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Inwieweit ist Augusto Boals partizipatives Theater in der Supervision anwendbar? Anne Keiner gibt einen kenntnisreichen Einblick sowohl in die Grundlagen des Theaters der Unterdrückten als auch der berufsbezogenen Beratung. Anhand der Ebenen Theorie, Haltung und Methodik zeichnet sie den Fachdiskurs beider Gegenstandsbereiche nach, um schließlich differenziert die Anwendbarkeit von Boals Befreiungstheater für die Supervision zu untersuchen – beide sind gleichermaßen Orte der Aufklärung. Theater als supervisorische Intervention lädt ein, nicht stehen zu bleiben, sondern in Bewegung zu kommen, zu experimentieren und den „Möglichkeitssinn“ (Musil) zu erweitern. In diesem Sinne: Vorhang auf – es eröffnen sich neue Möglichkeitsräume!
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2019
ibidem-Verlag,Stuttgart
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Reihenherausgebers
Geleitwort
Einleitung
Supervision
Allgemeine Einführung
Definition von Supervision
Wurzeln der Supervision
Wissenschaftstheoretischer Hintergrund
Haltung
Systemische Haltung
Gesellschaftspolitische Verantwortung und emanzipatorische Haltung in der Supervision
Methodische Überlegungen
Theater der Unterdrückten (TdU)
Allgemeine Einführung
Theoretische Grundannahmen
Zur Namensgebung
Zugrunde liegender Bezugsrahmen
Zentrale Grundbegriffe
Haltung
Methodik
Zur Funktion des Jokers
Techniken
Zeitungstheater
Unsichtbares Theater
Statuentheater / Bildertheater
Forumtheater
Introspektive Techniken
Legislatives Theater
Theaterarbeit mit dem TdU als Prozess (Mazzini/Wrentschur)
Kritische Würdigung
Supervision und Theatralität - Bestandsaufnahme
Theatrale Interventionen in Organisationen - Metatheoretische Annäherung (nach Heindl)
Supervisionsrelevante Entlehnungen aus dem TdU
Systemische und konstruktivistische Weiter- entwicklungen
„Von Revolution zu Autopoiese - Auf den Spuren Augusto Boals ins 21. Jahrhundert“ (Fritz)
„Theater zum Leben - Über die Kunst und die Wissenschaft des Dialogs im Gemeinwesen“ (Diamond)
TdU als Empowerment-Instrument (Haug)
TdU zur Bearbeitung und Transformation von Konflikten (Ebbers)
TdU in der Supervision? - Resümee
Offenheit des TdUs für eine Anwendung im Kontext von Supervision?
Möglichkeiten und Grenzen von Entlehnungen aus dem TdU für die Supervision
Bedeutsame Aspekte für die praktische Anwendung der Methoden Boals in der Supervision
Entsprechungen und Unterschiede auf Ebene der Haltung und der theoretischen Grundannahmen
Schärfung des Bewusstseins über den emanzipatorischen Gehalt von Supervision
Literaturverzeichnis
Die Autorin
Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten
Impressum
„Im täglichen Leben ist „wenn“ eine Fiktion, im Theater ist „wenn“ ein Experiment.“
Peter Brook 1
"Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben. [...] Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen, sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen. [...] So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht weniger zu nehmen als das, was nicht ist."
Robert Musil 2
1 Brook 1983, 187
2 Musil 1932 zit. in Haye/Kleve 1998, 79
In den letzten Jahren wurden vermehrt Theatermethoden in Therapie und Beratung eingesetzt. Dass Theatertechniken hilfreich für die Herstellung seelischen Wohlbefindens sein können und Veränderungsprozesse auch mit der Hinzuziehung von Körperlichkeit und Emotionen, die theaterpädagogische Prozesse auslösen, begleitet werden können, ist inzwischen unbestritten. Diese Erkenntnis gilt für das Psychodrama von Jakob Levy Moreno schon immer. Mit dem „Regenbogen der Wünsche“ schuf der Begründer des „Theaters der Unterdrückten“, Augusto Boal, eine Brücke zwischen internalisierter Unterdrückung, eine Reise in die Innenwelt sozusagen, bei welcher er erstmals nicht das Handeln, sondern die Analyse in den Vordergrund stellte, und den Methoden des Polizisten im Kopf. Das war auch ein Versöhnungsangebot an Moreno, dessen Methoden Boal lange Zeit als Anpassung an das Gesellschaftssystem interpretiert hat. Folgerichtig widmet er das „Regenbogen der Wünsche“-Buch auch Zerka Moreno, der Witwe von Jakob Levy Moreno.
