Der Präsident - Clemens Berger - E-Book

Der Präsident E-Book

Clemens Berger

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Beschreibung

Jay Immer, Sohn burgenländischer Einwanderer, liebender Ehemann und rechtschaffener Polizist in Chicago, ist 55 Jahre alt, als der amerikanische Traum ihn ereilt. Er wird zum 40. Präsidenten der USA gewählt, genauer gesagt: zu dessen Doppelgänger. Fortan vertritt er Ronald Reagan überall dort, wo dieser nicht sein kann: bei Shopping-Mall-Eröffnungen und Burger-Wettessen, auf Partys und bei Fototerminen. Doch als Jay seine eigene Stimme entdeckt und sich für die Umweltbewegung engagiert, bekommt die Idylle einen Riss. Berührend, brandaktuell und voller tragikomischem Humor blickt Clemens Berger hinter die Kulissen der Macht und erzählt die unvergessliche Geschichte eines Mannes, der die Bühne der Weltpolitik betrat, um seiner Frau Lucy einen Swimmingpool zu schenken.

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Seitenzahl: 374

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Clemens Berger

Der Präsident

Roman

© 2020 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin/buero 8

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4645 3

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1733 0

In Erinnerung an meine Großeltern

Meinen ElternFür Katharina und Amalia

Einmal oben, einmal unten.

LUCY IMMER (1927–2017)

Inhalt

VORHANG AUF

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

VORHANG ZU

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

VORHANG AUF

1

Er war Polizist, als er Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde. Er war fünfundfünfzig Jahre alt. Sein Haar war schwarz und voll, sein Gang aufrecht, seine Kraft ungebrochen. In sechs Jahren wollte er sich nicht zur Ruhe setzen. Er wollte die Uniform an den Nagel hängen. Er hatte noch sehr viel vor.

2

Im Sommer 1981 schöpfte Jay Immer Verdacht. Seine Frau benahm sich sonderbar. Seit er auf Urlaub war, also seit er zuhause arbeitete, wurde Lucy um die Mittagszeit nervös, schielte nach der Wanduhr, tat, als läse sie, schützte vor, fernzusehen oder etwas zu erledigen – wirkte aber immer abwesend dabei. Sie schien auf den Briefträger zu warten, einen dicken, pausbäckigen Einfaltspinsel namens Jim, dem die Redlichkeit ins Gesicht geschrieben stand. Jay mochte Jim. Der Briefträger war stets gut gelaunt und nie um einen Scherz verlegen. Warum wartete Lucy auf ihn? Sobald sie sein Moped hörte, verließ sie das Haus und nahm ihm lächelnd die Post ab.

Hast du etwas bestellt?

Nein.

Wartest du auf etwas?

Worauf sollte ich warten?

Auf Jim, zum Beispiel?

Lucy brach in schallendes Gelächter aus und schlug die Hände vorm Gesicht zusammen. Sie wollte etwas sagen; es gelang ihr nicht. Es hatte weniger witzig geklungen, als es hätte klingen sollen. Jay schämte sich ein bisschen, und weil er nicht unangebracht eifersüchtig erscheinen wollte, meinte er abends beim Essen, er könne zwar nicht so viel verdrücken wie Jim, aber –

Lucy winkte ab.

Schauspielen musst du vielleicht noch üben.

Wartest du auf einen Liebesbrief?

Hab an einem Preisausschreiben teilgenommen. Man kann einen Swimmingpool gewinnen. Ich will auch einmal Glück haben.

Einmal hattest du Glück, sagte Jay und deutete auf sich.

Als der Brief kam, mähte Jay gerade den Rasen vor ihrem Weißen Haus. Der Himmel war dunkelblau und wolkenlos, die Garageneinfahrt schimmerte. Er hatte den heißen Asphalt abgespritzt; in drei Tagen würde er wieder die Uniform anziehen und Streife fahren. Jay schwitzte, sein weißes Unterhemd war nass, Grashalme klebten auf seinen Armen, der Brust und im Gesicht. Er fragte sich, wie viel ein Swimmingpool kostete.

Jim war davongebraust, Lucy auf der Straße stehen geblieben. Sie hatte ein dünnes rotes Tuch um ihren Körper geschlungen, darunter trug sie einen getigerten Bikini, in dem sie bei Sonnenschein stundenlang auf einer Liege im Garten hinter dem Haus brutzelte. Sie war so braun, dass Jay sie bisweilen fragte, ob sie tatsächlich weiß sei. Er warnte sie eindringlich vor Hautkrebs, sie wischte seine Bedenken ein ums andere Mal milde lächelnd beiseite. Neben dem Briefkasten riss sie einen Umschlag auf, faltete das Papier auseinander, überflog die Zeilen und – erstarrte.

Sie hielt sich die Hand vor den Mund, dem trotzdem ein kurzer, greller Laut entfuhr, bevor sie den Brief mehrmals hintereinander küsste. Jay schaltete den Rasenmäher ab, die Nachbarin gegenüber öffnete das Küchenfenster. Lucy blickte Jay entgeistert an. Sie wollte etwas sagen, presste aber bloß den Brief an sich.

Das –

Außer Atem stand sie vor ihm, sie war gelaufen, wann hatte er sie zum letzten Mal laufen gesehen?, fuchtelte mit dem Brief vor seinen Augen herum –

Ich –

Sie nahm seinen Kopf in die Hände, zog Jay an sich und küsste ihn schmatzend auf den Mund. Sie hatte Tränen in den Augen. Als er etwas sagen wollte, reichte sie ihm den Brief. Er war übersät von roten Kussmündern.

Er war längst Präsident, als er sich immer wieder jenen Moment vorzustellen versuchte, in dem Lucy hinter seinem Rücken die Bewerbung abgeschickt hatte. Es war, wie sie behauptete, das erste und einzige Mal, dass sie ihn hintergangen hatte.

Wie oft hatte Jay Immer zu hören bekommen, er sehe diesem Schauspieler so verblüffend ähnlich. Diesem Gewerkschaftschef der Schauspielervereinigung. Diesem Werbemaskottchen von General Electric. Diesem Gouverneur von Kalifornien. Diesem Präsidentschaftskandidaten der Republikaner. Dem neuen Präsidenten.

Aber Jay war fünfzehn Jahre jünger! Fünf-zehn Jahre!

Einerseits fühlte er sich geschmeichelt. Ronald Reagan sah fabelhaft aus, die Frauen himmelten ihn an. Er war immer der Gute, der einfache Amerikaner mit dem Herz am rechten Fleck, der nie zu viel sagte, aber immer strahlte dabei. Dessen blendende Laune alle anderen blendete. Dessen Lachen ansteckend war. Andererseits ging es Jay auf die Nerven, ständig mit einem anderen verglichen zu werden. Die Augen: auf jeden Fall! Der Mund: sowieso! Die Haare, wenn er sie bloß anders trüge: klar! Die Nase: etwas mehr nach unten, aber doch! Nur die Zähne: nicht weiß und nicht gerade genug.

