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Hirschkäfer kämpfen mit einem Alkoholproblem, Krötenechsen verspritzen Blut aus ihren Augen, und der Samtgoldvogel hat einen ausgeprägten Designfimmel – das Tierreich steckt voller Überraschungen. Dirk Steffens stellt 55 Tiere und ihre ganz besonderen Eigenschaften vor und zeigt, dass auch der unscheinbare Spatz nicht unterschätzt werden sollte.
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Seitenzahl: 111
Veröffentlichungsjahr: 2012
Dirk Steffens
Das tierische Kuriositäten-Kabinett
MIT ILLUSTRATIONEN UND VIGNETTEN VON OLIVER WEISS
Tierisch wild: Paarungsverhalten ausgewählter Spezies
Populärname: Neuseeland-Topfbauchpferdchen
Wissenschaftlicher Name: Hippocampus abdominalis
Lebensraum: Küste von Neuseeland, Australien
Größe: 35Zentimeter
Kuriosum: Schwangere Männchen
Ein Fisch mit Glupschaugen, Blähbauch und Spiralschwanz, vorne Pferd und hinten Wurm: Hippocampus («Pferderaupe») ist wahrlich keine klassische Schönheit, doch er vermag mit inneren Werten zu überzeugen. Während Homo sapiens sich noch immer mit der Emanzipation abmüht, ist das Seepferdchen schon ein gutes Stück vorausgaloppiert. Synchronschwimmen oder Schwangerschaft? Kein Problem für Hippocampus-Männer!
Das Topfbauchpferdchen trägt einen wenig charmanten, doch zutreffenden Namen und gehört mit einer Länge von 35Zentimetern schon zu den Großen in der etwa 50Arten umfassenden Gattung. Die kleinsten Vertreter bringen es auf gerade mal 13,5Millimeter, doch so unterschiedlich Maße und Aussehen auch sein mögen, eines haben alle Seepferdchen gemein: Schwanger werden nur die Männer.
Wenn Herr und Frau Hippocampus umeinander werben, ist das schön anzusehen. In wogenden Auf-und-ab-Bewegungen flirten und tanzen sie miteinander, schwimmen synchron über die Riffe und treiben mit verhakten Schwänzen durchs Seegras. Am Ende des romantischen Balztanzes steht dann erwartungsgemäß die Paarung, die allerdings anders verläuft als bei den meisten Wirbeltieren: Nicht er gibt Spermien an seine Partnerin weiter, sondern sie die Eier an ihn. Das Weibchen legt sie in die Bauchtasche des Männchens, er übernimmt dann Befruchtung und Brut. Wochenlang bewacht Papa die wertvolle Fracht in seinem Bauch, bis der Nachwuchs schließlich das Licht der Wasserwelt erblickt. Bei der Geburt erleidet er zwar keine echten Wehen, das ganze Prozedere ist aber doch extrem anstrengend. Der Mann verdient also Anerkennung, zumal er kurz nach der Geburt pflichtschuldig schon wieder Paarungsbereitschaft signalisiert.
Trotz des unter emanzipatorischen Gesichtspunkten vorbildlichen Verhaltens des männlichen Seepferdchens wäre es allerdings unfair, die weiblichen Tiere als gleichgültige Eierschleudern zu verteufeln. Denn biologische Tatsache ist, dass sie zur Entwicklung der dotter- und damit nährstoffreichen Eier deutlich mehr Energie aufwenden müssen als die Männchen für die Brutpflege.
Ihr Aussehen hat den Seepferdchen übrigens sogar einen Platz in der griechischen Mythologie gesichert. Im alten Attika hielt man die wunderlichen Tiere für die Nachfahren der Rösser, die einst Poseidons Streitwagen zogen. Insofern hat sich Hippocampus seit jenen Tagen deutlich verbessert: Der Job als männliche Supernanny ist doch besser als die Fron, Zugtier eines cholerischen Wassergottes zu sein, oder?
Populärname: Tiefsee-Anglerfisch
Wissenschaftlicher Name: Edriolychnus schmidti
Lebensraum: Tiefsee, 200 bis 4000Meter tief
Größe: Weibchen 20Zentimeter, Männchen 2Zentimeter
Kuriosum: Männchen ist Parasit des Weibchens
Oh, wie romantisch! Es gibt sie anscheinend wirklich, die ewige Liebe im Tierreich! Seit die Art vor Äonen in der Schwärze der Tiefsee entstand, hat sich kein einziges Anglerfischpärchen je getrennt. Kein einziges! Denn für diese obskur anzuschauenden Wesen gilt wirklich und buchstäblich das alte Versprechen: bis dass der Tod sie scheidet!
