Das Trauerbuch für Eltern - Silia Wiebe - E-Book

Das Trauerbuch für Eltern E-Book

Silia Wiebe

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Beschreibung

Wenn es scheinbar keinen Trost gibt

Die beiden Autorinnen wissen wie es ist, ein Kind zu verlieren. Gemeinsam schrieben sie das Buch, das sie sich selbst gewünscht hätten, als sie um ihr Kind trauerten. Dieses Buch holt betroffene Eltern in der absoluten Ausnahmesituation ab. Es beschreibt auch anhand von sehr persönlichen Berichten anderer Eltern viele Möglichkeiten, mit diesem Schicksal umzugehen und den eigenen Weg aus der Trauer zu finden. Die renommierte Psychologin Verena Kast erklärt zudem die typischen Trauerphasen und beschreibt, wie Angehörige und Freunde trauernde Eltern am besten unterstützen können.

  • Wahre Geschichten, die zum Weiterleben ermutigen
  • In Zusammenarbeit mit der bekannten Trauerexpertin Verena Kast

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Seitenzahl: 242

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Silia Wiebe Silke Baumgarten

Das Trauerbuchfür Eltern

Was Müttern und Vätern nach dem Tod ihres Kindes geholfen hat

Inklusive Interview mit Verena Kast

Kösel

Das Buch

Wenn ein Kind stirbt, brauchen Eltern Hilfe. Aber was kann helfen, was tröstet? Nicht nur Angehörige und Freunde sind oft ratlos, auch Trauernde selbst wissen manchmal nicht, was ihnen guttun könnte.

Dieses Buch zeigt die unterschiedlichen Wege, mit der Trauer um ein Kind umzugehen. Mütter und Väter, die ihr Kind aufgrund einer schweren Behinderung, durch einen Unfall, eine Krebserkrankung oder Suizid verloren haben, schildern sehr offen und ausführlich, was ihnen geholfen hat und was nicht. Denn was letztendlich guttut, ist sehr verschieden.

Einige Eltern wollten möglichst schnell wieder zur Arbeit gehen, andere brauchten erst mal den geschützten Raum zu Hause. Manchem half der tägliche Sport, um die Wut loszuwerden. Ein Ehepaar nahm nach einiger Zeit Pflegekinder bei sich auf. Eine Mutter kämpfte jahrelang für eine Ampel an der Stelle, an der ihr Sohn überfahren wurde. Einem Vater hilft noch nach Jahren das stille Zwiegespräch mit seinem gestorbenen Sohn auf dem Friedhof.

Deutlich wird: Trauer hat viele Gesichter. Und es gibt viele, durchaus auch ungewöhnliche Möglichkeiten, aus der Trauer zurück ins Leben zu finden.

Die Autorinnen

Silia Wiebe, geboren 1977, ist Journalistin. Sie schreibt u.a. für Chrismon, Eltern und Brigitte, zudem ist sie Buch-Autorin und Dozentin an der Akademie für Publizistik. Sie ist Mutter eines Sohnes und verlor zwei Kinder in der späten Schwangerschaft.

Silke Baumgarten, geboren 1959, war mehr als 20 Jahre Redakteurin bei der Zeitschrift Brigitte und arbeitet heute als Trauerrednerin, Dozentin und Autorin. Sie hat eine erwachsene Tochter. Ihre zweite Tochter war schwer behindert, sie starb mit neun Jahren.

Inhalt

Vorwort

Mir war wichtig, gleich wieder zu arbeiten

Carola Gruchatka-Denien über die Trauer um ihren Sohn Lukas, der mit sieben Jahren an den Folgen einer Stoffwechselstörung starb

Ich will den Schmerz empfinden

und

Ich bin noch immer auf der Suche

Willi Bergjürgen und Stefanie Assmann über die Trauer um ihre Tochter Linda, die mit 15 Jahren bei einem absichtlich herbeigeführten Flugzeugabsturz ums Leben kam

Das Leben mit ihr und ihr Tod haben mich verändert

Silke Baumgarten über die Trauer um ihre Tochter Jolanda, die schwerbehindert war und unerwartet mit neun Jahren starb

Ohne Freunde und Familie hätten wir es nicht geschafft

Anja Jacquemin über die Trauer um ihre Tochter Sarah, die mit einem Jahr an einer Meningitis starb

Wir hatten noch einen Berg Liebe zu geben

Andrea Beltz und Dr. Michael Spöttel über die Trauer um ihren Sohn Julian, der mit zwölf Jahren an einer Krebserkrankung starb

Ich musste mich einfach wehren

Renate Rappenecker über die Trauer um ihren Sohn Benjamin, der mit 13 Jahren bei einem Verkehrsunfall starb