Obwohl Jay hin und wieder zur Unterhaltung seiner Freunde und Kollegen Reagan spielte und dafür begeisterten Applaus erntete, hatte er sein Aussehen so zu verändern begonnen, dass man ihn nicht mehr ständig auf diese Ähnlichkeit ansprach. Wie aus dem Gesicht gerissen! Er wollte keinem anderen aus dem Gesicht gerissen sein, er hatte sein eigenes. Wie ein Ei dem anderen! Er war in der Alten Welt geschlüpft, seine Eltern hatten gerackert und geschuftet, damit es ihrem Sohn einmal besser ginge. Zum Verwechseln ähnlich! Warum war immer er der, der einem anderen ähnelte? Hatte er nichts geleistet? Tat er nichts, um seinen Mitmenschen zu helfen? Sein Leben aufs Spiel setzen, zum Beispiel?

Einmal noch, hatte Lucy gesagt, bitte, nur zum Spaß und zur Erinnerung, als sie an einem Sonntag im Frühjahr den Esstisch vor das Regal mit den Büchern geschoben hatte. Es hatte Wiener Schnitzel gegeben, das heißt, er hatte Fleisch geklopft und paniert und in die Fritteuse gelegt, und weil Wiener Schnitzel seine, aber keineswegs ihre Lieblingsspeise war, hatte er ihren Wunsch nicht ausschlagen können.

Jay hatte seinen einzigen schwarzen Anzug, der noch dazu überall spannte, angelegt, sich eine rote Krawatte binden und das Haar mit Brillantine nach hinten frisieren lassen, seine Hände auf dem Tisch gefaltet und neben der kleinen Flagge mit den Sternen und Streifen, die Lucy kürzlich gekauft haben musste, nachdenklich und zuversichtlich in die Linse des Fotoapparates geblickt, den seine Frau an ihr rechtes Auge gepresst hielt. Es hatte ihm, wie er später sagte, sogar Spaß gemacht. Auch wenn er damals das Gegenteil behauptet hatte und danach sofort in seinen Trainingsanzug geschlüpft war.

Während er im Streifenwagen saß, Papiere kontrollierte oder Verdächtige auf dem Wachzimmer vernahm, während die Sonne stärker wurde und die Menschen in immer leichterer Kleidung das Ufer des Lake Michigan entlangspazierten, setzte sich Lucy zuhause, im Nordwesten der Stadt, an den Tisch und tippte auf seiner alten Schreibmaschine mit beiden Zeigefingern langsam und behutsam den Text ab, den sie zwei Wochen lang immer wieder mit der Hand geschrieben hatte. Tag für Tag hatte sie ihn umformuliert, verändert und verbessert, bis sie zufrieden war. Sie vertippte sich zwei Mal, riss das Papier aus der Maschine, zerknüllte es, warf es zu Boden, aber beim dritten Mal kam sie bis zum Schluss, tippte das Komma nach den besten Grüßen, weil ihr herzlich, aufrichtig und vor allem Ihr unangemessen erschien – und unterschrieb mit seinem Namen. Die Unterschrift hatte sie ebenfalls zwei Wochen lang geübt; sie ging ihr leicht von der Hand. Dann faltete sie den Brief, steckte ihn mit einem Foto in ein Kuvert, adressierte und verschloss es.

Am nächsten Tag küsste sie auf dem Postamt den Brief, gab ihn auf und steckte die Quittung in ihre Tasche. Sie war gläubig und abergläubisch.

Das ist der Liebesbrief, auf den ich seit Wochen warte!

Lucy lachte und klatschte, während Jay nicht verstand, was er las, während er allmählich zu verstehen begann, was er las, es aber nicht verarbeiten konnte, während er immer noch eine Hand auf dem Griff des Rasenmähers hatte und schwitzte, seine Haut ölig war und nach der Sonnencreme roch, die auf Lucys Körper glänzte. Er war wütend, er war geschmeichelt, er war gerührt und verärgert. Er schüttelte den Kopf, überflog noch einmal die Zeilen: ausgewählt unter 179 Einsendungen.

Er sah etwas vor sich, dann wieder nichts, ein anderes Leben blitzte auf, das ihn lockte und verschreckte, er war gern Polizist, obwohl er es manchmal kaum aushielt, er würde vielleicht noch einmal befördert, er hatte nie an ein anderes Leben gedacht, er mochte sein Leben, wie es war, mit Lucy und seinem Beruf und ihren Freunden, mit dem Haus, das sie gebaut hatten, ausgewählt unter 179 Einsendungen, mit –

Das ist Urkundenfälschung! Ur –

Geh duschen. Dann reden wir in Ruhe.

Lucy küsste ihn auf beide Wangen, zog seine Hand in die Höhe und drehte sich einmal unter seinem Arm. Die Nachbarin schloss das Fenster.

3

Zwei Wochen später flogen Jay und Lucy nach Kalifornien. Sie saßen vorne in der Ersten Klasse; getrennt vom Rest der Fluggäste, stießen sie mit Prosecco auf ein neues Leben an. Sie hatten das Wort noch nie gehört; es war so unbekannt und aufregend wie alles, was mit dem Eilpostbrief in ihr Leben geflattert war. Stewardessen wuselten um sie herum, reichten Erfrischungstücher und schenkten lächelnd nach, während Vorbeigehende verwundert ihre Köpfe drehten, um einen zweiten Blick auf Jay und Lucy zu erhaschen.

Nein, sagte Jay und schüttelte kurz den Kopf, wenn sich wieder jemand umdrehte, ich bin’s nicht.

Sagt er nur meinetwegen, sagte Lucy und senkte die Stimme, weil ich nicht Nancy bin.

Sie bekamen vorzügliches Essen serviert, dazu schweren Rotwein, der sie aufdrehte, vor allem Lucy, die äußerst selten Alkohol trank. Ihre Wangen röteten sich, ihre Stimme wurde heller. Im Flugzeug durften sie bestellen, was und wie viel sie wollten. Sie bestellten viel. Sie wollten mehr.

Nicht die Air Force One, sagte Lucy, aber ein passabler Beginn.

Jay verschluckte sich. Er musste prusten und hielt sich die Hand vor den Mund. Die Finger wurden zum Sieb; sein weißes Hemd war von Rotweinspritzern übersät.

Wir haben kein zweites mit, sagte Lucy.

Bin doch nicht Breschnew, sagte Jay.

Sieht aus wie nach einem Attentat.

Jetzt mal im Ernst: Die haben mich nicht etwa dafür ausgewählt?

Du brauchst eine weiße Weste. Oberste Priorität.

Natürlich. Viel wichtiger als die Frage, ob ich Attentäter anziehen und für einen anderen zersiebt werden soll. Wann ist er angeschossen worden?

Im März, glaube ich. Hauptsache weißes Hemd.