Fakt ist: Die Methoden von Augusto Boal werden seit Jahren in unterschiedlichen Kontexten weltweit adaptiert und angewendet. Ob in Kanada von David Diamond, der, inspiriert von Augusto Boal, sein „Theater zum Leben“ entwickelte, oder im deutschsprachigen Raum, wo es inzwischen viele Anbieter*innen des sogenannten Unternehmertheaters gibt, in dem auch mit Techniken des „Theaters der Unterdrückten“ gearbeitet, deren Herkunft aber häufig unterschlagen wird – oder die Methoden einfach gleich anders benannt werden.
Der Kontext, in denen emanzipatorische Theaterarbeit eingesetzt wird, macht den Unterschied. Anne Keiner stellt in dieser Publikation das „Theater der Unterdrückten“ in den Kontext von Supervision. Sie gibt im ersten Teil des Buches einen umfangreichen Einblick darin, was Supervision und was „Theater der Unterdrückten“ ist. Vor allem zeigt sie auf, dass Supervision einen emanzipatorischen Anspruch hat und, was in neoliberalen Zeiten umso wichtiger wird, dass auch Supervision auf einem ethischen Grundverständnis fußt: Es geht eben nicht darum, mit theatralen Methoden Akzeptanz für die „Flexibilisierungszumutungen“ zu fördern, die das neoliberale Gesellschaftsmodell zunehmend einfordert.
Die Publikation „Das Theater der Unterdrückten als Impuls für eine emanzipatorische Supervision“ist für mich als Begründer der „Theatralen Supervision“ auch eine große Bereicherung. Denn wenn ich als Supervisor mit meinem kreativen Ansatz Supervisionsaufgaben übernehme – wie z.B. Fallbesprechungen und/oder Teamtage zur Teamentwicklung –, verwende ich eine andere Sprache als wenn ich eine Fortbildung zum „Theater der Unterdrückten“ anleite. Auch der Fokus ist natürlich ein anderer. Gerade die partizipativen und kreativen Theaterelemente aus dem „Theater der Unterdrückten“ befruchten die klassische Supervision und schaffen Räume zur Stärkung professionellen Handelns.
Anne Keiner hat sich die Mühe gemacht, die Methoden aus dem „Theater der Unterdrückten“ in der Supervision näher zu beleuchten und zu untersuchen. Das Ergebnis kann sich sehen bzw. in den Berliner Schriften zum Theater der Unterdrückten lesen lassen. Dieses Buch ist eine Bereicherung für Menschen, die sich sowohl für das „Theater der Unterdrückten“ als auch für Supervision interessieren. Zum Glück gibt es viele soziale Einrichtungen in der Bundesrepublik, die Wert auf eine ethisch fundierte professionelle Supervision legen, so dass die emanzipatorischen Anteile des „Theaters der Unterdrückten“ in Supervisonsprozessen Früchte tragen werden.
Danke, Anne Keiner, für dieses tolle Buch! Als Reihenherausgeber wünsche ich den Leser*innen viel Freude und Erkenntnis bei der Lektüre.
Harald Hahn im Sommer 2019
Die vorliegende Studie zur Anwendbarkeit von Elementen aus dem „Theater der Unterdrückten“ von Augusto Boal für die supervisorische Arbeit gibt den Leser*innen zum einen einen profunden Einblick in den aktuellen Fachdiskurs beider Gegenstandsbereiche. Diese werden auf den Ebenen Theorie, Haltung und Methodik beleuchtet, ihre geschichtlichen Entwicklungen aufgezeigt und ihre unterschiedlichen Ansätze kritisch gewürdigt.
Zum anderen besticht diese Arbeit durch ihre politische und ethische Positionierung. Zentrales Anliegen der Autorin ist nämlich eine emanzipatorische Ausrichtung der Supervision und eine dieser Orientierung entsprechenden supervisorischen Haltung. Wie das „Theater der Unterdrückten“ ist auch Supervision ein Ort der Aufklärung. Deshalb geht es auch nicht darum, mit Elementen des „Theaters der Unterdrückten“ einfach noch ein weiteres Tool neben anderen in die Supervision einzuführen, sondern mit diesem Ansatz eine Methode vorzustellen, die die Bedingungen der postmodernen Arbeitswelt nicht unreflektiert hinnimmt, sondern diese hinterfragt und nach neuen Erfahrungsräumen jenseits der Selbstoptimierungs- und Machbarkeitslogik im Arbeitskontext sucht. Dass das „Theater der Unterdrückten“ nicht nur hervorragende Möglichkeiten bietet, in der Supervision kreativ und körperorientiert zu arbeiten, sondern zudem ein klar positioniertes Professionsethos zu entwickeln und den emanzipatorischen Gehalt von Supervision zu bewahren, wird exakt herausgearbeitet und ist das große Verdienst dieser Abhandlung. Dabei leugnet die Autorin aber auch die Herausforderungen nicht und widmet sich ebenfalls den Widersprüchen, zu denen es im Verhältnis von eigenem professionsethischem Selbstverständnis und den Bedingungen der aktuellen Arbeitswelt kommen kann und die es auszuhalten gilt.
