Die Energien des Lebens und des Sterbens - Ulli Olvedi - E-Book

Die Energien des Lebens und des Sterbens E-Book

Ulli Olvedi

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Beschreibung

»Energie« ist ein Begriff, der längst nicht mehr nur im eng abgesteckten physikalischen Rahmen benutzt wird. Vor dem Hintergrund des buddhistischen Tantra, aber ohne jedes exotische Vokabular, bekommt der Leser einen tiefen Einblick in die Welt der feinen Energien seines Körpers und Geistes und lernt mit ihnen gezielt zu arbeiten. Was ist spirituelle Entwicklung? Wie kann man die Energien der Chakras wahrnehmen und zur Heilung von Körper und Geist fruchtbar machen? Wie lässt sich sexuelle Energie transformieren und auf höherer Ebene kultivieren? Je mehr wir über die feinstofflichen Vorgänge wissen und konkret erfahren, desto mehr können wir uns selbst helfen und weiter entwickeln – im Leben wie im Sterben.

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Ulli Olvedi

Die Energien des Lebens und des Sterbens

Meditative Energiearbeit nach den Prinzipien des buddhistischen Tantra

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungEinführungMeditative EnergiearbeitMeditationEnergieKörper/Geist-EnergieSchamanische Energie und spirituelle EnergieArbeitDas Mandala der subtilen EnergienDie kleinen Ziele und das große ZielDie drei EntwicklungsphasenDie MethodenFühlendes WahrnehmenDer KörperÜbung: KörperhaltungEntspannungSich selbst spüren lernenDer AtemÜbung: Wie atme ich?Übung: EinatmenÜbung: Atemvolumen anreichernÜbung: AusatmenÜbung: KörpergefühlÜbung: Bewegung im RaumÜbung: In die Weite schauenDie ÜbungssituationInnere EnergienÜbung: Der Kleine EnergiekreislaufSinnliches WahrnehmenNatürliche KreativitätBildhaftes DenkenMeditation: Inneres LächelnFormale und nicht formale ÜbungReise ohne ZielEine GeschichteBewusstseinsenergieÜbung: Anziehung und AblehnungBewusstseinsenergie der PflanzenÜbung: Verbindung mit der Bewusstseinsenergie einer PflanzeBewusstseinsenergie der TiereÜbung: Verbindung mit der Bewusstseinsenergie eines TieresEnergie der ErdeMeditation: ErdenergieMeditation mit LichtimaginationMeditation: EnergielichtDas SelbstErfahrungÜbung: Wie erlebe ich mein Selbst?»Selbstgeschaffene« RealitätÜbung: Fühlen und DenkenNicht-SelbstMeditation: Stärkung des SelbstEmotionenUmgang mit EmotionenBeobachte deinen persönlichen StilWie erlebe ich meine Emotionen?GegenmittelErgreifen und FesthaltenEine GeschichteEmotionen aushaltenDie emotionalen DämonenÜbung: Das Benennen der DämonenTraining des MitgefühlsMeditation: AustauschRelative und ursprüngliche WirklichkeitEine GeschichteDas Große MitgefühlWeibliche und männliche EnergieVater-Mutter-BuddhaSchwache weibliche und männliche EnergieWie erlebe ich meine weibliche und männliche Energie?Eine GeschichteSchutzenergieEine GeschichteVisualisieren von MeditationsgottheitenImagination: Weibliche GottheitImagination: Männliche GottheitInnerste Ebene der weiblichen und männlichen EnergieMeditation: Spiritueller EnergielichtkörperChakraÜbung: Fühlen der EnergiezentrenMeditation: Reinigung der EnergiezentrenMantraEine GeschichteDakiniDie Dakini-TraditionDie Dakini als Selbst-BildDas Dakini-SymbolDas Dakini-PrinzipDie Begegnung mit der DakiniEine GeschichteDakini-GedichtDie Energien der ElementeDie Qualitäten der Element-EnergienMeditation: Raumelement-EnergieSexualitätKultivieren der sexuellen EnergieErotische Leidenschaft ohne LeidenÜbung: Austausch Mann-FrauSpirituelle SexualitätDevacandras AntwortMeditation: Sexuelle Energie verwandelnSakralisierung der Sexualität: Die spirituelle LiebesbeziehungBegegnung im MandalaMeditation zu zweit: EnergielichtSpiritualität und ErosEine GeschichteTraumSchlafforschungSchlaf, Traum und TodTraumarbeitMeditation: KehlzentrumDie TraumsinneÜbung: Traumsinne entwickelnTagtraumarbeitÜbung: Einen Traum beendenEin erlöster TraumMeditation: Das blaue Energielicht des HerzzentrumsKlarheitsträumeEine GeschichteSterbenWerden – Vergehen – WerdenDer EnergiekörperDas tantrische EnergiesystemÜbung: Reinigung und AusgleichVor dem SterbenÜbung: LoslassenStadien des SterbensAuflösung der Element-EnergienÜbung: Auflösung der Element-EnergienVeränderung und KontinuitätÜbung: Veränderung und KontinuitätNach dem Sterben – TodWerdenDie neue körperliche ExistenzEine GeschichteBibliographieTarab Tulku

Dieses Buch ist mit tiefem Dank

Tarab Tulku Rinpoche

und allen meinen wunderbaren

tibetischen Lehrern gewidmet.

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Einführung

Die Theorie und die praktischen Übungen in diesem Buch stützen sich auf die Prinzipien des buddhistischen Tantra, wie Tarab Tulku (1935–2004), einer der für den Westen bedeutendsten tibetischen Gelehrten und Meditationsmeister, sie unter dem Namen Unity in Duality (Einheit in der Dualität) dem westlichen Verständnis zugänglich gemacht hat.

Diese Prinzipien sind natürliche Gesetzmäßigkeiten und deshalb kulturübergreifend, doch das ist nicht ohne weiteres erkennbar, solange ihre spezielle kulturelle bzw. religiöse Verpackung sie als fremdartig und exotisch erscheinen lässt. Tarab Tulku definierte Tantra als »Weg der Energie« – als einen spirituellen Prozess, der darin besteht, die subtilen Energien unserer Körper/Geist-Ganzheit kennenzulernen und methodisch mit ihnen umzugehen.