Sie lachten. Es war egal. Sie würden entweder ein weißes Hemd kaufen oder darauf vertrauen, dass der Präsident alles darf. Immerhin nannte man ihn den mächtigsten Mann der Welt. Wahrscheinlich durfte er sogar nackt oder als Einhorn verkleidet auftauchen. Sie sahen einen Film, der sie amüsierte, aßen Schokotörtchen und tranken Kaffee und stießen einander in die Seite, wenn der Schnösel im Anzug zwei Reihen vor ihnen besonders gewählt mit den Stewardessen sprach, die sich aber weder von selten gehörten Worten noch von Stecktuch und protziger Uhr beeindrucken ließen.

Er redet nicht, flüsterte Lucy, er konversiert.

Ihre Flüge waren von der Agentur bezahlt worden. Sie waren beide noch nie in Kalifornien gewesen, nie Erste Klasse geflogen. Überhaupt waren sie nicht viel herumgekommen, es war ihnen auch nicht wichtig gewesen: hin und wieder auf die andere Seite des Sees, einmal nach Kanada an die Niagarafälle, alle paar Jahre für ein paar Tage nach New York. Jay hatte lange Dienste und selten frei, und wenn er freihatte, mähte er den Rasen, reparierte etwas im Haus oder kümmerte sich um sein Gemüsebeet. Dass er die Wäsche bei gutem Wetter im Garten aufhängte, fanden die Nachbarn seltsam. Schon seine Mutter hatte die Familienwäsche ins Freie gehängt; Garten hatten sie keinen gehabt.

Als sie in Los Angeles aus dem Flugzeug stiegen, hielten sie sich die Hände vor die Augen und lächelten einander zu. Zwei Arbeiter am Ende der Brücke deuteten tuschelnd in ihre Richtung.

Eigentlich müsste ich hier leben, sagte Lucy, nicht in der Windstadt.

Lass uns gleich an den Strand fahren!

Neben dem Förderband, von dem er ihre Koffer gehoben hatte, fasste ihn Lucy fest an der Hand.

Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Der Termin ist erst in –

Musst nicht nervös sein. Die wollen was von dir. Nicht umgekehrt.

Vor dem Flughafen rief Lucy ein Taxi, im Fond legte sie ihre Hand auf seine. Schweigend blickten sie aus den Fenstern. Der Taxifahrer musterte sie im Rückspiegel. Ihr neues Leben begann unter Palmen.

Jay schloss die Augen. Er war Polizist. Er hatte keine Ahnung, wie er sich in einer Agentur verhalten sollte. Allein das Wort: Agentur! Er war aufgekratzt. Aber auch stolz. Man hatte ihn eingeladen.

Weil er einem anderen ähnelte.

Das Sprechen sollten Sie lieber lassen. Sie haben einen etwas seltsamen Akzent. So spricht er nicht.

Jay spürte, wie er errötete. Seine Mundwinkel strebten nach unten, während er sich bemühte, weiterhin zu lächeln. Lächeln, hatte Lucy gesagt, souverän bleiben, ausgewählt unter 179 Einsendungen. Ein Präsident errötete nicht. Also legte Jay Immer den Kopf schief, als hätte er nicht genau gehört, was er eben gehört hatte, und schlug die Augen weit auf. Der dicke Agenturchef trug einen leichten blauen Anzug, sein rosarotes Hemd war weit aufgeknöpft, er wischte über den Schweißfilm auf seiner Glatze. Er lachte und schüttelte den geröteten Kopf.

Ich fass es nicht. Es ist, als –

Der Agenturchef stand auf, nestelte an seinem Sakkokragen herum und setzte sich auf die Tischkante, die Beine übereinandergeschlagen, den massiven Oberkörper Jay zugewandt. Er holte ein kariertes Stofftuch mit seinen Initialen aus der Sakkotasche und tupfte die Schweißperlen über seiner Oberlippe weg.

Als säße ich mit dem Präsidenten in meinem bescheidenen Büro. Unwahrscheinlich, diese Ähnlichkeit. Phänomenal! So, hier, von Angesicht zu Angesicht, sehen Sie ihm noch ähnlicher als auf dem Foto. Ich fühle mich ganz –

Er lachte.

Unbedeutend. Ohne Ihre Frau würden Sie noch immer Ganoven jagen, stimmt’s?

Noch bin ich Polizist.

Ab in den Ruhestand! Sie werden mehr verdienen, die Arbeit ist weniger anstrengend, noch dazu viel sicherer, und Sie werden Spaß haben dabei, Spaß, Spaß und noch mal Spaß!

Mister –

Ron, ich bin Ron. Keine Förmlichkeiten.

Der Agent steckte das Stofftuch zurück in seine Sakkotasche, fasste Jays Rechte, sagte: Herr Präsident, drückte fest zu und schüttelte sie lange. Seine Hand war warm und etwas feucht. Er atmete schwer.

Nur die Zähne.

Jay blickte auf das blütenweiße Hemd, das er mit Lucy in einem feinen Geschäft erstanden hatte. Es war ihm wie ein Tempel erschienen. Beim Eintreten hatte er seine Stimme gesenkt, auch Lucy hatte nur geflüstert. Es war das teuerste Hemd seines Lebens. Er hatte es nicht kaufen wollen; Lucy hatte darauf bestanden. Er setzte sein strahlendstes Lächeln auf, hob langsam den Blick und sah Ron direkt an. In diesem Moment schwor sich Jay Immer, seine Zähne nicht bleichen zu lassen. Auch ihre Begradigung hatte er sich nie leisten können – oder wollen. Das Haus war wichtiger gewesen. Die Tochter.

Österreich, sagte Ron. Da sind Sie den Kommunisten noch mal entkommen.

Eher den Nazis.

1929.

Ron stand auf und trat an die Fensterfront. Eine Möwe flog vorbei, eine Sirene heulte auf. Er wiegte seinen großen Kopf.

Ihre Eltern müssen ganz schön mutig gewesen sein. Mitten in der Großen Depression! Da war Reagan noch im College.

Was ich fragen wollte.

Fragen Sie nur. Sie sind der Präsident.

Bekomme ich einen Leibwächter?

Einen was?

Na ja, wegen der Attentatsgefahr.

Ron lachte so heftig, dass er sich verschluckte. Er fächelte sich Luft zu und blickte Jay belustigt an.

Sie werden nicht im offenen Wagen durch Dallas gefahren.

Sie blieben zwei Nächte.

Die Sonne schien unerbittlich, der Verkehr war zum Verrücktwerden, aber Lucy konnte am Strand liegen und im Ozean schwimmen, während Jay in einer Badehose durch das salzige Wasser watete und einmal Gott und dann wieder dem Schicksal dankte, für diese Frau, um deren Hand er fünf Jahre nach dem Krieg angehalten hatte, draußen in New Jersey, wo sie mit ihren Eltern und jüngeren Geschwistern in einer kleinen Wohnung lebte, umgeben von Polen und Juden und Italienern, Österreicher auch sie, keine Deutschen – aber eigentlich waren sie längst Amerikaner, nichts anderes. Lucys Großeltern waren aus dem Habsburgerreich in die Neue Welt aufgebrochen, geboren in Deutschwestungarn, also in jenem Teil, den seine Eltern Burgenland zu nennen gelernt hatten, ehe sie sich acht Jahre später in Hamburg einschifften.