Insgesamt gibt die Studie den Leser*innen einen kenntnisreichen und außerordentlich differenzierten Einblick in die Frage, wieweit das „Theater der Unterdrückten“ für Supervision fruchtbar gemacht werden kann. Zugleich fordert sie die Leser*innen heraus, einen eigenen Standpunkt zu finden und sich unter den Bedingungen der Postmoderne ethisch zu positionieren. Deshalb ist der Arbeit ein lebhaftes Interesse in der Supervisionsszene und darüber hinaus zu wünschen!
Prof. Dr. Margret Nemann,
Studiengangsleitung des Masters „Supervision/Coaching“ an der Katholischen Hochschule NRW
Theater kann begeistern. Sich selbst theatral und spielerisch betätigen zu dürfen, hat mitreißende Wirkung. Dies gilt für das private Vergnügen – beispielsweise für den Besuch einer Theatervorstellung oder für die Teilnahme an einem Improvisationstheater-Workshop. Aber auch im Arbeitskontext scheinen solcherlei Wirkungen gewünscht zu sein. So konstatiert Heindl (2012) in seiner Studie zu theatralen Interventionen in Organisationen:
„Unterschiedliche Kreativtechniken, Rollenspiele bis hin zu Unternehmenstheatern und Aufstellungen kommen zum Einsatz und „sind kein exotischer Aufputz mehr.“ (ebd., 4)
Die vorliegende Arbeit gründet in meiner persönlichen Begeisterung für das Theaterspielen und in dem Interesse, nach Möglichkeiten und Formen zu forschen, wie ich es auch in meiner Tätigkeit als Supervisorin methodisch nutzen könnte.
Im Speziellen wende ich mich der Frage zu, inwiefern das „Theater der Unterdrückten“ (TdU) für die Supervision fruchtbringend eingesetzt werden kann.
Der partizipative Theateransatz des TdUs wurde von dem Brasilianer Augusto Boal in den 1980er Jahren begründet und systematisch ausgebaut. Seine Wurzeln liegen in der südamerikanischen Befreiungsbewegung und damit ist es geprägt von einer politisch-emanzipatorischen Zielsetzung und marxistischen Denkweise.
Bereits bei meinen anfänglichen Internet-Recherchen konnte ich feststellen, dass es offenbar eine Praxis der Nutzung von Boals Methoden für Theater sowie Beratung in beruflichen Kontexten gibt.
So zählen verschiedenste Anbieter von sog. Unternehmenstheatern1das Forumtheater Boals als eine ihrer Methoden auf. Nicht immer wird in diesem Zusammenhang ihr Begründer genannt oder gar der Name seines gesamten Konzeptes.
Am Off-Theater NRW wird eine Fortbildung mit dem Titel „Das Theater Augusto Boals“ angeboten. Sie firmiert als Zusatzqualifikation für Theater, Bildungsarbeit, Coaching und Therapie. Als Zielgruppe werden hier nicht nur Theaterschaffende sondern auch explizit „Supervisor/innen, Coaches und (Unternehmens-)Berater/innen“ genannt. In den Erläuterungen zum Kurs werden zentrale Grundgedanken Boals wiedergegeben. Die Bezeichnung „Theater der Unterdrückten“ fällt jedoch nicht. (vgl. Off-Theater NRW 2019)
Demgegenüber finden sich allerdings einzelne Beraterinnen und Supervisorinnen2, die sich in ihrem Internetauftritt explizit auf Boal und das TdU berufen.
Bei der zu konstatierenden Anwendungspraxis der Boal'schen Techniken im Beratungskontext verwundert auf den ersten Blick v.a. die Nutzung eines ursprünglich politischen und sich klar für die Unterdrückten positionierenden Theateransatzes im Rahmen von Unternehmenstheatern in Profit-Organisationen.
Jenseits der offensichtlich bestehenden Praxis fand ich keine systematisierte nähere theoretische Beschreibung, in welcher Weise diese Übertragungen in den Arbeitskontext konzeptionell angelegt sind und ob sie Bezug nehmen auf die theoretischen Grundannahmen Boals.