Die geistige Entwicklung in unserer abendländischen Gesellschaft befindet sich in einer Umbruchphase (die wohl noch mehrere Generationen andauern mag). Dieser Paradigmenwechsel lässt ein immer vollständigeres Bild dessen zu, was »Ganzheitlichkeit« wirklich ist. Während die Physik die Energieseite der Materie im Laufe der Neuzeit erkennen lernte, wird nun auch die Energieseite des Geistes erkannt werden und damit das ganze Ausmaß der Verbindung von Körper und Geist. Dazu gehört auch, den Tod – als Kontinuität subtiler Energie – nicht vom Leben zu trennen.

Ein tibetischer Weisheitsspruch sagt: »Richtig sterben lernen heißt auch richtig leben lernen« – und umgekehrt. Leben und Tod sind zwei Seiten einer Medaille; hat man die eine, gehört die andere untrennbar dazu. So ist das Tibetische Totenbuch ebenso ein Lebensbuch wie eine Hilfe zum Sterben. Es beschreibt den Prozess der Veränderung, den die subtilen Körper/Geist-Energien im Sterben durchlaufen. Und nicht nur im Sterben: Wann immer Veränderungen auf körperlicher oder geistiger Ebene stattfinden, hat dies mit Veränderungen im subtilen Energiesystem zu tun und bildet – wie zum Beispiel beim Einschlafen – den Sterbeprozess bis zu einem gewissen Grad auf einer äußeren Ebene ab.

»Energie« ist ein Begriff, der heute nicht mehr nur im eng abgesteckten physikalischen Rahmen benutzt wird. Da ist die Rede von Lebensenergie, psychischer Energie, sexueller Energie, auch von Chakra-Energie und anderen, der Parapsychologie oder Randbereichen der Psychologie zugeordneten Energien (»Psi« und Wilhelm Reichs »Orgon«). Begriffe wie »Qi« und »Prana«, Praxisformen mit der subtilen Energie wie »Qigong« oder »Pranayama«-Yoga sind vielen bekannt. Doch die Kultur des christlichen Abendlands ist die einzige Kultur, in deren konventionellem Konsensus diese subtilen Energien noch immer weitgehend ignoriert oder gar geleugnet werden[1], während das Wissen darum in anderen Kulturen respektiert und teilweise konsequent entwickelt und zu hoher Blüte gebracht wurde.

Je mehr wir über die subtilen Energien wissen, die in unserem Leben und Sterben eine so große Rolle spielen, und bewusst mit ihnen umgehen, desto mehr können wir uns selbst helfen bei zentralen Ereignissen des Lebens wie der Selbstheilung von Körper und Geist, bei der Persönlichkeitsentwicklung, in der Entfaltung einer erfüllten sexuellen Kommunikation, bei der Arbeit mit den Energien des Traums usw. und schließlich beim Sterben, um vorbereitet und in innerer Harmonie in den Tod zu gehen.

Ich hatte das große Glück, bei Tarab Tulku lernen zu dürfen und mit ihm besprechen zu können, wie ich mir eine Verbindung meiner Seminararbeit (Stilles Qigong, Atemarbeit, Kontemplative Therapie, buddhistische Psychologie) mit seiner Art, die buddhistischen Lehren und Methoden zu präsentieren, vorstellte. In der äußeren Form der Präsentation folgte ich seinem Beispiel, Theorie und Praxis in einem gleichgewichtigen Wechselspiel anzubieten. Ein buddhistischer Spruch sagt: »Ein Vogel braucht zwei Flügel, um fliegen zu können.« Diese beiden Flügel sind die philosophisch/psychologischen Lehren einerseits und die meditative Praxis, die methodische Arbeit mit dem Geist, andererseits. Ein Flügel reicht nicht, beide müssen zusammenarbeiten, Studium und Praxis, Intellekt und Intuition.

Dieses Buch will auf möglichst einfache Weise und in einer uns vertrauten Terminologie die kulturübergreifenden Prinzipien der spirituellen Entwicklung klären. Damit dient es auch als Hilfe zum Verständnis des traditionellen tantrischen Buddhismus, der angesichts seiner exotisch anmutenden äußeren Form für westliche Menschen sehr fremdartig wirkt.

Ein Buch kann natürlich den spirituellen Lehrer nicht ersetzen, aber es kann die Neugier auf den eigenen Geist wecken und Orientierung und Inspiration vermitteln, so wie eine Landkarte die Richtung weisen kann und Beschreibungen eine Vorstellung von der Landschaft ermöglichen, bevor man die Reise antritt. Die Anweisungen zu Übungen und Meditationen für die Selbstentwicklung geben einen Eindruck von der Art der Meditativen Energiearbeit. Wer will, möge sie ausprobieren, sollte sich aber klar darüber sein, dass man mit gelegentlichen Versuchen nur sehr begrenzte Erfahrungen machen kann. Die meditative Praxis bedarf der Kontinuität und der Kommunikation mit einem spirituellen Lehrer (oder einer Lehrerin) oder zumindest mit einem erfahrenen spirituellen Freund (oder einer Freundin).

 

Um des Leseflusses willen wird in diesem Buch häufig nur die maskuline Form verwendet, wie »der Lehrer«, »der Schüler« usw.

Die Tarab-Tulku-Zitate entstammen Mitschriften aus seinen Seminaren, die noch nicht veröffentlich wurden.

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Meditative Energiearbeit

Das Äußere der Materie ist das Sichtbare.

Das Innere der Materie ist Energie.

Das Äußere des Geistes ist das Denken.

Das Innere des Geistes ist Energie.

