Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eines der wichtigsten Bücher der deutschsprachigen Exil-Literatur Hamburg 1933: Nach acht Wochen auf See kehrt der Dampfer Kulm in seinen Heimathafen zurück. Die sozial wie weltanschaulich ungleiche Besatzung des Schiffes findet sich in einem radikal veränderten Land wieder: Die Nationalsozialisten sind an der Macht und herrschen mit Gewalt und Willkür. Die Mannschaft muss sich dem brutalen neuen Gesicht Deutschlands stellen. Zwischen politischen Spannungen, persönlichen Konflikten und der Suche nach einem Platz in einer unbarmherzigen Gesellschaft entfaltet sich eine mitreißende Erzählung über Identität und den Kampf um das Überleben. Der Journalist und Schriftsteller Heinz Liepman (1905-1966) schilderte in packenden Episoden die Konfron- tation mit den neuen Machtverhältnissen. Liepman widmete seinen 1933 erschienenen Roman »den in Hitler-Deutschland ermordeten Juden«.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Heinz Liepman
Ein Tatsachenroman aus Deutschland
Mit einem Vorwort von Heinz Liepman Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wilfried Weinke
Vorwort
Personen
Auszug aus dem Register des Hafenamts Cuxhaven
Anmerkungen
Nachwort
Es gibt in diesem Roman, der kein Roman, sondern ein Pamphlet sein soll, nicht ein Wort, das nicht in meiner Gegenwart gesprochen wurde, nicht einen Menschen, den ich nicht persönlich kannte, nicht eine Tat, die ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen habe (oder die nicht von langjährigen Kameraden, für deren Zuverlässigkeit ich bürge, gesehen und mir berichtet wurde).
Ich stehe mit meiner Ehre, meiner Existenz und meinem Leben dafür ein, dass alle Geschehnisse dieses Buches Tatsachen sind.
(Selbstverständlich wurden Orts- und Personennamen verändert und die Reihenfolgen und Daten der Situationen willkürlich gruppiert. Nicht alle Ereignisse spielen sich in Hamburg, und manche erst nach März-April 1933 ab.)
In der Welt ist es still geworden um die nationalsozialistische deutsche Regierung und ihre Taten. Jeder Einzelne hat seine Sorgen. Aber darf ein Mitmensch, ganz gleich wo auf der Erde, Geschehnissen gegenüber gleichgültig sein, weil sie ihn noch nicht betroffen haben? Der Nationalsozialismus ist eine ansteckende Krankheit. Alle von Zeit und Not erschöpften Menschen – und wen hat der Alltag unserer Zeit nicht mürbe gemacht? – möchten, ähnlich Schwerkranken, die Verantwortung für ihr Tun abgeben; sie möchten gehorchen, schlafen, für sich wachen lassen, sich zur Gesundheit »führen« lassen. In dieser allgemeinen Erschöpfung gibt es nur Wenige, die merken, dass diejenigen Ärzte, die vieles und alles versprechen, im besten Fall Wunderdoktoren sind, Scharlatane, meistens aber gescheiterte, rachsüchtige Kleinbürger oder ehrgeizige Unterweltler. Die Menschen der Länder, in denen dieses Buch erscheint, sollen wissen, wie der äußerlich so bestechende Nationalsozialismus in der alltäglichen Wirklichkeit aussieht.
Ich habe mein Vaterland – für das mein Vater 1914 freiwillig in den Weltkrieg ging und 1917 mit einem Bauchschuss starb – Ende Juni verlassen; im Juli und September habe ich es inkognito noch zweimal besucht. Dass man mich seit Februar ununterbrochen verfolgte (und im Juni zu finden wusste), das erstaunt mich nicht und darüber beschwere ich mich nicht. Auch dass man meine Bücher verbrannte und verfemte, ist mir nicht unverständlich, im Rahmen des Kulturprogramms derjenigen (augenblicklichen) deutschen Machthaber, die mit ihren eigenen geistigen Erzeugnissen niemals gedruckt wurden. Ich beklage mich nicht darüber. Ich war ein Gegner.
Wir alle, meine Millionen Kameraden, Arbeiter und Intellektuelle, wir alle waren und sind Gegner. Wir haben immer mit allem, auch unserem Leben, dafür einstehen wollen, dass die Kinder unserer Generation glücklicher werden, als wir es geworden sind. Wir wollen uns nicht beschweren, dass man uns bekämpft. (Wenn auch die Methoden unserer Gegner nicht dem 20. Jahrhundert, sondern dem Rom des Kaisers Nero entsprechen.)
