Das ultimative Buch über Picasso - Victoria Charles - E-Book

Das ultimative Buch über Picasso E-Book

Victoria Charles

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Das ultimative Buch über Picasso

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Autor:

Victoria Charles & Anatoli Podoksik

Layout:

Baseline Co. Ltd

Vietnam

© Confidential Concepts, worldwide, USA

© Parkstone Press International, New York, USA

Image-Barwww.image-bar.com

© Estate of Pablo Picasso, Artists Rights Society (ARS), New York

© Man Ray Trust / Adagp, Paris

Weltweit alle Rechte vorbehalten.

Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen, den betreffenden Künstlern selbst oder ihren Rechtsnachfolgern. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

ISBN: 978-1-64461-871-4

Victoria Charles & Anatoli Podoksik

Inhalt

Anfangsjahre

Blaue Periode

Rosa Periode und Primitivismus

Die kubistische Revolution

Picasso und die Russen

Meisterwerke

Barcelona und Paris 1901-1906

Kubismus 1907-1914

Rappel à l’ordre1915-1925

Kontakte mit dem Surrealismus 1926-1937

Krieg und Frieden 1937-1960

Die letzten Jahre 1961-1973

Biografie

Abbildungsverzeichnis

Anmerkungen

Selbstporträt, 1917-1919. Bleistift und Zeichenkohle auf Papier, 64,2 x 49,4 cm. Musée Picasso Paris, Paris.

Porträt der Mutter des Künstlers, 1896. Aquarell auf Papier, 49,8 x 39 cm. Museu Picasso, Barcelona.

Anfangsjahre

Obwohl Picasso von Kindheit an das Leben eines Malers führte, wie er selbst es nannte, und obwohl er sich im Laufe von achtzig Jahren ununterbrochen in den Bildenden Künsten ausdrückte, unterscheidet er sich dem Wesen seines schöpferischen Genies nach von dem, was man gewöhnlich unter einem Künstler-Maler versteht. Es wäre vielleicht am richtigsten, ihn als Maler-Dichter zu betrachten, weil die lyrische Stimmung, das von der Alltäglichkeit befreite Bewusstsein und die Gabe der metaphorischen Verwandlung der Realität seinem plastischen Sehen durchaus nicht weniger eigen sind als dem bildhaften Denken des Dichters.

Picasso, nach dem Zeugnis von Pierre Daix, „empfand sich selbst als Poeten, der dazu neigte, sich in Zeichnungen, Gemälden und Skulpturen zu äußern“[1]. Empfand er sich immer so? Hier ist eine Präzisierung nötig. Ganz bestimmt in den dreißiger Jahren, als er sich dem Verfassen von Versen zuwandte und dann in den vierziger und fünfziger Jahren sogar Bühnenstücke schrieb. Es besteht kein Zweifel, dass Picasso immer, von Anfang an, „Maler unter Dichtern, Dichter unter Malern war“[2].

Picasso empfand einen starken Hang zur Poesie und war so auch selbst für die Dichter anziehend. Guillaume Apollinaire war bei ihrer Bekanntschaft erstaunt, wie genau der junge Spanier die Qualität rezitierter Gedichte „über die lexikalische Barriere“ hinaus erfühlte. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die Nähe zu Dichtern wie Max Jacob, Guillaume Apollinaire, André Salmon, Jean Cocteau, Paul Éluard ihre Spuren in jeder wesentlichen Periode seines Schaffens hinterließ, und das Schaffen Picassos selbst stellte sich wiederum als eine einflussreiche Kraft in der französischen und nicht nur der französischen Dichtung des 20. Jahrhunderts dar.

Die Kunst Picassos, die visuell so unverkennbar und manchmal verwirrend dunkel und rätselhaft ist, auch als dichterische Schöpfung zu begreifen, dazu fordert die Einstellung des Künstlers selbst auf. Er sagte: „Diese Künste sind schließlich dasselbe; du kannst ein Bild mit Worten genauso schreiben, wie du deine Empfindungen im Gedicht malen kannst.“[3] Er hatte sogar solch einen Gedanken: „Wäre ich als Chinese zur Welt gekommen, so wäre ich nicht Maler, sondern Schriftsteller geworden. Ich hätte meine Bilder in Worten gemalt.“[4]

José Ruiz y Blasco, der Vater von Pablo Picasso.

Maria Picasso y Lopez, die Mutter von Pablo Picasso.

Picasso aber kam als Spanier zur Welt und begann, wie man sagt, früher zu malen als zu sprechen. Bereits als kleines Kind empfand er einen unbewussten Trieb zu den Utensilien der Maler. Stundenlang konnte er in glücklicher Versunkenheit auf dem Papier nur ihm verständliche, aber ganz und gar nicht sinnlose Spirallinien ausführen, oder er zeichnete, fern von den spielenden Gleichaltrigen, seine ersten Bilder in den Sand. Eine so frühe Bekundung ließ eine erstaunliche Gabe vorausahnen.

Die allererste, noch wortlose, unbewusste Lebensphase strömt ohne Daten, ohne Fakten dahin, wie im Halbschlaf, körperlichen und sinnlichen Rhythmen gehorchend, die dem menschlichen Organismus eigen sind oder von außen auf ihn einwirken.

Das Pulsieren des Blutes, das Atmen, das Streicheln warmer Hände, das Schaukeln der Wiege, die Intonation der Stimmen bilden ihren Inhalt. Dann erwacht das Gedächtnis, und zwei schwarze Augen folgen den sich bewegenden Gegenständen im Raum, umfangen die gewünschten Dinge, drücken emotionelle Reaktionen aus. Die größere visuelle Wahrnehmungsfähigkeit determiniert bereits die Objekte, nimmt immer neue Formen auf, erfasst immer neue Horizonte. Millionen von visuellen Bildern, die zwar vom Auge wahrgenommen, aber noch nicht verstanden werden, finden Eingang in die innere Weltsicht des Säuglings, um sich mit den immanenten Kräften der Intuition zu berühren, mit den angeborenen Reaktionen der Instinkte und den tief verborgenen Stimmen der Vorahnen.