Tarab Tulku

 

Zu Beginn, als ich das in Tarab Tulkus Seminaren Gelernte mit meiner Gruppenarbeit verband, schien mir der Titel Integrale Energiearbeit passend. Er bezog sich auf den Grundgedanken der Integration und auf die Inspiration, die ich aus dem Studium der Thesen des Philosophen Jean Gebser[2] gewonnen hatte. Gebser beschrieb Entwicklungsphasen des kollektiven Bewusstseins, beginnend mit einer ursprünglichen »archaischen Bewusstseinsstruktur«, die dann von einer »magischen« und später einer »mythischen« Struktur abgelöst wurde. Anschließend an diese entwickelte sich die »mentale« Struktur, auf der unsere moderne Weltsicht beruht. Dieser mentale Modus, der nur eine Phase im großen Entwicklungsprozess des menschlichen Bewusstseins hätte sein sollen, spaltete sich jedoch von den anderen völlig ab, wurde verabsolutiert und gilt im Abendland – und zunehmend auch darüber hinaus – nun als der Gipfel der Entwicklung. Die Erlösung aus dieser Entwicklungssackgasse wäre ein »integrales« Bewusstsein, das alle vorhergehenden Strukturen umfasst, aber in einer »durchsichtigen« Weise (Gebser nannte es »diaphan«), und damit etwas Neues, Ganzheitliches darstellt.

Ein wichtiger Aspekt dieses integralen Bewusstseins ist die Fähigkeit, eine Haltung des Sowohl-als-auch anstatt des Entweder-oder einzunehmen: nicht entweder Körper oder Geist, sondern Körper und Geist im Zusammenspiel – verkörperter Geist; nicht entweder Intellekt oder Intuition, sondern beide in Balance. Die Harmonie, die diese Balance bewirkt, streben wir mit den Mitteln der Meditativen Energiearbeit an.

Die Ausführungen in diesem Kapitel mögen zunächst nicht ganz leicht zu verstehen sein. Das Thema erschließt sich in seiner Komplexität erst im Umkreisen, was im weiteren Verlauf des Buches bei der Behandlung einzelner Themenpunkte geschieht. Ein besonders wichtiger Zugang ist natürlich die eigene Erfahrung der Körper/Geist-Energie mit Hilfe der beschriebenen Meditationen. Es ist ein Grundsatz des buddhistischen Weges, dass die Theorie nicht für sich steht, sondern dazu dient, der meditativen Praxis den Weg zu bereiten. Und das ist letztlich der Zweck dieses Buches.

Meditation

»Meditation« ist ein vielfältig befrachtetes Wort und so schien es sich zunächst nicht für diese spezielle Energiearbeit anzubieten. Doch weist dieser Begriff darauf hin, dass es sich hier um eine stille, in die Innenräume unserer Wahrnehmung gerichtete Praxis handelt. Das ist wichtig, da »Energie« oftmals mit äußerer Dynamik assoziiert wird, daher änderte ich schließlich die Integrale Energiearbeit in Meditative Energiearbeit um.

Im weiteren Verlauf werden Begriffe, deren Interpretation nicht eindeutig ist, umkreist und im Rahmen unseres speziellen Kontextes möglichst genau bestimmt. Meditation in unserem Rahmen bedeutet eine Veränderung des geistigen Modus von der Denkebene zur Fühlebene und schließlich zur Energie-Ebene. Zu diesem Zweck werden bestimmte Entspannungs-, Atem- und Imaginationstechniken eingesetzt.

Energie

Das Wort Energie kommt vom griechischen érgon – Werk, wirken. In der Physik definiert man Energie als »die Fähigkeit eines Körpers oder Systems, Arbeit zu verrichten«. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet Energie im nichtmateriellen Zusammenhang so viel wie Willenskraft, Tatkraft, Schwung, Entschlossenheit, Nachdruck.

In unseren europäischen Sprachen gibt es keinen Begriff für die inneren, subtilen Energien wie in den asiatischen Kulturen, die eine uralte Tradition des gezielten Umgangs mit den Phänomenen der Körper/Geist-Energie haben. Natürlich gibt es kein Wort für etwas, womit man sich in der entsprechenden Kultur nicht befasst hat. Oder nicht mehr, denn in der »Wiege des Abendlands«, im alten Griechenland, waren sich die Philosophen durchaus einer benennbaren Lebensenergie bewusst. Sie unterschieden sogar deren universalen und individuellen Aspekt: Thymos nannten sie die unpersönliche, alles Lebendige durchdringende Kraft oder Energie, als psyche hingegen das, was alle geistigen Lebensäußerungen trug (vergleichbar dem tibetischen lung, dem Träger aller »Geistesregungen«).

Aristoteles führte den Begriff energeia ein – die Kraft, auf der die Entfaltung aus der Potenzialität beruht. Das geht natürlich weit über den physikalischen Energiebegriff hinaus, und so ist es durchaus angemessen, darauf zurückzugreifen und zur genaueren Bestimmung das Adjektiv »subtil« (vom lateinischen subtilis – fein, dünn, zart) hinzuzufügen.

Wie bei allem, was aus anderen Kulturen stammt, nehmen die westlichen Industriegesellschaften dem Phänomen der subtilen Energien gegenüber eine widersprüchliche Haltung ein. Die Wissenschaft leugnet sie weitgehend, doch im Dienste des Materialismus setzt man in Russland und China, aber auch in den USA seit Jahrzehnten auf die hoffnungsvolle Idee, die »PSI-Kraft« eines Tages militärisch einsetzen zu können. Schon Hitler ließ eine Niederlassung in Tibet einrichten und verfolgte den bizarren Plan, für seine militärischen Zwecke die sagenhaften Kräfte tibetischer Yogis zu benutzen.

Andererseits kursieren auch kunterbunte New-Age-Vorstellungen über die subtilen Energien, manche davon für die geistige Gesundheit nicht unbedingt zuträglich. Denn es geht ja nicht darum, sich das »Glück« trickreich zurechtzuzaubern oder beim Universum zu »bestellen«, sich durch »Geisteskraft« einen Parkplatz in der Innenstadt zu sichern oder die Medienwelt mit Shaolin-Kunststücken zu bereichern, sondern es geht um die Entfaltung des Potenzials eines ganzheitlichen Menschseins – um sinnvoll leben und sterben zu können.

