (akkumulatives Satzmodell) versteht oder ob er, wie es sich anschließend für Tht. und Soph. zeigen wird, bereits von einem weiter entwickelten Modell ausgeht, das dem Satz einen Wahr- oder Falschheitsgehalt zurechnet.32
Auch die Frage nach der Entstehung und Legitimation der Sprache wird im Krat. aufgeworfen:
Σωκράτης: Τίνα οὖν τρόπον φῶμεν αὐτοὺς εἰδότας θέσθαι ἢ νομοθέτας εἶναι, πρὶν καὶ ὁτιοῦν ὄνομα κεῖσθαί τε καὶ ἐκείνους εἰδέναι, εἴπερ μὴ ἔστι τὰ πράγματα μαθεῖν ἀλλ᾽ ἢ ἐκ τῶν ὀνομάτων;
Κρατύλος: Οἶμαι μὲν ἐγὼ τὸν ἀληθέστατον λόγον περὶ τούτων εἶναι, ὦ Σώκρατες, μείζω τινὰ δύναμιν εἶναι ἢ ἀνθρωπείαν τὴν θεμένην τὰ πρῶτα ὀνόματα τοῖς πράγμασιν, ὥστε ἀναγκαῖον εἶναι αὐτὰ ὀρθῶς ἔχειν. (Krat. 438b-c)
Sokrates: Auf welche Weise also konnten wohl jene nach Erkenntnis Wörter festsetzen oder wortbildende Gesetzgeber sein, ehe überhaupt noch irgendeine Benennung vorhanden und ihnen bekannt war, wenn es nicht möglich ist, zur Erkenntnis der Dinge anders zu gelangen als durch die Wörter?
Kratylos: Ich bin daher der Meinung, Sokrates, die wichtigste Erklärung hierüber werde sein, daß es eine größere als menschliche Kraft gewesen, welche den Dingen die ersten Namen beigelegt, und daß sie eben deshalb notwendig richtig sind. (Krat. 438b-c)
Die größere Macht wird von Kratylos nicht weiter erläutert. Bei Philon und Paulus findet sich diese näher bestimmt.33
(2) Theaitetos behandelt die Frage, was Wissen (ἐπιστήμη) ist.34 Gegen Ende des Dialogs wird die These aufgestellt, dass Wissen wahre Meinung sei, die mit einer Erklärung (λόγος) verbunden ist:
ἔφη δὲ τὴν μὲν μετὰ λόγου ἀληθῆ δόξαν ἐπιστήμην εἶναι, τὴν δὲ ἄλογον ἐκτος ἐπιστήμης·καὶ ὧν μὲν μή ἐστι λόγος, οὐκ ἐπιστητὰ εἶναι, οὑτωσὶ καὶ ὀνομάζων, ἃ δ᾽ ἔχει, ἐπιστητά. (Tht. 201c-d)
Er sagte nämlich, die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung wäre Erkenntnis, die unerklärbare dagegen läge außerhalb der Erkenntnis. Und wovon es keine Erklärung gebe, das sei auch nicht erkennbar, und so benannte er dies auch, wovon es aber eine gebe, das sei erkennbar. (Tht. 201c-d)
Daran schließt sich eine Bestimmung des λόγος-Begriffs an. Erklärbar, und damit auch erkennbar, ist nur etwas Zusammengesetztes. So sind beispielsweise die ersten beiden Buchstaben des Namens ‚Sokrates’, also ‚s’ und ‚o’ nur nennbar, nicht erklärbar. Die erste Silbe ‚So’ hingegen ist erklärbar, nämlich als die beiden Einzelbuchstaben.35 In der Verknüpfung von Buchstaben als Namen und in der Verbindung von mehreren Namen liegt die Erklärbarkeit der Sprache. Platon ist damit bei der Auffassung von der