Das Streichelinstitut - Clemens Berger - E-Book

Das Streichelinstitut E-Book

Clemens Berger

4,0

Beschreibung

Ein urkomischer, kluger Roman über einen liebenswerten Taugenichts, der plötzlich Erfolg hat. Sebastian war ein sensationeller Streichler, beruhigend und aufregend zugleich - fand Anna jedenfalls, seine Freundin. Trotzdem war es eigentlich nur eine Urlaubsalberei, als sie ihm vorschlug, diese Fähigkeiten zu professionalisieren. Natürlich (Regel 1) niemals unterhalb der Gürtellinie! Aber in dieser kalten Welt des Gestresstseins musste es doch eine kommerziell verwertbare Sehnsucht nach Zärtlichkeiten auch oberhalb des Nabels geben. Und irgendetwas sollte sich Sebastian schon einfallen lassen, der nach dem Ende seines Philosophiestudiums schon viel zu lange einfach nur herumhing, während Anna als Lektorin in Foucaultseminaren an der Wiener Uni wenigstens ein bisschen was verdiente. Als Sebastian geschlagene anderthalb Jahre später wirklich zum Gewerbeamt geht, um in der Mondscheingasse ein Streichelinstitut zu eröffnen, stößt er schon bei der Anmeldung auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten: "Massagesalon" schlägt ihm die Beamtin als Rubrizierung vor, weil ihre Liste unter "Streicheln" nichts hergibt. Schließlich einigen sie sich auf "Lebensberatung". Dass wirklich Leute kommen und auch noch eine Menge Geld bezahlen, überrascht Sebastian fast selbst. Endlich ist er ein "nützliches Mitglied des menschlichen Marktes", denkt er sich, wenngleich er sich eingestehen muss, dass Zielgruppe und Wunschgruppe nicht identisch sind und sich überhaupt plötzlich ganz ungeahnte Probleme auftun.

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Clemens Berger

Das Streichelinstitut

Roman

WALLSTEIN VERLAG

... denn die Menschen sind immer noch besser als ihre Kultur ...

Theodor W. Adorno

1 Die Blaue Lagune

Meine Zielgruppe war die desillusionierte Mittelschicht, das traurige, kulturell deklassierte Bürgertum, das ich Lumpenbourgeoisie nannte. Ich hätte keinen besseren Ort für mein Institut finden können als die Mondscheingasse in Wien-Neubau – nicht nur ihres Namens wegen.

Neubau, das war der Spielplatz der alternativen Bürgerkinder, welche die Grünen zur stärksten Partei im Bezirk gemacht hatten, eine Oase der Toleranz und Aufgeklärtheit. Es war haarsträubend, an solch einem Ort beschäftigt zu sein. Ich gab es bald auf, mit meinem Auto einen Parkplatz finden zu wollen, nach zwei, drei Wochen stundenlangen Fahrens im Kreis kapitulierte ich vor der radfahrerfreundlichen Politik und zwängte mich in überfüllte U-Bahnen, Tramways und Busse, wenn ich mir nicht zähneknirschend ein Gratis-Eingangrad mit ungepolstertem Sattel auslieh. Abgesehen von den ohnehin spärlichen Parkplätzen gab es so viele Behindertenparkplätze, dass ich kaum glauben mochte, es gebe so viele Behinderte in einem einzigen Bezirk. Ich fragte mich und Anna, die solche Scherze nicht sonderlich lustig fand, ob ich nicht auch einen Behindertenparkplatz beantragen sollte – wegen meiner Behinderung, mich nicht ins soziale Gefüge einpassen zu können. Mich tröstete die Vorstellung, dass es die guten Menschen in Magistrat und Bezirksrat nicht übers Herz brächten, den Antrag eines Menschen mit speziellen Bedürfnissen abzulehnen.