Wir sollten nicht vergessen, dass wir es beim Umgang mit den subtilen Energien mit Neuland zu tun haben. Es ist also naheliegend, dass wir uns an Kulturen wenden, die über große Erfahrung im Umgang mit den subtilen Energien verfügen. Doch auch dies ist nicht unproblematisch. Wir können uns nicht einfach kulturfremde Methoden einverleiben, denn mit ihnen verbunden ist immer eine ganze Welt andersartigen Denkens und Fühlens. Wenn wir zum Beispiel schamanische Rituale amazonischer Heiler übernehmen wollten, wäre das etwa so, als würden wir die Laute einer fremden Sprache nachahmen, ohne die Worte zu verstehen. Damit die fremden Laute einen Sinn ergeben, brauchen wir viel Wissen und zudem auch Einfühlungsvermögen in andere Denkweisen, um sie angemessen in eine uns vertraute Begrifflichkeit übertragen zu können.

Es ist auch nötig, zu berücksichtigen, dass die Energiesysteme, die in verschiedenen alten Hochkulturen entwickelt wurden, zwar alle auf derselben psychophysischen Wirklichkeit beruhen, aber ganz unterschiedliche Ansätze haben und deswegen keineswegs übereinstimmen müssen. Verschiedene Denkweisen führen zu verschiedenen Strukturmustern. Im Hinblick auf die Arbeit mit subtilen Energien befinden wir uns noch im Pionierstadium und haben als Kultur wie als Individuum einen langen Weg vor uns.

Körper/Geist-Energie

Tarab Tulku sagte: »Das Äußere der Materie ist das Sichtbare, das Innere der Materie ist Energie. Das Äußere des Geistes ist das Denken, das Innere des Geistes ist Energie.« Er verwendete das Wort Energie, weil es ihm als einziger westlicher Begriff geeignet schien, um die Vielzahl tibetischer Ausdrücke für Erscheinungsformen geistiger Bewegungen zusammenzufassen, für die wir keine Termini haben.

Auf der Ebene der Energie sind Körper und Geist miteinander verbunden. Wenn wir uns nur auf das Äußere beziehen, erscheint es ganz selbstverständlich, dass Körper und Gedanken getrennt sind. Dieser dualistische Zustand ist das, was wir in unserem alltäglichen Bewusstseinszustand üblicherweise erleben. Unsere Wahrnehmung auf der Energieebene ist jedoch nicht von der Dominanz des Rationalen und seinen Abgrenzungen und Bewertungen beeinträchtigt.

Im tantrischen Buddhismus beschreibt man die Ganzheit des Menschen als »Körper – Rede – Geist«. »Rede« ist hier eine einengende Übersetzung. Es ist damit eher Schwingung gemeint, und Tarab Tulku schlug als mögliche Übersetzung »Körper – Energie – (denkender) Geist« vor.

Diese Version klingt auch in der mittelalterlichen Alchemie an, in der von »corpus – anima – spiritus« die Rede ist. Das lateinische Wort anima hat viele Bedeutungen, wie Luft, Hauch, Wind, das Bewegende, das Belebende und Leben. Damit lehnt es sich nah an das an, was wir unter subtiler Energie verstehen.

Solange wir »existieren« – worunter wir ein körperlich-geistiges Sein verstehen –, »sind« wir Körper/Geist-Energie. Wir können diese Energie wegen ihrer verschiedenen Äußerungsformen in verschieden feine oder subtile Energien unterscheiden. Sehr grob ist zum Beispiel die elektrische Energie der bioelektrischen Signale, die von Neuronen »abgefeuert« werden. Viel feiner – und nicht mehr mit unseren aktuellen Messverfahren nachweisbar – ist die Vitalenergie. Noch feiner ist die subtile Energie des Basisbewusstseins, die unsere »karmischen Informationen« trägt. Am subtilsten ist die spirituelle Energie, durch die sich reines Gewahrsein in uns manifestiert. Sie äußert sich im Individuum als vollkommene Geistesklarheit und umfassendes Mitgefühl; Geistesklarheit, welche die Komplexität der Interdependenz (das Gesetz von Ursache und Wirkung) von allem durchschaut, und Mitgefühl, das auf der Auflösung der Trennung von »Ich« und »Andere« beruht.

Im tantrischen Buddhismus existiert kein analoges Wort für »Bewusstseinsenergie«. Stattdessen werden für die diversen geistigen Manifestationen verschiedene Begriffe gebraucht, für die in den westlichen Sprachen keine Äquivalente existieren. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein sprachliches Problem. Wenn nun im Folgenden von mehreren »subtilen Energien« die Rede ist, bezieht sich das natürlich auf die jeweiligen Eigenschaften der Energie. Energie an sich ist einfach Bewegung, Schwingung.

In der tibetischen Tradition vergleicht man das Zusammenwirken von Energie und »Geist« mit Pferd und Reiter. Das Pferd ist die Energie und der Reiter ist Motivation, Absicht, Wille, Entschluss. Doch wir haben es nicht mit einem starren System zu tun. Die Theorie dient nur dazu, Erfahrungen anzuregen, und hierfür bietet sich oft eher ein sprachliches und bildhaftes Umkreisen an als theoretisches Festnageln.

Sehr wichtig erscheint mir, dass wir ein ganz grundlegendes Denkmuster in Frage stellen: Anders als in asiatischen Kulturen pflegen wir im Westen nicht in Prozessen zu denken, sondern in Blöcken: »So ist es und so ist es nicht«, »entweder – oder« anstatt »sowohl als auch«. Wenn wir jedoch den Begriff Energie verwenden, müssen wir uns zugleich vor Augen halten, dass Energie immer in Bewegung ist, fließt. In der materialistisch fixierten Denkwelt unserer westlichen Kultur haben wir die Beziehung zum »Tanz der Erscheinungen« verloren. Wenn wir nun in den folgenden Kapiteln die Details unserer Bewusstseinsvorgänge theoretisch und praktisch untersuchen und zusammenfügen, sollten wir dabei nicht vergessen, dass auch dieser Denk- und Fühlprozess des Lernens ein Tanz ist, angeregt von der Leidenschaft des Geistes.

Schamanische Energie und spirituelle Energie

In Kulturen, die eine Tradition der Energiearbeit haben, wird die innere Energie in verschiedene Energiearten unterteilt und mit verschiedenen Namen versehen. Im tibetischen System unterscheidet man grundlegend zwischen verschiedenen Ebenen der Körper/Geist-Energie und den Weisheitsenergien. Die weniger feinen Energien sind dem schamanischen Bereich zuzuordnen, die subtilsten Energien gehören zum spirituellen Bereich. Diese Unterscheidung ist für unsere Arbeit wichtig.