Der Schock der rein sinnlichen Empfindungen ist besonders im Süden stark, wo die große Kraft des Lichtes bald blendet, bald jede Form mit äußerster Schärfe umreißt. Und die wortlose, noch unerfahrene Empfindung des Kindes, das in dieser Gegend zur Welt kam, reagiert auf diesen Schock mit einer unerklärlichen Melancholie, wie einer Art von irrationaler Sehnsucht nach der Form. So ist die lyrische Stimmung der iberischen Mittelmeerküste, des Landes der nackten Natur, das dramatische „Suchen des Lebens um des Lebens willen“, wie der Kenner dieser Empfindungen, Federico García Lorca, schrieb.[5] Vom Romantismus fehlt hier jede Spur. Unter den klaren, exakten Umrissen gibt es keinen Platz für die Sentimentalität, gibt es nur eine Welt, die ein körperliches Gepräge hat. „Wie alle spanischen Maler bin ich Realist“, wird Picasso später sagen.

Später kommen die Worte zum Kinde, diese Bruchstücke von Rede, Bausteine der Sprache. Worte sind abstrakte Dinge. Sie werden vom Bewusstsein produziert, um die äußere und die innere Welt widerzuspiegeln. Die Worte sind der Fantasie untergeordnet, die ihnen Bilder, Sinn, Bedeutungen anbietet, und das verleiht ihnen gleichsam die Dimensionen der Unendlichkeit. Worte sind Instrument der Erkenntnis und Instrument der Poesie. Aus ihnen wird die zweite, ausgesprochen menschliche Realität der abstrakten Dinge der denkbaren Welt geschaffen.

Später, als Picasso mit Dichtern in freundschaftlicher Verbindung steht, entdeckt er, dass für die schöpferische Vorstellungskraft visuelle und sprachliche Ausdrucksmittel einander gleichwertig sind. Er überträgt in seine Arbeit Elemente der poetischen Technik: Vieldeutigkeit der Formen, plastische und Farbenmetaphern, Zitate, Reime, „Wortspielereien“, Paradoxien und andere Tropen, die die vorstellbare Welt eines Menschen transparent werden lassen. Absolute Fülle und vollkommene Freiheit der Gestaltung wird die visuelle Poetik Picassos Mitte der dreißiger Jahre erreichen in den Folgen der Bilder mit Frauenaktmodellen, Porträts und Interieurs, die mit „singenden“ und „duftenden“ Farben gemalt sind, und besonders in einer Vielzahl von Tuschzeichnungen, die gleichsam mit einem Hauch auf das Papier gebracht sind.

„Wir sind keine einfachen Ausführer; wir durchleben unsere Arbeit.“[6] Diese Worte Picassos drücken die enge Abhängigkeit seines Schaffens von seinem Leben aus; hinsichtlich seiner Arbeit gebrauchte er auch das Wort „Tagebuch“. Daniel-Henry Kahnweiler, der Picasso mehr als 65 Jahre kannte, schrieb:

Es ist wahr, dass ich sein Schaffen als fanatisch autobiografisch bezeichnet habe. Das ist dasselbe, wie wenn man sagt, dass er nur von sich selbst abhängig war, von seinem eigenen Erlebnis. Er war immer in der Freiheit, niemandem verpflichtet als sich selbst.[7]

Auf der vollen Unabhängigkeit Picassos von den äußeren Bedingungen und Umständen beharrte auch Jaime Sabartés, der ihn das ganze Leben kannte. In der Tat weist alles darauf hin, dass, wenn Picasso in seiner Kunst von etwas abhängig war, so nur von seinem unabänderlichen Bedürfnis, sich mit der ganzen Fülle seines Geistes auszudrücken. Man kann, wie Sabartés, die schöpferische Arbeit Picassos mit einer Therapie vergleichen, man kann, wie Kahnweiler, Picasso als einen Maler der romantischen Schule betrachten, aber gerade das Bedürfnis der Selbstentfaltung durch das Schaffen – als Gewähr für Selbsterkenntnis – verlieh seiner Kunst die Universalität, über die allein solche menschliche Dokumente verfügen, wie etwa Les Confessions von Henri Rousseau, die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe oder Une Saison en enfer von Arthur Rimbaud.

Porträt des Vaters des Künstlers, 1896. Blaues Aquarell auf Papier, 18 x 11,8 cm. Museu Picasso, Barcelona.

Rendez-Vous (Die Umarmung), 1900. Öl auf Karton, 53 x 56 cm. Puschkin-Museum, Moskau.

Es ist bemerkenswert, dass Picasso selbst, wenn er seine Kunst von dieser Seite aus betrachtete, den Gedanken äußerte, dass seine Werke, die er sorgfältig datierte, und bei deren Katalogisierung er behilflich war, als dokumentarische Materialien dienen könnten für eine künftige Wissenschaft vom Menschen, wie er sie sich vorstellte. „Sie wird“, sagte Picasso, „danach streben, das Wesen des Menschen an sich durch das Studium des schöpferischen Menschen zu erforschen.“[8]

Übrigens bildete sich in Bezug auf das Schaffen Picassos seit langem eine Art wissenschaftliche Auffassung heraus. Man periodisierte ihn, man strebte danach, ihn durch die schöpferischen Kontakte (sogenannte Einflüsse, mitunter rein hypothetische) zu erklären, aber auch durch die Widerspiegelung biografischer Ereignisse (vor einiger Zeit erschien ein Buch mit dem Titel Picasso: Kunst als Autobiografie[9]).