Lucys Eltern hatten ein amerikanisches Englisch gesprochen, während er sich bisweilen für die Seinen geschämt hatte, die weder Englisch noch Deutsch richtig sprachen, deren Englisch einen seltsamen Akzent hatte und deren Deutsch schon Wiener Emigranten kaum verstanden. Seine Mutter fiel ihm ein, während er durchs Wasser stapfte und Lucy weit draußen eine rote Boje umklammern sah, und er erinnerte sich, wie sie ihm ein paar Monate vor ihrem Tod verraten hatte, dass sie sich anderthalb Jahre nach ihrer Ankunft erstmals allein in eine Fleischerei gewagt hatte. Sie hatte durch Radio und Fernsehen, aber auch durchs Zuhören die neue Sprache zu erlernen versucht, hatte ein Buch mit Redewendungen gekauft und zuhause, wenn sie allein war, die Worte und Wendungen laut wiederholt. Noch auf dem Weg in die Fleischerei hatte sie halblaut den einen Satz wiederholt, den sie sagen wollte. Als sie dann aber einem blassen Lehrling mit weißer Schürze gegenüberstand, sagte sie:

Hello, I want a piece of beefpork.

Der Lehrling sah sie verdattert an.

What now, beef or pork?

In diesem Moment kam der Fleischermeister von hinten in den Laden. Er sah seinen Lehrling böse an und sagte:

Dummer Bub, warum redest nicht Deutsch mit der Dame? Was hätten Sie denn gern, Gnädigste?

Jays Mutter hatte gelacht, als sie die Geschichte erzählte, kurz daraufwar sie verstummt und hatte ihn lange angesehen. Kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich geschämt hab. Ich glaub nicht, dass ich jemals in meinem Leben so rot angelaufen bin. Nicht einmal, als mich dein Vater zum ersten Mal fragte, ob er mich küssen darf.

Sie waren beide seit Langem unter der Erde, Mutter und Vater, und auch wenn sie oft, und je älter sie wurden, desto häufiger und inbrünstiger, von der Heimat erzählt hatten, von zuhause, vom Burgenland, von den kleinen Dörfern und großen Festen, von der Kleinstadt, in die sie gezogen waren und in der sie nichts verdient hatten, vom vielen Schnee im Winter, wenn sie über tiefverschneite Felder und Wiesen zur Sonntagsmesse stapften, von der harten Arbeit auf den heißen Feldern im Sommer, von den Zigeunern, die mit Wagen fuhren und Scheren schliffen und Kessel flickten und Körbe banden, von den Katholischen, den Evangelischen, den Reformierten und den Juden, von den Ungarn, den Deutschen und den Kroaten, hatte er sich doch immer das eine gefragt, das er stets für sich behalten hatte: Was war das für eine Heimat, die erst in der Erinnerung dazu wurde?

Jay bemerkte, wie ihn eine junge Frau in rotem Badeanzug und mit verspiegelter Sonnenbrille beobachtete. Sie lachte schrill und rief ihm zu, ob ihm bewusst sei, wie ähnlich er dem Präsidenten sehe. Und das sage sie jetzt auch nur, weil sie sich umgesehen und keinen Leibwächter entdeckt habe. Sie schwamm ihm entgegen.

Kann meinen Leib selbst bewachen, sagte Jay. Die junge Frau lachte. Er setzte den Blick von dem Foto auf, das ihn hierhergebracht hatte.

Sie wissen ja, sagte Jay, dass die Menschen in der Sowjetunion jahrelang auf ein Auto warten müssen?

Die junge Frau blickte ihn verdutzt an.

Nun hat ein kleiner Arbeiter Glück und bekommt einen Anruf, er soll zum Autohändler kommen, die Zeit des Wartens ist vorbei. Der kleine Arbeiter hat das Geld beisammen, er kommt zum Autohändler, der reicht ihm den Kaufvertrag und sagt, er kann seinen neuen Wagen heute in zehn Jahren abholen. Der kleine Arbeiter sagt: Vormittags oder nachmittags? Was macht denn das für einen Unterschied, Genosse, sagt der Autohändler, ob Sie Ihren Wagen heute in zehn Jahren vormittags oder nachmittags abholen? Na ja, sagt der Arbeiter, vormittags kommt schon der Installateur.

Die junge Frau lachte, fuhr mit beiden Händen ins Wasser und spritzte es in seine Richtung.

Jetzt war ich mir kurz nicht sicher, sagte sie, aber der Akzent. Schönen Tag noch! Bewahren Sie uns in Gottes Namen vorm Atomkrieg!

Wie jung Jay war, als er in den Krieg eingezogen wurde. Achtzehn Jahre, noch fast ein Kind, aber als er zurückkam aus Europa, war er erwachsen – und nie wieder Kind. Er watete durchs Wasser, den Strand entlang, ohne sich um die Blicke der anderen zu scheren. Wie seltsam, hier und jetzt, an einem Tag, an dem er sich freuen, den er genießen sollte, an Angst und Blutvergießen zu denken. Er stand unter der Sonne Kaliforniens, die Menschen ringsum waren ausgelassen und heiter wie die junge Frau, die ihn mit Wasser zum Präsidenten getauft hatte, Lucy genoss ihren ersten Tag als First Lady, während er –

Diese Chance ergreifen musste. Er wollte nicht wieder von einer Kugel getroffen, in einen Hinterhalt gelockt, mit all dem Jammer, dem Elend, der Gewalt konfrontiert werden, die er Tag für Tag erlebte. Er wollte die Menschen nicht länger von ihrer schlechtesten Seite kennenlernen.

Das Schicksal, das Lucy war, meinte es gut mit ihm. Als seine Eltern so alt waren wie er jetzt, hatten sie viel älter ausgesehen. Gezeichnet vom Leben – jetzt verstand er die Phrase. Wie schön es gewesen wäre, hätten sie miterleben können, wie ihr kleiner Julius Imre, geboren am 9. November 1926 in Oberwart oder Felsőőr, als Jay Immer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde.

Der Krieg ließ ihn nicht los, Möwen flatterten über ihm, Eisverkäufer priesen ihre Ware an, Kinder tranken mit Strohhalmen aus Kokosnüssen. Er dachte nicht oft daran, zumindest nicht willentlich, nur manchmal fuhr er schwitzend aus bösen Träumen hoch, hörte Lucy neben sich atmen oder leise schnarchen, schlich zur Toilette, trank Wasser und kuschelte sich wieder an sie, um in einen ruhigeren Schlaf zu finden. Wie atemberaubend das Leben war. Sein stinknormales, durchschnittliches Leben, das außer ein paar Menschen nur Versicherungen, Rechnungssteller und Parteien kurz vor der Wahl interessierte. Und jetzt auf einmal das – die Möglichkeit eines Neuanfangs.