Die beiden Begriffe »schamanisch« und »spirituell« sind zwar in unserem Sprachgebrauch üblich geworden, transportieren jedoch sehr unterschiedliche Vorstellungen und werden oft auch gleichgesetzt. Das ist kein Wunder in einer Kultur, die zu beidem keine immanente Beziehung hat. Die christlich-abendländische Kultur basiert ja auf einem vielschichtigen Import aus dem Orient, dem die originalen ethnischen Kulturen, vor allem die keltische Kultur mit ihrer hochentwickelten schamanischen Tradition, zum Opfer fielen.

Das schamanische Weltbild ist magisch und damit dualistisch.[3] Es geht im Schamanismus um die Kontrolle der Energien der Welt in allen ihren Aspekten – den irdischen, »unterirdischen« und »überirdischen«. Dazu gehören Rituale, der Umgang mit Geistern aller Art (Naturgeistern, herumirrenden Geistern von Toten, dämonischen Geistwesen), soziale Kontrolle durch Tabus, Geistheilen, Hellsehen, sogenannte Psi-Kräfte und alle »übersinnlichen Fähigkeiten«.

Der Dalai Lama weist dieser magischen Kategorie innerhalb des tibetischen Buddhismus einen klar umrissenen Platz zu: »Im Buddhismus gibt es diverse Götter und Göttinnen des Reichtums, des langen Lebens und der Heilung von Krankheiten und so weiter. Es gibt Schutzbändchen; es gibt Gebete zu Göttern um Heilung oder für bessere Geschäfte. Aber das ist oberflächlich. Nicht das, worum es geht.«[4]

Der Begriff »spirituell« bezieht sich also in unserem Rahmen auf den Kern oder die Essenz des geistigen Strebens. Religion ist nicht gleich Spiritualität. Religion ist die Verpackung und Organisation des jeweiligen schamanischen oder spirituellen Inhalts oder, wie in bestimmten Richtungen des tibetischen Buddhismus, beider Inhalte, die zusammen als Ganzheit eine hierarchische Ordnung im Mandala finden – wenngleich das vom westlichen Standpunkt aus als widersprüchlich empfunden wird. Für einen tibetischen Arzt kann es ganz selbstverständlich sein, bei einem Patienten ein exorzistisches Ritual durchzuführen, wenn der Patient in einer inneren Realität lebt, die von bösen Geistern bevölkert ist. Lebt der Patient in einer anderen inneren Realität, wie etwa der westlichen materialistischen, wird der Arzt nicht zu solch einem Ritual greifen, da er davon ausgeht, dass es nicht zur Realität des Patienten passt. Um Heilung bemüht, passt er sich dem Patienten an.

Die verschiedenen Realitäten sind relativ. Der äußere, materialistische Standpunkt ist an Form orientiert und berührt damit die Realität nur teilweise. Der innere Standpunkt ist an Energie orientiert und hat damit mehr Verbindung mit der Ganzheit der Realität.

Religion beinhaltet neben den sozialen Regeln, den Tabus bzw. Dogmen und der Ritualistik vor allem den religiösen Mythos einer Kultur – wobei der kategoriale Irrtum, Mythos und geschichtliche Realität nicht auseinanderzuhalten, sehr schwerwiegend ist. Religion ist kulturspezifisch und institutionalisiert, Spiritualität hingegen universell und offen. In diesem Zusammenhang lässt sich die Aussage des Dalai Lama verstehen: »Meine Zukunftsvision ist Spiritualität ohne Religion.«

Der »spirituelle Weg« führt zur Transformation des dualistischen Bewusstseins, zur Bewusstheit der Nichtdualität, zur Wahrnehmung der Einheit. Nur dies bezeichnen wir hier als Spiritualität. Der spirituelle Weg basiert auf bestimmten Prinzipien und beinhaltet geeignete Methoden. Die Erfahrung des Spirituellen, der Essenz des Geistes, liegt jenseits des Beschreibbaren. Deshalb werden zur Darstellung der spirituellen Erfahrung oft Paradoxa verwendet.

 

In den nächsten Kapiteln wird das gesamte Mandala des Seins beschrieben, von den ersten Schritten der Persönlichkeitsentwicklung bis zum spirituellen Ziel des buddistischen Tantra, auf dessen Prinzipien diese Theorie und Praxis beruhen. Der Begriff »Transzendenz« wird hier nicht verwendet, da dieser Begriff als Abwertung der natürlichen Welt missverstanden werden kann.[5]

Arbeit

Unter »Arbeit« versteht man häufig Anstrengung und Mühsal und assoziiert sie weniger mit Freude oder gar ekstatischer Erfahrung. Andererseits spricht man bei einem Bild oder einer Statue eines Künstlers oder bei der Komposition eines Musikers von einer »hervorragenden Arbeit«. Also schließt »Arbeit« durchaus das kreative Werk mit ein; Prozess und Ergebnis fließen hier zusammen.

Hier ist Arbeit in dieser umfassenden Weise zu verstehen. Disziplin und Anstrengung gehören zum spirituellen Weg der Entfaltung des Geistes, aber zugleich sind da auch die Frische der Neugier und Entdeckerfreude und die Beglückung durch Einsichten, Erkenntnisse und einen erweiterten Wahrnehmungsspielraum.

Die Sehnsucht nach spiritueller Entfaltung gehört zur natürlichen Ausstattung des menschlichen Geistes. Sie zeigt sich in der Sehnsucht nach dem Glück der Nähe, nach Liebe, nach allem, was die Isolation des Individuums durchbricht. Denn das ist das Ziel: Überschreiten der Grenzen zwischen »Ich« und »Andere«, Überschreiten der Grenzen des Dualismus.

Aristoteles sagte: »Wahres Glück ist es, seinen Geist zu entfalten.«

Das Mandala der subtilen Energien

Um den Prozess der Entfaltung des Geistes zu veranschaulichen, können wir das Mandala-Symbol zu Hilfe nehmen. Das Sanskritwort Mandala bedeutet Kreis im Sinne einer Urform, die man in den Bausteinen der Materie ebenso findet wie in der Psyche des Menschen. Es ist ein Symbol der Ganzheitlichkeit des Kosmos in allen seinen Details und Zusammenhängen. C. G. Jung, der sich ausführlich mit dem Mandala-Symbol befasst hat, stellte fest, dass viele seiner Patienten während des Gesundungsprozesses spontan Mandala-Formen malten, ohne jemals zuvor traditionelle Mandalas gesehen zu haben.

