Die Wettesser - Clemens Berger - E-Book

Die Wettesser E-Book

Clemens Berger

4,1

Beschreibung

ZUERST KOMMT DAS FRESSEN, DANN DIE MORAL. Der 4. Juli 2001 ist der Tag, der die Welt des Wettessens für immer umstürzt: Takeru Kobayashi, ein schmächtiger Japaner, stopft in 12 Minuten mehr Hot Dogs in sich hinein als je ein Mensch zuvor. Und demütigt damit seine amerikanischen Konkurrenten: Ed Krachie, ein weißer Automobilieningenieur, und Charles Hardy, ein schwarzer Besserungsoffizier, versinken in Selbstmitleid und Hass auf ihren japanischen Gegner. Als wäre das nicht genug, taucht dann auch noch Sandra mit ihrer veganen Clique beim Wettessen auf - und es kommt zu einem unausweichlichen Zusammenprall von Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten ... Mit großer Raffinesse und feinsinnigem Humor beleuchtet Clemens Berger die Normalität des Wahnsinns. Und liefert mit "Die Wettesser" einen Roman, der an den Puls der Zeit fühlt, und sich äußerst unterhaltsam liest. "Eine Parabel auf unsere Gesellschaft, die von Clemens Berger mit einer großen Portion Augenzwinkern und sprachlich ausgezeichnet erzählt wird!"

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Clemens Berger

Die Wettesser

Roman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
I Das Neue Jahrtausend
II Jetzt aber: Ein Neues Jahrtausend
III Der große Sprung des Prinzen oder Das Ende der Geschichte
Clemens Berger
Zum Autor
Impressum
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Clemens Berger

Die Wettesser

Es ist niemals ein Dokument der Kultur,  ohne zugleich ein solches derBarbarei zu sein.

Walter Benjamin

Competitive eating is among the

most diverse, dynamic and demanding

sports in history. It dates back to the

earliest days of mankind and stands alongside

original athletic pursuits such as

running, jumping and throwing. If you have

30 hungry Neanderthals in a cave

and rabbit walks in,

that is a competitive eating situation. Of course,

in the last two centuries

competitive eating has been practiced with

somewhat more formality.

International Federation of Competitive Eating

I Das Neue ­Jahr­tausend

1

Der Vierte Juli Zweitausend war ein schöner Tag in New York.

Vor nicht allzulanger Zeit war sich Kazutoyo Arai nicht sicher gewesen, ob er an diesem Tag auf dem Gehsteig vor Nathans berühmtem Fastfoodlokal stehen würde, ob an diesem Tag überhaupt irgendetwas noch stehen würde, wie es vorher angeblich unverrückbar gestanden war. Mit einer ihm bislang unbekannten Mischung aus Angst und Erregung hatte er die Minuten, dann die Sekunden gezählt, bis für einen klitzekleinen Augenblick, als die Uhr in seinem Appartement über der Stadt 23:59:59 zeigte, alles Unmögliche möglich schien. Die Uhr sprang auf 0:00:00, das Datum zeigte den 1.1.2000, alle Lichter blieben an, Osaka war nicht explodiert, kein elektronisches Gerät implodiert, der Bildschirmschoner seines Computers stumm unbewegter Zeuge. Das erwartete Unerwartete hatte sich nicht ereignet.

Kazutoyo Arai blickte ein letztes Mal auf die Uhr. Noch einmal hörte er die aufgeregten Stimmen der Zuseher, die Sonne schien ihm auf den Kopf, er hoffte auf ganz bestimmte Blicke der Zuseherinnen, drehte sich kurz nach seinen Konkurrenten um und verschwand in sich. Er wurde ruhig, ringsum war nichts, nur er, in diesem Moment vor der großen Aufgabe, die er unzählige Male vor sich hatte ablaufen lassen. Von fern hörte er die Anweisung, auf die Plätze zu gehen. Er schlenderte nach vorn, den Blick auf den schmalen Pfad durch die Menschenmenge gerichtet, die Arme in die Hüften gestemmt, manchmal spürte er die Berührung einer fremden Hand, ein Zupfen, ein Betasten, ehe er sich vor den langen Tisch auf dem Gehsteig stellte. Um Punkt zwölf Uhr mittags krachte der Schuß.