Die Mondscheingasse zweigt von der Neubaugasse ab, und diese Straße der Spezialisten, die ich Straße der Scharlatane nannte, konnte man nicht ohne Nasezuhalten entlanggehen. Überall roch es nach Räucherstäbchen, vor den Geschäften hingen bunte indische Kleider, wenn der Wind auch nur leicht wehte, bimmelten Glockenspiele; das Wasser, das in Auslagen über heilende Steine plätscherte, meinte man noch hundert Meter weiter zu hören. Hier gab es Sinnangebote und Lebensgefühle, Rebellion, Anderssein und Ganzheitsstimmung in Hülle und Fülle. Die Hüllen konnte man ebenerdig erstehen, für die Kopffüllungen musste man Stiegenhäuser und Aufzüge bemühen. Allein die Schilder neben den Hauseingängen! Von Yoga und seinen siebenhundertdreiundzwanzig Unterarten über Trommelkurse, Urschreitherapie, Kineseologie, Karten- und Tarotlegen, von Wahrsagern über Wünschelrutengeher, vom Rebirthing zum Schamanen war alles zu finden, was Halt unter unhaltbaren Zuständen geben sollte. Wie praktisch war dagegen meine bürgerliche Josefstadt, die ebenfalls kurz vorm Ergrünen war! Was konnte nützlicher sein als ein Institut zur Bekämpfung der Rechenschwäche auf der Lerchenfelder Straße?

In den Tagen, als ich mich mit meiner Institutsidee herumschlug, ging ich anders durch die Neubaugasse, die Gasse mit dem großen roten Herzen, das auf ein über ihren Eingang gespanntes Banner gedruckt war, beschwingter, belustigter, ja, geschäftstüchtig. Während Anna Seminare über Marx, Foucault oder Agamben hielt und von Studenten bewundert wurde, die ihr aus Tugendhaftigkeit nicht auf den Hintern zu sehen wagten, freute ich mich über die junge Frau, die mit einem seligen Lächeln und durchaus stäbchengeräuchert aus einem Geschäft trat. Ich freute mich über die, die mit großen Augen vor einer Auslage stand und im Kopf den Inhalt ihrer gestrickten Geldbörse überschlug. Ich freute mich über die, die die östliche Weisheit in sich aufsaugen wollten, über die, deren verächtlichstes Wort Schulmedizin lautete, über die, die Unbekannte zuerst nach Sternzeichen und Aszendenten befragten. Ich fand seltsamen Gefallen an denen, die frohlockten, die Mutter dessen, in den sie sich verliebt hätten, sei auch eine Indianerin. Zwar wusste ich nicht, was eine Indianerin in diesen Systemen bedeutete, doch ich beschloss, da zuzulernen, Augen und Ohren offenzuhalten, mich dem Übersinnlichen und Feinstofflichen aufzuschließen und nur noch in Lokale zu gehen, in denen man auf dem Boden sitzen konnte, um zu demonstrieren, was man von der steifen westlichen Lebensart hielt. Einmal blieb ich vor der Auslage der größten Buchhandlung stehen, in der über bunten Büchern ein Spiegel in Form einer riesigen goldenen Sonne hing. Ich trat so nah an die Auslage, dass mein Gesicht die Mitte der Sonne darstellte. Mein Antlitz strahlte, meine Kraftquelle schien Feuerzungen auszusenden, mein inneres Licht war entzündet. Ich freute mich über mein Zielpublikum. Allerdings würde ich ihm keine spirituellen Zugeständnisse machen. In Neubau musste man beinahe überlegen, ob man sonntags nicht doch einen Gottesdienst besuchen sollte.

Aber auch die Kultur suchte ihr Zuhause in dem einstmals verlotterten Bezirk. Alle paar Wochen eröffnete eine neue Galerie mit sehr ausgeweitetem Kunstbegriff, Maler, Grafikerinnen, Musiker, Architektinnen, Konzeptkünstler, Tänzerinnen, Schauspieler und Dichte rinnen – alle zog es in den von der Mariahilfer und Lerchenfelder Straße umgrenzten Wienplanausschnitt. Sie tranken viel, sie kifften gern, sie koksten brav, sie versuchten, so promisk wie nur möglich zu leben, um ihren Eltern oder Lehrern oder denen, die etwas aus ihren Leben machen wollten, eine Nase zu drehen. Ich fragte mich oft, wie ihre Welten aussahen, wenn sie nach Hause kamen, allein oder mit jemandem, den sie am nächsten Tag schon nicht mehr sehen konnten. Ich fragte mich, wohin all die lokale Prominenz strömte, wenn sie morgens mit dröhnendem Kopf erwachte und ihrem Traum von internationalem Ruhm noch immer so fern war. Wer würde da nicht gern gestreichelt werden?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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