Wir werden nie erfahren, warum

Vera Schmidt über die Trauer um ihre Tochter Martha, die sich mit 18 Jahren selbst tötete

Als Clown verwalte ich Kilians Erbe

Tanja Landes über die Trauer um ihren Sohn Kilian, der schwer behindert war und mit 16 Jahren starb, weil er keine Nahrung mehr aufnehmen konnte

Ich muss meinen Sohn nicht loslassen

Denise van Recum über die Trauer um ihren Sohn Pascal, der mit acht Jahren an einem plötzlichen Herzstillstand starb

Ich wollte verstanden werden

Silia Wiebe über die Trauer um ihren Sohn Willem, der in der 28. Schwangerschaftswoche starb

Er hatte ein Recht zu gehen

Matthias Petter über die Trauer um seinen Sohn Sören, der nach einem Ertrinkungsunfall mit zwei Jahren schwer behindert war und elf Jahre später starb

Trauernde fühlen sich hautlos

Psychologie-Professorin Verena Kast über Trauerphasen und über Möglichkeiten, wie Familie und Freunde trauernde Eltern unterstützen können

Von den Eltern empfohlene Trauerliteratur

Vorwort

Wir haben uns über die Trauer kennengelernt. Silia verlor zwei Kinder in der späten Schwangerschaft, Silkes behinderte Tochter war einige Jahre zuvor im Alter von neun Jahren gestorben. Trotz unserer unterschiedlichen Schicksale merkten wir, dass wir vieles ähnlich empfanden und uns gegenseitig stützen konnten. Aus unserer Arbeitsbeziehung entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Diese Erfahrung ermutigte uns zu diesem Buch.

Was trägt, wenn eigentlich nichts mehr trägt? Wie findet man nach dem Tod seines Kindes zurück ins Leben? Was hilft? Diese Fragen bewegten uns. Wir haben Antworten gesucht und mit anderen Eltern gesprochen, die ein Kind verloren haben. Sie haben uns ihre Erfahrungen geschildert, haben uns erzählt, was ihnen gutgetan hat – und was nicht. Herausgekommen sind sehr persönliche Protokolle.

Wichtig war uns, nichts zu bewerten, nichts wegzulassen. Wir möchten mit diesem Buch keine Ratschläge geben, sondern verwaiste Eltern ermutigen, ihren eigenen Weg zu suchen und zu gehen.

Wir trafen Eltern, bei denen der Todestag des Kindes schon einige Jahre zurückliegt, und andere, die gerade das erste schwere Jahr hinter sich hatten. Einige Mütter und Väter wollten möglichst schnell wieder zurück in den Alltag und in den Beruf, andere brauchten den geschützten Raum zu Hause und fürchteten den Lärm und die Geschäftigkeit der Kollegen. Manche fanden Trost im Glauben, andere suchten Unterstützung bei Therapeuten oder Gleichgesinnten, die Ähnliches erlebt haben. Deutlich wird: In der Trauer gibt es kein Richtig und kein Falsch.

Wir wissen: Auch wenn Eltern einen erwachsenen Sohn, eine erwachsene Tochter verlieren, stirbt für sie ihr Kind. In diesem Buch konzentrieren wir uns dennoch auf Kinder, die bis zu ihrem 18. Lebensjahr gestorben sind. Wir hoffen, mit unserem Buch auch dazu beizutragen, dass Angehörige und Freunde trauernde Eltern besser verstehen und unterstützen können. Denn Trauer hat viele Gesichter. Und wenn Menschen durch den Tod ihres Kindes in ihren Grundfesten erschüttert werden, brauchen sie andere, die da sind und dableiben, die zuhören, sich nicht zurückziehen und die akzeptieren, dass Trauer laut sein kann und wütend, leise und tränenreich, schwankend oder äußerlich wenig sichtbar.

Wir danken allen Eltern, die uns Einblick in ihre innersten Gefühlswelten gewährten. Und wir danken Professorin Verena Kast. Die international anerkannte Trauerexpertin war gern bereit, unser Vorhaben zu unterstützen. Sie erläutert die typischen Trauerphasen, spricht über Träume und Schuldgefühle, über die Sehnsucht nach dem gestorbenen Kind und die Frage, warum einige Hilfsangebote gut ankommen und sich andere für verwaiste Eltern falsch anfühlen.

Uns hat damals, als unsere Kinder starben, genau dieses Buch gefehlt. Deshalb haben wir es jetzt geschrieben.