Wären seine Eltern damals nicht mit ihm und Eduard in die Vereinigten Staaten ausgewandert, wäre er als Soldat an die Ostfront geschickt worden, nach Polen oder in die Sowjetunion, hätte sich an unschuldigen Zivilisten vergangen, Deserteure von Laternenmasten baumeln sehen, vielleicht an noch viel schlimmeren Verbrechen teilgehabt, wäre wahrscheinlich gefallen für Führer und Vaterland und arisches Blut. Er wäre einer von jenen gewesen, von denen er als Soldat der US Army die Welt befreit hatte. Julius Imre gegen Jay Immer. Oder umgekehrt. Auch wenn sein Beitrag ein kleiner war, war er stolz darauf, gegen Hitler und seine Mörderbanden gekämpft zu haben, nicht an vorderster Front, aber doch. Eduard, damals längst Edward oder Ed, war im Krieg geblieben, niedergemäht in der Normandie wie Abertausende andere junge Männer, sein großer Bruder, der Astronaut hatte werden wollen, mit dem er bis Einbruch der Dunkelheit auf der Straße Fußball gespielt hatte, was bloß die Italiener auch taten, den er bewundert und geliebt – und seit siebenunddreißig Jahren nur im Traum gesehen hatte. Sein Vater hatte die Nachricht scheinbar unbewegt hingenommen, während seine Mutter sich nie davon erholt hatte. Vater auch nicht, dachte er jetzt.

Jay, hey, so warte doch!

Er drehte sich um, Lucy kam ihm entgegen. Sie sah so glücklich aus, dass er lachen musste.

Du schlurfst vielleicht durch die Gegend! Als müsstest du im Oval Office eine Entscheidung über Krieg und Frieden fällen. Freust du dich denn nicht?

Doch. Natürlich. Sehr sogar. Hab mich entschieden: Ich werde den Dienst quittieren.

War doch klar!

Jay umarmte Lucy.

Mit so einer First Lady überlebe ich jedes Attentat.

Den nächsten Tag verbrachte Jay in der Agentur. Weil sie noch nie auch nur ansatzweise ein derart opulentes Frühstücksbuffet gesehen hatten, hatten Lucy und er so viel gegessen, dass er beim Maßnehmen eine um zwei Größen weitere Hose benötigte.

Jay wurde abgetupft und geschminkt, sein Gesicht gepudert, der Haaransatz im Nacken rasiert, sein Haupthaar getrimmt und mit Brillantine schwungvoll nach hinten gezogen. Seine Fingernägel wurden manikürt, seine Augenbrauen gestutzt, die Krähenfüßchen mit einem Pinsel abgedeckt. Einmal musste er die Augen schließen, sie dann wieder so weit wie möglich aufreißen, dann sollte er den Mund leicht öffnen, um ihn kurz darauf wieder zu schließen, allerdings so, dass die Lippen sanft aufeinander ruhten.

Jay ließ es geschehen. Es war nicht einfach, Präsident zu sein. Nur als der junge Mann mit dem langen, blonden Lockenhaar, der wie eine Frau geschminkt war und wunderbar leuchtende Augen hatte, einen kleinen Rasierer an Jays Nasenloch führte, zuckte er zurück.

Sie werden leichter atmen, sagte der junge Mann und zwinkerte ihm zu, Ihre Nase wird befreit sein, und die Popel werden nicht mehr –

Machen Sie schnell. Bitte.

Das kleine runde Rasierblatt, das ihn an einen Rasenmäher erinnerte, kitzelte seine Nasenscheidewand, er musste kichern und niesen, und als der kleine Rasenmäher kurz darauf an sein Ohr geführt wurde, schloss Jay seufzend die Augen und ließ über sich ergehen, was immer kommen mochte. Macht und Ruhm mussten gepflegt sein. Er machte das für Lucy. Ein kleines Surren für ihn, ein freies Ohr für die Menschheit.

Nicht einmal sein teures weißes Hemd durfte er anbehalten. Man reichte ihm ein frisches, das gestärkt war und nach Lavendel roch, man brachte ihm ein elegantes schwarzes Sakko mit weißem Einstecktuch, die um zwei Größen weitere schwarze Hose hing in der Umkleidekabine, und als Jay zurückkam, band ihm der junge Mann, der wie eine Frau roch, eine bordeauxrote Krawatte um. Jay trug selten Krawatte; eine derart kunstvoll gebundene hatte er nicht einmal zu seiner Hochzeit getragen. Selbst damals, fiel ihm ein, als der junge Mann zufrieden seinen Knoten betrachtete, vor mehr als dreißig Jahren, hatte Lucys Cousine gefragt, ob Lucy bewusst sei, wie sehr ihr zukünftiger Mann dem Schauspieler Ronald Reagan ähnle. Oder umgekehrt, hatte Jay gesagt. Die Cousine hatte gelacht. Es hatte nicht lustig geklungen.

Jay war noch nie von einem Mann angekleidet worden. Der junge Mann, den er insgeheim Engelchen nannte, holte zwei vergoldete Manschettenknöpfe von seinem Schminktisch, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe und strahlte dabei, als wären es seine eigenen. Dann schloss er Jays Manschetten, zog an den Ärmeln des Sakkos und strich es sorgfältig glatt.

Das Hemd muss immer ein wenig hervorstehen. Sonst wären die Goldknöpfchen umsonst.

Der junge Mann schritt einmal um Jay herum, ehe er direkt vor ihm stehen blieb und sein Gesicht studierte. Dann nestelte er am Stecktuch herum. Jay hielt den Atem an.

Sie sehen fabelhaft aus. Wenn ich in Ihrem –

Bin fünfzehn Jahre jünger.

Der junge Mann sah ihn verständnislos an.

Als Reagan.

Der junge Mann verdrehte die Augen und schüttelte übertrieben langsam den Kopf.

Ich habe gesagt: Sie sehen fabelhaft aus.

Locker. Natürlich. Nachdenklich.

Entschlossen. Mitfühlend. Erfreut.

Gelöst. Verständnisvoll. Standhaft.

Die Anweisungen schwirrten um Jay herum, dass es ihn schwindelte. Einmal saß er am Tisch des Oval Office, dann trat er aus einem Portal und schritt einen Boulevard entlang; saß auf einer Parkbank, ließ sich in einer Limousine nach hinten sinken; stand kurz darauf an einem Fenster, wurde von hinten und von der Seite fotografiert; hob eine Sektflöte zum Toast und fasste sich ans Herz, während er die Hymne sang, die er vor der Fotografin und ihrem Assistenten natürlich nicht sang; griff nach einem Telefonhörer, lachte über einen Witz, den er eben erzählt hatte – und winkte viel.

Natürlich, bekam er immer wieder zu hören, seien Sie natürlich. Aber jedes Mal, wenn er natürlich hörte, fühlte er sich nur ungemein unnatürlich.

Gehen Sie ganz normal, ganz natürlich.