Und darum widme ich nicht meinen Kameraden dieses Buch. Sondern ich widme es den gemarterten und ermordeten deutschen Juden. Sie sind nicht ohne Schuld, ich beschönige nichts und verschweige nichts. Aber gequält und ermordet wurden sie schuldlos. Jude-Sein ist nicht Gesinnung, sondern Schicksal. Niemanden kann man verantwortlich dafür machen, als was er geboren ist, und bestrafen kann man nur jemanden für etwas, das er aus freiem Willen begangen hat.
In keiner Nacht kann ich schlafen, wenn ich an die Juden denke. Es geht um die Gerechtigkeit. Um simple Menschlichkeit. Um das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. In jeder Nacht höre ich tausendfaches Röcheln, Schreien, Gurgeln. Ich sehe, wie Augen langsam brechen, ich sehe Hände, zu blutigem Brei zerklumpt, Rücken, deren Haut sich wie ein Luftballon spannt. Ich sehe blutige Bärte, zertretene Füße, Tote. Tote!
Die Juden waren keine Gegner. Dass man sie foltert und ermordet, noch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, während die Sonne scheint, Kinder spielen, Menschen atmen, Blumen wachsen, jetzt, in diesem und in jedem Augenblick, das ist das, was mich nicht schlafen lässt. Zwar erließ die deutsche Regierung ein Gesetz, das den Juden verbot, Rinder und Kälber auf ihre Art zu schlachten, aber kein Gesetz erschien, das verboten hätte, die Juden selber zu schlachten, hundertmal grausamer, als je ein Tier geschlachtet wurde; und niemals seit dem 30. Januar 1933 ist ein Mensch bestraft worden, der einen Juden ermordete. Trotzdem hätten Deutsche im Juden nie etwas anderes als einen Mitmenschen gesehen, hätten die Minister der Regierung Hitlers nicht selber, ununterbrochen sozusagen, amtlich zu Pogromen gehetzt.
Nein, die Juden waren keine Gegner. Ich kenne einen von ihnen, einen bekannten Juristen, der, politisch absolut uninteressiert, ins Lager kam, weil ein junger Anwalt seines Büros, der seine Praxis übernehmen wollte, ihn denunzierte. Heute leitet der junge Anwalt die Praxis und ihr Begründer, wer auch immer ihn ansprach – ob seine Leidensgenossen, seine Frau, die ihn einmal besuchen durfte und taumelte und halb ohnmächtig wurde, als sie ihn sah – wenn man ihn ansprach, wurde sein Gesicht zur angstverzerrten Grimasse, und er hielt geduckt, die Augen voll Grauen, den Arm vor den Kopf, um ihn vor Schlägen zu schützen.
Und darum und darum und darum, wegen zehn und hundert und tausend unschuldig Gemarterter, Zerstörter, zum Irrsinn Getriebener, widme ich dieses Buch den in Hitler-Deutschland ermordeten Juden.