Mir war wichtig, gleich wieder zu arbeiten

Die schwere Stoffwechselstörung, an der Lukas litt, wurde kurz nach seiner Geburt diagnostiziert. Er starb mit sieben Jahren – und lebte damit viel länger, als die Ärzte prognostiziert hatten. Trotzdem kam sein Tod für seine Familie unerwartet. Seine Mutter Carola Gruchatka-Denien aus Sittensen bei Hamburg erzählt.

Als es klingelte und ich durch die Glasscheibe in unserer Haustür Lukas’ Lieblingsbetreuerinnen erkannte, wusste ich sofort: Jetzt ist es passiert.

Dabei ist Lukas am Morgen topfit gewesen. Seine Sternenaugen haben gelacht, als ich mich mit ihm auf dem Arm zum Abschied im Kreis gedreht habe. Das machte ich immer, das war unser Ritual, das liebte er. Und ich war beruhigt. Denn in der Woche vorher war er müder als sonst und ich hatte mich schon gefragt: Was ist los mit ihm? Brütet er etwas aus? Doch an diesem Morgen ging es ihm offenbar wieder gut. Er strahlte. Ich schob ihn in den Bus, schnallte ihn an. Dann vergaß ich allerdings etwas sehr Wichtiges. Immer sagte ich zum Abschied zu ihm: »Und mach keinen Blödsinn.« Nur an diesem Morgen sagte ich das nicht.

Beim Mittagsschlaf in der Schule ist es passiert. Er war erst kurz vorher eingeschult worden, sein Bett stand im Klassenzimmer der Sonderschule. Plötzlich sei sein Arm einfach zur Seite gerutscht, erzählten die beiden Kinderkrankenschwestern, die Lukas schon aus der Kita kannten. Sie waren zu uns geschickt worden, weil sie Lukas besonders ins Herz geschlossen hatten und fast zu einem Teil unserer Familie geworden waren.

Ich hockte im Türrahmen. Eine Betreuerin kümmerte sich um Laura, Lukas’ Zwillingsschwester. In mir nur Schmerz. Und zwei Gedanken, sofort, gleichzeitig. Erstens: Mir wird ein riesiger Rucksack von den Schultern genommen. Und zweitens: Da, wo Lukas jetzt ist, da geht es ihm gut. Das war für mich ganz klar. Denn wenn es ihm nicht gut ginge, würde ich es spüren. Mein Bauchgefühl würde es mir sagen. Und dass ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen kann – das hatte ich mit Lukas gelernt.

Bei der Geburt schien alles noch normal. Lukas hatte, genau wie seine Zwillingsschwester Laura, gute Werte. Und er sah genauso süß aus wie sie, mit seinem blonden Haar und einer unglaublich weichen Haut. Aber ich merkte bald, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Er trank nicht gut, schlief immer wieder ein, wenn ich ihn stillte. Und er war sehr lichtempfindlich, konnte einen nicht angucken. Als ich mit ihm zum Augenarzt wollte, musste ich mich allerdings erst mal mit der Kinderärztin streiten. Sie meinte, wir sollten noch abwarten. Aber ich ließ nicht locker, vertraute das erste Mal als Mutter auf mein Bauchgefühl.

Leider hatte ich recht. Der Augenarzt stellte fest, dass Lukas auf beiden Augen grauen Star hatte. Und dann nahm alles seinen Lauf. Zweimal musste er operiert werden, erhielt künstliche Linsen. Dann bemerkten wir, dass Lukas schlecht hören konnte. Er bekam Hörgeräte. Dann stimmten seine Blutwerte nicht. Monatelang waren wir mit ihm in verschiedenen Krankenhäusern. Und nach fast einem Jahr und fürchterlich vielen Untersuchungen stand fest: Lukas konnte Kupfer nicht richtig verwerten. Es war nicht das Menkes-Syndrom, aber wohl eine Unterform davon.

Mit der Diagnose lieferten uns die Ärzte die Prognose gleich mit. Ich weiß gar nicht, ob wir das hätten wissen wollen. Aber wir wurden auch nicht gefragt. Lukas wird höchstens zwei bis drei Jahre alt werden, sagten die Ärzte.

Klar, in so einem Moment begräbt man einen Traum. Den Traum von gesunden Kindern und einer kompletten Familie. Aber wir hatten gar keine Zeit, Luft zu holen oder uns groß Gedanken zu machen, es ging ja sofort weiter. Lukas war ständig krank. Insofern gab es für meinen Mann und mich eigentlich nur: Augen zu und durch. Nicht im Sinne von irgendwie, sondern im Sinne von: Wir versuchen das Beste daraus zu machen. Traurigkeit kam eigentlich nur auf, wenn wir völlig erschöpft waren, wenn die Müdigkeit zu groß und die Kraft zu klein schien.