Arai packte den ersten Hot Dog, biß ab, schluckte, er biß wieder ab, schluckte, er biß und schluckte, den zweiten, den dritten, den vierten, bis er nichts mehr wahrnahm, nur noch sich, in der Zeit, da in ­Coney Island, die Kameras auf sich gerichtet, unzählige neugierige Augen, Pfiffe, Schreie, Hupen, die ihm allesamt gleichgültig sein mußten. Er blickte weder nach links noch nach rechts. Wie viele Hot Dogs Ed Krachie vor sich hatte, interessierte ihn nicht, ebensowenig wie viele vor der kleinen Sonya Thomas lagen. Er verschlang Hot Dog um Hot Dog und hatte längst aufs Mitzählen vergessen; nur die Gewißheit, daß es gut lief, mechanisch, exakt, erwartungsgemäß. Er war ganz Atmung, ungemein leicht, seine Bewegungen gleichförmig und koordiniert wie die Wasserschlucke zwischendurch. Als der Gong ertönte, schloß Arai den Mund, legte den angebissenen Hot Dog mit zitternden Händen vor sich auf den Tisch, schluckte ein letztes Mal und hob seinen Blick.

Die Sonne blendete ihn, er hielt sich die flache Hand über die Augen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Offene Münder, begeistertes Klatschen, ein Rummel sondergleichen. »Nudelbub«, hörte er, »Stäbchenfresser«. Im Hintergrund wurden verschämt und triumphierend kleine japanische Fahnen gewedelt; schlaff und trotzdem die amerikanischen in den vorderen Reihen. Arai riß die Arme in die Höhe und sah den fetten Ed Krachie mit hängendem Kopf in der Menschenmenge verschwinden. Reporter stürmten Arai entgegen, es blitzte und blitzte, von hinten hüllte man ihn in eine weiße Fahne, der große rote Punkt auf dem Rücken. Er spürte seinen Magen nicht; jetzt erst bemerkte Arai, daß er seinen Magen nicht spürte.

Er hüpfte im Kreis, er brüllte seine Freude aus sich, er ballte die Faust in die Kameras. Da erst drang zu ihm, er habe das Unglaubliche vollbracht, unglaublich, hörte er in vielerlei Variationen, Shea kam ihm mit dem Yellow Mustard Belt entgegen, Wahnsinn, hörte er, das hat die Welt noch nicht gesehen – fünfundzwanzig Hot Dogs und ein Achtel in zwölf Minuten vor Nathans legendärem Lokal.

Kazutoyo Arai war der Beste aller Zeiten.

2

Dieser verdammte Nudelfresser, dieses gottverdammte Schlitzaug. Dieser Luftikus, dieser Roboter, dieser Computer.

Es war immer und immer wieder dasselbe Bild, das Ed Krachie vor sich sah. Er hatte stark begonnen, vornübergebeugt mit Riesenbissen die ersten Hot Dogs verschlungen, es lief besser als erhofft, er hatte anständig trainiert, aber dann der vernichtende Blick nach rechts. Der enorm dezimierte Stapel umhüllter Frankfurter vor dem Japaner war erschreckend. Beschämend und vernichtend. Seit diesem Tag nannten ihn die Zeitungen den »Hasen«. Das war verniedlichend. Arai war kein Hase, auch wenn er noch so flink nagte. Er war eine Maschine. Ed hatte wieder und wieder die Videoaufzeichnung studiert – ein Monster in Menschengestalt. Dieser verdammte Sushisamurai.

»Reg dich nicht auf.«

Mary faßte Ed am Handgelenk. Sie saßen in seinem Hotelzimmer, hoch über der fremden Stadt, in die Ed sich geflüchtet hatte, und sahen einander lange an. Am Vortag, spätnachts, hatte Ed angerufen. Sie solle kommen, es gehe ihm gar nicht gut. Er trinke und trinke, sein Leben ein Trümmerhaufen, auf dem kleine Japaner herumhüpften. Er hatte geweint, seine Stimme hatte schwach und verängstigt geklungen. Wenn er ihr irgendetwas bedeute, solle sie ins Auto steigen.

