Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li - Ulli Olvedi - E-Book

Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li E-Book

Ulli Olvedi

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Beschreibung

Das Standardwerk zum »Stillen Qi Gong«. Im »Stillen Qi Gong« arbeitet man vor allem mit dem Atem. Durch die Atemübungen und die lenkende Kraft des nach innen gerichteten Geistes wird die Lebensenergie Qi durch die subtilen Bahnen des Körpers gelenkt. Diese Übungen sind Tausende von Jahren alt und bilden die meditative Urform der chinesischen Energiearbeit. Was bewirkt »Stilles Qi Gong«? Auflösung von Blockaden und Spannungen Harmonisierung aller Körperfunktionen Stärkung des Immunsystems und der Selbstheilungskräfte Linderung chronischer Leiden Wachheit und geistige Fitness Innere Ruhe und Kraft aus der Mitte

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Ulli Olvedi

Das Stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li

Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

VorwortEinführung Zum Verständnis der »Inneren Kunst« des Qi GongBegegnung mit einem neuen alten WegJenseits der ExtremeAuf dem Weg zu einem neuen VerstehenDas Bewusstseinsmodell von Jean GebserDer integrale Ansatz in der modernen WissenschaftDer Lehrmeister in der Tradition und heuteErster Teil Die Tradition der Arbeit mit dem QiModernes und traditionelles Qi GongQi Gong im modernen ChinaDie Formen des Qi GongInnere Alchimie – die Basis des Qi GongDie Konzeption des QiDie Drei SchätzeDie acht Stufen der Inneren AlchimieYin und YangDie Fünf ManifestationenPhänomene bei der Qi-Gong-PraxisZweiter Teil Die Erforschung des QiQi-Gong-Forschung in ChinaDie Entdeckung der »Lebensenergie« in der westlichen WeltDritter Teil Das Stille Qi GongDie Schule des Meisters Zhi-Chang LiDie Praxis des Yi Qi GongGrundlagen der PraxisDer AtemDer Qi-Gong-ZustandDie KörperhaltungÜbungen zur VorbereitungDie drei vorbereitenden ÜbungenEntspannen auf vier BahnenStehübungÜbungen zum Trainieren der BauchatmungFroschübungÜbung der Neun AbschnitteÜbungen für die WirbelsäuleDie WirbelsäuleWirbelsäulenübungenFormale ÜbungenSchüttelübungDer Kleine KreislaufAllgemeine AbschlussübungDer Mao-You-KreislaufDer Große KreislaufPflege des QiUmarmen des QiReinigungsübung mit BäumenZwei Drachen spielen mit einer PerleReinigende DuscheNähren des GehirnsZusammengesetzte ÜbungenSeidenraupenübungKranichkopf und DrachenhauptSchwerthand-YangshenNichtformale ÜbungenQi-Gong-Übung beim FernsehenAbleiten am SchreibtischDas Gedächtnis stärkenÜbung vor dem EinschlafenKörperatmung beim SpazierengehenAugentrainingKörperliche Empfindungen beim ÜbenQi Gong und SexualitätHirschübung für die FrauÜbung zum »Hüten des Jing«Der weibliche WegDie »Vampire« der wechselseitigen KultivierungQi Gong für alte und kranke MenschenÜbung mit Unterstützung durch einen HelferQi Gong und der ReifungsprozessQi Gong für KinderHeilen mit QiSammeln des Himmels-Qi (Yang-Stärkung)Sammeln des Erd-Qi (Yin-Stärkung)Sammeln des LichtsSammeln des Qi von Blumen und BäumenVierter Teil Erläuterungen zum buddhistischen Qi GongEnergiearbeit in Indien, Tibet und ChinaQi Gong und MeditationSelbstheilung von Körper und GeistIst Qi Gong »gefährlich«?Tibetisch-buddhistische Übung gegen depressive VerstimmungÜbung gegen ErregungszuständeAusblickDankGlossarLiteraturverzeichnis
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Vorwort

von Meister Zhi-Chang Li

Qi Gong ist das Kleinod des chinesischen kulturellen Erbes. Es beruht auf der uralten chinesischen Tradition der zentralen Pflege und Kultivierung von Körper und Geist und beinhaltet ein hochdifferenziertes Wissen um die »Kernkraft« des Lebens und um die Art und Weise, wie wir diese allesdurchdringende Kraft aktivieren, trainieren und nähren können.

Unsere Welt, unser Leben sind heute ernsthaft bedroht. Die Vorteile der westlichen Wissenschaft sind zugleich ihre Nachteile. Es ist ein großes Wissen entstanden, wie wir die äußeren Dinge manipulieren können, aber diese Fähigkeit hat uns immer weiter von der Natur entfernt und richtet sich oft unwissentlich gegen die Gesetzmäßigkeiten der subtileren Ebenen des Lebens.

Gemäß der chinesischen Medizin nimmt die essenzielle Lebensenergie ab dem neunzehnten Lebensjahr kontinuierlich ab. Schädliche Umweltbedingungen und eine ungesunde Lebensführung beschleunigen diesen Abbau, der sich in nachlassenden Kräften, Anfälligkeit für physische und psychische Krankheiten und raschem körperlichem Verschleiß äußert. Die Qi-Gong-Praxis hingegen stärkt und nährt die Lebensenergie und verhilft uns zu einem gesunden, langen Leben in einer guten, lebensbejahenden geistigen Verfassung. Die Entscheidung für Qi Gong bedeutet, dass wir die Verantwortung für unser Schicksal selbst übernehmen und lernen, mit der Natur anstatt gegen sie zu leben.

Heute praktizieren sechzig Millionen Menschen in China Qi Gong, und außerhalb Chinas gibt es weltweit bereits mehrere Millionen Qi-Gong-Anhänger. Die Verbreitung des Qi Gong kann weitreichende Konsequenzen für jeden Einzelnen und für die gesamte Umwelt haben. Menschen, die ihre Lebenskraft kultivieren, entwickeln ein natürliches Verständnis dafür, was lebensfeindlich und was lebensfreundlich ist. Die menschliche Gesellschaft ist Teil des Kosmos; Qi Gong ist der Weg, um den verborgenen Code der Natur zu entdecken und das Geheimnis des Lebens unmittelbar zu erfahren.

Es ist mein großer Wunsch, dass auch die Wissenschaft sich für Qi Gong öffnen möge. Die gesamte Einstellung zur Zielsetzung und Vorgehensweise der Naturwissenschaften könnte dadurch positiv beeinflusst werden. Qi Gong ist im tiefsten Sinne eine »Wissenschaft vom Leben« – ein Wissen, das mit Weisheit verbunden ist.