Literatur zu Übertragungsmöglichkeiten in andere sozialpsychologische Arbeitsbereiche (Neuroth 1994, Haug 2005) fand sich hingegen durchaus, auch zu der theaterpädagogischen Anwendung (vgl. z.B. die Sammelbände Wiegand 2004a, Ruping 1991a) sowie Beschreibungen und Analysen des TdUs aus theaterwissenschaftlicher Richtung (vgl. Thorau 2003, Hüttler 2005).
Zu meinem professionellen Verständnis als Supervisorin gehört, dass ich mein beraterisches Tun konzeptionell einbinde in mein theoretisches Verständnis des Gegenstandes und in meine supervisorische Haltung. Laut Bergknapp (2016) stehen diese Ebenen in Wechselwirkung zueinander, durchdringen und beeinflussen einander rekursiv. Er erläutert sie folgendermaßen:
Auf theoretischer Ebene: „Wie erkläre ich die Phänomene der Praxis?“
Auf praxeologischer/ Haltungs-Ebene: „Welche Schlussfolgerungen ziehe ich aus der Theorie für meine grundlegenden Überzeugungen und für meine Art des Zugangs und Umgangs mit den Phänomenen der Praxis?“
Auf methodologischer Ebene: „Wie handle ich vor dem Hintergrund der Theorie und Praxeologie in der konkreten Praxis?“ (ebd., 7)
Wenn ich also in der vorliegenden Arbeit untersuche, ob und inwieweit eine Anwendung des TdUs für den Bereich der Supervision möglich ist, so soll dies stets unter Einbeziehung der drei genannten Ebenen geschehen. Jenseits der bestehenden Anwendungspraxis von Boal'schen Techniken möchte ich zunächst einen Schritt „zurückgehen“. Die beiden jeweiligen Gegenstandsbereiche werden in Hinblick auf die Aspekte Theorie, Haltung und Methode jeweils für sich genommen betrachtet. Erst im nächsten Schritt werden Übertragungsmöglichkeiten herausgearbeitet.
Das beschriebene Vorhaben schlägt sich in folgenden Forschungsfragen nieder:
Was ist Supervision? – Betrachtung ihrer Ziele und Qualitätsansprüche, des hier gewählten wissenschaftstheoretischen Hintergrundes sowie der darauf basierenden Haltungen und methodischen Ansätze.
Gibt es supervisorische Entwicklungslinien in Richtung eines für das TdU offenen Selbstverständnisses?
Was ist das TdU? – Untersuchung hinsichtlich seiner theoretischen Grundannahmen, Haltungen und Methoden.
Gibt es Entwicklungslinien in Richtung einer Anwendung in der Supervision?
Ist das TdU mit seinen Grundideen kompatibel zur Supervision? – Wenn ja, wo wäre es möglich, Parallelen zu ziehen und Anleihen zu machen? Wo liegen mögliche Grenzen – unter Beachtung der jeweiligen Grundannahmen?
Die Auseinandersetzungen mit Boals politisch-emanzipatorischem Impetus inspirierten mich zu genauerem Hinschauen, in welcher Weise eine solche Ausrichtung in der Supervision zum Tragen kommt. Diesem Impuls folgend läuft die Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt von Supervision während der gesamten Untersuchungen als eine Art parallelen Erzählfadens mit.
Entsprechend des beschriebenen Vorgehens werden zunächst einmal die Gegenstandsbereiche „Supervision“ sowie „TdU“ gesondert voneinander beschrieben (vgl. Kap. 2 u. 3). Die Analyse erfolgt jeweils anhand der Ebenen von Theorie, Haltung und Methodik. Bei der Darstellung des für diese Arbeit relevanten Verständnisses von systemischer Supervision (vgl. Kap. 2) wird speziell die Frage nach der emanzipatorischen Ausrichtung von Supervision gestellt. Insbesondere beim Blick auf die Geschichte der Supervision (vgl. Kap. 2.1.2) sowie auf ihr ethisches Grundverständnis (vgl. Kap. 2.3.2) lassen sich hier Hinweise erkennen.
Im anschließenden dritten Kapitel ist das „Theater der Unterdrückten“ zentraler Gegenstand. Die TdU-Methodik beschreibe ich sehr ausführlich (vgl. Kap. 3.4). Diese schrittweise Veranschaulichung der Techniken soll dazu dienen, eine konkrete Vorstellung vom TdU zu entwickeln. Das Kapitel schließt mit einer kritischen Würdigung von Boals Theaterkonzept ab (vgl. Kap. 3.5). Dies verhilft zu einer angemessenen Aktualisierung dieser Methode sowie zu einer Einordnung angesichts der hier gewählten systemischen Perspektive. Auch erinnern die nachgezeichneten Diskurse an Spannungsfelder zwischen Realität und Ideal, die ebenfalls für die Supervision und die hier gesuchte emanzipatorische Ausrichtung relevant sind.