Die ungewöhnliche Treue der ungleichen Partner – er ist zwei Zentimeter klein, sie ungefähr zehnmal so groß – ist den Härten eines Lebens in der Tiefsee geschuldet. Im absolut lichtlosen Unterwasser-Universum weit jenseits der 200-Meter-Marke ist es nämlich verdammt schwierig, überhaupt irgendeinen Artgenossen zu finden. Da helfen auch die kleinen Laternen kaum, die den Weibchen an einer Rute aus dem Leib wachsen und die sie als Köder vor ihrem mit spitzen Zähnen bewehrten Maul aufleuchten lassen können. Mit Hilfe von Bakterien auf dem Leuchtorgan können die Angler verschiedene Farben generieren, mit Hilfe der beweglichen Rute außerdem unterschiedliche Lichtmuster zeichnen. Das lockt hin und wieder tatsächlich eines der seltenen Beutetiere vor das vergleichsweise große Maul der dicklichen Lauerjägerinnen. Aber einen Mann können sie sich damit nicht angeln. Bei der Partnersuche über größere Distanzen ist die Leuchtfalle angesichts der geringen Populationsdichte nämlich nutzlos. Hilfreicher sind da wahrscheinlich schon die großen Nasenlöcher der kleinen Männchen: Vermutlich führen Pheromone, chemische Botenstoffe, die Paare zueinander.
Kommt es trotz der widrigen Umstände zu einer der seltenen intersexuellen Begegnungen, machen die Anglerfische keine halben Sachen. Sie verplempern ihre Zeit nicht mit dem üblichen Guck-mal-meine-bunten-Federn/Ist-das-nicht-ein-prächtiges-Gehörn/Ich-kann-am-lautesten-brüllen/Mein-Porsche-ist-tiefergelegt-Getue anderer paarungswilliger Männchen. O nein!
Er beißt sich einfach an ihr fest und lässt nie wieder los. Relativ schnell verwachsen die beiden dann miteinander: Seine Kiefer bilden sich zurück, er schlüpft buchstäblich zu ihr unter die Haut, und schließlich vereinen sich sogar die Blutgefäße der Ehefische. Nur die Kiemen bleiben ihm. Ansonsten lebt er von nun an als Parasit in ihr – und kann den Körper der Wirtin nie mehr verlassen. So entfällt die energetisch aufwendige und in der dunklen Tiefsee tendenziell ohnehin erfolglose Partnersuche ein für alle Mal. Viele der etwa 100Tiefseeangler-Arten, nicht nur Edriolychnus schmidti, haben solche parasitären Beziehungsmodelle entwickelt.
Der Preis für den weiblichen All-inclusive-Service: Wenn sie stirbt, ist auch sein Leben zu Ende. Bis zu diesem Tag bestimmt sie über sein Schicksal – und sein Sexleben: Die Befruchtung der Eier erfolgt nämlich außerhalb des Körpers, und zwar nur dann, wenn sie es will. Mit Hilfe von Hormonen, die über den gemeinsamen Blutkreislauf in seinen Körper strömen, steuert sie die gleichzeitige Abgabe von Eiern und Spermien.
So innig die Beziehung von Angler und Anglerin auch erscheinen mag – monogam ist sie nicht unbedingt. Er hat zwar aus offensichtlichen Gründen keine Möglichkeit, sich mit mehr als einem Weibchen zu paaren, sie ist da aber flexibler. Es kommt gar nicht so selten vor, dass sich mehrere Männchen auf einem Weibchen ansiedeln. Das Herz der Anglerin ist groß genug für einen ganzen Harem willenloser Männchen.
Populärname: Afrikanischer Grillkuckuck
Wissenschaftlicher Name: Centropus grillii
Lebensraum: Feuchtes afrikanisches Grasland
Größe: 35Zentimeter
Kuriosum: Sie ist er, und er hat nur ein Ei
In Zeiten von Elterngeld und Vaterschaftsurlaub ist ein Rollentausch der Geschlechter keine wirklich große Sache mehr. Der Afrikanische Grillkuckuck pfeift aber schon seit jeher auf sexuelle Konventionen und geht dabei so weit wie kein anderer Vogel der Welt.
Centropus grillii benimmt sich häufig wie ein Steinzeit-Chauvinist: Das starke Geschlecht prügelt sich um die attraktivsten Sexualpartner, versucht, mit aufgeplustertem Federkleid und lautem Gekreische zu beeindrucken. Es erobert und verteidigt möglichst große Territorien und hat einen ausgeprägten Hang zur Promiskuität. Und nach der Paarung kümmert sich der bunte Vogel weder um das Brutgeschäft noch um die mühsame Aufzucht der anfangs hilflosen Nesthocker. So sind sie halt, die Frauen! Denn bei den Grillkuckucken sind die Weibchen echte Kerle und schrecklich dominant. Sie kopulieren manchmal innerhalb einer Stunde mehrfach mit verschiedenen Partnern und legen ihre Eier dann auch noch in die Nester verschiedener Männchen.