Ich hoffe, dass dieses Buch zur Verbreitung des wahren Qi Gong beitragen wird, so dass viele Menschen dadurch inspiriert werden, ihre eigenen, unendlich reichen Ressourcen zu aktivieren und dem näherzukommen, was in unserer kostbaren menschlichen Existenz an Erfüllung angelegt ist.

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EinführungZum Verständnis der »Inneren Kunst« des Qi Gong

»Der Mensch lebt inmitten von Qi, und Qi erfüllt den Menschen. Angefangen bei Himmel und Erde bis zu den zehntausend Wesen braucht alles das Qi, um zu leben.«

Huang Di Nei Jing

Begegnung mit einem neuen alten Weg

Als ich in meinem ersten Qi-Gong-Seminar bei dem chinesischen Meister Zhi-Chang Li zum ersten Mal mit dieser stillen Energiearbeit der chinesischen Tradition in Berührung kam, war es wie eine Wiederbegegnung. Einerseits erschien mir diese Arbeit sehr vertraut, andererseits hatte sie jedoch auch den Zauber des ganz Neuen und Frischen. Und es war eine Ergänzung, nach der ich lange gesucht hatte, ohne zu ahnen, dass ich sie in der – mir eher fremden – chinesischen Tradition finden würde.

Das Stille Qi Gong oder Yi Qi Gong ist eine innere Methode, mit der wir das Qi, die Lebensenergie, die allen physischen und psychischen Funktionen zugrunde liegt, aktivieren, nähren und in einer ausgeglichenen Weise in unserem Körper verteilen können. Das wichtigste Mittel dabei ist die Vorstellung. Der Verlauf und die Bewegung des Qi unterliegen bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die man dabei natürlich berücksichtigen muss. Die Vorstellung dieser bestimmten Verläufe und Bewegungen aktiviert das Qi und fördert so die Gesundheit von Körper und Geist.

In zwanzig Jahren buddhistischer Meditationspraxis (zuerst Zen, dann tibetische Formen) und ebenso langer Erfahrung mit der Atemtherapie hatte ich einiges über das Zusammenspiel von Körper und Geist gelernt, wobei ich die Einseitigkeit des mens sana in corpore sano eher umzukehren geneigt war und der Gesunderhaltung des Geistes die unbedingte Priorität zusprach.

Eine Bemerkung in einem Buch des tibetischen Meditationsmeisters Namkhai Norbu erschütterte jedoch diese Überzeugung:

Der Geist beeinflusst sowohl Körper als auch Energie und hängt gleichzeitig vom Zustand beider ab … Es ist sehr wichtig, die gegenseitige Abhängigkeit von Geist und Energie zu verstehen … Es gibt Fälle, in denen es nicht möglich ist, den Geist durch Meditation zur Ruhe zu bringen. Dann wird es notwendig, Bewegungen und Atmungen des Yantra Yoga auszuführen, um die Energie wieder zu kontrollieren.[1]

»Energie« – war dies der Mittler zwischen Körper und Geist? Und gab es diesseits der unzugänglichen Hoheitsgebiete von Schamanen, Geistheilern und Höhlen-Yogis einen methodischen Zugang zu dieser Energie?

Fragen bei meinen tibetischen Lehrern nach solchen Energie-Übungen führten nicht weit. Ich wurde belehrt, dass Methoden des Tsa Lung (»Energie-Yoga«) zwar in den tibetisch-buddhistischen Traditionslinien existieren, innerhalb der meditativen Schulungswege jedoch nur nach einer langen und gründlichen Vorbereitung vermittelt werden; im anderen Fall sei ihre Anwendung viel zu gefährlich. Immer wieder stieß ich in der tibetisch-buddhistischen Literatur auf Hinweise auf diese Methoden, aber stets nur in theoretischer Form. Erst seit kurzem beginnen tibetische Lehrmeister den Zugang zur tibetischen »Meditation subtiler Kanäle und Energien« zusehends zu öffnen.

Als ich eines Tages die Ankündigung eines Qi-Gong-Seminars las, hatte ich kaum eine Vorstellung davon, was Qi Gong beinhaltet, außer, dass es wohl so etwas Ähnliches sei wie Taijiquan[1]. Trotzdem meldete ich mich – völlig gegen alle meine Gewohnheiten – ohne nachzudenken für dieses Seminar an. Schon bei meinen ersten Versuchen mit dieser klassischen Energiearbeit kam ich zu der Überzeugung, etwas gefunden zu haben, das eine gewaltige Lücke füllte. Es war zunächst der Aspekt der Heilmöglichkeiten auf der körperlichen Ebene, der mich besonders beeindruckte. Ein Leben mit den allzu vielen Verpflichtungen einer alleinstehenden Mutter begann zunehmend seinen Tribut zu fordern – meine vitale Energie nahm rapide ab.

Meiner buddhistischen Ausbildung gemäß war ich immer davon ausgegangen, dass der Geist über dem Körper steht. Wenn ich es also nicht fertigbrachte, meinen Geist zu einem besseren Herrn und Meister meines Körpers zu machen, so war das eben mein Fehler! Inzwischen ist mir jedoch klargeworden, dass eine heimliche, aber katastrophale Körperverachtung in dieser Haltung liegt, die ich nur mit Einschränkungen dem Buddhismus anlasten möchte. In meinem Fall ist sie auf dem Boden einer extrem körperfeindlichen christlichen Erziehung gewachsen. Der tibetische Buddhismus, in dem ich später meinen geistigen Weg fand, wurde traditionell hauptsächlich in Klöstern praktiziert. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb im tibetischen Energie-Yoga die Verbindung zur körperlichen Ebene so wenig Gewicht hat im Verhältnis zur Verbindung mit der geistigen Ebene.

Namkhai Norbu, ein Meister der Nyingma-Traditionslinie, wendet sich hingegen ausdrücklich gegen solche Einseitigkeit:

Wir haben einen sehr empfindlichen materiellen Körper mit vielerlei Bedürfnissen, die wir beachten müssen. Wenn wir Hunger haben, müssen wir essen, wenn wir müde sind, müssen wir uns ausruhen usw. Tun wir das nicht, können daraus ernsthafte gesundheitliche Probleme entstehen, denn die Grenzen unseres Körpers sind konkret. Die (buddhistische) Lehre spricht zwar immer davon, die Anhaftung an den Körper zu überwinden, aber das bedeutet nicht, willkürlich seine Grenzen zu überschreiten und seine Bedürfnisse zu verleugnen. Der erste Schritt, die Anhaftung zu überwinden, ist, die Lebensbedingungen des Körpers zu verstehen und entsprechend zu respektieren.[2]

Gerade dies, so war mein spontaner Eindruck, war es, was durch Qi Gong möglich wurde: den Lebensbedingungen des Körpers wirklich gerecht zu werden und ihn so zu einem Freund und Helfer des Geistes zu machen anstatt zum vernachlässigten »Bruder Esel«. Die Existenz einer umfassenden »Lebensenergie« erschien mir nicht im Geringsten zweifelhaft. Längst hatte ich die Erfahrung gemacht, dass ich die Atemarbeit mit einer ganz präzisen geistigen Steuerung der »Atemenergie« (Skrt.: Prāna, griech.: Pneuma) verbinden konnte: Eine Nierenerkrankung hatte ich einmal erfolgreich damit behandelt, dass ich mir vorstellte, die »Atemenergie« in meine Nieren zu lenken. Auch Knochenbrüche, so konnte ich feststellen, heilten schneller durch dieses »Hinatmen«. Dass Mütter mit »Handauflegen« bei ihren Kindern erstaunliche Erfolge erzielen können, ist bekannt; die geistige Steuerung – der Wunsch, die Schmerzen selbst aufzunehmen und heilende Energie in die schmerzende Stelle zu leiten – scheint auf der materiellen Ebene zu wirken.