Nachdem die jeweiligen Haupt-Gegenstände dieser Arbeit beschrieben wurden, folgt unter dem Stichwort „Theatralität und Supervision“ (Kap. 4) eine Darstellung von ersten erkennbaren Verknüpfungsmöglichkeiten. Zunächst einmal wird eine metatheoretische Einordnung anhand der Ausführungen von Heindl (2012) zu theatralen Interventionen in Organisationen gegeben (Kap. 4.1.). Seine Analysen helfen den konstatierten Einzug von theatralen Methoden in den Arbeitskontext zu beschreiben. Auch kann anhand Heindls Strukturierungen das Phänomen der Unternehmenstheater sowie die Nutzung des TdUs in Unternehmenskontexten eingeordnet werden. Die in den Forschungsfragen gesuchten Entwicklungslinien hin zu einer möglichen Übertragung des TdUs in die Supervision werden aus der einschlägigen Literatur herausgefiltert und im Unterkapitel „Supervisionsrelevante Entlehnungen aus dem TdU“ (Kap. 4.2) aufgeführt. Neben systemischen und konstruktivistischen Weiterentwicklungen (vgl. Kap. 4.2.1) werden hierbei Arbeiten aus dem sozialarbeiterischen und zivil-gesellschaftlichen Kontext beleuchtet. So werden aus einer Ausarbeitung zum TdU als Empowerment-Instrument nach Haug (2005, vgl. Kap. 4.2.2) sowie als Methode zur Konflikttransformation (vgl. Ebbers 2014) erste Rückschlüsse auf die Nutzungsmöglichkeiten des TdUs für die Supervision gezogen (vgl. Kap. 4.2.3).
Schlussfolgerungen – auch in den ersten vier Kapiteln – sind mit folgendem Symbol gekennzeichnet:
Im Resümee zur generellen Frage nach den Übertragungsmöglichkeiten des TdUs (vgl. Kap. 5) orientiere ich mich ebenfalls an den konzeptionellen Ebenen von Theorie, Haltung und Methode. Das Unterkapitel 5.3 widmet sich dem eingangs genannten Impuls, durch Boals gesellschaftskritischen Anspruch allgemein die emanzipatorische Ausrichtung der Supervision zu untersuchen.
Jenseits der konkreten Übertragungsmöglichkeiten des TdUs kann mich Boal vieles für mein Selbstverständnis als Supervisorin lehren. Er ermutigt mich und gibt mir Gedanken und Ideen an die Hand, meinen „Möglichkeitssinn“3zu erweitern und zu schulen.
In diesem Sinne: Bühne frei für die Suche nach den Möglichkeiten, die Augusto Boal und sein Theater der Unterdrückten für die Supervision eröffnen können!
1 Folgt man der Analyse von Hüttler (2005), so gab es im Jahr 2000 im deutschsprachigen Raum ca. 50 Unternehmenstheater. Bei ihm findet sich auch eine Auflistung des methodischen Repertoires dieser Anbieter (vgl. ebd., 66ff.). Mit G. Schreyögg (1999) können Unternehmenstheater auch als „Bedarfsorientierte Theaterarbeit in Unternehmen“ definiert werden (vgl. ebd., 4).
2 In der vorliegenden Arbeit wähle ich für allgemeine Personenbezeichnungen das generische Femininum.
3 vgl. das vorangestellte Zitat von Robert Musil
Einführend sei mit Rappe-Giesecke (2009) folgende Definition von Supervision gegeben:
„Supervision ist personenbezogene berufliche Beratung für Professionals. Ihre Aufgabe ist es, Einzelne, Gruppen oder Teams von Professionals zu individueller und sozialer Selbstreflexion zu befähigen. Ziel dieser Reflexion ist die Überprüfung und Optimierung des beruflichen und methodischen Handelns.“ (ebd., 3)
Hier schlägt sich einerseits eine Abgrenzung von reiner individueller Selbstreflexion nieder, wie sie im Kontext von Beratungen oder Therapien u.ä. praktiziert wird. Bei Supervision stünde nicht „die Person in ihrer Komplexität im Mittelpunkt, sondern derjenige Teil der Person, der die professionsabhängige Ich-Identität bildet“ (ebd.). Andererseits grenzt Rappe-Giesecke sich mit dieser Definition von Organisationsberatung ab. Bei dieser sei nicht ausschließlich die Person das Medium der Veränderung, sondern „bestehende oder durch Beratung neu geschaffene Subsysteme der Organisationen“ (ebd.).