»Warum schimpfst du nur so?« Mary schüttelte den Kopf. »Du bist ja nicht Charles Hardy.«

Natürlich war Ed nicht Charles. Natürlich sprach er so nur mit sich; und vor ihr, damit sie wußte, wie es um ihn stand. Natürlich würde er in keinem Interview »Schlitzaug« sagen oder Arai für Pearl Harbor verantwortlich machen. Aber die Niederlage schmerzte, tat weh. Sie schmerzte vielleicht mehr, als es geschmerzt hatte, als Mary ihn damals von einem Tag auf den nächsten verlassen hatte. Nur war das seine Sache gewesen, und ihre. Diese Schmach hingegen hatten alle gesehen. Die gekommen waren, um den Großen Ed, »das Tier«, wie er genannt wurde, den Titel zurückerobern zu sehen. Die ihn triumphieren gesehen hatten, Fünfundneunzig, Sechsundneunzig, ehe er im Jahr darauf einem schmächtigen japanischen Büblein unterlegen war. Die seine Kampfansage gehört hatten. Die auf ihn gesetzt hatten. Die ihm aufmunternde Briefe und Mails geschickt hatten. Immerhin waren Millionen vor ihren Fernsehern gesessen, lasen Millionen die Zeitungen. Nur lasen sie vom »Hasen«. Von einem Fliegengewicht, das jede stärkere Böe kilometerweit verwehen würde.

»Ein Meter und siebzig Zentimeter.«

Ed lehnte sich zurück, sah aus dem Fenster, an Mary vorbei.

»Neunundvierzig Kilogramm.« Er ließ die Zunge schnalzen. »Kannst du mir das erklären?«

Natürlich konnte Mary das nicht erklären. Sie beschwichtigte ihn, sagte, daß sie ihn trotzdem liebe, trotzdem!, daß es anscheinend nicht unbedingt auf die Masse ankomme, Arai habe eine andere Technik. Ed lachte. Was blieb ihm schon anderes übrig. Dabei lachten alle über ihn, den einstigen Sieger, den schier Unbezwingbaren, den Helden der Neunziger, dessen Name einmal gleichbedeutend mit Wettessen war. Im Netz, in den Diskussionsforen, in den Kommentaren über diesen rabenschwarzen Unabhängigkeitstag hatte er alles Mögliche gelesen. Japaner hätten ein Gen mehr. Arai habe einen zweiten Magen eingepflanzt bekommen. Der Hase spreche mit seinem Magen. Er sei Anhänger einer Weltuntergangssekte. Der neue Weltmeister sei unter Drogen gestanden, von seinem Guru hypnotisiert worden.

»Das ist alles Schwachsinn.«

»Weißt du was, Ed? Jetzt gehen wir fein essen und nachher ins Kino. Du besiegst ihn nächstes Mal.«

Nächstes Mal. Ed erhob sich schnaufend aus seinem Sessel. Er war wieder über der Zweihundertkilo­marke. Vielleicht hatte ihn Mary gerade deswegen ver­lassen.

»Kannst du dich erinnern, wie wir meine Titelverteidigung feierten?«

»Laß das.«

»Ich war glücklich damals. Mit mir, mit dir.«

»Denk ans Nachher, an den Highwayrand.«

Ed schlüpfte in seine Schuhe, zog einen Pullover über und öffnete die Tür.

»Willst du mich demütigen?«

3

Mit Ed ging es bergab. Mary saß im Auto. Sie hätte keine Minute, geschweige denn Nacht länger bleiben wollen. Wie ein überdimensionales Baby, das alles mit sich machen läßt, hatte sie Ed ins Taxi gesetzt, in den Aufzug geschoben, ins Zimmer dirigiert, ausgezogen und zu Bett gebracht. Er hatte noch »Bleib« gestammelt, »bitte«. Dann war er eingeschlafen. Sie hatte ihm einen Zettel aufs Nachtkästchen gelegt.