Wenn das Schaffen Picassos die allgemeine Bedeutung einer universellen menschlichen Erfahrung hat, so deswegen, weil es die innere Welt einer Persönlichkeit in ihrer Entwicklung mit einer seltenen Adäquatheit und mit erschöpfender Fülle gestaltet hat. Nur wenn man sein Schaffen von dieser Position her betrachtet, kann man hoffen, seine Gesetzmäßigkeiten, die Logik seiner Entwicklung, den Wechsel der sogenannten Perioden zu verstehen. Die in diesem Buch vorgelegten Werke Picassos aus den russischen Museen – die Sammlung wird vollständig veröffentlicht – umfassen die frühen Perioden seines Schaffens, die nach ihren stilistischen (seltener nach thematischen) Erwägungen als Perioden klassifiziert werden: Steinlener (oder Lautrecer), Vitragen, Blaue, Zirkus-, Rosa, klassische, Negro-, protokubistische, kubistische (analytische und synthetische). Die Definition könnte noch mehr detailliert werden.

Vom Standpunkt der „Wissenschaft vom Menschen“ aus jedoch war die Zeit, in die alle diese Perioden fallen – zwischen 1900 und 1914, Picasso war im Alter zwischen 19 und 33 –, die Zeit der Entwicklung seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit und ihrer vollen Blüte. Die absolute Bedeutung dieser Etappe des geistig-psychologischen Wachsens einer Persönlichkeit unterliegt keinem Zweifel, denn, wie Goethe sagte, um etwas zu schaffen, muss man etwas sein. Die außerordentliche Vollständigkeit und die chronologische Einheit der russischen Sammlung erlaubt es, die vielleicht am schwersten zugängliche Phase im Schaffen Picassos von der Position der Logik dieses inneren Prozesses in gebührendem Maße zu beleuchten.

Etwa um 1900, zur Entstehungszeit des frühesten unter den Bildern der Sammlung, lagen für Picasso seine spanische Kindheit und die Lehrjahre bereits weit zurück. Dennoch lohnt es sich, einige Schlüsselerlebnisse in seiner Kindheit näher zu betrachten. Zuallererst muss Málaga erwähnt werden, hier hat der am 25. Oktober 1881 geborene Pablo Ruiz, der künftige Picasso, die ersten zehn Jahre seines Lebens verbracht. Obwohl er diese Stadt an der andalusischen Küste des Mittelmeeres nie dargestellt hat, war gerade Málaga die Wiege seines Geistes, die Landschaft seiner Kindheit, in der viele Themen und Bilder seines reifen Schaffens wurzeln. Im Stadtmuseum von Málaga sah er zum ersten Mal den antiken Herkules und auf der Placa de Toros Stierkämpfe, und zu Hause die gurrenden Tauben, die seinem Vater, dem „Maler von Bildern für Esszimmer“, wie er ihn später selbst nannte, als Modell dienten. Picasso zeichnet das alles, und mit etwa acht Jahren nimmt er bereits Pinsel und Ölfarben in die Hand, um eine Corrida darzustellen.

Der Vater erlaubt ihm, auf seinen Taubenbildern die Vogelfüße zu zeichnen, denn Pablo macht das gut und kennerhaft. Und als die Zeit gekommen war, die Schule zu besuchen, wollte er sich auf keinen Fall von seiner Lieblingstaube trennen. Er kam in die Klasse und stellte den Käfig mit dem Vogel auf die Bank. Die Schule als den Ort, wo man sich unterzuordnen hatte, hasste Pablo vom ersten Tag an und widersetzte sich ihr. Auch in Zukunft wird er gegen alles Einspruch erheben, was nach Schule riecht, was sich an der Eigenart und der individuellen Freiheit vergreift, allgemeine Regeln vorschreibt, Normen bestimmt und Auffassungen aufdrängt. Er wird sich nie vorgegebenen Bedingungen anpassen, seinen Überzeugungen abtrünnig werden oder, um es in psychologischen Begriffen auszudrücken, das Lustprinzip dem Realitätsprinzip unterordnen.

Gut ging es der Familie Ruiz-Picasso nie, und unter dem Druck der finanziellen Umstände übersiedelte sie nach Coruña, wo der Vater Picassos die Stelle eines Mal- und Zeichenlehrers im Stadtgymnasium erhielt. Málaga mit seinem milden Klima und seiner üppigen Natur, „lichter Stern im Himmel des mauretanischen Andalusiens, Osten ohne Gift, Westen ohne Tätigkeit“ (wie es bei Lorca heißt), und Coruña, am anderen, nördlichen Ende der Iberischen Halbinsel, mit dem stürmischen Atlantik, dem Regen und den Nebelschwaden. Diese zwei Städte sind nicht nur geografische, sondern auch psychologische Pole Spaniens. Für Picasso waren sie Lebensstationen: Málaga – die Wiege, Coruña – der Abfahrtshafen.

Im Jahre 1891, als die Familie Ruiz-Picasso mit dem zehnjährigen Pablo nach Coruña übersiedelte, herrschte dort noch eine Atmosphäre tiefer Provinz, nicht vergleichbar mit Málaga, wo es einen Kreis von ortsansässigen Malern gab, zu dem auch Picassos Vater gehörte. Dennoch gab es in Coruña eine Schule der freien Künste, wo der junge Pablo Ruiz, als er sich systematisch mit Zeichnen zu befassen begann, unwahrscheinlich schnell (mit 13 Jahren) das akademische Programm des Zeichnens nach dem Gips und der lebendigen Natur durchlief. In diesen Studien setzt nicht nur die in diesem nachahmenden Studium notwendige und phänomenale Exaktheit und Genauigkeit der Ausführung in Erstaunen, sondern auch die von dem jungen Maler in diese trockene Materie hereingebrachte Lebendigkeit des Helldunkels, die die Gipstorsi, Hände und Füße in lebendige und geheimnisvolle poetische Bilder verwandelt.