Supervision findet in verschiedenen Formen und Settings statt, von Einzel, Gruppen- und Teamsettings bis zu spezifischen Formen wie Fallsupervisionen oder Leitungssupervisionen (vgl. Ebbecke-Nohlen 2015, 17ff.).
Bei Rappe-Giesecke (2009) findet sich eine Aufzählung folgender Supervisionsvarianten: administrative Supervision, Ausbildungssupervision, Supervision im Rahmen von Organisationsentwicklungsprozessen sowie berufsbegleitende Supervision. Letztere ist die in der Praxis häufigste Form und ihre Schwerpunkte können auf klientenbezogenen, kooperationsbezogenen oder rollenbezogenen Themen liegen. (vgl. ebd., 5-10)
Ebbecke-Nohlen (2015) gibt in ihrer Abhandlung zur systemischen Supervision folgenden Überblick über die Ziele von Supervision:
Erweiterung oder Vertiefung persönlicher Erkenntnisse über eigene Möglichkeiten und Grenzen, über Einstellungen und Werthaltungen
Veränderungen des eigenen Verhaltens
Verbesserung des Wissens über soziale und institutionelle Rahmenbedingungen für das berufliche Handeln, Erweiterung oder Vertiefung der sozialen Handlungskompetenz und der praktischen Fertigkeiten
Verbesserung der Praxistätigkeit im jeweiligen Aufgabenfeld (vgl. ebd., 13)
Die Autorin stellt dabei heraus, dass sich die Ziele je nach Grundverständnis von Supervision unterscheiden. Sie entsprechen zudem den historischen Entwicklungen und finden sich in unterschiedlicher Färbung und Kombination auch heute als potentielle Supervisions-Ziele und -Funktionen wieder. (vgl. ebd., 12)
„Manche Richtungen orientieren sich mehr an den eher funktionalen Erwartungen der AuftraggeberInnen, andere entspringen eher den Menschenbildern, Entwicklungs- und Veränderungsmodellen der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen, welche die Supervisionsausrichtungen prägen, und wiederum andere entsprechen eher dem Selbstverständnis von Supervision als Profession. [...] In zunehmendem Maße werden allerdings funktionale Zielvorstellungen in den Mittelpunkt gerückt.“ (ebd.)
Busse (2008) konkretisiert ein implizites Verständnis von Supervision, das er nicht nur für sich selbst, sondern auch für „viele seiner KollegInnen“ (ebd., 52) als relevant ansieht. Er legt an Supervision den Anspruch des Aufklärens und Reflektierens sowie des Aufzeigens von Handlungsmöglichkeiten und -alternativen an. (vgl. ebd.)
Die hinter solchen Zielen stehende emanzipatorische Haltung wird im folgenden Unterkapitel noch genauer beleuchtet.
Hinsichtlich der Frage „Was kann Supervision?“ soll im begrenzten Rahmen dieser Arbeit nicht im Detail auf die dahinterliegende Qualitätsdebatte eingegangen werden. Vielmehr sei zum einen auf eine Darstellung von Rappe-Giesecke (2002b) verwiesen, in der sie die mittlerweile üblichen Qualitätsdimensionen von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität1 auf Supervision bezieht und aufschlüsselt (vgl. ebd., 76-91). Zum anderen findet sich bei Rappe-Giesecke (2009) eine Aufstellung von Standards guter Supervision. Ich stelle sie hier zusammengefasst vor, da sie auch für die Nutzung des Theaters der Unterdrückten in der Supervision geltend zu machen wären:
„Supervision ist nur dann gute Supervision, wenn sie – genau wie die Forschung – übertragbares Wissen schafft und damit nachhaltig wirkt.“ (ebd., 11)
Eine hohe Ergebnisqualität einer Supervisionssitzung wird erreicht, wenn die drei Dimensionen (=triadisches Modell) beruflichen Handelns untersucht werden: a) die Perspektive auf die berufliche Situation aus einer bestimmten Profession, mit den ihr eigenen professionellen Programmen und Werten, heraus; b) der Blickwinkel als Funktionsträger in der Organisation, mit seiner Prägung durch die Aufgabe, die Stellung sowie den eigenen und fremden Rollenerwartungen; c) die Problemperspektive der Supervisandin als Person, geprägt durch Biographie, Persönlichkeit und Werte. Wichtig ist hierbei zudem, den Preis der Fokussierung einer Ebene zu Ungunsten der anderen herauszuarbeiten. (vgl. ebd.,12)
„Die Komplexität des Problems wird zunächst erhöht mit dem Ziel, die Anzahl der Perspektiven auf das Problem und dadurch die Handlungsoptionen zu erweitern, um sie danach wieder zu reduzieren und die Professionals handlungsfähig werden zu lassen.“ (ebd., 12f.)