»Laß dich nicht unterkriegen. Es kommt nur aufs Innere an. Das kenne ich am besten. In Liebe, M.«

Ed war romantisch. Er war aufmerksam. Er war süß. Er war ganz anders, als man es sich vorstellte. Das hatte Mary auch dem Journalisten erzählt, der neulich angerufen hatte. Weiß der Teufel, wie er an ihre Nummer gekommen war; woher er wußte, daß sie und Ed einmal ein Paar waren. Am liebsten hätte sie ihn unverzüglich aus der Leitung geworfen. Wie hinterhältig er über Ed gesprochen hatte. Von oben herab, belächelnd; jedes Wort schien unter Anführungszeichen gesagt, hinter einem Sogenannt zu lauern. Dabei war Ed dreimal so intelligent wie er. Als der Journalist nach dem Intimleben gefragt hatte, wie das um alles in der Welt funktioniert habe, mit Ed, dem Tier, hatte sie aufgelegt.

Vielleicht waren es tatsächlich die Niederlagen, die Ed nicht verwinden konnte. Jedesmal, wenn sie jemandem bei der Selbstzerstörung zusehen mußte, war Mary fassungslos. Wenn sie den lallenden, weggetretenen Ed, der sich dort, von wo er nichts erzählen konnte, wohler als überall sonst zu fühlen schien, zurückzuholen versuchte, gab es ihr einen Riß, und ihre mühsam zusammengestückelte Welt begann zu bröckeln.

Sie versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, an etwas anderes zu denken. Unweigerlich drängten sich ihr die schrecklichsten Bilder auf. Ein Lenkradverreißen, ein Aufprall, tot, alles vorbei, was sie dann ja nicht mehr spüren würde. Oder jemand anderen auf dem Gewissen haben, selbst querschnittgelähmt, was beides viel schlimmer wäre. Die Straße war ihr unheimlich, das Auto, in dem sie saß, die späte Uhrzeit, zu der nur Grauenhaftes passieren konnte. So war sie doch sonst nicht. Alles wegen Ed.

Ed verdiente gut als Ingenieur im Kraftfahrzeugbau. Man schätzte ihn und seine Fähigkeiten; er würde als einer der Letzten entlassen werden. Er müßte nicht mehr wettessen. Merkwürdig. Kein Mann war jemals so aufmerksam gewesen. Von keinem hatte sie Blumen bekommen, Grußbillets, kleine Überraschungen. Noch gestern hatte sie beim Abendessen, als sie auf der Toilette in ihrer Handtasche gekramt hatte, eine Bonbonniere ihrer Lieblingsmarke gefunden. Wenn Ed trank, war er nicht süß. Dann war er reines Selbstmitleid, die ganze Welt gegen ihn, den kleinen Großen. Solange, bis er weit weit weg verschwand, sein Gesicht zerknautscht, die Augen wässrig und starr, ein Häufchen Elend.

Das Mobiltelefon läutete; Mary erschrak.

»Baby. Ich, ich, ich brauch dich doch.«

»Ich bin ja für dich da. Schlaf jetzt, Ed.«

»Du mußt mich retten.« Er schluchzte.

»Ich kann dir dabei nur helfen.«

»Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

»Komm wieder zu mir. Ich meine, überhaupt.«

»Laß das, Ed. Schlaf jetzt.«

Sie hörte noch ein ersticktes »Bis bald«, dann leises langgezogenes Atmen und wußte, wenn sie nicht auflegte, würde Ed, auch wenn sie nichts sagte, am Telefon bleiben, bis er einschliefe. Sie beendete das Gespräch und schlug gegen das Lenkrad. Warum setzte er ihr so zu? Sie war ja nicht seine Mutter. Was war es nur, das Ed in diesen unbändigen Selbsthaß trieb?