Das Neue an Qi Gong war für mich die Präzision, mit der sich diese geistige Steuerung einsetzen lässt, und der Reichtum an Methoden, der sich in dieser uralten Kunst des Umgangs mit den verschiedenen Erscheinungsformen der »Lebensenergie« angesammelt hat. Über allen Vertrauensvorschuss hinaus, den ich dieser Methode entgegenbrachte, ergab sich sehr bald eine Gelegenheit, die Möglichkeiten des Qi Gong in einer Notsituation zu erproben. Kaum hatte ich mich mit ein paar Grundübungen annähernd vertraut gemacht, da entschloss sich mein Körper zu einem dramatischen Signal, dass er sich die übermäßige Beanspruchung, der ich ihn gewohnheitsmäßig aussetzte, nun nicht mehr länger gefallen lassen wolle. Ich wurde sehr krank.

Meine Krankheit (»Vestibularisausfall«) sei, wie einer der Ärzte auf meine beharrlichen Fragen hin erklärte, ziemlich selten, und viel tun könne man da nicht, außer die anfänglichen dramatischen Symptome zu lindern. Es würde, so fügte er gelassen hinzu, gewiss sehr lange dauern, bis ich wieder in Ordnung sei, und ich würde möglicherweise nie wieder so gut funktionieren wie vorher. Genaueres ließe sich nicht sagen. Viele Patienten würden sich noch jahrelang mit den Nachwirkungen herumschlagen, und es sei möglich, dass ich meinen Beruf (freischaffende Journalistin und Buchautorin) für lange Zeit nicht ausüben könne …

In einem Krankenhausbett am Tropf hängend, unfähig zu jeder Bewegung, war die einzige Aktivität, die mir blieb, geistiger Art. Die Gelegenheit war, von einem unvoreingenommenen Standpunkt aus betrachtet, überaus günstig: Ich hatte die beste Motivation und viel Zeit, die paar Grundübungen des Stillen Qi Gong, die ich gelernt hatte[3], anzuwenden.

Ich kann nicht sagen, dass ich eine unmittelbare körperliche Heilwirkung verspürte, jedenfalls nicht in der Weise, wie man etwa die Wirkung einer Schmerztablette erlebt. Das hatte ich auch nicht erwartet, und der Qi-Gong-Meister hatte nichts Derartiges versprochen. Aber es war zunächst schon eine sehr große Erleichterung, dass ich überhaupt die Möglichkeit hatte, aktiv etwas für meine Heilung tun zu können und nicht nur hilflos dazuliegen und auf die Kunst der Ärzte zu hoffen, die in diesem Fall offensichtlich zu wünschen übrig ließ.

Meine Krankenhaustage waren ausgefüllt mit inneren Qi-Gong-Übungen, die sich ohne weiteres im Liegen ausführen ließen. Es dauerte nicht lange, bis ich begann, die Bewegung des Qi wahrzunehmen – als eine Art von »Spüren« wie auch als eine Art von innerem »Sehen«. Meine emotionale Verfassung verbesserte sich mit dieser Praxis – bald hatte ich nicht mehr das Gefühl, ernsthaft »krank« zu sein. Zur Verwirrung der Ärzte pflegte ich bei der Visite auf die beiläufige Frage, wie es mir ginge, heiter zu antworten: »Meinem Körper geht es nicht so gut, aber meinem Geist geht es sehr gut.«

Als ich nach etwa einer Woche in der Lage war, kleine Ausflüge in den sommerlichen Krankenhauspark zu wagen, wurde ich von einer ganz außergewöhnlichen Erfahrung überrascht. Es war, als wäre ich gestorben und in eine ganz neue Welt hineingeboren worden, die unendlich viel reicher an Licht, Farben, Formen und Tönen war als die mir bekannte. Ich war zutiefst ergriffen von der durchdringenden Schönheit und Intensität des Grüns der Bäume, dem in unendliche Ferne reichenden Blau des Himmels, der ahnungsvollen Tiefe der Schatten zwischen den Büschen. Das Plätschern des kleinen Flusses erinnerte mich an den begeisterten Ausspruch meines Sohnes im Kleinkindalter bei einem Spaziergang am Flussufer: »Wasser Musik!«. Offenbar erlebte ich die Welt, wie Kinder sie erleben – mit offenen Sinnen und ohne Voreingenommenheit. Es war ein zutiefst beglückender, klarer, in einer sehr stillen Weise ekstatischer Zustand. Und ich erinnere mich, dass ich ihn für mich selbst mit der Formulierung zu beschreiben versuchte: »Das Qi tanzt.«

Aus der Distanz von Jahren wüsste ich auch heute keine passendere Definition zu geben. Durch das häufige Üben war wohl ein Prozess der Bewusstseinsintensivierung angeregt worden, der möglicherweise mit der im Taoismus beschriebenen »Transformation«[4] zusammenhing. Die Erholung ging viel schneller und gründlicher vonstatten, als ich zu hoffen gewagt hatte. Der ekstatische Zustand flaute zwar ab, als ich wieder meinen üblichen Lebens- und Arbeitsrhythmus aufnehmen musste, aber die Inspiration, die er mir vermittelt hatte, und das Vertrauen in die Methode des Qi Gong blieben erhalten.

Die Zeit meiner weiteren Qi-Gong-Ausbildung war zugleich eine Zeit intensiver Selbstheilpraxis. Die Basis meiner langen Erfahrung mit kontemplativen Techniken erwies sich als überaus hilfreich im Umgang mit der »Inneren Kunst« des Qi Gong und bewahrte mich weitgehend vor Missverständnissen. In den Schwierigkeiten mancher meiner Qi-Gong-Mitschüler erkannte ich meine eigenen Anfangsschwierigkeiten auf dem Weg der meditativen Schulung wieder. Dazu gehörten übertriebene Erwartungen, Gier nach außergewöhnlichen Erfahrungen oder hochgestochene Interpretationen solcher Erfahrungen, unangemessene Projektionen auf den Lehrmeister und so weiter. Hinzu kommt bei Qi-Gong-Anfängern oft eine mechanistische Auffassung dieser »Energiearbeit« – ein Begriff, der die komplexe Kunst des Qi Gong allzu sehr vereinfacht. (Ich werde den Begriff dennoch gelegentlich verwenden, wenn der Aspekt des praktischen Übens im Vordergrund steht.)