Von Anfang an, gleich nach der Diagnose, habe ich überlegt: Wofür willst du jetzt deine Kraft geben? Für den Ärger, die Wut und die Trauer, dass es nicht so ist, wie du es möchtest, wie du es dir vorgestellt hast? Oder willst du deine Kraft darauf verwenden, für beide Kinder so da zu sein, dass sie möglichst glücklich sind. Und das war das, was wir uns vorgenommen hatten, das war das oberste Gebot von meinem Mann und mir – schon als wir uns für Kinder entschieden hatten. Natürlich war uns klar: Das können wir nicht jeden Tag schaffen. Aber wir können eine gesunde Basis dafür schaffen.

Lukas baute rapide ab. Er verlernte wieder sich zu drehen, konnte nicht mehr richtig schlucken und hatte – bevor er eine Magensonde bekam – eine Lungenentzündung nach der anderen. Immer wieder mussten wir mit ihm ins Krankenhaus. In unserem schlechtesten Jahr, 2003, verbrachten wir insgesamt 30 Wochen in der Klinik. Oft ging es nachts mit Notarzt los. Planen konnten wir gar nichts mehr.

Die Standardfrage unserer Tochter lautete: Und wer passt heute auf mich auf? Ohne unsere Familie und meine beste Freundin hätten wir das nie geschafft. Da konnte ich jederzeit anrufen, und mein Vater und seine Frau kamen auch mitten in der Nacht, wenn wir mal wieder plötzlich losmussten.

Doch egal, was mit Lukas war: Mindestens eine Stunde am Tag haben mein Mann oder ich uns für Laura frei gehalten, eine Stunde, in der sie einen von uns ganz für sich allein hatte. Mehr ging manchmal nicht, aber diese eine Stunde, die musste sein.

Als Laura älter war und es ihrem Bruder wieder einmal sehr schlecht ging, fragte sie mich direkt: »Muss Lukas sterben?« »Ja«, habe ich geantwortet, »viel früher, als wir es möchten. Er ist sehr krank und irgendwann wird seine Kraft nicht mehr ausreichen für dieses Leben hier.« Sie hat geweint und ich habe versucht sie zu trösten, habe ihr gesagt, dass wir alles dafür tun, damit es ihm möglichst gut geht. Dass es aber trotzdem immer wieder Momente gibt, in denen er leidet und wir es leider nicht ändern können. Dass eben nicht alles in unserer Hand liegt.

Eine Freundin sagte mal: »Irgendwie ist es doch ungerecht. Mit zu wenig Liebe kann man Kinder krank machen. Aber mit ganz viel Liebe kann man sie nicht gesund machen.« Das habe ich meiner Tochter natürlich nicht gesagt. Aber daran gedacht habe ich häufiger.

Als Lukas vier war, hörte ich von Dr. Gennnadij Romanov. Er ist leitender Arzt am Zentrum »Rehabilitation des Kindes« in St. Petersburg und arbeitet mit fernöstlichen und westlichen medizinischen Ansätzen. Ab und zu kommt er nach Deutschland, um sich Kinder anzuschauen und zu entscheiden, ob sie für seine Therapie geeignet wären. Ich organisierte einen Termin. Er kannte nur Lukas’ Namen, machte chinesische Augendiagnostik – und erzählte mir detailliert, was wir in den letzten vier Jahren erlebt hatten. Das war wirklich erstaunlich. Bei diesem Arzt hatte ich sofort ein gutes Bauchgefühl. Er sagte, er bräuchte drei Monate mit Lukas in St. Petersburg. Natürlich ginge es nicht um Gesundwerden, sondern um Stabilisierung. Aber wie sollten wir das bezahlen? Ich schrieb Stiftungen an, wir sammelten mit selbst gemalten Plakaten Spenden, unsere Kirchengemeinde engagierte sich. Und innerhalb von zwei Monaten hatten wir 30 000 Euro zusammen. Diese Hilfsbereitschaft hier im Ort, die tat gut. Der Pastor hat das Geld verwaltet und uns auch ansonsten sehr unterstützt – ich habe durch Lukas wirklich viele unglaublich tolle Menschen kennengelernt.

Im Frühjahr 2005 flogen wir nach St. Petersburg. Die ersten vier Wochen war ich mit Lukas dort, dann kam mein Mann, der seinen Jahresurlaub dafür einsetzte, und dann habe ich ihn wieder abgelöst. Ich weiß nicht warum und wieso, aber Lukas wurde durch die Therapie von Dr. Romanov viel wacher. Er lachte mehr, sein wunderschönes Sonnenstrahllachen, seine Lungen wurden kräftiger. Es war wirklich fast ein Wunder: Nach der Zeit in St. Petersburg mussten wir nur noch zweimal mit ihm ins Krankenhaus. Dieser Arzt schenkte uns zwei Jahre Lebensqualität.