Mary kannte ihn seit zwanzig Jahren. Sie hatte Ed in New York in der Pizzeria kennengelernt, in der sie damals bediente. Die hatte einem Inder gehört, der Italiener spielte; sein »Ciao bella«, sein »Grazie ­mille« hatte sie noch immer im Ohr. Sie war achtzehn, Ed zwanzig. Sie kam aus einer verwahrlosten Familie, mit der sie früh nichts mehr zu tun haben wollte, er aus einer besseren. Ein schmuckes Häuschen, ein Garten mit Gemüsebeet und Blumen, ein Swimmingpool, eine stets gemähte Wiese, ein Hund, Bruder, Schwester, eine aufopfernde Mutter. Vor Eds Vater hatte Mary immer Angst gehabt. Noch heute sah sie die Wände vor sich. Überall blickte er einem mit undurchdringlichem Blick entgegen: Mr. Krachie, der Marine, Mr. ­Krachie bei der Angelobung, Mr. Krachie in Vietnam, Mr. ­Krachie wird ausgezeichnet, Mr. ­Krachie hier, Mr. Krachie da. Er war gegen sie. »Das ist kein Mädchen für dich, Ed, sie tut dir nicht gut.« Zum Glück war er selten zu Hause, wenn Mary mit Ed im Zimmer war. Während sie miteinander schliefen, hörte sie Eds Mutter staubsaugen.

Ed war wunderbar, anders als die Jungen, die sie kannte. Aber er sprach kaum. Er erzählte nichts von sich. Er konnte stundenlang mit ihr zusammensein, sie anlächeln und schweigen. Er streichelte sie, er sagte ihr unvermittelt die schönsten Sätze, die einem Menschen gesagt werden konnten, er sah sie pausenlos an und schien glücklich dabei. Übers Wetter, übers Fernsehen, übers Wochenende. Sonst nichts. Daß er einmal davon geträumt habe, Pilot zu werden, in der Luft, umhüllt von Wolken, kreuz und quer über die Welt. »Schlag dir das aus dem Kopf, dafür sind wir nicht geboren.« Da war der Vater kein Marine mehr, sondern Polizist. Einer der Hartgesottenen, die man in die Ghettos schickte, auf die Straße, zu den Erledigten, den Drogen, den Waffen. Der in dem Thriller lebte, vor dem alle anderen Angst hatten. Ed sprach ehrfürchtig von ihm, bewundernd. Er beschloß, auch zur Polizei zu gehen. »Du bist zu fett, zum Bürositzen sind wir nicht geboren.« Ed wurde Ingenieur.

Als Ed beim dritten Mal, daß sie ihn bediente, mit aufgeregt piepsender Stimme »Hallo, ich bin Ed« sagte, »wollen wir mal einen Kaffee trinken?«, war er schon dick, sehr sehr dick, ein Berg, dessen Alter schwer zu schätzen war. Umso erstaunter war Mary später vor den Bildern gestanden, die einen ganz normalen Jungen zeigten. Mit sechzehn ging es los – und Ed aus den Fugen. Warum, hatte er nie erklären können. »So bin ich, so werd ich immer sein. Deswegen wirst du mich einmal verlassen.«

Es war nicht deswegen gewesen. Mary fuhr gerade­aus, zügig, den Zeigefinger im Takt gegen das Lenkrad klopfend, leise beruhigende Musik. Lichter vor ihr, hinter ihr, neben ihr. Alles in Ordnung. Von Ed nach Hause, ins eigene Leben, ins Geregelte, Normale, nach dem sie sich so sehnte und das so schwer zu haben war, war jedesmal eine Zeitreise in der Achterbahn. Auch wenn sie wieder mit einem Mann zusammenlebte, war Ed ihr bester Freund. Ihr Herzensmensch, ihr Seelenverwandter. Die Beziehung mit ihm war einfach gescheitert, hätte auch niemals geklappt. Außerdem war es zwanzig Jahre her, daß sie gesagt hatte: »Ed, wir sind bessere Freunde als Geliebte.« Kurz danach war er nach Florida gezogen. Gerade eben hatte er zum ersten Mal mit dem Was wäre wenn? begonnen.