Sprache als Satz angekommen.36 Von Sokrates schließlich wird die Ansicht, dass der Mensch ein Wissen von zusammengesetzten Dingen erwerben kann, als nicht haltbar ausgewiesen. Er selbst bietet drei Möglichkeiten für die Begriffsbestimmung von λόγος: Erstens ist der λόγος eine Äußerung von etwas Gedachtem. Diese Äußerung wird durch die Stimme und mit Hilfe der Wörter ermöglicht. In diesem Zusammenhang führt Platon erstmals die Unterscheidung von ὀνόματα (Substantiven) und ῥήματα (Verben) ein.37 Zweitens kann unter dem Lexem ein Ganzes verstanden werden, das aus einzelnen Teilen besteht, und drittens bestimmt Sokrates den λόγος als Angabe eines Merkmals, durch das sich das zu Erklärende von allen anderen unterscheiden lässt. Keine der Definitionen kann den λόγος zufriedenstellend erläutern, weshalb der Tht. noch keine Begriffsbestimmung zulässt.38 Dies ermöglicht Platon erst im Soph.,39 wonach eine sinnvolle Rede entsteht, indem Wörter miteinander verknüpft werden.40
Der Verbindung einzelner Wörter geht eine Verbindung der Ideen voraus.41 Auch der Satz wird als eine solche Verknüpfung angesehen und zwar nicht allein als eine Verknüpfung von ὀνόματα, wie dies für den Tht. gilt, sondern von ὀνόματα und ῥήματα. Der Fokus liegt auf der Verbindung beider Wortklassen, da die Aneinanderfügung von Wörtern derselben Wortart keinen Sinn ergibt:
Ξένος: Οὐκοῦν ἐξ ὀνομάτων μὲν μόνων συνεχῶς λεγομένων οὐκ ἔστι ποτὲ λόγος, οὐδ᾽ αὖ ῥημάτων χωρὶς ὀνομάτων λεχθέντων. (…)
Θεαίτητος: Πῶς;
Ξένος: Οἷον «βαδίζει» «τρέχει» «καθεύδει», καὶ τἆλλα ὅσα πράξεις σημαίνει ῥήματα, κἂν πάντα τις ἐφεξῆς αὔτ᾽ εἴπῃ, λόγον οὐδέν τι μᾶλλον ἀπεργάζεται.
Θεαίτητος: Πῶς γάρ;
Ξένος: Οὐκοῦν καὶ πάλιν ὅταν λέγηται «λέων» «ἔλαφος» «ἵππος», ὅσα τε ὀνόματα τῶν τὰς πράξεις αὖ πραττόντων ὠνομάσθη, καὶ κατὰ ταύτην δὴ τὴν συνέχειαν οὐδείς πω συνέστη λόγος· οὐδεμίαν γὰρ οὔτε οὕτως οὔτ᾽ ἐκείνως πρᾶξιν οὐδ᾽ ἀπραξίαν οὐδὲ οὐσίαν ὄντος οὐδὲ μὴ ὄντος δηλοῖ τὰ φωνηθέντα, πρὶν ἄν τις τοῖς ὀνόμασι τὰ ῥήματα κεράσῃ. Τότε δ᾽ ἥρμοσέν τε καὶ λόγος ἐγένετο εὐθὺς ἡ πρώτη συμπλοκή, σχεδὸν τῶν λόγων ὁ πρῶτός τε καὶ σμικρότατος. (Soph. 262a-c)
Fremder: Und nicht wahr aus Hauptwörtern allein, hintereinander ausgesprochen, entsteht niemals eine Rede oder ein Satz, und ebensowenig auch aus Zeitwörtern, die ohne Hauptwörter ausgesprochen werden? (…)
Theaitetos: Wieso?
Fremder: Wie etwa geht, läuft, schläft, und so auch die andern Zeitwörter, welche Handlungen andeuten, und wenn man sie auch alle hintereinander hersagte, brächte man doch keine Rede zustande.
Theaitetos: Wie sollte man auch!