Aber er zeichnet nicht nur in der Klasse, sondern auch zu Hause, zeichnet die ganze Zeit, egal worauf. Das sind Bildnisse von der Familie, Alltagsszenen, romantische Sujets, Tiere. In Nachahmung der periodischen Druckschriften jener Zeit gibt er seine eigenen Zeitschriften heraus – Coruña und Azul y Blanco – mit handschriftlichem Text und humoristischen Illustrationen. Angemerkt sei hier, dass die Zeichnungen des kleinen Picasso erzählerischen Charakter und eine „Dramaturgie“ besitzen, dass das Bild und das Wort für ihn beinah gleichwertig sind; diese beiden Momente sind bedeutsam in der Perspektive der künftigen Entwicklung der Kunst Picassos.

Lesende Frau, 1900. Öl auf Karton, 56 x 52 cm. Puschkin-Museum, Moskau.

Picador, um 1888-1890. Öl auf Tafel, 24 x 19 cm. Privatsammlung.

Junges barfüßiges Mädchen, 1895. Öl auf Leinwand, 75 x 50 cm. Musée Picasso Paris, Paris.

Zuhause unter der Leitung des Vaters – der Vater war so von den Erfolgen des Sohnes beeindruckt, dass er ihm seine Palette mit den Pinseln und Farben übergeben hatte – begann Pablo im letzten Jahr seines Verbleibens in Coruña nach lebenden Modellen in Öl zu malen (Ein Armer, Mann mit Mütze). Diese ohne jeden Akademismus gemalten Bildnisse und Figuren offenbaren nicht nur die frühe Reife des dreizehn-, vierzehnjährigen Malers, sondern auch die zutiefst spanische Herkunft seines Talents.

Sein ganzes Interesse konzentriert sich auf den Menschen; das Modell ist mit einem tiefen Ernst und rauem Realismus behandelt, wodurch die Bedeutsamkeit, Einheitlichkeit, das „Kubistische“ dieser Gestalten zutage tritt. Sie sind nicht in dem Maße Lehrarbeiten, sondern eher psychologische Porträts, und wiederum weniger Porträts als allgemein menschliche Charaktere wie etwa die biblischen Figuren Francisco de Zurbaráns und Jusepe de Riberas.

Nach dem Zeugnis von Kahnweiler äußerte sich Picasso in den späteren Jahren über seine malerischen Debüts beifälliger als über die Bilder, die er in Barcelona gemalt hatte, wohin die Familie Ruiz-Picasso im Herbst 1895 übersiedelte und wo Pablo sofort Student der Malereiklasse der Schule der schönen Künste La Lonja wurde. In der Tat konnte der Besuch der akademischen Klassen in Barcelona nach den ersten Meisterwerken von Coruña nichts mehr zur Entfaltung der originellen Gabe des jungen Picasso beitragen, der die Handgriffe des malerischen Gewerbes selbstständig vervollkommnen konnte.

Aber der offizielle Weg, Maler zu werden, schien damals der einzige zu sein, und um den Vater nicht zu betrüben, blieb er noch zwei ganze Jahre Student von La Lonja und konnte natürlich nicht vermeiden, für eine Zeit unter den nivellierenden Einfluss des Akademismus zu geraten, der von der offiziellen Schule zusammen mit den Berufsfertigkeiten eingeimpft wurde. „Meine Studienzeit in Barcelona – welch Abscheu empfinde ich gegen sie!“ gestand Picasso Kahnweiler.[10]

Und doch brachte die für ihn vom Vater gemietete Werkstatt (mit 14 Jahren!), die ihm eine verhältnismäßige Emanzipation sowohl von der Schule als auch von dem engen Kreis der Familie erlaubte, eine reelle Unterstützung seiner Selbstständigkeit. „Ein Studio ist für einen jungen Mann, der mit überschäumendem Ungestüm seine Berufung fühlt“, schreibt Josep Palau i Fabre, „fast wie eine erste Liebe: Alle Illusionen zentrieren und kristallisieren sich dort.“[11]

Und hier zog Picasso die Bilanz seiner Schuljahre, indem er die ersten großen Gemälde malte: Die erste hl. Kommunion (Winter 1895-1896) – eine Komposition im Interieur mit Figuren, Drapierungen und Stillleben, mit schönen Lichteffekten – und Ciencia y Caridad (Anfang 1897) – ein riesengroßes Gemälde mit Figuren größer als das Modell, eine Art reale Allegorie. Das letzte erhielt eine Ehrenurkunde auf der nationalen künstlerischen Ausstellung in Madrid und eine Goldmedaille auf der Ausstellung in Málaga.

Betrachtet man die schöpferische Biografie des frühen Picasso in den Begriffen der Erziehungsromane, so eröffnet seine Abreise von Zuhause nach Madrid im Herbst 1897 – offiziell für die Fortsetzung des Studiums an der Königlichen Akademie der Schönen Künste (Academia de San Fernando) – tatsächlich die nach den Lehrjahren nächste Lebensetappe, die der Wanderjahre. Umsiedlungen von Ort zu Ort, ein ständiges Umherirren entsprechen in dieser Periode dem Zustand der inneren Unbestimmtheit, des Bedürfnisses der Selbstbehauptung und des Strebens nach der Unabhängigkeit, mit dem bei dem Jüngling das Werden seiner Persönlichkeit beginnt.

Die Wanderjahre Pablo Picassos sind die aus mehreren sich abwechselnden Phasen gebildete siebenjährige Periode seines Lebens zwischen 16 und 23, zwischen der ersten selbstständigen Abreise nach Madrid – der künstlerischen Metropole seines Landes – im Jahre 1897 und der endgültigen Niederlassung in Paris – der künstlerischen Metropole der Welt – im Frühjahr 1904.