Die Missverständnisse und Verzerrungen, die unvermeidlich entstehen, wenn man sich ein kulturfremdes System zu eigen machen möchte, hatte ich auf meinem buddhistischen Lernweg zur Genüge kennengelernt. Nach der bedrückenden Enge des überkommenen »mechanistischen« Weltbildes war es zu Beginn der siebziger Jahre eine ungeheure Erlösung gewesen, an die »Wiederverzauberung« unserer eindimensional gewordenen Welt glauben zu können und die Abgrenzung gegen andere Kulturen aufzuheben. Es war wunderbar, an die Macht des Geistes und damit an die Macht der Ideale zu glauben, anstatt an die Macht der Materie und des Rationalismus. Dass dies ein Sprung vom Regen in die Traufe war und das eine Extrem nur gegen das andere ausgetauscht wurde – die rationalistische Verengung gegen die »esoterische Inflation« –, vermochte ich, wie viele andere, erst nach einiger Zeit einzusehen, nachdem der geistige Rauschzustand der Blumenkinder-Phase vergangen war.

Der Wunsch, das alte enge Weltbild aufzubrechen und die geistige Expedition in fremde Kulturen zu wagen, war zunächst gewiss notwendig und gesund. Doch was am Anfang den Charakter einer Initiation in ein ganz neues Menschen- und Weltbild hatte, wurde oft zur Farce, zum erfolgreich vermarkteten Theater, und die nachahmende Geste ersetzte den langen Weg zur tatsächlichen Integration. Zen, Yoga, Taiji, indianische Rituale – alles wurde zur Ware im spirituellen Supermarkt. Dass alle Methoden der ganzheitlichen Heilung und Entwicklung der Disziplin, der Hingabe und eines langen Durchhaltevermögens bedürfen, wurde beim unterhaltsamen Shopping in diesem Supermarkt nicht berücksichtigt.

Um das Maß an möglichen Missverständnissen bei der Annäherung an Qi Gong so gering wie möglich zu halten, möchte ich deshalb zuerst die wichtigsten Schritte der Bewusstseinsarbeit beschreiben, die damit verbunden sein sollte.

Jenseits der Extreme

Es scheint, dass wir Menschen des Abendlandes nur schwer einen mittleren Weg finden zwischen den Extremen Rationalismus und Irrationalismus. Doch werden wir Systeme anderer Kulturen nur dann in der Fülle ihrer Möglichkeiten integrieren können, wenn wir lernen, die Gewohnheitsmuster unseres Denkens zu durchbrechen.

Qi Gong hat das Potenzial, eine Revolution in der westlichen Auffassung von »Lebensenergie« und im Umgang mit ihr einzuleiten. In unserer abendländischen Vergangenheit wurden zwar immer wieder Vermutungen über eine aller Existenz zugrunde liegende Ur-Energie angestellt, aber auf der praktischen Ebene blieb es bei Zufallstreffern. Mesmers Theorie vom »animalischen Magnetismus« und Reichs »Orgon«-Theorie beruhen ohne Zweifel auf bestimmten Erfahrungen mit jener »Energie«, die in der chinesischen Tradition als Qi bezeichnet wird. Doch im Gegensatz zu den westlichen Ansätzen basiert die chinesische Energiearbeit auf einem über Jahrtausende gewachsenen, von vielen Generationen erprobten und systematisierten Wissen um die Funktionsweise der vitalen Kräfte.

Die authentische Überlieferung dieses Wissens hat durch den Zerfall des chinesischen Reiches und die kommunistische Herrschaft sehr gelitten. Zwar entstand ein Untergrund, in dem die verbotene klassische Medizin und die »Innere Kunst« weitergegeben wurden, und die Meister der alten Heil- und Selbstheilungstraditionen scharten weiterhin Schüler um sich und lehrten im Geheimen. Doch diese Schüler waren Kinder einer neuen Zeit und eines neuen Denkens, infiziert von einem materialistischen Weltbild, das sie bewusst wohl ablehnen mochten, dessen spezieller Bewusstseinsmodus aber dennoch seine Spuren in ihnen hinterließ.

Nur so ist es zu erklären, dass selbst moderne chinesische Qi-Gong-Meister, die innerhalb der chinesischen Tradition ausgebildet worden sind, ihre Kunst im Westen als simple »Technik« präsentieren, ohne den komplexen geistigen Hintergrund mitzuliefern, der den tatsächlichen Gehalt des Qi Gong erst zugänglich macht. Daraus entstehen zwei Gefahren: Wer Qi Gong so »technisch« auffasst, wird möglicherweise nach einiger Zeit das Interesse daran verlieren; denn ohne die Inspiration eines größeren geistigen Kontextes wird die Bereitschaft zur nötigen Disziplin und Kontinuität abnehmen, sobald der Reiz der Neuheit verflogen ist. Oder der Qi-Gong-Adept versucht, diese Lücke durch hausgemachte esoterische Theorien zu füllen; so dies geschieht, kann jede kontemplative Praxis zur Gefahr für die geistige Gesundheit werden.

Qi Gong vereinigt in sich mehrere Wirkungsebenen – von der groben körperlichen bis zur subtilsten geistigen Ebene –, die man nur mit Vorbehalten voneinander getrennt betrachten kann. Wir westlichen Menschen mit unseren vorwiegend linearen, kategorisierenden und abstrahierenden Denkgewohnheiten haben eine besonders ausgeprägte Neigung, Standpunkte zu fixieren und zu ideologisieren und damit die natürliche Fülle der Phänomene auf dürre Begriffe zu reduzieren. Um Qi Gong in der richtigen Weise praktizieren zu können, sollten wir deshalb unsere Geisteshaltung untersuchen und sie sozusagen »neu einstellen«. Denn unsere eigene geistige Orientierung bestimmt das Ergebnis unserer Qi-Gong-Praxis.