Die Meditative Energiearbeit stützt sich auf die Mandala-Struktur, die sichtbar macht, wie in einem schrittweisen Vorgehen Hindernisse überwunden werden können. In der Tradition spricht man von »äußeren, inneren und geheimen Hindernissen«. Die Überwindung der »äußeren« Hindernisse hat mit dem Umgang mit der physischen Welt zu tun (Verhalten, Geisteshaltung), die der »inneren« Hindernisse mit der Balance der subtilen Energien (fühlendes Wahrnehmen und Meditative Energiearbeit) und die »geheimen« mit der geistigen Transformation (die höheren Ebenen der tantrischen Meditation).

Dieses Außen, Innen und Zuinnerst bezieht sich ja tatsächlich auf jedes Phänomen – auf jedes Ding und jede Erfahrung. Dass der innerste Aspekt des Mandala als »geheim« bezeichnet wird, liegt daran, dass er nicht offensichtlich ist, sondern erst durch einen methodischen Prozess tiefer Erkenntnis für die Erfahrung zugänglich gemacht werden muss.

Das symbolische Mandala, das wir von traditionellen Bildern kennen, ist ein Ausdruck des wirklichen Mandala. Dieses hat drei Ebenen: Das individuelle Mandala, das universelle Mandala und das Mandala jenseits der relativen Existenz. Im Rahmen der Meditativen Energiearbeit befassen wir uns vor allem mit dem individuellen Mandala.

Wir können uns die Ganzheit unseres Seins als einen Kreis mit drei Ebenen vorstellen: Die äußere Ebene entspricht dem Körper mit seinen Sinnen, ohne die keinerlei Wahrnehmung möglich wäre. Die innere Ebene umfasst die mentalen Funktionen (Denken und Fühlen) und die dritte Ebene ist die Ebene der subtilen Energien.

Diese dritte Ebene ist ebenfalls als Mandala zu betrachten, als das Mandala der subtilen Energien: Der äußere Bereich ist die somatische Energieebene; diese Energie ist verhältnismäßig grob. Die mittlere Ebene entspricht dem, was wir psychisch nennen; diese Energie ist subtiler. Hier beziehen wir uns vor allem auf den emotionalen Bereich mit seinen verschiedenen Energiemustern. Beide Ebenen stehen in enger Verbindung. Die dritte Ebene ist die subtilste, innerste Sektion im Kreis; wir nennen sie hier die spirituelle Ebene, die man als Ausstrahlung des Kreismittelpunkts verstehen kann.

Während die beiden anderen Ebenen subtiler Energie, was die Erfahrung betrifft, zwar jenseits der Dominanz des Rationalen liegen, aber dennoch mit dem Dualismus der Existenz verbunden sind, ist diese innerste, subtilste Energie auf »Einheit« ausgerichtet und kann sie spiegeln. Einheit wird hier nicht als unvereinbarer Gegensatz zur Dualität verstanden, sondern als deren Kern oder »eigentliche Natur«. In diesem innersten Bereich, den man durch gezielte Methodik offenbar machen kann, lösen sich die dualistischen Fixierungen auf und geben Raum für eine ganz andere, den Dualismus sprengende Erfahrung.

Diesen Kreis als individuelles Ordnungsschema können wir wiederum als Teil eines größeren, kosmischen Kreises sehen, und zugleich ist jedes Atom in uns ein Abbild dieses Prinzips von außen, innen und zuinnerst. So lässt sich die Mandala-Idee ebenso mikrokosmisch wie makrokosmisch verstehen und verbindet das Kosmische und das Individuelle untrennbar miteinander.

Dies ist in wenigen Umrissen die »Landkarte«, auf die wir uns in der Theorie und Praxis der Meditativen Energiearbeit beziehen. Mit zunehmender praktischer Erfahrung wird das Mandala immer weniger als Landkarte erscheinen, sondern als das erlebt, was es zum Ausdruck bringt: die Erfahrung der Ganzheit.

Die kleinen Ziele und das große Ziel

Unser Energie-Mandala lässt uns die Beziehung zwischen kleinen Zielen (im Rahmen der »Persönlichkeitsentwicklung«) und dem großen Ziel (die »spirituelle Entwicklung«) erkennen. Die Persönlichkeitsentwicklung ist eine notwendige Vorbereitung für die spirituelle Entwicklung, aber sie ist nicht mit ihr identisch. In einem eindeutig spirituell orientierten religiösen System wird diese Unterscheidung nicht getroffen, doch in einer säkularisierten Welt wie der unseren ist es üblich, die Persönlichkeitsentwicklung als Endziel zu betrachten; das hieße, in unserem Mandala auf dem Weg von außen zum Mittelpunkt auf halber Strecke haltzumachen.

Ein traditioneller tibetischer Spruch sagt: »Der Weg zum heiligen Berg Kailash beginnt mit dem Schritt vor die Haustür.« Auf diesem Weg gibt es Stationen, Tagesetappen, und jede davon stellt für sich ein kleines Ziel dar. Doch alle diese kleinen Ziele liegen auf einer Linie zum großen Ziel, sind darauf bezogen. Die kleinen Ziele – Verbesserung der körperlichen und geistigen Spannkraft, Heilung von körperlichen und geistigen Störungen usw. – sollten in Beziehung zum großen Ziel im Mittelpunkt des Mandala stehen: zur geistigen Verwirklichung oder Transformation (Verwandlung der verwirrten, oberflächlichen Energien des Ego in die ursprünglichen Energien der Weisheit und des vollkommenen Mitgefühls). Dann ist das Lebens-Mandala erfüllt. Ohne die Beziehung zu diesem großen Ziel besteht die Gefahr, dass kleine Ziele in falschen Richtungen angesteuert werden, die eher wegführen vom großen Ziel der Entfaltung, die den potenziellen Menschen zum wirklichen Menschen werden lässt.