Heinz Liepman
Paris, den 10. September 1933
Den in Hitler-Deutschland ermordeten Juden
Die Mannschaft des Dampfers »Kulm«:
Kapitän Schirmer
I. Offizier Hannes Petersen
II. Offizier Kankuleit
Maschinist Fretwurst
Bootsmann Willi Leopold
Matrosen Karl Baumann, Hannes Bull
Heizer Hinnerk Koch, Jonny Sudde
Koch Arthur Jacobsohn
Decksjunge Kucki
vom 28. März 1933: In die Elbe liefen folgende Schiffe ein:
4.15 Uhr, Dampfer Charenton
2.300 t, kommend aus Frankreich, Kapitän Lavalle
4.20 Uhr, Dampfer Wish Well
4.500 t, kommend aus USA, Kapitän Conny
5.03 Uhr, Dampfer Helmuth
260 t, kommend aus Norwegen, Kapitän Wunsch
5.30 Uhr, Dampfer Wagner II
1.200 t, kommend aus England, Kapitän Buck
6.10 Uhr, Dampfer Leslie Bye
8.000 t, kommend aus USA, Kapitän Henderson
6.25 Uhr, Dampfer Rio Sylto
6.900 t, kommend aus Brasilien, Kapitän Hughes
7.20 Uhr, Dampfer Kulm
900 t, kommend von See, Kapitän Schirmer
7.45 Uhr, Dampfer London
9.000 t, kommend aus England, Kapitän Douglas
8.10 Uhr, Dampfer Albert Ballin
21.000 t, kommend aus USA, Kapitän Wiehr
8.20 Uhr, Dampfer Meisje
1.550 t, kommend von See, Kapitän Kouijirk
8.55 Uhr, Dampfer Skoll
14.000 t, kommend aus Norwegen, Kapitän Skaldin
9.40 Uhr, Dampfer Budin
560 t, kommend aus Belgien, Kapitän Duttjes
Hinter Cuxhaven, wo die Elbe in die Nordsee mündet, folgen – in weiten Abständen – drei Feuerschiffe. Sie leuchten nachts über die trübe, sanfte See, an ihnen ziehen die Schiffe vorbei mit sehnsüchtigen Lichtern, an Backbord rot und an Steuerbord grün. Die Nächte sind unendlich lang so kurz vor Hamburg und vor St. Pauli, die Mannschaft im Logis kann nicht schlafen; einer nach dem andern sackt leise aus der Koje, in die Hose, in die Stiefel und schleicht an Deck.
Das Logis ist finster; wenn der eine raus ist, erwacht der nächste, denkt: wie finster ist es hier, verdammt, morgen sind wir in St. Pauli; ich glaube, ich kann nicht mehr schlafen. Und er steht auf, zieht Hose an, Hemd, Stiefel und Jacke und schleicht an Deck.
Und dann stehen alle an Deck. Es ist immer noch stockdunkel. Die Sterne und der Mond sind stumm. Von der Brücke hören sie den Zweiten auf- und abgehen. Die Bugwelle rauscht. Sie lehnen sich auf die Reling und reden kein Wort. Das Meer leuchtet dunkel.
Morgen Abend sind wir in St. Pauli. Dies ist der Fischdampfer Kulm, 900 tons, kommend von See, Kapitän Schirmer. Wir sind am zweiten Weihnachtstag in See gegangen. Jetzt ist der 28. März. Morgen sind wir in St. Pauli – Meer, See, schwere, schwarze, geliebte! Morgen sind wir an Land und ich sehe nichts mehr von dir. Ich glaube, ich habe Heimweh nach dir, im Voraus.
»Elbe I«, sagt Arthur mit tiefer Stimme und es hört sich an, als wolle er noch was sagen. Wir alle schweigen. Wir sehen in Luv, dahin, wo der Wind herkommt, und wir sehen hinterm Horizont, in Sekunden wechselnd, ein wenig Erlöschen und Aufleuchten.
Mir ist nicht gut. Mein Herz klopft, ich höre es. Ich schließe die Augen: Heimat! Heimat! Deutschland! Geliebtes Mutterland, – Vaterland! Kindheit, Träume, Schlafen und Aufwachen. Liebe und Leiden, Schüchternheit und lärmendes Glück! Heimat! Heimat!
»Wat denn! Wat denn!«, höre ich Bull, unseren Berliner, sagen, aber er sagt es nicht schnoddrig und kess wie sonst, nein, er flüstert es vor sich hin, sagt es zu sich selbst: »Wat denn! Wat denn!« Und dann kommen mir wirklich die Tränen, das gute Schiff stampft durch das dunkle Meer und die Nacht, und am Horizont taucht das Licht der Heimat auf, Feuerschiff Elbe I: wir sind zu Hause!
Es pfeift von der Brücke, wir zucken zusammen, blicken hoch, es ist Nacht und wir sind auf der Kulm; es pfeift einmal, zweimal, das ist der Zweite, der da oben ruhelos die ganze Hundewache unter dem winzigen Licht auf- und abgeht; wir kennen das. Er hatte eine Braut zu Hause, Irene, sie ist einen Tag vor Weihnachten gestorben. Karl steht unbeweglich am Steuer, von ihm sehen wir nur den Schatten. Karl ist ein Philosoph, er sagt nicht, was er denkt. Jetzt pfeift es zum dritten Mal. Dreimal, also der Moses ist gemeint, Kucki; ja, verdammt, warum lässt denn der Zweite den Jungen nicht schlafen?