Pierrot und Tänzerin, 1900. Öl auf Tafel, 38 x 46 cm. Privatsammlung.

Wie auch während seines ersten Besuchs im Jahr 1895 auf dem Weg nach Barcelona, bedeutete Madrid für Picasso vor allem das Museum El Prado, wo er öfter erschien als in der Academia de San Fernando, um die alten Meister zu kopieren (vor allem zog ihn Diego Velázquez an). Aber, nach der Bemerkung von Sabartés, „die Entwicklung seines Geistes wird von Madrid sehr geringfügig beeinflusst“,[12] und man darf behaupten, dass für Picasso der erlebte schwere Winter 1897/1898 und die darauffolgende langwierige Krankheit, die symbolisch das Ende seiner „akademischen Karriere“ bezeichnet, die wichtigsten Ereignisse in der Hauptstadt waren.

Demgegenüber bedeutete Picasso der Aufenthalt in Horta de Ebro in der Nähe einer Siedlung im Hochgebirge Kataloniens, wohin er zur Kur kam und wo er für ganze acht Monate blieb (bis zum Frühjahr 1899), so viel, dass er auch Jahrzehnte später unverändert sagte: „Alles, was ich kann, habe ich in Horta de Ebro gelernt.“[13]

Zusammen mit Manuel Pallares, dem ersten Barcelonaer Freund, der ihn auch einlud, bei sich im Elternhaus in Horta zu verweilen, durchstreifte Pablo mit dem Malgerät und dem Skizzenblock alle Gebirgspfade in der Umgebung dieser Kleinstadt, die einen rauen, mittelalterlichen Charakter bewahrt hatte. Zusammen mit dem Freund bestieg Picasso die umliegenden Felsen, schlief auf einem Lager aus Lavendel in einer Höhle, wusch sich mit Quellwasser, durchstreifte Bergschluchten unter der Gefahr, in die reißende Strömung eines Bergflusses zu stürzen. Er wollte sich mit der Kraft der Naturgewalten messen und die ewigen Werte des einfachen Lebens mit seinen Mühen und seinen Freuden kennenlernen.

Tatsächlich sind die in Horta verlebten Monate nicht eigentlich durch ihre künstlerische Produktion (erhalten geblieben sind nur einige Studien und Skizzenbücher) bedeutend, sondern durch ihre Schlüsselposition im Werdeprozess der Persönlichkeit des jungen Picasso.

Diese an sich kurze biografische Episode ist eines besonderen Kapitels im „Roman der Erziehung“ Picassos würdig, eines Kapitels, in dem es Szenen der bukolischen Abgeschiedenheit im Schoße der unberührten, gewaltigen und lebensspendenden Natur gibt; es gibt da die Empfindung der Freiheit und der Fülle des Seins, es gibt die Idee des Naturmenschen und des Lebens, in harmonischem Rhythmus des zyklischen Jahreszeitenwechsels.

Aber wie es sich für Spanien geziemt, enthält dieses Kapitel auch brutale Momente der Versuchung, Errettung oder Todesringen – die Triebkräfte des Dramas der menschlichen Existenz. Palau i Fabre, der alle Ereignisse dieses ersten Aufenthalts Picassos in Horta beschrieb, bemerkt: „Es scheint mehr als paradox zu sein, beinahe hätte ich gesagt, von der Vorsehung bestimmt, dass Picasso sozusagen in dem Augenblick wiedergeboren wurde, als er Madrid und die Nachahmung der großen Meister der Vergangenheit aufgab, um sich mit den urtümlichen Kräften des Landes zu verbinden.“[14] Man muss hinzufügen, dass der Wert der Erfahrungen, die der halbwüchsige Picasso in Horta de Ebro machte, für die Forscher noch mehrmals von Bedeutung sein wird im Zusammenhang mit dem Problem seiner „Mittelmeerquellen“ und des „iberischen Archaismus“ im entscheidenden Moment seines Werdens, also im Jahr 1906, wie auch im Zusammenhang mit dem erneuten Aufenthalt des Malers in Horta im Jahr 1909, der eine neue Etappe in der künstlerischen Konzeption Picassos – den Kubismus – bezeichnen wird.

Blaues Porträt von Jaime Sabartés, 1901. Öl auf Leinwand, 46 x 38 cm. Museu Picasso, Barcelona.

Selbstbildnis „Yo“, 1900. Aquarell, Kreide und Tusche auf Papier, 9,5 x 8,6 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York.

Nach dem ersten Aufenthalt in Horta de Ebro kehrte Picasso reifer und voll neuer Kräfte nach Barcelona zurück, das er jetzt auch auf andere Weise erlebt – als Sammelpunkt der fortschrittlichen Strömungen, als eine für die Gegenwart offene Stadt. Tatsächlich war die kulturelle Atmosphäre von Barcelona am Vorabend des 20. Jahrhunderts von Optimismus durchtränkt.

Vor dem Hintergrund der Aufrufe zur regionalen Wiedergeburt Kataloniens, vor dem Hintergrund des Auftretens der Anarchisten, vor dem Hintergrund der neuesten technischen Errungenschaften (Auto, Elektrizität, Phonograph, Kinematograf, Beton) und der neuesten Ideen der Massenproduktion festigte sich in den jungen Gemütern der Gedanke von einer mit dem neuen Jahrhundert entstehenden, noch nie gesehenen Epoche der Kunstentfaltung.

Gerade in Barcelona, das sich mehr dem zeitgenössischen Europa zuwandte als dem in Lethargie versunkenen, patriarchalischen Spanien, entstand die Kunstströmung „Modernismo“ – die katalanische Abart der kosmopolitischen künstlerischen Tendenzen des „Fin de siècle“, die in sich ein ganzes Spektrum der ideellen und ästhetischen Einflüsse vom skandinavischen Symbolismus bis zum Präraffaelismus, vom „Wagnerismus“ und „Nietzscheanismus“ bis zum französischen Impressionismus und der Stilrichtung der Pariser humoristischen Zeitschriften vereinigte.