Aber da war die Kamera, und schon ging er nicht natürlich, sondern künstlich. Er wusste nicht, wohin mit seinen Armen, wusste vor allem nicht, wohin mit seinen Händen, dachte nur daran, was natürlich sei, und verkrampfte sich dabei. Sollten sie anliegen? Sich bewegen? Hinter dem Rücken verschränkt sein? Er hatte sich noch nie Gedanken über das Tragen seiner Hände gemacht.

Am späten Nachmittag fanden sie sich in einem Studio ein. Auf eine große Leinwand wurde die Freiheitsstatue projiziert. Der Himmel war grau, ein heftiger Wind wehte, man sah es an den flatternden Flaggen. Im Hintergrund hielt die schmutzig grüne Lady Liberty ihre Fackel in die Luft, der Hudson River kräuselte sich auf der Leinwand. Davor stand ein echtes Rednerpult.

Das Engelchen half Jay aus dem Sakko, ehe es ihm die Manschettenknöpfe abnahm und die Ärmel bis knapp unter die Ellenbogen hochkrempelte. Jay musste auf einem Stuhl Platz nehmen; im Hintergrund nickte Ron mit einem Zahnstocher im Mundwinkel. Schon fuhr der junge Mann Jay durchs Haar, zerraufte es, zupfte an einzelnen Strähnen, trat einen Schritt zurück, zog die Scheitellinie scharf mit dem Kamm nach, zupfte an anderen Strähnen und verwuschelte noch einmal Jays Haar, ehe er begeistert nickte. Dann knöpfte er flink die obersten vier Knöpfe des Hemdes auf.

Jetzt aber, sagte er, bitte. Das Rednerpult ist Ihres.

Jay nahm dahinter Aufstellung.

Letzten September, sagte Ron, Sie erinnern sich. Natürlich erinnern Sie sich, Sie haben ja die Rede gehalten! Rezession ist, wenn Ihr Nachbar den Job verliert. Depression ist, wenn auch Sie Ihren Job verlieren. Und Aufschwung ist, wenn Jimmy Carter seinen Job verliert. Diesen Geist wollen wir. Sie sind kampflustig, Sie halten sich mit beiden Händen am Pult fest, um nicht die Fäuste zu ballen und die Luft zu boxen, Sie sagen den großen Satz, mit dem er nach zwanzig Minuten seine Rede beendet: We will make America great again.

Jay erinnerte sich an die Rede, während er auf das Pult klopfte und ein Assistent einen riesigen Ventilator heranschob, der auf Maximum gestellt war und Jays Haar aufbrachte. Ron hatte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Tür gelehnt. Jay blickte über ihn hinweg.

Er erinnerte sich anders an die Rede. Er erinnerte sich an ihren Beginn, als Reagan sagte, er sei der erste Republikaner seit 1968, der im demokratischen Hudson County auftrete, weil auch viele Demokraten von dem Klüngel enttäuscht seien, der das Land regiere. Vor allem erinnerte sich Jay daran, wie Reagan mit festem Blick von der Freiheitsstatue in seinem Rücken sprach, von Ellis Island, wo Millionen von Menschen aus aller Herren Länder eingetroffen seien, um ein neues Leben zu beginnen, hart zu arbeiten und diese wunderbare glänzende Stadt zu erbauen, von der sie nur noch das Wasser getrennt habe. Und nicht nur diese Stadt, noch viele andere Städte und Gemeinden und Farmen in den Vereinigten Staaten. Er sprach von ihrem Mut, ihrem Ehrgeiz, ihrem Verständnis von Familie und Nachbarschaft, von ihrem Verlangen nach Frieden und Freiheit, weil so viele nicht zuletzt vor Verfolgung, Verachtung und Tyrannei geflohen seien. Sie alle gemeinsam hätten der Freiheit die größte Heimstatt der Geschichte errichtet.

Während Jay an diese Worte dachte, sah er seine jungen Eltern vor sich, den Vater in seinem abgetragenen Sonntagsanzug, der seine bäuerliche Herkunft nicht verbergen konnte, die Mutter in einem langen, weißen Kleid mit einer gestrickten Weste darüber, wie sie sich nach der langen Überfahrt schüchtern und hoffnungsvoll mit ihren kleinen Söhnen in der riesigen Eingangshalle von Ellis Island in eine schier endlose Schlange einreihten, um untersucht und befragt und mit weißer Kreide am Gewand markiert zu werden. Und er sah sich selbst, obwohl er sich nicht sehen konnte, obwohl er sich nicht an den kleinen Jungen zu erinnern vermochte, der ihm so nah und so fremd war und der Julius Imre hieß, inmitten all der Menschen und Gepäckstücke und Polizisten und Ärzte. Er hatte nur noch die vage Erinnerung, dass alles auf einmal um so vieles größer war.

Während es unentwegt blitzte und Ron beide Daumen hochhielt, fiel Jay ein, dass er, dessen Vater zeitlebens von Roosevelt und dem New Deal geschwärmt und die Republikaner verachtet hatte, weshalb Jay sozusagen natürlich Demokrat geworden war, zum ersten Mal Reagan zugehört hatte. Ihm hatte gefallen, was er hörte. Reagan war mit einer Verneigung vor Jays Eltern in den Wahlkampf gestartet. Er hatte die Schwierigkeiten unterstrichen, die sie auf sich genommen hatten, von den einfachen Leuten gesprochen, die so gern vergessen wurden.

Jay strich seinen schwarzen Schopf nach hinten, blickte verärgert auf den Ventilator, umklammerte das Pult mit beiden Händen und lehnte sich weit nach vorn.

Ohne euch, dachte er, Mama, Papa, während er lautlos die Lippen bewegte, wäre ich nicht hier. Und ohne Hier wäre ich ein anderer, oder gar nicht mehr. Und ohne Lucy wäre ich ein verhärmter Polizist.

Wunderbar, rief Ron, fabelhaft! Tränen in den Augen! Ganz große Emotion! Danke, danke, danke!

Lucy war müde von der Sonne und Jay müde vom stundenlangen Posieren, und auch wenn sie vorgehabt hatten, Los Angeles zumindest ein wenig zu erkunden, blieben sie an ihrem letzten Abend auf dem Zimmer. Am liebsten hätten sie es mitgenommen.

In weißen Bademänteln lagen sie auf einem riesigen Bett mit angenehmer Matratze, der Raum war so groß wie das Wohnzimmer in ihrem Weißen Haus, das Licht mit Fernbedienung zu steuern, über den Fernsehschirm liefen lautlos Bilder. Solange sie nicht dreimal täglich Lobster bestellten, hatte Ron gesagt, dürften sie alles bestellen, die Agentur komme selbstverständlich dafür auf. Selbstverständlich hatte Jay noch nie Lobster gegessen – und auch keine Lust darauf. Mit Muscheln, Tintenfischen und anderem Meeresgetier konnte man ihn ebenfalls jagen. Er öffnete die zweite Dose Bier aus der Minibar, Lucy trank Mineralwasser und Orangensaft.