»Warum lässt der denn den Jungen nicht schlafen?«, fragt der Smutje mit seiner tiefen Stimme; ein Koch muss sich ja auch in alles mischen, nichts ist ihm heilig.
»Ick bin längst hoch«, sagt eine Kinderstimme und Kucki läuft zur Brücke, »morgen Abend in St. Pauli, Smutje!« Schon ist er oben.
»Frechdachs!«, sagt Arthur stolz, denn er ist Kuckis Beschützer. Dann wird’s wieder stumm an der Reling. Wir spüren nicht mehr die Nacht und nicht mehr das Rauschen der Bugwelle. Fern wird leise gesprochen, wohl auf der Brücke; jemand glast, automatisch zählen wir mit, eins, zwei, drei, vier, fünf; fünf Glasen. Und die Augen durchdringen den nächtlichen, weichen Wind und die Wellen der See. Fünf Glasen. Halb drei Uhr nachts. Heute Abend sind wir in St. Pauli.
Nun sehen wir Elbe I schon ganz deutlich.
Niemand spricht.
Wir hören den Moses von der Brücke kommen, zur Kajüte des Alten tappen, klopfen, klopfen, nochmals klopfen. Dann rührt es sich, ein breiter Lichtschein fällt aus der Kajüte bis zu uns, wir erwachen, blinzeln, drehen uns um.
»So, Elbe I!«, brummt der Alte; sein Donnerbass brüllt über das ganze Schiff und noch weiter. Unwillkürlich stehen wir gerade, und die Wellen stehen gerade, Hände an der Hosennaht, der Käppen ist ein lieber Gott, zumal unserer, Käppen Schirmer: sein Brüllbass könnte Tote erwecken. Er steht da, der kleine dicke Pfropf, im kurzen Nachthemd und mit wichtigem Gesicht, »Sag dem Zweiten, ich komme gleich«, fügt er hinzu, die Tür schließt sich und es ist wieder dunkel an Bord. Kucki turnt zur Brücke, wo der Zweite ruhelos auf- und abgeht.
Hinnerk, unser Kohlenzieher, wegen seiner Faulheit und weil er lieber Bonbons lutscht als Schnaps trinkt, Biene genannt, gähnt. »Noch ’ne Stunde kann man sich hinhauen«, sagt er, dreht sich um und verschwindet. Ist ja eigentlich wahr, noch ’ne ganze Stunde. Und einer nach dem andern gähnt, gähnt und haut ab.
Eine Zeit lang ist es still. Das Schiff holt langsam das Feuerschiff auf. Oben auf der Brücke signalisiert der Zweite mit Licht-Morse, dass wir keinen Elblotsen brauchen. Schirmer ist nämlich zweiter Sohn eines Elblotsen; der ältere Bruder hat selbstverständlich den Beruf seines Vaters und hat seinen ältesten Jungen, der zurzeit auf einem Holländer als Jungmann fährt, eine knappe Stunde nach der Geburt als Elblotsen angemeldet und dann erst beim Standesamt. Unser Kapitän Schirmer hat als junger Bengel tausendmal mit seinem Vater auf Elbe I gesessen und auf ein Schiff gewartet. Wenn eines kam, waren sie in ihrem dünnen Boot über zum Einer gepullt, der Vater ist auf die Brücke gegangen, er hinterher, und sofort war der eigentliche Käppen des Schiffes ein hilfloses Baby, denn die Elbmündung und auch der Strom selber sind tückische Fahrwasser, und da ist so ein fremder Kapitän hilflos wie eine geschlachtete Kuh, selbst wenn sein Schiff so groß ist, dass er ein Fernrohr braucht, um zu sehen, ob der Ausguck auf der Back auch nicht schläft; da hilft nur ein Elblotse, dessen Vater, Großvater und Urahn auch schon Elblotsen waren.
Käppen Schirmer braucht also keinen Elblotsen, das Schiff läuft ohne Stopp an Elbe I vorbei und schon sieht man am dunklen Streifen des Horizonts das Licht von Elbe II. Inzwischen ist es zwanzig vor vier geworden, Karl glast, der Moses weckt die neue Wache, dann muss er die Flaggen aufziehen und er freut sich darüber, denn er weiß, dass der Alte sich immer wieder ärgert, wenn er die Heckflagge sieht – der Alte ist Patriot, und deshalb mag er die republikanischen Reichsfarben nicht. Schwarz-weiß-rot, gut! Aber die Gösch, die verdammte mit den Farben Schwarz-Rot-Gold, das ist eine Sauerei.