Kurz vor seinem siebten Geburtstag wurde Lukas eingeschult. Wie fit er geistig war, wie viel er verstanden hat, das wissen wir nicht. Aber dass er etwas verstand, zeigte er zum Beispiel wenn jemand fragte: »Wer will noch Eis?« Dann schoss sein Arm als erster nach oben. Er wurde ja eigentlich durch die Sonde ernährt, aber ab und zu ein bisschen Eis, das musste sein.

Wir wussten ja, dass es keine Hoffnung gab für Lukas. Insofern waren wir vielleicht anders vorbereitet als Eltern, die ein Kind durch einen Unfall oder eine plötzliche Krankheit verlieren. Aber andererseits war uns auch nicht ständig präsent, dass er sterben könnte. Er lebte ja schon viel länger, als die Ärzte prognostiziert hatten. Und es ging ihm gut – das jedenfalls war mein Eindruck, auch an diesem Tag.

Mir war allerdings immer klar, dass Lukas nicht zu Hause sterben wird. Ich weiß zwar nicht, ob und wie wir auf unseren Todeszeitpunkt Einfluss nehmen können. Aber ich war mir sicher, dass er uns würde schonen wollen, indem er woanders starb. Und ich bin ihm dankbar dafür, dass er nicht in der Klinik gestorben ist, dass wir nichts entscheiden mussten. Manchmal, wenn es Lukas sehr schlecht ging, habe ich zu ihm gesagt: »Du bestimmst, wann es für dich nicht mehr geht. Das Allerletzte was ich möchte, ist, dass du dich quälst.«

Als es am 17. September 2007 an unserer Haustür klingelte und die beiden Kinderkrankenschwestern vor der Tür standen, saßen Laura und ich gerade beim Mittagessen. Merkwürdigerweise hatte ich kaum einen Bissen herunterbekommen, obwohl ich hungrig gewesen war. Irgendwie klebten die Nudeln in meinem Hals. Später war mir klar warum. Mein Bauchgefühl trog eben einfach nie.

Und darum war ich auch so froh, dass mein Bauchgefühl mir sofort sagte: Lukas geht es gut. Da, wo er jetzt ist, da ist alles hell und freundlich, da ist ganz viel Grün – meine Lieblingsfarbe. So sehe ich das auch heute noch: Lukas ist im Licht, hat jetzt keine körperlichen Beschwerden mehr, er lacht ganz viel, sein wunderbares Lachen.

Ich bin nicht hochreligiös, ich gehe nicht oft in die Kirche. Ich habe mich erst kurz vor unserer Hochzeit taufen lassen, das war ein ganz bewusster Entschluss. Lukas war für mich ein Gottesgeschenk, auch wenn ich manchmal mit unserem, oder besser mit seinem Schicksal gehadert habe. Aber Lukas hat mir eben auch gezeigt, was wirklich zählt im Leben, was wirklich wichtig ist. Und das ist nur eins: die Liebe.

Schon zu Lebzeiten war Lukas für mich ein Engel. Und nun ist er ein Engel in einer anderen Dimension. Darum heißt es auch auf unserem Anrufbeantworter: »Dies ist der Anrufbeantworter von Lars, als Herrn des Hauses, von Carola, als Frau des Hauses, von Laura, als Teenie des Hauses, und Lukas, als Engel des Hauses.« Für manche mag das komisch klingen, aber das ist mir egal. Für mich zählt er immer noch dazu. Auch wenn ich gefragt werde, wie viel Kinder ich habe, sage ich grundsätzlich: zwei. Ein einziges Mal habe ich »eins« gesagt. Und da bin ich am nächsten Tag zu der Person hingegangen und habe gesagt: »Übrigens …« Das konnte ich so nicht stehen lassen.

Immer, wenn ich einen Schmetterling sehe, denke ich an Lukas. Und jeden Tag, wenn ich auf dem Weg zur Schule oder zurück an seinem Grab vorbeifahre, bekommt er einen Gruß. Das vergesse ich nie. Einen auf dem Hinweg und einen auf dem Rückweg. Und ich bin sicher: Irgendwann werden wir uns wiedersehen, vielleicht nicht direkt sehen, aber wiederfühlen. Sein kräftiges Haar, seine butterweiche Haut, daran werde ich ihn erkennen.