Schon in klassischen chinesischen Texten finden sich Hinweise auf die zentrale Bedeutung der angemessenen Orientierung, und der Streit, welche nun die letztlich richtige sei, hat Tradition. So schrieb zum Beispiel der Taoist Liu I-ming 1808 in seinen Erläuterungen zu dem alchimistischen Werk Das Geheimnis des Goldenen Elixiers mit der Leidenschaft des Puristen:

Die Menschen der späteren Zeitalter ergründeten nicht die Bedeutung der alchimistischen Klassiker, sondern klebten nur an den Symbolen: Die Konfuzianer sahen in ihnen nichts als abergläubischen Unsinn, während die Taoisten sie nur oberflächlich verstanden. In extremen Fällen versteiften sich die Menschen nur auf die Symbole, erfanden aufs Geratewohl alle möglichen Praktiken und verirrten sich so in Sackgassen und auf Irrwege. So fügten sich unzählige Menschen selbst geistigen und körperlichen Schaden zu.[5]

Das Fixieren von Standpunkten ist also nicht nur eine abendländische Untugend; wir finden sie auch in der Geschichte der Inneren Kunst des Qi Gong. Als »Seitentore« bezeichneten die Puristen unter den Taoisten die »Innere Alchimie«, deren wichtigster praktischer Bestandteil die Energiearbeit war, und die Ablehnung dieser Methoden und die einseitige Hervorhebung der reinen Meditation hat in bestimmten Richtungen des Taoismus eine zweitausendjährige Tradition. Thomas Cleary schreibt in seiner Einleitung zum Geheimnis des Goldenen Elixiers:

Die Kritik in Liu I-mings Werk, nämlich das Ablehnen der »Seitentore«, stellt die radikalste Form der für die Schule der Vollkommenen Wirklichkeit typischen Unterscheidungen zwischen der Quintessenz des Taoismus und den unwichtigeren psychischen und psychosomatischen Techniken dar … In der südlichen Richtung der Schule der Vollkommenen Wirklichkeit, die von Zhang Boduan [Chang Po-tuan] gegründet wurde, wird größerer Wert auf die Energiearbeit gelegt als in der strengeren nördlichen Richtung, der Liu I-ming angehörte. Dieser Unterschied erklärt sich aus dem höheren Alter vieler Eingeweihter der Südlichen Schule, wie zum Beispiel von Zhang Boduan selbst, der erst in seinen Achtzigern das Tao erlangte. Energiearbeit dient dazu, den Körper zu verjüngen und das spirituelle Streben zu unterstützen und ist verständlicherweise bei älteren Menschen wichtiger als bei jungen. Jedenfalls heißt es, dass diese Übungen die gefährlichsten seien, und da man sie nur unter fachkundiger Anleitung ausführen darf, werden sie oft im Stillen von jenen praktiziert, die sie öffentlich zurückweisen.[6]

Die Kunst des Qi Gong ist für uns etwas ganz Neues und noch unbelastet von eingenisteten Fehlinterpretationen. Damit ist der Raum noch offen, in dem sie sich entfalten kann. Wir haben den Vorteil, in einer Epoche zu leben, in der Wissen und Weisheit alter Kulturen aus traditionellen Verkrustungen herausgelöst und in einer neuen, frischen Weise verstanden und nutzbar gemacht werden können. Die Vielfalt der Informationen, die uns heute vermittelt werden, ermöglicht uns einen nie da gewesenen Überblick über die Resultate menschlichen Erkenntnisstrebens. Wir haben das Gefühl, aus einem ungeheuer großen Angebot frei auswählen und uns für das »Beste« entscheiden zu können. Dieses Gefühl kann sich jedoch auch steigern zum Eindruck, von einer Fülle fremdartiger Angebote überschwemmt zu werden. Das kann eine Abwehrhaltung hervorrufen, die dem schon Bekannten die größere Vertrauenswürdigkeit und damit die höhere Qualität zuspricht; diese Haltung ist nicht weniger extrem als die blinde Begeisterung für exotische Neuheiten. Um also einen möglichst unbeeinträchtigten Standpunkt der vorläufigen Beurteilung zu gewinnen, ist es nötig, dass wir uns Klarheit über unsere Art und Weise der Wahrnehmung und des Verständnisses verschaffen.

Es gibt Leute, die auf die Idee, dass es eine alles durchdringende, Leben überhaupt erst ermöglichende Energie oder Substanz wie Qi geben könnte, verachtungsvoll herabschauen, weil sie »wissenschaftlich nicht beweisbar« sei. Und es gibt andere, die mit missionarischem Eifer für die Anerkennung dieser Idee kämpfen, als hinge ihr Leben davon ab, die Bestätigung anderer für ihre Meinung zu erzwingen.

Für das Bewusstsein der Anhänger des materialistisch-mechanistischen Weltbildes gilt, was Frank E. Manuel über den Erfinder dieses Weltbildes, Isaac Newton, schreibt:

Eine der wichtigsten Quellen für Newtons Drang nach Wissen war seine Furcht und Angst vor dem Unbekannten. Wissen, das in mathematische Formeln gebracht werden konnte, vermochte seiner quälenden Unsicherheit und Ungewissheit ein Ende zu bereiten … Die Welt in solch absolutistischer Art und Weise zu strukturieren, dass jegliches Ereignis, das heißt sowohl das nächstliegende als auch das entfernteste, fein säuberlich in das erdachte System passt, ist als Zeichen von Krankheit bezeichnet worden, vor allem, wenn sich andere weigern, sich diesem zwanghaften System anzuschließen. Es war Newtons Glück, dass die Gesellschaft Europas einen großen Teil seines gesamten Systems als ein perfektes Abbild der Wirklichkeit akzeptierte, so dass sich sein Name aufs engste mit seinem Zeitalter verband.[7]

Wer andererseits den Standpunkt des Alles-ist-Möglich vertritt und der Irrationalität huldigt, ist damit nicht gleich ein Vorkämpfer für ein neues Bewusstsein. Beide Positionen sollten wir bei der Annäherung an das Qi Gong vermeiden. Im Qi Gong wird mit Imagination, Vorstellung und willentlicher Steuerung einer unsichtbaren »Energie« – oder wie auch immer wir das Qi mit unseren Begriffen einzukreisen versuchen – gearbeitet. Dennoch haben wir es mit einem System zu tun, in dem keine Willkürlichkeit herrscht. Damit richtig umzugehen, verlangt ein angemessenes Verständnis; es ist eines der Anliegen dieses Buches, denjenigen Ansatz deutlich zu machen, der uns hilft, alte und neue Fehler zu vermeiden.

In Gesprächen mit chinesischen Vertretern des Qi Gong fiel mir auf, dass sie immer wieder betonten, wie wichtig es sei, dass Qi Gong wissenschaftliche Anerkennung finde, und häufig die Ergebnisse der chinesischen Qi-Forschung zitierten, in der Annahme, die Menschen des Westens seien ebenso wie die des kommunistischen China noch zutiefst mit der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts identifiziert. Doch scheint mir dies nicht so vordringlich das Problem der heutigen westlichen Qi-Gong-Aspiranten zu sein. Wir sind der Enge der »wissenschaftlichen Beweisbarkeit« recht müde geworden, seitdem immer deutlicher erkennbar wird, dass damit keinerlei Qualitätsgarantie verbunden ist. Die Homöopathie zum Beispiel gilt noch immer als eine medizinische Methode, die sich aller wissenschaftlichen »Erklärbarkeit« entzieht. Dennoch hat ihre Wirksamkeit längst viele Patienten und auch Schulmediziner überzeugt, nicht anders als die ebenfalls lange misstrauisch abgewehrte Akupunktur, der Yoga oder andere alternative, »unwissenschaftliche« Heilmethoden. Hingegen erweisen sich Aussagen, die sich auf angebliche wissenschaftliche Beweiskräftigkeit stützen, nur zu oft als falsch.