Käppen Schirmers Vater, der Elblotse, hat einmal die alte Vorkriegs-»Deutschland« die Elbe raufgelotst, und da war der Kaiser an Bord. Wilhelm hatte dem alten Schirmer die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: »Wie heißen Sie, Mann?«
Der alte Schirmer war ganz blass geworden und konnte nur stammeln: »Elblotse Schirmer, gedient im 31. Infanterieregiment, Bahrenfeld, 1870-71, zweimal verwundet.«
Da hatten, so erzählte der alte Schirmer manchmal sonntags nach der Kirche, Seiner Majestät Augen geleuchtet, und er hatte geantwortet: »Recht so, Schirmer! Elblotse sind Sie! Da haben wir beide ja einen ähnlichen Beruf. Na, kommen wir auf Grund?«
»Niemals!«, schrie der alte Schirmer, im Innersten erschüttert, und in diesem Augenblick gab es einen Ruck, ein scheußliches Klirren; drei Minuten hatte der alte Schirmer nicht aufgepasst und schon war das Schiff auf den Hörner Sand aufgelaufen und konnte erst vier Stunden später, als die Flut kam und vier Schlepper von Fairplay, loskommen.
Und so kam es, dass, als zehn Jahre später, im Herbst 1918, die Nachricht von des Kaisers Flucht nach Holland durchsickerte, der alte Schirmer sich auf dem Dachboden seines Hauses aufhängte; er fühlte sich für das auf »Grund geratene« Deutschland verantwortlich.
Deshalb hasste Schirmer die republikanische schwarzrot-goldene Gösch in der schwarz-weiß-roten Handelsflagge.
Es glaste achtmal. Der Berliner erschien auf der Brücke und übernahm von Karl Kurs und Ruder. Etwas später tauchte auch der Erste, Herr Petersen, auf. Er rief Karl nach, er solle mal nachsehen, ob der Smutje schon in der Küche wäre, dann solle der ihm einen heißen Kaffee bringen. Herr Petersen war Antialkoholiker, streng, mürrisch, tüchtig und unbeliebt.
»Und mir ’nen steifen Grog«, rief der Alte hinterher.
Karl ging den Koch wecken. Er rüttelte ihn, kitzelte ihn, aber Jacobsohn blinzelte kaum, wurde schließlich wütend: »Hau ab, du ranzige Wurst, ich penne bis sechs.« Karl brüllte ihm seinen Auftrag zu, aber Arthur schnarchte weiter.
Karl musste lachen, wie er den Juden da liegen sah, angestrengt durch die riesige Nase röchelnd; er hat gar kein Gesicht mehr, wenn er die Augen zumacht, dachte er, nur noch Nase und Umgebung. Er zielte lang, dann boxte er Jacobsohn eine feine Tour auf den Bauch.
Der Koch riss die Augen auf, verdrehte sie, schrie: »Jetzt hast du mich knock out geboxt, du Corned Beef, du gestreiftes, jetzt bin ich ohnmächtig.« Und er schloss die Augen, wieder ganz Nase, und Karl, grinsend von einem Ohr bis zum andern, ging raus, tappte zur Brücke, meldete, dass der Smutje noch schlafe. Beim Runtergehen zum Quartier sah er, dass man eben Elbe II passierte.
Da blieb er stehen. Er stand vor dem Backaufbau vorn am Bug, es schien ihm, als sei er allein auf dem Schiff.
Karl atmete tief. Es wehte Morgenwind. Fern am blassen Horizont leuchtete etwas: Elbe III.
Es dämmerte. Irgendwo glaste es zweimal. Fünf Uhr. Der Klang schwebte und hielt sich, der Wind hatte umgeschlagen. Ich werde dann in die Kirche gehen, dachte er. Ich gehe nicht mit nach St. Pauli, mit den andern heute Abend. Alle gehen sie nach St. Pauli. Ich möchte … ich glaube … ich, ich werde in einen Wald gehen. Und mich hinlegen. Wenn’s auch nur der Borsteler Wald ist. Es wäre schön, wenn ich jemand hätte, der mitginge, der nichts sagte und bei mir wäre.
Der Wind peitschte Karl ins Gesicht. Überm Wasser wurde es blass und hell. Der Horizont glühte auf, Karl sah die weißen Kronen der Wellen.