Im Nachhinein kommt es mir so vor, als wenn der Tag, an dem Lukas starb, unendlich viele Stunden hatte. Mein Vater fuhr zu meinem Mann, ich wollte es ihm nicht am Telefon sagen, aber auch Laura nicht alleinlassen. Meine Schwester machte sich sofort auf den Weg zu uns. Irgendwann kam die Kripo. Lukas musste obduziert werden. Das war für mich das Schlimmste in diesem Moment. Diese Vorstellung – grauenvoll.

Vorher konnten wir Lukas allerdings noch einmal sehen. Er lag aufgebahrt in der Kapelle des Krankenhauses, in das er überführt worden war. Als ich Lukas da so liegen sah, kam wieder der Reflex, den ich schon kannte, dieses Gefühl: Ich muss mein Kind nehmen und weglaufen, jetzt sofort, ich muss es beschützen. Diesen Gedanken habe ich öfter mit Lukas gehabt. Und ein-, zweimal habe ich ihn mir tatsächlich auch geschnappt und bin mit ihm vor einem Arzt abgehauen.

Auch wenn es natürlich wehtat – es war gut, ihn gleich noch einmal zu sehen. Denn dort, in der Kapelle, war Lukas noch genau der Lukas, den ich morgens verabschiedet hatte. Später, im Hospiz, war das anders. Da hatte ich das Gefühl, alles, was Lukas ausgemacht hat, ist nicht mehr da.

Bis zur Trauerfeier am Freitag konnten wir uns von Lukas im Hospiz Löwenherz verabschieden. Wir kannten die Schwestern, alles war vertraut, wir waren mit Lukas einige Male dort gewesen. Und nun tat es gut, umsorgt zu werden. Ich musste nichts machen, nicht ans Telefon gehen, musste gar nichts, nur auf meine Familie und mich achten.

Unsere Familie und all unsere Freunde kamen ins Hospiz. Also die, die übrig geblieben sind. Einige haben nie verstanden, warum wir nicht mehr jede Hochzeit mitfeiern wollten. Insofern hat sich unser Freundeskreis mit Lukas neu sortiert. Aber alle, die wichtig waren, kamen. Diese Anteilnahme war mir enorm wichtig, sie hat geholfen. Genauso wie das Reden-Können, das Wieder-und-wieder-erzählen-Können.

In den Tagen und Wochen nach seinem Tod fand ich nichts schlimmer, als wenn Leute um mich rumgeschlichen sind oder wenn ich merkte, dass es ihnen unangenehm war, mir zu begegnen. Wenn jemand auf mich zukam und sagte: »Es tut mir so leid, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich fühle mich ganz hilflos …« – damit konnte ich umgehen. Aber dieses Rumgedruckse, das war fürchterlich für mich. Solche Situationen habe ich möglichst vermieden. Und da wir hier im Ort durch die Spendenaktion ziemlich bekannt waren, mochte ich auch die ersten Wochen nicht einkaufen gehen, das hat mein Mann erledigt.

Ganz schlimm fand ich auch, wenn Normalität vorgegaukelt wurde. Nach dem Motto: »Nun ist es doch schon einige Monate her. Bist du denn immer noch traurig?« Dann konnte ich nur sagen: »Ja, Lukas ist ja auch immer noch tot.« Ich finde sowieso: Der Schmerz wird nicht weniger. Er wird nur anders. Und ich setze ihm halt das pralle Leben entgegen.

Am Tag nach der Beerdigung wollte Laura in Lukas’ Zimmer umziehen. Die beiden hatten eine innige Beziehung zueinander und oft habe ich ihnen abends zusammen in Lukas’ Bett vorgelesen. Jetzt sollte ihr Bett dort stehen, wo Lukas geschlafen hatte.

Dafür mussten wir Lukas’ Zimmer größtenteils ausräumen. Mein Mann konnte das nicht. Er hat Lauras Bett, ihren Schreibtisch und ihren Schrank auseinandergeschraubt und vor Lukas’ Tür gestellt und ich habe die Sachen dann in seinem Zimmer wieder aufgebaut. Wie ich das geschafft habe, weiß ich nicht. Ich habe einfach funktioniert.

Und ich habe Laura in den ersten Wochen nach Lukas’ Tod ein fantastisches Buch vorgelesen: Auf der Suche nach den Regenbogentränen (siehe: Von den Eltern empfohlene Bücher). Das war wirklich ein Segen für uns beide. Es ist ein Märchen, aber nicht nur für Kinder. Wir haben gelacht und geweint beim Lesen und ganz unterschiedliche Dinge rausgezogen. Mein Spruch war danach: Man geht mit zwei Beinen durchs Leben – einem Freudenfuß und einem Trauerfuß. Und man kann nicht immer nur auf einem Bein hüpfen.