Mary erinnerte sich oft an den Tag, als Ed sie zum ersten Mal zu einem Wettkampf mitgenommen hatte. Ein überfülltes Lokal, laute, aggressive Musik, dicht an dicht schwitzende Menschen, es war verraucht und aufregend. Um Mitternacht wurde die Musik abgedreht, ein paar Männer mit Nummernschildern vor der Brust stellten sich neben dem Ansager auf, der die Regeln erläuterte. Wer nach einer Viertelstunde, ohne zu kotzen, am meisten Bier getrunken hatte, hatte gewonnen. Der Sieger und fünf Bekannte mußten an diesem Abend nichts bezahlen, er bekam Kinogutscheine, ein T-Shirt, das ihn als Sieger des Bewerbes auswies, einen Bericht in der Lokalzeitung. Ed gewann, und es wurde ein fabelhafter Abend. Von da an kam Mary öfter mit. Kleine Bars, Mitternachts­einlagen in größeren Diskotheken, allerlei Kneipen und Spelunken, in denen Ed sich mit anderen beim Essen und Trinken maß, um nachher die Preise entgegenzunehmen. Und alle, die dabei waren, gingen mit der Erinnerung an den großen, fetten, wütenden Ed Krachie nach Hause. »Wer soll den bezwingen«, erzählten sie ihren Freunden. Davon war Mary überzeugt.

Und trotzdem, oder deswegen, war Ed kein Mann für sie. Er veränderte sich auf diesen Bühnen, im Schein­werferlicht, wurde laut, ausfällig, grob, selbstverliebt bis zur Besessenheit. Da war ein Unmaß, das Mary sich nicht erklären konnte, ein schwer beschreibbarer Abgrund, weite Augen, ein aufgerissener Mund, verzerrte Züge, die ihr zusehends Angst einflößten. Nach zwei Jahren mußte sie herausfinden, daß Ed seinen ersten kleinen Ruhm ausgerechnet dazu verwendete, die Mädchen, die ihn fotografierten, seinen Bauch betatschten und auf seinem Schoß sitzen wollten, ins Bett zu bringen. Mary war wütend. Mary war traurig. Mary war enttäuscht.

»Weißt du was«, sagte sie, nachdem er sich heulend wieder und wieder entschuldigt, sie angefleht, ihr das Blaue vom Himmel versprochen hatte, »wir werden jetzt die besten Freunde, die’s je gab«. Und Ed begann zu sprechen, hörte zwanzig Jahre lang nicht mehr damit auf. Er sprach immer nur vom Jetzt, höchstens vom Morgen. Von seiner Kindheit, seiner Jugend, von Zuhause, von der Zeit vor Mary schwieg er.

Mary war froh, als sie ihr Auto in der Garage parkte, die Eingangstür zu ihrer Wohnung aufsperrte und Fred schnarchen hörte. Würde das nie aufhören? Sie hatte selbst genug Probleme. Am Telefon kam sie mit Ed noch am besten zurecht.

4

Sandra war dreiundzwanzig. Sie haßte die Welt, wie sie war, und träumte von einer ganz anderen. Die ganz andere Welt, und deshalb saß sie mit ihren Freundinnen und Freunden zweimal wöchentlich beisammen, mußte mit der Befreiung der Tiere beginnen. Die Unschuldigsten, die Ausgebeutetsten, die Wehrlosesten, die von der Industrie gewinnbringend zu Nahrungsmitteln und Bekleidung verarbeitet wurden, hatten keine Stimme, keine Lobby, keine Rechte. Ein Urhuhn hatte zwei, drei Eier jährlich gelegt; seine hochgezüchteten Nachfahren mußten täglich Höchstleistungen erbringen. Männliche Küken wurden sofort ermordet und dem Futter für die weiblichen untergemischt. Die Hälfte der Geschlüpften. Warum sah das niemand? Warum hörte man den Aufschrei dagegen nicht? Daß man anderswo Hunde und Katzen fraß, erweckte Ekel; bei Hühnern und Rindern kam er nicht hoch. Verlogene Doppelmoral, gleichgültige Welt.