Fremder: Und ebenso wiederum, wenn gesagt wird, Löwe, Hirsch, Pferd und mit was für Benennungen sonst was Handlungen verrichtet, pflegt benannt zu werden, auch aus der Folge kann sich nie eine Rede bilden. Denn weder auf diese noch auf jene Weise kann das Ausgesprochene weder eine Handlung noch eine Nichthandlung noch ein Wesen eines Seienden oder Nichtseienden darstellen, bis jemand mit den Hauptwörtern die Zeitwörter vermischt. Dann aber fügen sie sich, und gleich ihre erste Verknüpfung wird eine Rede oder ein Satz, wohl der erste und kleinste von allen. (Soph. 262a-c)
So erfährt der λόγος als Satz bei Platon eine Definition. Hinzu kommen die Bestimmungen, dass der λόγος sich auf etwas Seiendes beziehen muss und Wahrheit enthält, die durch die Verbindung der einzelnen Ideen garantiert sein muss.42 So enthält der Satz „Θεαίτητος (…) πέτεται“43 keine Wahrheit, weil die Idee des Fliegens mit dem Menschen Theaitetos nicht kompatibel ist, im Gegensatz zur Aussage „Θεαίτητος κάθηται“44. Damit liefert Platon eine Wesensbestimmung des λόγος und ein Kriterium, um die Wahrheit eines Satzes zu überprüfen.45 Wahrheit wird jetzt als Eigenschaft des λόγος bestimmt, nicht mehr als die des Namens. Wahrheit und Falschheit der Sprache wird nicht mehr mit den einzelnen Wörtern gleichgesetzt, sondern mit dem Satz bzw. der Satzaussage.46 Mit der Erkenntnis, dass durch eine sprachliche Äußerung überhaupt etwas Falsches ausgesagt werden kann, ist das sprachphilosophische Denken der Vorsokratiker, die dies bestritten haben, überwunden.47 Nach deren Ansicht müssen Namen zwar nicht die ‚echte’ Wirklichkeit wiedergeben, sie geben aber mindestens die subjektive Wirklichkeit wieder, keine dezidiert falsche, wie dies im platonischen Denken möglich ist.
Im Tht. und im Soph. wird die Verbindung von Denken und Sprechen betont.48 Beide Komponenten können nicht voneinander getrennt werden, weil sie ihrem Wesen nach zusammengehören, denn das Denken ist der innere Dialog der Seele mit sich selbst.49
(3) Im Phaidros50 wird eine Sprachskepsis ersichtlich. Vor allem gegen Sprache in schriftlicher Form erhebt der platonische Sokrates erhebliche Zweifel:
Δεινὸν γάρ που, ὦ Φαῖδρε, τοῦτ᾽ ἔχει γραφή, καὶ ὡς ἀληθῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ. Καὶ γὰρ τὰ ἐκείνης ἔκγονα ἕστηκε μὲν ὡς ζῶντα· ἐὰν δ᾽ ἀνέρῃ τι, σεμνῶς πάνυ σιγᾷ. Ταὐτὸν δὲ καὶ οἱ λόγοι· δόξαις μὲν ἂν ὥς τι φρονοῦντας αὐτοὺς λέγειν· ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαθεῖν, ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί. Ὅταν δὲ ἅπαξ γραφῇ, κυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως παρὰ τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς δ᾽ αὕτως παρ᾽ οἷς οὐδὲν προσήκει, καὶ οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε καὶ μή. (Phaidr. 275d-e)
Denn das, Phaidros, ist offenbar das Ärgerliche bei der Schrift und macht sie in der Tat vergleichbar der Malerei: Auch die Erzeugnisse der Malerei nämlich stehen da, als wären sie lebendig; fragst du sie aber etwas, so schweigen sie in aller Majestät. Und genauso ist es mit den geschriebenen Texten: Du könntest meinen, sie sprechen, als hätten sie Verstand; fragst du aber nach etwas von dem, was sie sagen, weil du es verstehen willst, so erzählt der Text immer nur ein und dasselbe. Und ist er erst einmal geschrieben, treibt jeder Text sich überall herum und zwar in gleicher Weise bei denen, die ihn verstehen, wie bei denen, für die er nicht paßt, und er weiß nicht, zu wem er reden soll und zu wem nicht. (Phaidr. 275d-e)51
Es sollten deshalb nur Überlegungen schriftlich aufgezeichnet werden, wenn sie der eigenen Erinnerung als „ὑπόμνημα“52 dienen. Als Kommunikations- und Informationsmittel kann lediglich der mündliche Dialog ernst genommen werden.53 Während Platon im Kratylos die Ansicht kritisiert, dass man Erkenntnis allein durch Wörter gewinnen kann, richtet sich seine Skepsis im Phaidr. auch auf eine mögliche Erkenntnisvermittlung durch geschriebene Sprache.54 Noch höher gewertet als der Dialog wird das Denken (νοεῖν), das Platon als „λόγον ὃν αὐτὴ πρὸς αὑτὴν ἡ ψυχή διεξέρχεται περὶ ὧν ἂν σκοπῇ“55 (eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie erforschen will) versteht.