Auf unsere Präsidentschaft, Urkundenfälscherin!

Immer schön am Boden bleiben, mächtigster Mann der Welt.

Sie lehnten an den großen flauschigen Polstern, vor beiden befand sich jeweils ein kleines Tischchen, das ein schwarzer Angestellter in weißem Anzug und mit schwarzer Fliege behutsam abgestellt hatte, während er sie höflich gebeten hatte, einfach liegen zu bleiben und sich verwöhnen zu lassen. Auf jedem Tischchen stand ein Porzellanteller mit dem Wappen des Hotels, auf dem massiven Schreibtisch gegenüber lagen vor einem großen Spiegel die Messinghauben, die der Angestellte lächelnd von ihren Tellern gelupft hatte, ehe er einen schönen Abend wünschend verschwunden war.

Messer und Gabel, sagte Jay, die spinnen! Wer isst Burger mit Messer und Gabel? Vielleicht auch noch die Pommes!

Ich. Und die oberen Zehntausend. Das Ding ist so riesig, dass man es unmöglich mit den Händen zum Mund führen kann.

Ich kann’s.

Darum siehst du schon wieder wie nach einem Attentat aus.

Jay blickte auf seinen Bademantel. Er war von roten und gelben Schlieren verunstaltet. Kurz befürchtete er, für die Reinigung aufkommen zu müssen. Dann fiel ihm das Selbstverständlich der Agentur ein.

Deine Mundwinkel! Wie ein Kleinkind!

Trotzdem ließ Jay Messer und Gabel auf dem Boden liegen. Er tastete nach der Stoffserviette, die er neben das Bett geworfen hatte, und strich sie über seiner Brust glatt.

Bin ich ein feiner Herr? Fast eine Franzose.

Das ist der beste Burger, den ich je gegessen hab.

Fleisch aus Argentinien. Steht zumindest auf der Karte.

Was er wohl gerade macht?

Wer?

Der Präsident.

Lobster essen. Lobsterburger. Mit goldenem Besteck.

Jay beobachtete Lucy im Spiegel. Sie hatte ein weißes Handtuch um den Kopf gebunden, ihr makellos weißer Bademantel ließ ihre Bräune noch stärker zur Geltung kommen. Trotz all der Sonnenanbetung hatte sie die Haut einer jungen Frau. In ihrem Badezimmer standen unzählige Tuben und Dosen mit Cremes, von denen er nicht wusste, wofür sie gut waren. Er wusste bloß, dass sie immer zahlreicher wurden. In der Mitte ihres Burgers steckte der lange Zahnstocher, den er sofort aus dem seinen gezogen hatte. Sie stach mit der Gabel in das Brötchen und versuchte, mit dem Messer ein Stück herunterzuschneiden. Was Salat und Fleisch betraf, war diese Operation mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Jay schmunzelte, Lucy wiederholte die Operation hartnäckig, bis sie den Burger in Stücke geschnitten hatte. Dann legte sie Messer und Gabel beiseite und führte das erste Häppchen zwischen Daumen und Zeigefinger in den Mund.

Weißt du, First Lady, was der große Unterschied zwischen ihm und mir ist?

Nicht geschieden, nur einmal verheiratet. Außerdem bist du nicht der älteste Präsident aller Zeiten.

Dafür der erste Burgenländer.

Burgenländer!

Sie schüttelte den Kopf.

Hast du noch nie gesagt! Fang jetzt nicht an, zu diesen Folkloreveranstaltungen zu pilgern, wo alle vorm Tanzen die Krücken an die Wände lehnen. Jeder Verein wählt seine Miss Burgenland, sogar die Sterbegesellschaft! Und keine war jemals dort. Lass uns um Gottes willen nicht mit dem Wurzelstechen beginnen!

Wurzelstechen. Jay lachte. Er wunderte sich manchmal, was aus Lucy kam. Und wie in sie gekommen war, was aus ihr kam. Er sah sich im Garten Wurzeln stechen, aus dem Boden ziehen und rufen: Hundert Prozent Burgenland, davon siebzig Prozent deutsch, dreißig Prozent ungarisch, also hundert Prozent Deutschwestungarn! Aber wenn er an seinen Vater und an dessen – auch seinen – Teint dachte, waren da vielleicht auch ein paar Prozent Zigeuner dabei. Er sah sich die Wurzeln mit ein wenig Erdreich hochhalten und den Nachbarn anpreisen. Tata! Das bin ich! Euer Präsident!

Nach dem Essen ließ er sich wieder in die Polster sinken, legte seinen Arm um Lucys Schultern und berichtete ihr von seinem Tag, wobei er die Größe der Schweißflecken unter Rons Achselhöhlen etwas übertrieb. Dann erzählte er von möglichen Aufträgen, für die Ron ihn buchen wollte, von den zwanzig Prozent, die die Agentur –

Du hast aber nichts unterschrieben?

Na ja, das ging alles sehr schnell und –

Diese Leute sind Halsabschneider! Das muss vorher ein Anwalt prüfen!

Zwanzig Prozent gehen in Ordnung. Ohne Ron hätte ich keine achtzig.

Die schreiben allerhand Klauseln und Fußfesseln und was weiß ich –

Jay stand auf, ging zur Garderobe und kramte eine blaue Mappe aus seinem Rucksack. Dann ging er zu Lucy, verbeugte sich kurz und legte ihr die Mappe auf den Bauch.

Hab zu Ron gesagt: Zuerst muss die First Lady den Vertrag absegnen.

4

Auf einmal saß ihm der Schalk im Nacken, sagte seine Tochter drei Jahrzehnte später.

Barbara erkannte ihren Vater kaum wieder, als er Präsident wurde. Er war ein guter Vater gewesen, auch streng und jähzornig, leicht aufbrausend. Bisweilen hatte er sich dermaßen aufgeregt, dass ihm die Luft wegblieb und das Schnappen danach die Worte zerhackte, die er hatte loswerden wollen. Dann waren es keine Worte mehr, nur unverständliche Laute und wütendes Zischen.

Er hatte es nicht leicht gehabt als Einwandererkind, hatte nach und nach Behördengänge und Telefonate für seine überforderten Eltern erledigen müssen, die sich zeitlebens schwergetan hatten mit der neuen Sprache und lieber unter ihresgleichen geblieben waren. Sie kamen vom Land, aus Dörfern, in denen es mehr Tiere als Menschen gab. Oberwart, die größere Gemeinde, in der sie ein paar harte Jahre verbracht hatten, war für sie bereits groß, in Wien oder Budapest waren sie nie gewesen. Plötzlich standen sie in New York. In der Hauptstadt der Welt taten sie das, wofür sie gekommen waren: arbeiten, arbeiten, arbeiten. Jays Vater rackerte jahrelang am Bau, ehe er nach dem dritten Bandscheibenvorfall in einer deutschen Bäckerei unterkam, seine Mutter verdingte sich als Haushälterin und Kindermädchen. Gleichzeitig führte sie den eigenen Haushalt und kümmerte sich um ihre beiden Söhne.