»Zielsetzung« ist hier vor allem als »Motivation« zu verstehen. In der buddhistischen Tradition wird die Motivation als zentraler Aspekt des inneren Entwicklungsprozesses sehr ausdrücklich betont. In der Persönlichkeitsentwicklung geht es darum, dass man sich wohler fühlen und mit dem Leben besser zurechtkommen möchte. In der spirituellen Entwicklung geht es darüber hinaus darum, sich selbst, den eigenen Geist – das, was »Geist« überhaupt ist –, wirklich zu verstehen; und mehr noch, über die Kluft zwischen »Ich« und »Andere« hinauszuwachsen, um die inhärente Klarheit und Liebesfähigkeit des Geistes zu entfalten. In unserem ganzheitlichen Mandala wird die »kleine« Motivation, mehr innere Kraft zu gewinnen, sich besser zu fühlen und besser mit dem Leben zurechtzukommen, in den Dienst der spirituellen Motivation gestellt.

Das Mandala ist der bildhafte Ausdruck der spirituellen Motivation. Ohne diese Motivation kann es keine Ganzheit in unserer Entwicklung geben. Tibetische spirituelle Lehrer drücken die Notwendigkeit einer Kultivierung der Motivation manchmal sehr einfach aus: »Das Allerwichtigste ist ein gutes Herz.« Wenn wir von der »Überwindung der Trennung von Ich und Andere« sprechen, klingt das sehr trocken. Es ist wie Knochen ohne Fleisch darüber. Der Prozess selbst aber ist höchst lebendig und persönlich.

Das Verändern von Verhaltensmustern ist ohne Zweifel von großem Wert und eine wichtige Voraussetzung für den spirituellen Weg. Gewohnheitsmuster der Gleichgültigkeit und Unfreundlichkeit anderen gegenüber sollten durch bessere Gewohnheitsmuster, durch eine wachere und freundlichere Haltung ersetzt werden. Bleibt man jedoch auf der Ebene der Verhaltensänderung stecken, ist das Ergebnis nicht stabil und die Entwicklung kann leicht zum Stillstand kommen. Zudem besteht die Gefahr, dass das gute Verhalten nur in bestimmtem Rahmen zum Einsatz kommt und unbearbeitete negative psychische Anteile in anderen Lebensbereichen ausagiert werden.

Die echte Überwindung der Trennung basiert auf tiefer Erkenntnis, dem Resultat der Verbindung mit der Energie-Ebene. Man kann sie nicht willentlich »machen«. Sie wächst heran, wenn der geistige Boden durch meditative Praxis bereitet und der Same der Inspiration durch die Lehren gelegt wird.

Die motivierende Vision wird »heilige Sichtweise« genannt. Wenn wir dem nicht beschreibbaren Ziel ein greifbares Gewand geben wollen, können wir sagen, dass wir lernen wollen, die Welt als »heilig« zu sehen, das heißt in ihrer grundlegenden, unzerstörbaren Ganzheit und Vollkommenheit. Das bedeutet, alles, was ist und was geschieht, einschließlich uns selbst, in einer stets neuen, frischen Weise wahrzunehmen, ohne jede Voreingenommenheit, ohne die Brille der Gewohnheitsmuster unseres Denkens.

Die drei Entwicklungsphasen

Im Prozess der Verbindung von Körper und Geist und der Annäherung an die subtilste innere Energie kann man drei Phasen unterscheiden, die allerdings nicht grob linear verstanden werden sollten, da sie einander überlappen, ineinander greifen und sich eher wie in einer Spirale kreisend entwickeln. Der Begriff »Phase« weist auf die jeweilige Priorität in der Erfahrung hin.

Die erste Phase ist die Entwicklung der fühlenden Erfahrung auf der Körperebene. Das bedeutet, die Realität mit dem Körper, mit den Sinnen des Körpers wahrzunehmen. Diese direkte Wahrnehmung ist nicht rational, sondern intuitiv. Die grundlegende, normale Intuition ist eine natürliche körperliche Fähigkeit. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, eine gesunde Beziehung zum Körper herzustellen. Dies geschieht durch die Schulung der Entspannung und des »Fühlenden Wahrnehmens« und führt auf natürliche Weise in die zweite Entwicklungsphase, in der die Verbindung mit den »inneren Sinnen«, der Energie der Sinne, wächst. Das geschieht durch die Imaginationskraft. Die Methode der Imagination führt dazu, dass man mit den inneren Sinnen, den »Energie-Sinnen«, wahrnimmt. Die dritte Entwicklungsphase entspricht dem Bereich der spezifischen tantrischen Praxis, deren höchstes Ziel die völlige Transformierung des Physischen zu reiner Energie ist, zur wahren Natur unserer Existenz.

Wenn wir diese drei Entwicklungsphasen in einem Mandala zusammenfassen, wird deutlich, dass sie gemeinsam eine Ganzheit ergeben, sowohl linear, aufeinander aufbauend, als auch in ihrer Gleichzeitigkeit. Die tantrische Anschauungsweise basiert auf dieser Gleichzeitigkeit. Sie bezieht sich gleichzeitig auf den fruchtbaren Boden mit dem Samen darin, den Prozess des Wachstums und die Ernte.

Der fruchtbare Boden ist unsere körperliche Existenz mit dem Samen, der Sehnsucht nach Befreiung; die Ernte ist die im Körper verwirklichte Befreiung; und das Wachstum, der Prozess, verbindet den fruchtbaren Boden und die Frucht zur Ganzheit.

Es macht einen großen Unterschied, ob wir die Haltung einnehmen, dass das Ziel weit weg und schrecklich schwer zu erreichen ist, weil wir dazu alle unsere Unvollkommenheiten überwinden müssen, oder ob wir uns mit Samen und Ernte zugleich identifizieren und alle Unvollkommenheiten als das kostbare Material des Verwandlungsprozesses betrachten, der zur Entfaltung der Frucht führt.