Wir beginnen sowohl die Rigidität der alten Maßstäbe als auch ihre Relativität immer klarer zu sehen. Doch der Verzicht auf alle Maßstäbe kann keine Lösung sein. Ganz offensichtlich öffnet solch ein Verzicht der Verwirrung und Verdummung, dem Selbstbetrug und der Scharlatanerie alle Tore. So liegt das schwerwiegendere Verständnisproblem westlicher Menschen meiner Ansicht nach in der »Maßstabslosigkeit«, in einer speziellen Art von Verwirrung, die im Zusammenhang mit Qi Gong eine ernstzunehmende Bedrohung für die geistige Gesundheit der fehlgeleiteten Adepten darstellen kann.

Alte Kulturen hatten diese Schwierigkeiten nicht. Es muss also offensichtlich noch eine andere Möglichkeit des Verstehens geben – ein »mittleres«, nicht in extremen Positionen befangenes, weder rational noch irrational fixiertes, kreativ umkreisendes, komplexes Verstehen. Westliche Wissenschaftler und Denker sind auf dem Weg einer Analyse unserer Erkenntnisweisen und der Erneuerung des Wissenschaftsbegriffs schon ein gutes Stück weit in die Richtung solch eines integralen Verstehens vorgestoßen. Das wussten meine chinesischen Gesprächspartner nicht, und das weiß auch leider ein großer Teil all jener grundsätzlich aufgeschlossenen Leute nicht, die sich auf kulturfremde Methoden zur Heilung/Transformation von Körper und Geist einlassen. Darum möchte ich zur Verständnishilfe diese neue westliche Entwicklung kurz umreißen.

Auf dem Weg zu einem neuen Verstehen

Der Kernphysiker und Molekularbiologe Jeremy Hayward beschreibt unser modernes Weltanschauungsdilemma zwischen dem Newtonschen Zeitalter und dem neu entstehenden »holistischen« wissenschaftlichen Weltbild mit den Worten:

Es kristallisiert sich ein Bild der Welt heraus, das ganz anders ist als das Weltbild, das man uns in der Schule vermittelt hat, auf das wir alle, Wissenschaftler wie Laien, unser Leben gründen und das unseren Kindern leider nach wie vor vermittelt wird.[8]

Und der Physiker Fritjof Capra schrieb schon 1977: »Die achtziger Jahre werden deshalb eine revolutionäre Zeit sein, weil die gesamte Struktur unserer Gesellschaft nicht mit der Weltsicht eines neu entstandenen wissenschaftlichen Denkens übereinstimmt.«[9]

Die Umwälzung, die sich im Wissenschaftsverständnis anbahnt, spiegelt die Umwälzung, auf die sich das gesamte abendländische Denken zubewegt. Wie dringend notwendig dieses Umdenken ist, zeigt der Zustand unseres missbrauchten, ausgebeuteten, kranken Planeten – so missbraucht, ausgebeutet und krank wie Körper und Geist eines allzu großen Teils seiner Bewohner. Wir müssen uns fragen, wie es so weit kommen konnte – denn zu solchen drastischen Konsequenzen kommt es nicht ohne lange und folgerichtige Entwicklungen. Unsere heutige Situation ist nach dem Modell des Philosophen Jean Gebser der vorläufige Endpunkt einer kollektiven Bewusstseinsentwicklung und zugleich – hoffentlich – ein Übergangsstadium auf dem Weg zu einem neuen, über alle früheren Erscheinungsformen hinausgehenden Bewusstsein. Natürlich muss man solche Modelle mit Vorsicht verwenden, denn sie sind ja nur abstrakte Landkarten des lebendigen Geschehens; aber zur Orientierung und Inspiration können sie dennoch helfen.

Ich möchte dieses Modell kurz umreißen, weil es uns Hinweise darauf geben kann, welche Entwicklungsprozesse in uns selbst nötig sind, um die besagten alten und neuen Fehler im Umgang mit der Inneren Kunst des Qi Gong zu vermeiden.

Das Bewusstseinsmodell von Jean Gebser

Nach Gebser entwickelte sich das menschliche Bewusstsein aus einem Urzustand heraus, den er als »archaische Struktur« bezeichnete, »die Zeit, da die Seele noch schläft«. Doch wie ein Kind aus dem Schoß der Mutter geboren werden muss, musste das menschliche Bewusstsein aus diesem Zustand der Urzeit, aus dem Mutterschoß der unterschiedslosen Einheit, in dem es sich noch nicht als verschieden von der Welt erfuhr, in den Zustand des Bewusstseins von der Welt und von sich selbst geboren werden. Dieses Erwachen des Bewusstseins schlüsselt Gebser in drei aufeinanderfolgende strukturelle Phasen auf: in die »magische«, die »mythische« und die »mentale« Struktur.

Im magischen Zeitalter ist der Mensch nicht mehr einfach nur in der Welt, sondern erlebt sich als gesondert von ihr, fühlt sich, weil das »andere« ja das Fremde, Unvertraute ist, von ihr bedroht und muss sie bewältigen.

Er stellt sich gegen die Natur, er versucht sie zu bannen, zu lenken, er versucht, unabhängig von ihr zu werden; er beginnt zu wollen. Bannen und Beschwörung, Totem und Tabu sind die naturhaften Mittel, mit denen er sich von der Übermacht der Natur zu befreien, mit denen sich die Seele in ihr zu verwirklichen, sich ihrer bewusst zu werden versucht.[10]

Der nächste Bewusstseinsschritt führt ins mythische Zeitalter. »Mythos« bedeutet »Wort«, »Bericht«. Es ist das Erwachen aus der magischen Gebanntheit des Schweigens zum sprachlichen Ausdruck. Dieser Ausdruck ist zunächst bildhaft. Denken wir an die Entwicklung des Kindes, in der sich die kollektive Entwicklung der Strukturen spiegelt: Das jüngere Kind kann mit abstrakten Begriffen nichts anfangen – die geistige Welt des Kindes ist die der Märchen und Geschichten. Um Erfahrungen auszudrücken, greift es oft zum Mittel des Fabulierens, und der Erwachsene, der auf andere Art denkt, ist dann der Meinung, es lüge. Aber es ist vielmehr so, dass die Ausdrucksform des Kindes und die des Erwachsenen auf verschiedenen Bewußtseinsmodi basieren. Die mythische Struktur hat eine andere Logik als diejenige, auf die sich das rationale Denken beruft. Es ist eine paradoxe Logik, im Gegensatz zur aristotelischen Logik, an der wir uns üblicherweise orientieren und die besagt, dass A nur A sein kann, nicht aber Nicht-A.