Ich werde ja doch zu den Huren gehen, dachte er traurig. Er ging langsam weiter und verschwand im Quartier. Zehn Minuten später schlief er fest.
Und die Heimat kam näher und näher. Sie kam dem Schiff entgegen mit all ihrem Geruch und all ihren Erinnerungen.
Der Steuermann, Herr Petersen, war der erste, der das Land sah, obgleich der Alte in merkwürdiger und ungewohnter Nervosität andauernd auf der Brücke hin- und hertrippelte, durchs Glas sah, und auf einmal dem Berliner, der auch nervös geworden war, zu rauchen gab. Dann sah er wieder durchs Glas. Es ist was im Gange, fühlten die drei, es ist irgendetwas los, irgendetwas, wir wissen nicht was, aber wir fühlen es. Hannes Bull, der Berliner, dachte: Die können rumlaufen, ich muss stehen wie angewachsen, ein schöner Wind ist das, der da weht, warm, und wie er riecht – damals, am zweiten Weihnachtstag, als wir ausfuhren, damals sind mir die Hände bald abgefroren am Ruder, und immer der eisige Hagel ins Gesicht, aber jetzt, wo wir heimfahren, ist der Wind schön warm, ich glaube, ich rieche wahrhaftig Heu, oder …?
»Du hältst ja den Kurs nicht, du Lümmel!«, rief Käppen Schirmer aufgeregt.
»Wat denn!«, stotterte Hannes. »Ich habe doch …«
Da sagte der Erste, und er sagte es so, als gähne er: »Land.«
In Schirmers schwerfälligem Gehirn ging etwas Merkwürdiges vor. Zu Hannes’ Verwunderung nahm er nicht das Glas vom Bauch; mit halb geschlossenen Augen betrachtete er den Ersten, als ob er ihn zum ersten Mal sehe. Eine Wut stieg in ihm hoch, eine so elementare, dass er nach Luft schnappen musste, um nicht loszubrechen. Der Erste merkte nichts. Seine sehr hellen, wasserblauen, klaren Augen suchten den Horizont ab. In seinem Gesicht bewegte sich nichts.
Wen habe ich denn da auf meinem Schiff!, dachte Schirmer. Er fühlte sich sehr unbehaglich. Aber er ist ein guter Seemann, redete er sich gut zu. Da fiel ihm wieder ein, dass er diesen Mann, der eben »Land« gesagt hatte, als ob er gähne, seit dem zweiten Weihnachtstage an Bord neben sich hatte, Tag und Nacht, Stunde um Stunde, dass er mit ihm vor Island in Eis und Not Kamerad unter Kameraden war, über zwei Monate lang, Stunde um Stunde; da war er plötzlich versucht zu beten, und wie als Knabe richtete er auch jetzt seine Augen nach oben: Lieber Gott, danke, dass das gut gegangen ist!
Ihm kam ein Gedanke: »Sind Sie Deutscher?«, fragte er leise, damit Hannes am Steuer es nicht hören sollte.
Aber Hannes hörte es.
»Wie?«
»Ob Sie Deutscher sind!«
Einen Augenblick schien es, als ob Petersen verblüfft sei, ein Schatten ging über sein Gesicht. Ein Kinn hat er wie eine geballte Faust, dachte Schirmer. Petersens Gesicht blieb unbewegt; er antwortete: »Sicher bin ich Deutscher, Sie haben ja meine Papiere gesehen, Herr Kapitän.«
»Wohin?«, brüllte Schirmer plötzlich los. Hannes hatte das Ruder verlassen.
»Drei Glasen, Käppen«, sagte der Berliner vorwurfsvoll, glaste, kehrte zum Ruder zurück und suchte den Kurs. Der dunkle Streifen am Horizont an Steuerbord war nun schon mit bloßen Augen zu sehen. Der Tag erwachte träge, die Sonnenscheibe kroch matt und müde am Ende des Meeres hoch. Ein Schiff tauchte voraus auf und näherte sich rasch. Vom Wasser stieg leichter Dunst auf, es wurde hell. Jonny Sudde tauchte aus der Maschine auf und hievte Asche über Bord. Der Alte sah ihm zu. Jonny arbeitete gut, er sah schön aus, ein stattlicher Kerl mit schmalen Schultern.