Klassische Polyandrie nennen Wissenschaftler das in der ornithologischen Welt seltene Phänomen alleinerziehender Vogelväter. Schuld daran ist nach Ansicht von Wissenschaftlern das Testosteron, also jenes Hormon, das unter anderem das Sexual- und Territorialverhalten stimuliert, aber kein Interesse an der Brutpflege weckt. Es wirkt bei den Grillkuckuck-Weibchen wahrscheinlich stärker als bei den -männchen, weil im Hirn der Ersteren viel mehr Rezeptoren stecken, die von dem Hormon angeregt werden. Die Biochemie – und nicht die Henne! – ist also schuld daran, wenn das paarungsgeile Weibchen innerhalb einer einzigen Stunde abwechselnd mit mehreren Partnern kopuliert und seine Eier unter ihnen aufteilt.
Testosteron wird übrigens in den Hoden produziert. Nicht nur, aber eben auch dort. Und Grillkuckuck-Männchen haben nur einen davon. Den rechten. Der andere fehlt, was seltsam ist, da Wirbeltiere, also auch Vögel, generell zwei Hoden ausbilden. Wo ist der linke geblieben? Das Weibchen hat ihn jedenfalls nicht, trotz ihres gockelhaften Auftretens.
Populärname: Papierboot, Argonaut
Wissenschaftlicher Name: Argonauto argo
Lebensraum: Alle Weltmeere
Größe: Weibchen 10Zentimeter, Männchen 2Zentimeter
Kuriosum: Freiwillige Selbstkastration
Für einen Masochisten können Erniedrigung und Schmerz wirkungsvolle Stimuli sein. Das ist bekannt. Was jedoch Argonauto argo sich selbst antut, ist aus menschlicher – und insbesondere männlicher! – Sicht nur schwer nachzuvollziehen.
Das Papierboot ist so fragil, wie der Name es andeutet. Allerdings besteht es nicht wirklich aus Papier; lediglich die aus Calcit gebildeten Brutschachteln der Weibchen weisen eine ähnliche Struktur auf, sie sind dünn und weiß und zerbrechlich. Bis zu 45Zentimeter lang können die Gehäuse werden, die nur die Weibchen mit sich herumtragen, denn darin befestigen sie ihre Eier und bewachen sie, bis die Jungtiere schlüpfen. Zwei ihrer acht Tintenfischarme faltet die Mutter meist schützend über den Brutkasten, diese sind am Ende deutlich verbreitert, sodass es tatsächlich ein bisschen so aussieht, als segle der Argonaut in einem Papierboot über die Ozeane. So erklärt sich auch der Name: Argo hieß nämlich das sagenhaft schnelle Boot aus der griechischen Mythologie, mit dem die «Argonauten» genannten Helden sich auf die Suche nach dem Goldenen Vlies machten. So weit, so gut. Schlimm ist, was die Tiere vor der Eiablage treiben. Besonders die Männchen.
Der männliche Zwei-Zentimeter-Winzling hat zwar kein Eiergehäuse, dafür ist einer seiner acht Arme ein ganz spezieller sogenannter Hectocotylus. Ein Penisarm. Den hebt er sein ganzes Leben lang gut geschützt und aufgerollt in einer speziellen Körpertasche auf und holt ihn nur heraus, wenn der große Zeiger der Hormonuhr auf Paarung steht. Dann sucht sich der Hectocotylus seinen Weg in die Mantelhöhle des Weibchens – und zwar allein. Denn das Männchen reißt sich bei der Fortpflanzung den eigenen Penisarm aus und lässt ihn die Befruchtung völlig eigenständig vollziehen. Der Rest des Männchens schwimmt verstümmelt seiner Wege und stirbt wahrscheinlich einen einsamen Eunuchentod – jedenfalls sind keine Funde von Männchen mit nachgewachsenem Fortpflanzungsorgan bekannt. Die Weibchen sind etwas geselliger, was durch Funde mehrerer Hektocotyli in einer Mantelhöhle nachgewiesen werden konnte.
Immer wieder wird außerdem berichtet, ausgerissene Penisarme könnten sich sogar völlig autark und über größere Distanzen einem Weibchen nähern und den Akt vollziehen. Ganz ohne den dazugehörigen Mann. Herrenlose Geschlechtsteile auf der Suche nach Gelegenheiten! Schwer vorstellbar, wie das funktionieren soll.