Der dritte Entwicklungsschritt (der in der abendländischen Welt im 17. Jahrhundert ansetzte) führt zur mentalen Struktur, von Gebser so genannt nach dem lateinischen mens, das die Bedeutungen »Absicht, Zorn, Mut, Denken, Gedanke, Verstand, Besinnung, Sinnesart, Denkart und Vorstellung« in sich vereinigt. Dies ist die Bewusstseinsstruktur des linearen Denkens, der Objektbezogenheit, der völlig dualistischen Denkmuster. Es ist die Art von Bewusstsein, die wir gemeinhin für die einzig mögliche und richtige halten, wenn wir vom Homo sapiens, vom vernunftbegabten Menschen, sprechen.

Laut Gebser besteht eine enge Verbindung zwischen der magischen und der mythischen Struktur. Die besondere Eigenschaft der mentalen Struktur hingegen ist der extreme Dualismus; sie beinhaltet eine besonders heftige Betonung der Unterscheidung, Trennung, Detaillierung und Abstraktion. Deshalb ist kein anderer Bewusstseinsmodus so sehr gefährdet wie der mentale, in seine negative Möglichkeit abzugleiten – in die rationale Fixierung. Eben dies ist geschehen, und der Zustand der Welt, in der wir leben, ist Ausdruck dieser negativen Entwicklung, in der alles Verbindende zugunsten des Unterscheidens verloren gegangen ist. Abgerissen ist auch die Verbindung zu den früheren Strukturen des Bewusstseins, zum Magischen und zum Mythischen. C. G. Jung, der die modernen individuellen und kollektiven geistigen Verwirrungen als psychologische Auswirkungen dieses Abgeschnittenseins aufzeigte, schrieb:

Der moderne Mensch versteht nicht, wie sehr sein »Rationalismus« … ihn der psychischen »Unterwelt« preisgegeben hat. Er hat sich selbst vom »Aberglauben« befreit – wenigstens glaubt er das –, aber bei diesem Vorgang hat er seine geistigen Werte in einem erschreckend hohen Maß verloren … und er zahlt nun den Preis für diese Auflösung mit weltweiter Desorientierung und Zersetzung.[11]

Die Überwindung des Dilemmas kann nach dem Gebserschen Modell nur in einer »Bewusstseins-Mutation« (die mehr ist als eine einfache lineare »Weiterentwicklung«) zu einem »integralen Bewusstsein« liegen, in dem auch die feindliche Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften einerseits und den »Geheimwissenschaften« andererseits einer gegenseitigen Integration weichen würde. Diese Integration ist jedoch nicht einfach nur als eine Anreicherung mit früheren Strukturen zu verstehen. Eine echte Integration ist laut Gebser nur möglich, wenn das Wirken aller in uns angelegter Strukturen nicht nur sichtbar gemacht, sondern vergegenwärtigt wird, mit dem Resultat, dass aus dem Zusammenspiel aller Strukturen etwas ganz Neues entsteht – eine alles Vergangene in sich enthaltende und zugleich doch neue Struktur des Bewusstseins. Das dürfe man nicht als »Bewusstseins-Erweiterung« verstehen, sagt Gebser, denn das wäre ja nur eine Quantifizierung des Bewusstseins, eine Anreicherung mit Illusionen; sondern es handle sich um eine »Bewusstseins-Intensivierung«. Dieses vertiefte Bewusstsein verlangt nach anderen als den uns vertrauten Ausdrucksweisen:

Wenn wir uns nicht entschließen … die Systeme mit ihren kategorialen Fixierungen als unzureichend zu bezeichnen, werden wir uns der neuen Weltwirklichkeit nicht nähern können … Die neue Kraft des Geistes … ist achronisch … Keines der bisherigen Denksysteme reicht aus, um sie wahrnehmbar zu machen … Wir sind gezwungen, eine neue Aussageform zu finden.[12]

Diese Suche nach der neuen Aussageform spielt in unserem Verständnis der Inneren Kunst des Qi Gong eine wichtige Rolle.

Der integrale Ansatz in der modernen Wissenschaft

Was der Philosoph Jean Gebser in den Jahren 1947 bis 1965 ahnungsvoll als zukünftige – notwendige – Bewusstseinsentwicklung oder »Mutation« entwarf, wird heute durch neueste Ergebnisse der kognitionswissenschaftlichen Forschung als natürliche und folgerichtige Möglichkeit bestätigt. Die »Kognitionswissenschaft« ist eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die so unterschiedliche Wissenschaftsbereiche wie Biologie, Physik, Neurologie, Psychologie, Linguistik und künstliche Intelligenz berührt und deren Forschungsergebnisse im Hinblick auf die Funktion der Wahrnehmung und die menschliche Erkenntnisfähigkeit auswertet. Die chilenischen Gehirnforscher und Kognitionswissenschaftler Humberto Maturana und Francisco Varela schreiben über die vermeintliche Gewissheit, mit der wir üblicherweise den Standpunkt einnehmen, eine objektive, von uns selbst getrennte Welt »richtig« wahrnehmen zu können:

Wir neigen dazu, in einer Welt von Gewissheit, von unbestreitbarer Stichhaltigkeit der Wahrnehmung zu leben, in der unsere Überzeugungen beweisen, dass die Dinge nur so sind, wie wir sie sehen. Was uns gewiss erscheint, kann keine Alternative haben. In unserem Alltag, in unseren kulturellen Bedingungen, ist dies die übliche Art, Mensch zu sein.[13]

Es ist weit verbreitet, sich nur um Aussagen zu kümmern, nicht aber um die Instanz, welche sie macht – das entsprechende Bewusstsein und dessen Struktur und Verfassung. Dieses Bewusstsein, so lässt sich gemäß den Erkenntnissen der Kognitionswissenschaft behaupten, repräsentiert nicht etwa eine außen gegebene Welt mehr oder minder richtig und macht sogenannte »wahre« oder »falsche« Aussagen, sondern es schafft sich seine Wirklichkeit selbst. So wurden in verschiedenen Zeitaltern ganz unterschiedliche allgemeingültige Wirklichkeiten geschaffen. »Jede Epoche der menschlichen Geschichte erzeugt durch ihr alltägliches Handeln bzw. Sozialleben sowie ihre Sprache ein imaginäres Universum.«[14]

Maturana/Varela beschreiben, wie unser Nervensystem nicht einfach von außen kommende sinnliche Informationen aufnimmt und benutzt, sondern in der Form von Interaktion funktioniert und dabei unmittelbaren Strukturveränderungen unterworfen ist, die selbst wieder neue Situationen erzeugen. Das bedeutet, dass alle unsere Wahrnehmungen relativ sind und nur durch das kollektive Übereinkommen innerhalb eines bestimmten kulturellen »Überzeugungskontextes« absolute Etikettierungen erhalten.