Unsere Therapeutin hatte uns das Buch empfohlen. Anderthalb Jahre vor Lukas’ Tod hatten wir eine Paartherapie angefangen. Es war ein großes Glück für uns, dass sie uns nun schon so lange kannte und wusste, was bei uns los war.

Mein Mann wollte die Therapie, er war die treibende Kraft. Ich habe mich erst mal gesträubt, wollte keinen Abendtermin, ich war immer früh müde. Aber ich verstand ihn auch. Er sagte: »Ich habe solche Angst, dass hier alles auseinanderbricht, wenn Lukas mal stirbt.« Denn wir waren eigentlich nur noch Eltern. Ein funktionierendes, tolles Elternteam zwar, aber wir waren eben fast nur noch getrennt unterwegs, hatten kaum mehr eine Basis als Ehepaar.

Durch die Therapie haben wir gelernt, dass man selbst an oberster Stelle steht und dass das eben nicht egoistisch ist. Im Gegenteil: Man hat sogar eine Art Pflicht zur Selbstfürsorge. Und dieses Für-sich-Sorgen, das tut nicht nur einem selbst gut, das ist für alle gut.

Mein Mann und ich sind sehr unterschiedlich mit dem Verlust, der Trauer umgegangen. Er machte seine eigenen Sachen, aber das war für mich auch völlig in Ordnung. Denn gleichzeitig konnten wir über alles reden. Und er brauchte es manchmal, mich trösten zu können. Dass ich nicht immer nur die Starke war, das half ihm auch.

Heute können mein Mann und ich sagen: Wir haben ein Leben ohne die Kinder; wir hatten ein ganz intensives Leben mit Laura und Lukas zusammen; jetzt haben wir ein Leben ohne Lukas, aber mit Laura – und alles hat seine Vor- und Nachteile, jede Phase ist unterschiedlich. Und damit können wir leben.

Eine Woche nach Lukas’ Tod bin ich wieder arbeiten gegangen. Ich bin Lehrerin, unterrichte leidenschaftlich gern, und zwar an einer Hauptschule. Anderthalb Jahre vor Lukas’ Tod hatte ich wieder angefangen, zehn Stunden Vertretung zu geben.

Jetzt wollte ich mehr, ließ mich für 20 Stunden eintragen. Ich bekam kein Geld dafür, aber das war mir egal. Ich musste einfach raus, ich brauchte Struktur. Ich hätte es nicht ertragen können, zu Hause zu bleiben, wenn alle anderen morgens das Haus verlassen. Ich schätze mich wirklich als starke Person ein, aber wenn ich nicht arbeiten gegangen wäre – ich glaube, dann wäre ich durchgedreht. Ich brauchte Alltag.

Wobei ich in den ersten Wochen das Gefühl hatte, ich lebte wie unter einer Käseglocke. Nichts kam wirklich an mich ran. Und ich wollte auch nichts ranlassen. Wenn mein Mann, meine Tochter an die Glaswand klopften, habe ich das zwar gehört, und das Verantwortungsbewusstsein in der Schule war natürlich auch da, aber eigentlich war ich nicht erreichbar, fühlte mich wie ferngesteuert.

Grenzwertig war der Urlaub in den Herbstferien, nur ein paar Wochen nach Lukas’ Tod. Wir hatten die Reise nach Ägypten lange vorher gebucht. Für Lukas war eine Woche im Hospiz Löwenherz geplant gewesen. Das bekam Lukas immer gut, und vor allem bekam es auch Laura gut, wenn wir mal mit ihr allein in den Urlaub fuhren. Jetzt überlegten wir: Sollen wir fahren? Alle rieten zu.

Es war zwar schön, Sonne zu haben, aber mir war es fast unmöglich, unter Leuten zu sein, die nicht Bescheid wussten. Ich hatte ein riesiges Informationsbedürfnis, hatte das Gefühl, ich muss mir auf die Stirn schreiben, dass ich zwei Kinder habe, nicht nur eins. Laura und meinem Mann war das manchmal ziemlich unangenehm. Menschen, die wir kaum kannten, erzählte ich unsere Geschichte. Das war die eine Seite von mir. Die andere wollte weiterhin einfach nur Käseglocke.

Dieses Bedürfnis nach Abschottung änderte sich eigentlich erst im Mai, also acht Monate nach Lukas’ Tod. Ich nahm an einem Mütterseminar teil, das vom Kinderhospiz Löwenherz angeboten wurde. Wir sind klettern gegangen in einem großen Hochseilgarten. Das war eine absolute Überwindung für mich, ich leide nämlich unter Höhenangst. Und da oben, da hatte ich Angst pur. Aber irgendwie bin ich offenbar genau dadurch ein bisschen aus dieser Glocke rausgekommen, vielleicht, weil ich mich wieder gespürt hatte. Jedenfalls fühlte ich mich auf dem Weg nach Hause das erste Mal wieder richtig lebendig.