Bezogen auf die Arbeit mit Teams gilt es ebenso das triadische Modell zu beachten und auf ähnliche Weise mit eine Komplexitätserhöhung sowie -reduktion zu arbeiten (vgl. ebd., 13-15). Rappe-Giesecke definiert folgende drei Aspekte, die ein Team konstituieren:
„Ein Team ist sowohl Gruppe im gruppendynamischen Sinn, als auch Subsystem einer Organisation als auch als [sic!] Verbund von Professionals, also Angehöriger der gleichen oder unterschiedlicher Professionen.“ (ebd., 13)
Im Sinne des Mottos „form follows function“ sieht Rappe-Giesecke ein Qualitätsmerkmal von Supervision darin, dem Anlass und Ziel der Beratung angemessene Programme zu wählen. Programme, die Supervision zur Verfügung hat, sind die der Fallsupervision, Selbstthematisierung und Institutionsanalyse. Diese können dann wiederum mit unterschiedlichsten Verfahren bearbeitet werden. Dies geschieht entsprechend der konzeptionellen Orientierungen der Supervisorinnen und entsprechend ihrer Person, Berufsbiografie und den eigenen Werten und Grundüberzeugungen. (vgl. ebd., 15f.)
So könne man „das Programm Fallsupervision mit Verfahren aus dem Psychodrama, aus der Balint-Arbeit, aus der systemischen Beratung, aus dem Rollenspiel etc. praktizieren“ (ebd., 15f.).
Drei zunächst unabhängige Systeme treffen bei der Beratungsanfrage zusammen: das Beratersystem, das ratsuchende und das auftraggebende System. Supervision konstituiert schließlich ein weiteres System, das Beratungssystem.
„Dieses neue System muss genau wie alle 3 anderen eigene Regeln für Mitgliedschaft entwickeln, Aufgaben und Rollen ausdifferenzieren, System-Umwelt-Beziehungen regulieren, seine Aufgabe in Abläufe prozessieren und schlussendlich eine eigene Identität entwickeln.“ (ebd., 17)
Neben dem formalen Teil der Rollenklärung läuft parallel ein Prozess zum Schließen eines Arbeitsbündnisses, welches auf gegenseitigem Vertrauen, Sympathie bzw. zumindest Respekt basiert. (vgl. ebd., 16-18)
Laut Rappe-Giesecke hat sich eine Normalform des Ablaufs eines Supervisionsprozesses herausgebildet, die gute Supervisorinnen verinnerlicht haben. Bei guter Supervision werden die Beteiligten in diesen Ablauf „einsozialisiert“ (ebd., 21), sodass im Anschluss auch mit Variationen und Abweichungen gearbeitet werden kann. (vgl. ebd., 20f.)
In der Supervision findet ein Erkenntnisgewinn durch den Wechsel von Introspektion und distanzierter Betrachtung statt. Hierbei kommt der Arbeit mit Spiegelungsphänomenen eine hohe Bedeutung zu. (vgl. ebd., 22f.)
Selbsterfahrung und Instruktion werden in der Supervision integriert. Selbsterfahrung wird hier berufsbezogen verstanden, es wird also der Fokus auf die professionsabhängigen Ich-Anteile gelegt. Instruktion ist gebunden an die konkrete Auseinandersetzung mit dem professionellen Alltag und dem subjektiven Problemerleben. (vgl. ebd., 24)
Hieraus wird rekonstruiert, „welche Maximen für professionelles Handeln allgemein aus diesem Fall zu ziehen sind und was man aus diesem Fall über die Psychodynamik professioneller Beziehungen und über deren Zusammenwirken mit den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen lernen kann“ (ebd.).