Dabei hatte schon Leonardo da Vinci gesagt, die Tötung eines Tieres werde dereinst genauso bewertet werden wie die eines Menschen. Franz Kafka war Vegetarier gewesen, der Sprintweltmeister Carl ­Lewis sogar Veganer, die Tennisspielerin Martina Navratilova Veganerin, Paul und Linda McCartney, Bob Dylan, Boy George, Danny de Vito, Lanny Kravitz, Kim Basinger lebten vegetarisch, Einstein, Buddha, Darwin, Gandhi, Thoreau, Newton, Pythagoras in der Ahnengalerie, wie viele andere noch. »Auch Hitler«, hatte Jeremy einmal gesagt. Sie waren ihm böse gewesen. Hitler sei, Andrew zufolge, nicht aus ethischen, sondern aus ernährungstechnischen Gründen Vegetarier gewesen. Wenn überhaupt. Wahrscheinlich habe Goebbels den Deutschen einen heldenhaften Asketen präsentieren wollen.

Wie in den Jahren zuvor waren sie am Vierten Juli nach Coney Island gefahren, wo sich die größten Dummköpfe der Welt versammelten, um Hot Dogs um die Wette zu fressen oder, was noch schlimmer war, dabei zuzusehen. »Du bist, was du ißt«, war auf einem ihrer Plakate gestanden, und darunter: »Ein Schwein«. Zwar hatte man sie böse angesehen und beschimpft. Aber es stimmte. Hunde waren das, nicht mehr und nicht weniger, allerdings entartete. Kein Hund fraß, bis er sich erbrach. Kein Hund fraß, um mehr als der andere zu fressen. Aber Hunde hatten auch keine Kultur. Wie viele Tiere, vollgepumpt mit Hormonen und Antibiotika, in abscheulichster Massenhaltung geschlachtet werden mußten, damit die größten Dummköpfe der Welt sie um die Wette verzehren konnten, war haarsträubend. Das eigentlich Himmelschreiende war, daß die noch größeren Dummköpfe dabei zusahen, klatschten, kreischten, jubelten, vor Ort oder auf dem Bildschirm zu Hause als selbstverständlich serviert bekamen, daß man Kadaver fraß. Daß nichts dabei sei. Das Morden in der Ordnung.

Sandra war mit Jeremy, Sophie und Andrew angereist. Im Auto waren sie wieder über die Frage aneinandergeraten, was man gegen die Fleischfresser tun könne. Eigentlich müßte man einen erschießen, hatte Jeremy gesagt, nachdem Andrew von Überzeugung und Aufklärung und fehlendem Problembewußtsein geschwafelt hatte, und dabei Sandra leicht in die Schulter gezwickt, als wollte er sagen: Was wird er jetzt antworten, unser Herr Umsichtig? Sandra hatte gehofft, Jeremy würde seine Hand noch länger auf ihrer Schulter lassen, Sophie hatte gelacht und Andrew geschwiegen, bis Jeremy nachgelegt hatte.

Eigentlich müßte man jeden Menschen erschießen, der jährlich mehr als eine bestimmte Menge Fleisch esse, und diese bestimmte Menge sei die Obergrenze für verblendete Dummheit, sozusagen ein Index der höchstzugelassenen Idiotie. Vielleicht sollte man sich nicht mit Menschen abgeben, hatte Andrew gesagt und auf die Fahrbahn gestarrt, die eine bedenkliche Nähe zum Faschismus hätten. Und Sandra hatte gesagt, ehe Jeremy auf Andrew losgehen und Sophie beide zu Idioten hatte erklären können, Andrew und Faschismus, das sei die lächerliche Hoffnung, den Faschisten gut zuzureden, doch bitte nicht so gemein zu sein. Dann war es lange still gewesen, bis Jeremy die Stöpsel seines Discmans in die Ohren gesteckt hatte. »Ist ja wahr«, hatte Andrew gesagt, und Sophie hatte gelacht.