Aber, was ich nicht geahnt habe: Nach der Käseglocke kam die Wut. Ich war einfach ständig wütend. Nicht auf meinen Mann oder Laura oder Lukas – auf alles irgendwie. Ich kann das ganz schlecht beschreiben.

Um diese Wut irgendwo zu lassen, bin ich gejoggt. Sport war schon immer ein Ventil für mich, seit meiner Kindheit habe ich alle möglichen Sportarten betrieben. Später war es vor allem Handball, die letzten Jahre als Trainerin. Und nun bin ich gelaufen, jeden Tag sieben bis acht Kilometer.

Und ich habe geschrieben, hab die Wut in Worte gepackt. Ich hatte ja gleich nach Lukas’ Tod angefangen, Briefe an ihn zu schreiben. Ich wollte ihm einfach erzählen, was gewesen ist, was mich traurig macht, was mich freut. Jetzt kam dazu, was mich wütend machte. Das Schreiben darüber tat mir gut.

Und nach der Wut kam die Phase, in der ich bewusst begonnen habe, ein anderes Leben zu gestalten – und zwar ohne schlechtes Gewissen. Die beiden Phasen gingen ineinander über, ich kann sie nicht klar abgrenzen. Aber diese dritte Phase war die längste. Einfach vom Gefühl her. Vom Verstand her war mir das lange klar, und das Gestalten eines anderen Lebens war in Ordnung. Aber das schlechte Gewissen abzulegen, dieses Gefühl: Ich darf auch glücklich sein, obwohl Lukas nicht mehr da ist – das hat gedauert.

In der Schule gab es natürlich immer mal Tage, an denen mir das Unterrichten verdammt schwergefallen ist. Ich erinnere mich besonders an den ersten Todestag von Lukas. Da habe ich morgens schon gemerkt, dass es mir nicht gut ging. Aber die erste Stunde wollte ich noch unterrichten.

Die Schüler fragten: Irgendwas ist doch heute mit Ihnen? Da habe ich ihnen erzählt, dass heute vor einem Jahr mein Sohn gestorben ist. Sie waren natürlich betroffen, und ein Schüler fragte: »Ist Lukas hier in Sittensen begraben?« – »Ja.« – »Und Kinder haben ein besonderes Grab, oder?«

Ein paar Tage später kam dieser Schüler auf mich zu, hüpfte ganz aufgeregt auf und ab und erzählte: »Ich war mit meinen Eltern auf dem Friedhof, bei Opas Grab. Und dann hab ich auch das Grab von Ihrem Sohn gesehen.« Und dann stand er plötzlich still, wurde ganz ruhig und sagte: »Das leuchtet.«

Lukas’ Grab ist bunt. Als der Grabstein noch nicht fertig war, haben Lukas’ Freunde aus der Kita und der Schule kleine Steine bemalt und auf das Grab gelegt. Die sind immer noch alle da, umrahmen jetzt das Grab. Auch ich habe seitdem immer mal Steine bemalt, Laura hat Steine bemalt, mein Patenkind, meine Schwestern, die Kinderkrankenschwestern. Viele bringen ab und zu einen bunten Stein zu Lukas. Das tut mir gut. Es bedeutet mir viel, wenn ich merke, dass Lukas auch bei anderen noch präsent ist. Wenn sie an seinen Geburtstag denken oder seinen Todestag. Das ist ein großes Geschenk für mich.

Die beiden Tage liegen ja recht eng beieinander. Darum ist das immer eine schwere Zeit für mich. Der Geburtstag ganz besonders. Denn auch mein Mann hat, wie unsere Kinder, am 23. August Geburtstag. Und natürlich möchte ich den Menschen, die ich lieb habe, einen tollen Tag bereiten. Aber eigentlich möchte ich auch einfach nur weg.

Schon im Vorfeld geht es mir oft nicht gut. Meist wird es erst besser, wenn ich ein Geschenk für Lukas gefunden habe. Ich finde nämlich, Lukas muss auch noch etwas bekommen, schließlich ist es ja auch sein Geburtstag. Aber eine Blume reicht mir nicht. Deshalb fange ich schon Wochen vorher an, mir Gedanken zu machen. Mal bekommt er einen Teddy, mal ein Glas mit bunten Blubberblasen – irgendetwas, woran er Spaß gehabt hätte. Und es ist immer ein ganz besonderer Moment, wenn ich ihm das Geschenk bringe.