Die Kognitionswissenschaft erklärt, dass Wirklichkeit dadurch entsteht, dass etwas festgestellt, als Wirklichkeit »erkannt« wird. So betrachtet, ist die Wirklichkeit der abendländischen oder taoistischen Alchimisten nicht weniger wirklich – relativ wirklich – als die Wirklichkeit der Neuzeit. Der Wissenschaftshistoriker Morris Berman kommt anhand seiner Analysen zu dem Schluss,

… dass die Menschen der damaligen Zeit nicht nur annahmen, dass Materie Bewusstsein besitzt, sondern dass dies »tatsächlich« auch der Fall war. Sollte der offensichtliche Einwand erhoben werden, dass die mechanistische Weltauffassung die richtige und wahre sei, weil sie uns ja, wie man sehen kann, dazu befähigt, Menschen auf den Mond zu schicken oder Technologien zu ersinnen, die nachweislich funktionieren, dann kann ich darauf nur erwidern, dass die animistische Weltauffassung, die sich über Jahrtausende hinweg hielt, für ihre damaligen Anhänger ebenso wirksam war, das heißt, dass unsere Vorfahren Wirklichkeit auf eine Art und Weise strukturierten, die überprüfbare Ergebnisse erzielte.[15]

Die Theorie und Praxis der Inneren Alchimie (und ihrer modernen Entsprechung Qi Gong) entstanden innerhalb einer Weltauffassung, in der Materie »Bewusstsein besitzt«, das heißt, von der »intelligenten Energie« Qi durchdrungen ist. Damit das Qi Gong in unserer heutigen Situation seine volle Wirkung entfalten kann, müssen wir unser Bewusstsein auf die »Welt« des Qi Gong einstellen, also eine uns zunächst fremde Weltauffassung »integrieren«, ohne in die Falle einer Regression auf eine frühere strukturelle (magisch-mythische) Stufe des Bewusstseins zu geraten.

Die Inhalte der Tradition des Qi Gong müssen aus dem Chinesischen übersetzt werden. Falls wir darunter verstehen, dass eine Weltauffassung in eine andere Weltauffassung »übersetzt« wird, ist das Missverständnis programmiert. Also bleibt uns gar nichts anderes übrig, als den scheinbar sicheren Boden überkommener Überzeugungen zu verlassen und Intuition und Intellekt für eine wesentlich umfassendere und vertiefte »Wahrnehmungsbereitschaft« zu öffnen.

Wahrnehmungsbereitschaft ist die Neigung von Menschen und Tieren, sich auf eine bestimmte Art des Wahrnehmens einzustellen oder bestimmte Wahrnehmungen zu erwarten – und diese Erwartungen bestimmen dann bis zu einem gewissen Grad, was tatsächlich wahrgenommen wird.[16]

Ein »kontextgebundenes Glaubenssystem« nennt der Wissenschaftler Jeremy Hayward unsere Weltauffassung.

Unsere Überzeugungen und Wahrnehmungen bilden also ein eng verklammertes System gegenseitiger Bedingung und Verstärkung, so dass wir nicht nur, wie so oft, sagen können: Das glaube ich erst, wenn ich es sehe, sondern auch: Das sehe ich erst, wenn ich es glaube. Wir nehmen nur wahr, wovon wir glauben, dass es vorhanden ist, und wir nehmen es nur so wahr, wie es unserer Überzeugung nach ist.[17]

Yi Qi Gong, das »Stille Qi Gong«, bezieht sich auf jene Form von Qi Gong, die mit Imagination, Visualisation, Vorstellung, willentlicher Steuerung verbunden ist. Die Wahrnehmungsbereitschaft muss also mit der Überzeugung (einer relativen Überzeugung, die auf einem Vertrauensvorschuss beruht) verbunden sein, dass das unsichtbare Qi, die unsichtbaren Kanäle und die Möglichkeit, das Qi durch die Vorstellung innerhalb dieser Kanäle zu steuern, tatsächlich existieren. Dass diese Annahme nicht willkürlich ist, verbürgt die lange Tradition – die schriftlichen Hinterlassenschaften derer, die mit dieser Methode erfolgreich gearbeitet haben, die mündlichen Überlieferungen und die Aussage der in dieser Tradition ausgebildeten Lehrmeister.

Diese »offene« Wahrnehmungsfähigkeit beruht auf einem aufmerksamen »Geschehenlassenkönnen«, ohne sofort beurteilend und kategorisierend einzugreifen. Doch dieses Geschehenlassen ist ohne Zweifel unser größtes Problem. Der moderne Abendländer begreift sich als »Tatmensch«. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, fragen wir: »Was soll ich tun?« Kaum jemand wird auf den Gedanken kommen zu fragen: »Was soll ich lassen?« Wenn wir ausruhen wollen von all dem Tun, müssen wir etwas anderes tun, um uns zu erholen. Selbst einen natürlicherweise so rezeptiven Vorgang wie das Einatmen bezeichnen wir als »Atemholen«. Auf der anderen Seite und völlig unvereinbar steht das »Nichtstun«, negativ besetzt als nutzlos, langweilig und geradezu unmoralisch. Eine Verbindung beider Seiten zu einem mittleren Zustand, dem »aktiven Geschehenlassen«, können wir uns kaum vorstellen.

Unser Umkreisen des Problems mit Mitteln der Philosophie und der Kognitionswissenschaft soll helfen, unsere Fixierungstendenzen aufzudecken und in Frage zu stellen. Gleichzeitig damit, dass wir den Finger auf einen Mangel legen, soll jedoch auch die mögliche Fülle angesprochen werden. Die Erfahrungen, die durch die Qi-Gong-Praxis angeregt werden, sind vielfältig und spielen sich sowohl auf der körperlichen als auch auf der geistigen Ebene ab. Als »geistige« Ebene bezeichne ich hier diejenige, auf der sich unsere Erfahrungen in Bildern, Gemütszuständen und Einsichten ausdrücken. Vor allem bildhafte Eindrücke (spontane imaginative Bilder) und emotionale Zustände wie Euphorie, Beglückung oder Angst gehören neben rein körperlichen Empfindungen wie Wärme, Kälte, Schmerz, Jucken, Kribbeln, Zittern, Schütteln oder spontane Bewegungen zu möglichen Phänomenen bei der Qi-Gong-Praxis.