Picasso, der noch nicht einmal achtzehn und folglich in einem rebellischen Alter war, wies sowohl die blutarme akademische Ästhetik als auch den lahmen Prosaismus der realistischen Sicht zurück und solidarisierte sich natürlich mit allen, die sich Modernisten nannten, d. h. mit den nichtkonformistisch orientierten Malern, Literaten, mit der „Elite des katalanischen Gedankens“ (nach einem Ausdruck von Sabartés), die sich um das künstlerische Kabarett „Els Quatre Gats“ gruppierte. Der Untersuchung der Frage, was die Kunst Picassos aus den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts dem Barcelonaer Modernismus zu verdanken hat, wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. In dieser Angelegenheit bemerkte Juan Eduardo Cirlot:

Die Kritiker meinen, es sei sehr nützlich, über die ,Einflüsse‘ zu sprechen, denn da kann man von der Gelegenheit Gebrauch machen, etwas zu erklären, was sie selbst nicht verstehen, durch etwas, das sie verstehen, aber häufig völlig falsch, und das Ergebnis ist deswegen ein unentwirrbares Durcheinander.[15]

Die Absinthtrinkerin, 1901. Öl auf Karton, 67,3 x 52 cm. Sammlung Melville Hall, New York.

Le Moulin de la Galette, 1900. Öl auf Leinwand, 88,2 x 115,5 cm. Solomon R. Guggenheim Museum, New York.

Bildnis des Dichters Sabartés (Der Bierkrug), 1901. Öl auf Leinwand, 82 x 66 cm. Puschkin-Museum, Moskau.

Tatsächlich muss man diese Frage aus dem Kreis der Hypothesen über die flüchtigen stilistischen Einflüsse (Ramon Casas i Carbó, Isidre Nonell, Hermengildo Anglada Camarasa), unter denen die Vorstellung über das wirkliche, natürliche Element des großen Talents Picassos verwischt wird, eliminieren.

Die Rolle des Barcelonaer Modernismus bestand in der avantgardistischen Erziehung des jungen Picasso, in der Befreiung seines künstlerischen Bewusstseins von den Schulschablonen. Aber diese avantgardis-tische Universität war gleichzeitig auch die Arena seiner Selbstbehauptung. Picasso, der sich im Jahre 1906 mit einem Tenor vergleichen wird, der eine Note höher nimmt, als es in der Partitur steht,[16] wird wirklich nie von dem unterjocht, was ihn hinreißt; er beginnt jedes Mal da, wo der Einfluss endet.

In der Tat imponierte Picasso in diesen Barcelonaer Jahren der grafische „Jargon“ der Pariser Zeitschriften jener Epoche (die Manier Forains, Steinlens, der Zeichner des Gil Blas, La Vie parisienne u. dgl.), zumal er selbst einen ebenso treffenden, scharfen Stil kultivierte, der alles Überflüssige ausschloss und durch das Spiel weniger Linien und Flecken den lebendigen Ausdruck jedweden Charakters jeder Situation erreichte und diese durch die Brille der Ironie betrachtete.

Viel später wird Picasso gelegentlich bemerken, dass in der Tat alle guten Porträts Karikaturen sind. In diesen Barcelonaer Jahren zeichnet er mehrere Porträtkarikaturen von seinen Genossen in der Avantgarde, und es scheint geradezu, als strebe er danach, sein Modell zu besiegen, es seinem künstlerischen Willen unterzuordnen, es in eine strenge grafische Formel zu fassen.

Wahr ist aber auch, dass in dieser neuen, modernis-tischen Form dasselbe literarische, erzählerische Moment auftritt, das der Betrachter schon in den handgeschriebenen Kinderzeitschriften des kleinen Pablo in Coruña bemerkt. Als eines Gemäldes würdig findet Picasso in den Jahren 1899 bis 1900 nur solche Sujets, in denen die „letzte Wahrheit“, die Vergänglichkeit des Lebens, die Unvermeidlichkeit des Todes durchscheint.

Die Zeremonie des Abschieds von einem Entschlafenen, Wachen am Sarg, Agonie eines Invaliden am Sterbebett im Krankenhaus, Szene im Zimmer eines Verstorbenen oder am Bett einer Sterbenden: der nichtsnutzige Gatte tut Abbitte, ein Geiger spielt, ein vergrämter langhaariger Dichter, der Liebhaber auf Knien, ein junger Mönch beim Gebet. In solchen Variationen arbeitete Picasso dieses Thema aus (im Barcelonaer Picasso-Museum werden nicht weniger als 25 grafische und 5 malerische Skizzen aufbewahrt). Schließlich malte er eine große (ca. 130 x 220 cm) Komposition Derniers moments (Letzte Augenblicke), die Anfang 1900 in Barcelona gezeigt wurde, dann in demselben Jahr auf der Weltausstellung in Paris.

Danach verschwand das Bild unter der Malschicht des bekannten Gemäldes der Blauen Periode La Vie(Das Leben); es wurde erst später bei einer Untersuchung mit Röntgenstrahlen wiederentdeckt.[17] Alles in den Derniers Moments war grüblerisch: der morbide Symbolismus wie auch die Figuren (der junge Priester am Bett der Sterbenden) und sogar die Stilistik, die Picassos Begeisterung für die „spirituelle“ Malerei El Grecos widerspiegelte, der als Stammvater der antiakademischen modernistischen Tradition empfunden wurde.