Populärname: Darwin- oder Cowboy-Frosch, Nasenfrosch
Wissenschaftlicher Name: Rhinoderma darwinii
Lebensraum: Chile, Argentinien
Größe: Etwa 3Zentimeter
Kuriosum: Frauenfußball und Maulbabys
Ein Körperteil, welches absurd vergrößert aus einem ansonsten halbwegs normal proportionierten Tier herausragt, erregt natürlich gleichermaßen das Interesse von Laien und Experten. Aber niemand weiß genau, warum die Evolution diesem Frosch eine so lange und spitze Nase verpasst hat. Bekannt ist aber, dass die Weibchen kräftig zutreten können und die Männchen eine äußerst eigenwillige Form der Brutpflege entwickelt haben.
Ausgerechnet Rhinoderma darwinii! Der Darwin-Frosch! Er trägt den Namen des Entdeckers der Evolution, Charles Darwin – und nun muss er am eigenen Leibe erleben, was Darwinismus bedeuten kann: Der kleine Frosch ist vom Aussterben bedroht! Sein naher Verwandter, Rhinoderma rufum, ist schon seit 25Jahren nicht mehr gesehen worden. Wo Feuchtwälder gerodet werden, verschwindet er. Auf Kettensägen hat ihn die Evolution nicht vorbereitet.
Einige der seltenen Berichte vom fröschischen Liebesspiel beschreiben den Vorgang so: Er stößt pfeifende Laute aus, um eine Gefährtin zu finden. Das klinge, meinen US-amerikanische Ohrenzeugen, wie das Gepfeife von Viehtreibern auf einer Ranch. Daher der Beiname «Cowboy Frog». Wenn der Cowboy schließlich eine Miss angelockt hat, knufft er ihr freundschaftlich in die Seite, was sie mit einem fulminanten Tritt beantwortet. «Kick it like Beckham» – und schon fliegt das Männchen in hohem Bogen durch die Luft. Kleine fliegen weit und kommen nicht zurück, größere schlagen in der Nähe auf und wagen weitere Anläufe.
Diese Hartnäckigkeit verleitet die Weibchen zur Paarung und Eiablage. Allerdings laichen sie nicht wie andere Frösche ins Wasser, sondern auf den feuchten Boden. Der Erzeuger bleibt in der Nähe der Eier, bis die Kaulquappen schlüpfen. Dann klaubt er sie mit dem Maul vom Boden und behält sie dort, bis aus den Quappen richtige kleine Frösche geworden sind. Diese Art ist die einzige Amphibie der Welt, die ihre Jungen im Maul bebrütet, bis sie selbständig durch den Wald hüpfen können.
Irgendwie schafft es das Männchen übrigens, normal weiterzufuttern, ohne dabei den eigenen Nachwuchs zu verschlucken. Und noch einen Trick haben diese Tiere drauf: Bei Gefahr legen sie sich auf den Rücken und stellen sich tot.
Einiges haben die Forscher also über diesen erstaunlichen Hüpfer inzwischen herausgefunden, nur die große Nase gibt der Wissenschaft weiter Rätsel auf. Und natürlich die Frage, wie man den Darwin-Frosch vorm Menschen schützen kann.
Populärname: Inger, Schleimaal
Wissenschaftlicher Name: Myxinidae
Lebensraum: Fast alle Meere
Größe: Bis 60Zentimeter
Kuriosum: Transsexueller Schleimer
Welche Vorteile es hat, ein aasfressender Schleimer zu sein, lässt sich nicht nur im Berufsalltag beobachten, sondern auch am Meeresgrund. Die Inger und ihre Vorfahren haben mit diesen Eigenschaften schon seit einer halben Milliarde Jahre Erfolg.
Transsexualität ist im Tierreich nichts wirklich Außergewöhnliches. Der Inger treibt es aber noch ein bisschen bunter als ein gewöhnlicher Zwitter: Er ist abwechselnd Männchen und Weibchen, was sicher interessant, vor allem aber evolutionsbiologisch sinnvoll ist, denn auf diese Weise läuft das Tier niemals Gefahr, sich selbst zu befruchten. Immerhin.
Ansonsten wirkt das Leben der Schleimaale auf den ersten Blick recht freudlos: Sie verbringen die meiste Zeit eingegraben im Meeresgrund, ernähren sich häufig von Aas, attackieren aber auch verletzte, schwache oder wehrlos in Netzen gefangene Tiere. Durch Mund und Kiemen ihrer Opfer wühlen sie sich in deren Inneres vor und fressen sie langsam und vollständig auf. Sehen können sie kaum etwas; ihre Augen sind unterentwickelt, und mit den auf ihrer Haut vermuteten Lichtrezeptoren können sie sich auch kein klares Bild machen.