Sandra studierte seit ein paar Semestern Recht und hatte den anderen die Situation auseinandergesetzt. Was zu tun sei, wenn man von privaten Sicherheitskräften angegriffen werde, welche Nummern zu wählen seien, um im Fall einer Festnahme einen engagierten Anwalt bereitgestellt zu bekommen, wie man sich auf der Wachstation zu verhalten habe. Im Vorhinein hatten sie Transparente bemalt und Flugblätter vervielfältigt. »Fleisch ist Mord. Du bist, was du ißt. Zehn Gründe für ein fleischloses Leben. Die Lügen der Todesindustrie. Der vergessene Holocaust. Werdet jetzt vegan.«

Das waren sie alle, Sandra und ihre Bekannten. Beinahe alle Menschen, mit denen sie zu tun ­hatten und die sie mochten, lebten vegan. Was das war, mußte man den Durchschnittsbürgern immer noch erklären, obwohl es schleichend besser wurde. In Großbritannien waren Lebensmittel längst als vegetarisch oder vegan gekennzeichnet, es gab entsprechende Reiseführer, immer mehr vegane und vegetarische Restaurants. Sie aßen nicht nur keine toten Tiere; sie nahmen überhaupt nichts Tierisches zu sich. Sie verwendeten auch keine tierischen Produkte. Kein Leder, keine Seide, keine an Lebewesen getesteten Kosmetika. »Auch keinen Honig?«, wurde sie dann regelmäßig gefragt. Natürlich nicht. Wo war da der Unterschied zu Milch? Das eine wurde wie das andere denen weggenommen, für die es da war. »Und du hast keine Mangelerscheinungen?«, wurde dann nachgehakt, »das kann ja nicht gesund sein, ich esse auch nicht viel Fleisch, aber Menschen sind nun mal Allesfresser.« Genau darauf wartete Sandra nur. ­Carnivoren, Omnivoren – alles Stumpfsinn, meistens Rechtfertigung, Gewissensberuhigung. Da setzte ihre Gegendarstellung an, Argument folgte auf Argument – mit Quellenangabe, wenn es jemand trotzdem nicht wahrhaben wollte. Nur blieben die Quellen kaum angezapft, obwohl alles längst an die Oberfläche drängte.

Anfangs war es nicht einfach gewesen, richtig vegan zu leben. Sie hatten den Sprung gemeinsam gewagt, nachdem alle vier jahrelang vegetarisch gelebt hatten. Sie hatten Bücher gelesen, Broschüren studiert, im Netz recherchiert und monatelang diskutiert. Natürlich hatten sie anfangs viele Fehler gemacht. Es war ja kein kleiner Schritt. Man mußte sehr genau hinsehen, jedes Produkt aufmerksam auf seine Zusammensetzung prüfen, wissen, daß Gelatine aus Rinderknochenmark hergestellt wurde, daß Sojalecithin schon, herkömmliches nicht vegan war. Dazu gab es eine Liste jener Konservierungsmittel, die tierische Elemente enthielten, ein kleiner Zettel, auf dem alle unreinen Emulgatoren vermerkt waren. Man konnte nur ausgewählte Toilettenartikel verwenden, um sicher zu sein, daß sie nicht in Horrorkabinetten an Tieren ausprobiert worden waren. Man mußte sich in Kleinstädten in jedem Lokal beschreiben lassen, was die Speisen enthielten, ob ein Ei zur Bindung verwendet, die Sauce mit Milch gemacht werde – hunderttausend Kleinigkeiten, die man den Leuten so schwer erklären konnte, die ihnen Entsetzen in die Gesichter zauberten, obwohl sie so einfach waren. Im Ausland war es ohnehin besser, selbst zu kochen oder einen Ratgeber zu befragen. Man mußte ein neues Leben beginnen. Ohne neues Leben keine neue Welt. Ohne neue Welt kein richtiges Leben.

»Wir sind gescheitert.« Jeremy trommelte die Finger gegen den Tisch. »Wir hätten uns die Transparente von diesen Arschlöchern nicht wegnehmen lassen dürfen.«

»Das ist gegen die Meinungsfreiheit«, sagte Sandra, »gegen das Recht auf Versammlungsfreiheit.«

»Das auf privatem Boden nicht gilt.« Andrew zog die Brauen hoch.

»Na und? Es gibt nur noch privaten Boden.«