Das Mandala der Meditativen Energiearbeit beinhaltet also sowohl die Persönlichkeitsentwicklung als auch die spirituelle Entwicklung. Die Persönlichkeitsentwicklung kann für sich allein stehen, aber im größeren Kontext ist sie ein Teil der spirituellen Entwicklung. Das bedeutet, die Grundlage an relativer geistiger Gesundheit freizulegen, die eine notwendige Voraussetzung für die spirituelle Entwicklung ist. Unter relativer geistiger Gesundheit verstehen wir hier die Fähigkeit, bis zu einem gewissen Grad Beziehung zu unserer Offenheit, Aufmerksamkeit und Herzenswärme aufzunehmen. Wo keinerlei Bereitschaft ist, sich zu öffnen, wo keine Neugier da ist und keine Fähigkeit zu Freundlichkeit, die Raum geben kann, ist die spirituelle Entwicklung nicht möglich.

 

Nach buddhistischer Anschauung und bestätigt durch die im Buddhismus entwickelte Phänomenologie des Geistes ist geistige Gesundheit primär und jede Störung sekundär. Die grundlegende geistige Gesundheit ist die Basis unseres bewussten und unbewussten Geistes. Das traditionelle Bild hierfür ist die Sonne, die immer scheint, auch wenn Wolken sie verdunkeln oder wenn es Nacht ist. Damit kann die Störung als relativ und vorübergehend erkannt werden, wodurch die Identifikation mit der Störung verringert wird.

Die Methoden

In Anlehnung an die tantrische Tradition kann man das Bewusstsein in drei Arten aufteilen: das »Denkbewusstsein«, das »Fühlbewusstsein« und das »Basisbewusstsein«.

Das Basisbewusstsein ist eine grundlegende Bewusstseinsenergie, die alles Existierende durchdringt. Mit dieser Energieebene haben wir normalerweise keinen bewussten Kontakt.

Denkbewusstsein und Fühlbewusstsein arbeiten zusammen, um Erfahrungen zu ermöglichen. Doch ist diese Zusammenarbeit zunächst nicht ausgewogen. Jede Kultur hat ihren speziellen kollektiven Entwicklungsstand und ihre eigenen Vorstellungen von der Wertigkeit des einen oder anderen, das heißt ihr spezielles Ungleichgewicht.

Sind Denkbewusstsein und Fühlbewusstsein im Gleichgewicht, ist unser Bewusstsein in Harmonie, und das bedeutet, dass der Geist sich in jedem Augenblick von neuem ausrichten kann. Er ist nicht rigide, nicht durch gedankliche Konzepte festgelegt, sondern stellt sich frei und beweglich auf jegliches Geschehen ein. Intellekt und Intuition unterstützen einander gegenseitig.

Der menschliche Geist tendiert in seiner Höherentwicklung zu einem Übergewicht des Denkbewusstseins, und das in extremem Maß in unserer Kultur. Deshalb sind Entspannung und das dadurch ermöglichte Fühlende Wahrnehmen die Grundlage für jegliche Meditative Energiearbeit. Stellt sich ein Zustand tiefer körperlich/geistiger Entspannung ein, schaltet unser Bewusstsein ganz natürlich vom rationalen Modus zum fühlenden Modus um.

Man kann es sich so vorstellen, dass das Fühlende Wahrnehmen in tiefe Schichten unseres Energie-Mandala dringt. Dann ist es schließlich nicht mehr ein Fühlen, sondern ein Gewahrsein der subtilen Energien, das noch »wissender« ist als das Fühlen.

Der Zugang zur Energieebene ist nur über das Fühlen zu finden und der Zugang zum Fühlen durch die Entspannung, die Loslösung von der Dominanz des Rationalen. Erst dann ist eine Identifikation mit der subtilen Energieebene möglich. Das erklärt, warum manche Meditierende irgendwann »steckenbleiben« und die frustrierende Erfahrung machen, dass die Meditation leer und langweilig wird und über Jahre keine Weiterentwicklung stattfindet. Die Tür ins Fühlende Wahrnehmen wurde nicht geöffnet und damit konnte die subtile Energie nie wahrgenommen werden.

Ein weiteres Mittel ist die Imagination. Die gewöhnliche Imagination (»bildhaftes Denken«) und die subtilere Imagination des »Energiekörpers« bzw. »Traumkörpers« sind ebenfalls Hilfsmittel, um der Energieebene nahezukommen. Die Imagination entfaltet sich umso intensiver, je besser die Praxis durch Entspannung und Fühlendes Wahrnehmen vorbereitet wurde.

Die zentrale Methode ist die Energielicht-Meditation, in der die subtilste Energie, die Energie der spirituellen Essenz, als Licht und Farbe imaginiert wird. Unser Bewusstsein kann diese subtilste Energie als Licht wahrnehmen, und als solches manifestiert sie sich in tiefer spiritueller Erfahrung spontan im Bewusstsein. Aus diesen spontanen Erfahrungen wurde die tantrische Methodik entwickelt, die subtilste Energie in der Form der Lichtgestalten verschiedener »Gottheiten« (anthropomorphe Personifizierungen der essenziellen Energie des Geistes) zu visualisieren und sich auf diese Weise mit der subtilsten spirituellen Energie – oder »Weisheitsenergie«, wir können sie auch »göttlich« nennen – zu verbinden und zu identifizieren.

Tarab Tulku kreierte eine kulturüberschreitende Form dieser Meditation ohne die traditionelle tibetische Ikonographie (die ursprünglich aus Indien stammt), indem er die Figuren wegließ und nur Licht und Farbe als »Bild« der Imagination verwendete.

Wir benutzen hier durchgehend den Begriff »Imagination«, da sich »Visualisierung« speziell auf die präzise, differenziert ausgestaltete Vorstellung ikonographischer Vorlagen bezieht.

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Fühlendes Wahrnehmen

Tu nichts mit dem Körper, sondern entspanne dich.

Schließe den Mund und verharre schweigend.

Mache deinen Geist leer und denke über nichts nach.

Gleich einem hohlen Bambus

Lasse deinen Körper friedlich ruhen,

Nicht gebend noch nehmend.

Tilopa[6]

Der Körper

Wir Menschen der christlich-abendländischen Industrienationen haben häufig eine gestörte Beziehung zu unserem Körper, da sie eher Vorstellungen beinhaltet als eine gefühlte Verbindung. Wir sagen: Ich habe