Als weitere Anforderung an gute Supervisorinnen formuliert Rappe-Giesecke die Fähigkeit, „entstehende natürliche Spannung auszuhalten und die Komplexität nicht vorschnell zu reduzieren, indem man Entscheidungen trifft“ (ebd., 25). Außerdem werden im Rahmen von Supervision dialogische Prozesse gefördert. Dialogische Prinzipien entstammen hierbei der klientenzentrierten Gesprächsführung, der Psychoanalyse sowie der systemischen Beratung. Es findet ein Wechsel zwischen reflexiven Anteilen sowie ziel- und aufgabenbezogenem Arbeiten statt. Des Weiteren wird in guter Supervision ein stabiler Rahmen geboten, in welchem „sich Chaos entwickeln kann“, die sich hierin zart herausbildenden veränderten Strukturen erkannt und „dem System als selbst geschaffene Lösung zur Verfügung“ (ebd., 27) gestellt werden. (vgl. ebd., 25-27)
Rappe-Giesecke hebt die Komplexität der Phänomene hervor, mit denen wir bei beruflicher Beratung zu tun haben. Es gehe um Problemkomplexe auf mehreren Ebenen: „Person, Profession, Funktion, Organisation und Klientel“ (ebd., 10). Die Autorin versteht die konzeptionelle Entwicklung der Supervision so, dass sie „nach und nach ein umfassendes Theoriegerüst und Praxismodell zur Verfügung gestellt hat, um diese verschiedenen Ebenen professioneller Probleme adäquat verstehen und zum Nutzen der SupervisandInnen bearbeiten zu können“ (ebd., 11).
Hiermit soll nun übergeleitet werden zu einem genaueren Blick auf eben diese Entwicklung der Supervision.
Wittenberger (2008a) stellt in seinem Aufsatz „Aspekte zur Geschichte der Supervision. Forschen, Verstehen und Deuten – Probleme der Erkenntnis“ die These auf, dass es nicht die eine Geschichte der Supervision gibt:
„Je nachdem welchen fachlichen Hintergrund die jeweiligen Autoren selbst haben, verfassen sie ‚ihre‘ Geschichte der Supervision, bekommt Supervision einen spezifischen Charakter.“ (ebd., 3)
Diese These passt zu der konstruktivistischen Grundannahme, dass die Eigenarten der beobachtenden Person stets in die Wirklichkeitsbeschreibungen mit einfließen. Die Annahme einer solchen Selbstreferenzialität von Erkenntnis deckt sich mit heutigem Wissen über neurophysiologische Prozesse von Wahrnehmung und Bewusstsein2. Die in dieser Arbeit getroffenen Unterscheidungen geschehen immer mit dem Fokus auf die Frage nach dem möglichen Nutzen des „Theaters der Unterdrückten“ in der Supervision und nach dem emanzipatorischen Gehalt von Supervision. Als besonders ergiebig hat sich für mich hierbei ein historischer Abriss nach Busse (2008) gezeigt3.
Dieser geht in seinem Aufsatz „Supervision – über die Verhältnisse reflektieren und in ihnen handeln“ seinem Unbehagen in der praktischen Tätigkeit als Supervisor nach. Es stünden nicht nur für die Supervision weniger zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung, sondern die Problemlagen der Supervisanden würden existenzieller.
Als beispielhafte Gründe nennt Busse „ökonomische[n] Druck und Flexibilisierungszumutungen in den Einrichtungen und Unternehmen, [...] die Ausdünnung professionellen Personals sowie die Instabilität langfristiger Arbeitsbeziehungen“ (ebd., 52). Er konstatiert eine zunehmende Schwierigkeit in den Supervisionen. „Die Medizin ,Reflexion’ scheint weniger zu wirken, die Entfaltung emanzipatorischer Potenziale gelingt kaum“ (ebd.). Die Fachliteratur verwiese zwar auf die Begrenztheit von Supervision, die Überzeugung von der „durchschlagende[n] Kraft von Reflexion“ (ebd.) sei jedoch ungebrochen. Laut Busse steht die „Supervision auf unsicherem Grund“ (ebd., 60), was mit den Widersprüchlichkeiten der Supervisionspraxis und einer ungenügenden Beachtung des widersprüchlichen Verhältnisses von Reflexion und Handeln zu tun habe (vgl., 62). Supervisionsgeschichte liest Busse als einen „unvollständigen Versuch, sich den Widerspruch von Reflexion und Handeln anzueignen“ (ebd.).
Für mich ist diese Analyse interessant, da es im Zusammenhang mit dem „Theater der Unterdrückten“ stets um die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen – genauer gesagt: unterdrückerischen Verhältnissen – geht. Neben der Reflexion besteht im TdU das klare Ziel einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Bezogen auf die Supervision sei nun also Busse (2008)gefolgt, wie er herausarbeitet, ob und in welchem Maß das Moment eines aufklärerischen Anspruchs in den jeweiligen Entwicklungsphasen der Supervision zum Tragen kommt.