Alles in diesem Bild gehörte Picasso nur in dem Maße, in dem er selbst jener Epoche zugehörte, der Epoche von Maurice Maeterlinck, Edvard Munch, Henrik Ibsen, Eugène Carrière. Es ist auch kein Zufall, dass die symbolische Arbeit Derniers Moments so stark an die Schularbeit Ciencia y Caridad erinnert, denn trotz der verstärkten altersbedingten Hinwendung zum Todesthema, ihrer beinahe dekadenten Gestaltung, wie auch in mehreren anderen Arbeiten Picassos im Strom des katalanischen Modernismo, erweckt sie den Eindruck einer abstrakten Studie. Picasso war die Dekadenz fremd, und er betrachtete sie mit Ironie als Äußerung von Schwäche, von Leblosigkeit. Er erschöpfte sehr rasch alle Möglichkeiten des Modernismo und geriet danach in eine Sackgasse.

Paris rettete ihn, und nach mehreren Monaten (im Sommer 1902) wird er an seinen ersten französischen Freund, Max Jacob, von seinem Gefühl der Isolierung unter den Freunden in Barcelona schreiben, von „den hiesigen Malern“ (wie er in seinem Brief skeptisch betont), die „sehr schlechte Bücher verfassen“ und „dumme Bilder“ malen.[18]

Im Oktober 1900 kam Picasso nach Paris, ließ sich auf den Höhen von Montmartre nieder und blieb dort bis zum Ende des Jahres. Obwohl seine Kontakte auf die Kolonie der Landsleute begrenzt bleiben und er die Umgebung mit der Neugier eines Fremden betrachtet, findet Picasso sofort und ohne Zögern sein Thema. Er wird ein Maler des Montmartre.

Auf das Datum seines 19. Geburtstags (25. Oktober 1900), einige Tage nach seiner Ankunft in Paris, ist jener Brief datiert, der den Verlauf des Pariser Lebens Picassos und seines unzertrennlichen Freundes, dem Maler und Dichter Carlos Casagemas, dokumentiert; sie berichten einem Freund in Barcelona von der intensiven Arbeit, von ihren Plänen, Bilder im Pariser Salon und in Spanien auszustellen, von den abendlichen Besuchen der Cafékonzerte und Theater, beschreiben Treffen, Schauspiele, ihre Wohnung.

Der Brief verströmt jugendlichen Optimismus und gibt ihren begeisterten Eindruck vom Leben wieder: „Falls Du Opisso siehst, so sage ihm, er solle kommen, zum Wohl der Seelenrettung, sag ihm, er soll Gaudí und die Sagrada Familia zum Teufel schicken […]. Hier sind überall echte Lehrer.“[19]

Harlekin und seine Gefährtin (Die Gaukler), 1901. Öl auf Leinwand, 73 x 60 cm. Puschkin-Museum, Moskau.

Stierkampfszene, 1900. Pastell und Gouache auf Papier, 16,2 x 30,5 cm. Museu Cau Ferrat, Sitges (Spanien).

Menü des Els Quatre Gats, 1900. Feder und Buntstifte auf Papier, 22 x 16 cm. Privatsammlung.

Die umfangreichen Abteilungen der Weltausstellung (in der spanischen Sektion unter der Nummer 79 heißt es: Pablo Ruiz-Picasso, Derniers moments); die Retrospektive „Hundert und zehn Jahre der französischen Kunst“ mit den Gemälden von Jean-Auguste-Dominique Ingres und Eugène Delacroix, Gustave Courbet und den Impressionisten bis zu Paul Cézanne; der gewaltige Louvre mit den endlosen Sälen der Meisterwerke der Malerei und Skulptur alter Zivilisationen; ganze Straßen von Galerien und Geschäften, in denen die neue Malerei ausgestellt und verkauft wird. „Mehr als sechzig Jahre danach wird er mir von seiner Begeisterung für alles, was er damals entdeckte, erzählen“, bezeugt Pierre Daix. „Plötzlich hatte er verstanden, inwiefern Spanien und sogar Barcelona etwas Unzugängliches und Eingeschränktes anhaftete. Er hatte das nicht erwartet.“[20] Seine Seele ist von der Fülle der künstlerischen Eindrücke und von dem neuen Empfinden der Freiheit erschüttert, „weniger von den Sitten […] als von der Freiheit der menschlichen Beziehungen“, bemerkt Daix.[21] „Echte Lehrer“ für Picasso – das sind die älteren Maler des Montmartre, die ihn in die ganze Skala der kulturellen Ereignisse einweihen: Tanzbälle, Konzertcafés mit ihren Stars, die anziehende und unheilbringende Welt der nächtlichen Vergnügungen, die von den Emanationen der weiblichen Reize elektrisiert ist (Jean-Luis Forain und Henri de Toulouse-Lautrec), aber auch die melancholische Stimmung des grauen Alltags in den Vorstädten, wo die herbstliche Dämmerung das Gefühl der beklemmenden Verlassenheit noch vertieft (Théophile-Alexandre Steinlen, mit dem, wie Cirlot mitteilt, Picasso auch persönlich bekannt war).

Aber nicht dem mystischen Ruf Émile Zolas folgend (wie sich Anatole France über Steinlen äußerte), nicht aus Neigung zu einer originellen Lebensweise und auch nicht mit dem Auge eines Satirikers beginnt der junge Picasso seine sogenannte Kabarettperiode. In diesem Thema sieht er die Möglichkeit, das Leben als Drama darzustellen und als dessen Kern den Ruf des Geschlechts.

Jedoch erinnern die Unumwundenheit, die Expression und der sparsame Realismus der Auslegung dieser Sujets weniger an die französischen Einflüsse als vielmehr an die Eindrücke, die die späten Werke Francisco de Goyas auf den jungen Picasso ausgeübt hatten (siehe Bilder wie Die Erschießung der Aufständischen).