Barbara hatte jedes Mal Tränen in den Augen, wenn sie davon sprach. Anschluss, Freunde, das Glitzern der Stadt, die eine Insel war – das alles war nicht für Jays Eltern und ihresgleichen gewesen. Sie bauten Brücken, Straßen und Wolkenkratzer und hüteten die Kinder und Wohnungen derer, die Brücken, Straßen und Wolkenkratzer erbauen ließen. Sie selbst hausten in einer kleinen feuchten Wohnung auf der Lower East Side.

Es war und blieb eine fremde Welt. Sie hielten sich in der neuen an die alte. Dort ein Ball, da ein Faschingsfest, hier eine Tanzveranstaltung mit burgenländischer Volksmusik und deutschen Schlagern – darauf hatten sich ihre Vergnügungen beschränkt. Auf einem dieser Bälle sollte ihr Sohn 1949 Lucy Fuith kennenlernen. Drei Jahrzehnte später nannte Lucy Immer derlei Veranstaltungen Wurzelstechen.

Vor allem den Verlust seines Bruders hatte Jay, auch wenn er seiner Tochter gegenüber nie davon gesprochen hatte, nicht verdaut. Er war ein guter Fußballer, sagte er, Ed war größer und stärker als ich, hätte es zu etwas gebracht, im Leben, und überhaupt. Er konnte sich durchsetzen, nahm es mit jedem auf, zog nicht den Kopf ein, wenn ein Größerer Streit suchte, er ließ sich nicht einschüchtern. Und er war besser in der Schule, lernte schnell und leicht, sein Kopf schien ein zwitscherndes Vogelnest voller verrückter Ideen zu sein. Sein Schopf war blond; niemand wusste, woher das kam. Die Mädchen liefen ihm hinterher.

Ihr Vater war gutherzig, wenn auch auf seine Weise: War die Fahrradkette gerissen, fand Barbara das Rad am nächsten Tag mit intakter und gut geölter Kette in der Garage wieder; es lief besser als zuvor. Er war kein großer Umarmer, keiner, der andere hielt oder streichelte; da schien etwas zu sein, das ihn davon abhielt. Seine seltenen Umarmungen, zu Weihnachten oder zum Geburtstag, hatten stets etwas Unbeholfenes, im Rückblick beinahe Schüchternes. Er schien eine Welt in sich zu tragen, die er vor anderen verbarg. In den sechziger und siebziger Jahren war er für seine Tochter lediglich ein Spießer mit Spießermoral, der eine Spießergesellschaft verteidigte, die Gouverneur Reagan sogar in Kalifornien durchsetzen wollte.

Jay Immer zeigte seine Zuneigung anders. Waren die Nachbarn auf Urlaub, holte er die Post aus ihren Briefkästen, damit potenzielle Einbrecher nicht auf die Idee kämen, es sei niemand zuhause. Er goss ihre Pflanzen und Bäume, bevor er in den Dienst fuhr oder wenn er nach Hause kam. Er versorgte zurückgelassene Katzen, streute Futter in Aquarien und merkte sich Kennzeichen unbekannter Autos, die einmal zu oft ihre Straße entlanggefahren waren. Er wollte, dass die, die er liebte, es leichter hätten als er. Er war keiner von denen, die einem sagten, man müsse selbst erst durchmachen, was er durchgemacht habe, um mitreden zu dürfen. Er sprach nicht viel, am wenigsten von sich. Mit der Uniform zog er den Polizisten aus, wurde zum Hausmann in Trainingsanzug und weißem Unterhemd. Er war drahtig und stark. Wenn er die Hände hinter dem Kopf verschränkte, spannte sich sein Bizeps, obwohl er keinen Sport trieb. Zuhause las er Zeitung, schaute im Fernsehen Baseball und Boxen. Meistens arbeitete er. Man konnte ihm niemals, auch wenn es seine Tochter bisweilen so gern getan hätte, in den Kopf schauen.

Ich glaube, sagte sie, das hat mit dem Krieg zu tun. Oder mit der Polizei. Ist ja fast dasselbe.

Auf einmal lachte er am Telefon. Barbara, die mit ihrem Mann Bob in Cincinnati lebte, konnte sich nicht erinnern, ihren Vater jemals lachen gesehen zu haben. Er hatte gegrinst, wenn sie etwas anders gemacht hatte, als er es für richtig befunden hatte, und damit auf die Nase gefallen war. Er hatte geschmunzelt, wenn ihn etwas amüsierte. Er hatte seine Frau liebevoll, manchmal stolz, niemals begehrend betrachtet; zumindest nicht vor seiner Tochter. Er hatte sich keinen Luxus erlaubt, so viel wie möglich zur Seite gelegt, um den Kredit und die Zinsen für das Haus Stück für Stück abzubezahlen. Er hatte keine neuen Schulden aufnehmen, keine Kreditkarten unnötig belasten wollen. In dieser Hinsicht, sagte seine Tochter, sei er nie Amerikaner geworden. Er hielt das für eine Seuche der jüngeren Generation.

In ihrer Jugend hatte Barbara die Beruhigung in seinem Gesicht gesehen, wenn er sie abends mit dem Auto abgeholt hatte und sie wohlbehalten aus einer Bar oder von einer Party gekommen war. Als Kind war sie stolz gewesen, zu ihrem Vater in einen Polizeiwagen zu steigen, hatte sich besonders und behütet gefühlt, die Funksprüche und das Knacken in der Verbindung waren aufregend gewesen, auch wenn er nicht ein einziges Mal, sosehr sie ihn auch darum anbetteln mochte, das Blaulicht angestellt hatte. Als sie in die Pubertät kam, sagte er, sollte ihr jemals ein Junge oder Mann etwas antun, müsse sie es ihm unverzüglich berichten. Er werde sich darum kümmern, dass es nie wieder geschehe, und zwar niemandem.

Vor allem aber, sagte sie, konnte er auf einmal über sich selbst lachen. Auf einmal freute ich mich über seine Anrufe. Ich bin’s, sagte er, dein Präsident. Hab gerade Lobster gegessen. Getrüffelten.

5

Auch wenn er weder Lobsterburger mit goldenem Besteck noch getrüffelte Austern aß, wurde Jay Immer in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft zu Mahlzeiten eingeladen, die er sich nie geleistet hätte. Er eröffnete Automessen, pries neue Gesichtscremes an und ließ sich mit Menschen ablichten, die bis zu hundert Dollar ausgaben, um sich in eine lange Schlange für ein Foto mit jenem Mann einzureihen, den man unter anderen Umständen für Ronald Reagan gehalten hätte. Lokalpolitiker ließen die Fotos rahmen, Unternehmer hängten sie an ihre Bürowände, Menschen trieb es Tränen in die Augen, wenn er ihnen zuwinkte.

Jay arbeitete viel. Er nannte es spielen