Das Gesagte trifft besonders auf das Moskauer Gemälde Rendez-vous(Die Umarmung) zu – absoluter Höhepunkt der Pariser Periode des Jahres 1900 und zweifellos eines der Meisterwerke des frühen Picasso. Zehn Jahre vor der Schaffung dieses Gemäldes, im Jahre 1890, schrieb Maurice Denis seinen späterhin berühmten Aphorismus: „Daran denken, dass ein Gemälde, bevor es ein Reitpferd, eine entblößte Frau oder irgendeine Anekdote wird, im Grunde eine ebene, mit Farben bedeckte Fläche ist, deren Farben einer bestimmten Anordnung unterliegen.“[22]

Vor dem Rendez-vous Picassos dennoch daran zu denken, fällt besonders schwer, da bei diesem Gemälde, ohne jeden ästhetischen Vorbedacht, das Innere über das Äußere triumphiert. Das ist besonders erstaunlich, denn eben weil es „eine ebene, mit Farben bedeckte Fläche mit Farben in einer bestimmten Anordnung“ ist, steht das Gemälde den Arbeiten der Maler der Gruppe „Nabis“ nah (vielleicht weniger dem Werk von Maurice Denis als vielmehr dem von Édouard Vuillard oder Pierre Bonnard) durch die Gedämpftheit der Farben, die in großen silhouettenartigen Farbflächen aufgetragen sind und eine intime Kammeratmosphäre schaffen. Die äußere Affektlosigkeit aber verbirgt pathetisch leidenschaftliche Emotionen, und das ist natürlich kein „Nabi“ und schon gar kein Toulouse-Lautrec.

Jacob Tugendhold sah in dem hier dargestellten, sich umarmenden Paar „einen Soldaten mit einer Frau“,[23] Phoebe Pool betrachtete es als „Arbeiter und Prostituierte“,[24] Daix liest die Darstellung nach einem anderen narrativen Schema: „Nach der Arbeit findet das Paar wieder zusammen, vereint in unverhohlener Leidenschaft, gesunder Sinnlichkeit und menschlicher Herzlichkeit.“[25] Tatsächlich schildert das Rendez-vous nicht die Sitten der unteren Schichten der Gesellschaft, sondern ein lyrisches und ernstes, beinahe pathetisches Gefühl. Der kühne und begeisterte Pinsel Picassos hinterließ auf der ebenen Fläche ohne Rücksicht auf unwichtige Details gleichsam den Blütenstaub, das Aroma des Lebens, ein von höchstem poetischen Realismus erfülltes Bild.

Porträt von Jaime Sabartés, sitzend, 1900. Aquarell und Zeichenkohle auf Papier, 50,5 x 33 cm. Museu Picasso, Barcelona.

Pedro Mañach, 1901. Öl auf Leinwand, 105,5 x 70,2 cm. Sammlung Chester Dale, National Gallery of Art, Washington, D.C.

In demselben Herbst 1900 in Paris schuf der Maler noch drei Fassungen der Umarmung: zwei davon (unverkennbar in der Zeit vorangehend) tragen als Titel Liebespaar auf der Straße und Idyllen des Äußeren Boulevards, die dritte, bekannt unter dem Titel Wollust, ist trotz der Ähnlichkeit in der Komposition und der Staffage eine direkte Antithese zum Moskauer Gemälde, sowohl aufgrund seiner scho-ckierenden Vulgarität, der Anzahl seiner Genreeinzelheiten als auch der sarkastischen Stimmung. Picasso drückt sich in seinen Werken stets sehr direkt aus, und die gewählten Mittel entsprechen immer exakt seiner Absicht.

Als Neunzehnjähriger untersucht er das Thema der Beziehungen der Geschlechter, und seine Gedanken bewegen sich zwischen Kontrasten: Le Moulin de la Galette in der Nacht – das ist der öffentliche Handel mit der Liebe; die Frauen aus den Konzertcafés sind dekorativ wie künstliche Blumen. Die Idyllen des Äußeren Boulevards sind etwas naiv und unbeholfen in ihrer Zärtlichkeit der Umarmung; und in der tristen Mansarde ist die Liebe anders als im Zimmer einer Dienerin der Venus.

Die plötzliche, einer Flucht ähnelnde Abreise des Künstlers aus Paris im Dezember 1900 hatte ebenfalls eine Liebe als Beweggrund – die verhängnisvolle Liebe seines Freundes Casagemas. Den Umständen dieser unglücklichen Liebesgeschichte widmeten die Forscher des Schaffens Picassos erst Aufmerksamkeit, seit sich herausgestellt hatte, dass die dem Andenken Casagemas gewidmeten Bilder im entscheidenden Moment der Herausbildung der Blauen Periode (1901) und während ihres Höhepunktes (1903) gemalt wurden.

Casagemas erschoss sich im Februar 1901 in einem Café am Boulevard Clichy; er war nach Paris zurückgekehrt, nachdem Picasso sich vergeblich bemüht hatte, dem Freund unter der Sonne Spaniens das seelische Gleichgewicht zurückzugeben. Picasso war zu dieser Zeit noch in Madrid, wo er die Zeitschrift Arte Joven herauszugeben versuchte (erschienen sind vier Nummern) und Weltszenen und Damenbildnisse malte, in denen er das Unangenehme im Charakter der Modelle unterstrich, bald Raubgier, bald puppenhafte Gemütslosigkeit. Daix sieht hier eine direkte Folge der Tragödie von Casagemas.[26] Diese kurze „weltliche“ Periode – in gewisser Weise der Versuch des jungen Malers, Anerkennung in der Gesellschaft zu finden – endete im Frühjahr 1901, als Picasso nach einem Aufenthalt in Barcelona wieder nach Paris kommt. Dort plant der bekannte Kunsthändler Ambroise Vollard eine Ausstellung der Arbeiten Picassos in seiner Galerie.