»Kohlenzieher«, sagte der Alte, »sieh’ doch mal zu, dass du den Smutje hoch kriegst, hab’ bannigen Durst auf einen Steifen.«
»Woll, woll, Käppen«, antwortete Jonny und kippte die schwere Asche über Bord. Ruhig beendete er seine Arbeit, dann ging er zur Kochskammer; der Alte, Petersen und Hannes sahen ihm nach: mit einfachen, selbstbewussten Bewegungen ging, sprach, handelte und lebte Jonny Sudde.
»Raus, Smutje!«, sagte er nur. Jacobsohn blinzelte ihn an, dann sprang er gleich aus der Koje und in die Hose. »Der Alte will sich einen ansaufen! Wenn der die Elbe sieht, wird er immer weich wie Butter«, fügte Jonny hinzu.
»Grog?«
»Klar!« Jonny verließ die Kammer; im Decksgang atmete er tief die Morgenluft des Meeres ein. Als er wieder in die Maschine steigen wollte, sah er sich noch einmal um, streifte mit einem Blick die Welt, das Meer und den schönen Himmel, wie alle es tun, die runtersteigen. Jonny streifte auch die Brücke mit einem Blick, da blieb er plötzlich stehen, er fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss: auf der Brücke waren sie wahnsinnig geworden. Der Alte hatte beide Ellbogen auf die Verschalung der Brücke gestützt und hielt die Hände vors Gesicht. Petersen, den er noch nie, selbst nicht in schwerem Wetter und bei hitzigem Manöver, erregt gesehen hatte, war blass und sein Mund bewegte sich, ohne dass er sprach. Nur Hannes am Ruder lächelte unbewegt und vergnügt.
Die Ursache dieser Erregung war das Schiff, das entgegenkam und einen Augenblick in gleicher Höhe mit der kleinen Kulm lag. Scheinbar war es von Cuxhaven aus gefahren und nicht von Hamburg, es war ein großer Fracht- und Passagierer, die Mannschaft war noch an den Luken und so hatte man wohl noch nicht daran gedacht, die Flaggen einzuholen. Blauer Peter und Reedereiflagge wehten, aber im Vortopp – was war das? – und am Heck – was war das?! Als Jonny Sudde es sah, wusste er, warum der Erste blass war!
Im Vortopp des fremden Schiffes wehte eine Hakenkreuzfahne und am Heck die Flagge schwarz-weiß-rot, ohne Gösch.
»Die Hitlers!«, sagte Käppen Schirmer und atmete tief.
In diesem Augenblick kam der Smutje mit dem heißen Grog. Wie er ihn immer so schnell bereitete, blieb sein Geheimnis. Arthur war gewaschen, frisiert, und er hatte heißen Grog. Aber mitten auf der Treppe blieb er stehen. Mit der linken Hand hielt er das Tablett. Er sah das Schiff drüben. Einen langen Augenblick zögerte er, er sagte nichts. Dann ging er langsam weiter.
Als er oben war, war der Spuk vorbei. Der Alte atmete den Duft des Grogs ein. Petersen sah ihn an. Er war noch immer blass, sein Mund war schmal gepresst. »Jude«, sagte er zum Smutje, »du kannst mir auch einen bringen.«
Der Alte drehte sich sofort um. Hannes grinste. Der Koch hatte ja immer behauptet, dass Petersen heimlich saufe. Als Petersen an Bord kam, hatte er eine schwere Kiste mitgebracht, die er in seine Kammer haben wollte und die er stets verschloss, wenn er die Kammer verließ. Arthur hatte bereits früher die Ansicht vertreten, dass in der Kiste Schnaps sei, zollfreier Schnaps aus dem Freihafen, weil der Erste den kleinen Aufschlag, den der Kapitän beim Schnapsverkauf verdiente, sparen wollte.
»Nanu!«, sagte Käppen Schirmer langsam und feindselig zu Petersen, »Sie verstehen es, zu überraschen, Herr. Ich dachte, Sie wären Antialkoholiker und Sozialdemokrat. Und jetzt benehmen Sie sich wie ein Antisemit und ein alter Säufer …?«
»Ich muss sehr bitten, Herr Kapitän!«, der Ton ist merkwürdig eisig. »Ich war und bin weder Säufer noch Sozialdemokrat, weder Antialkoholiker noch Antisemit.«
Der Alte wird verlegen. »Was sind Sie denn nun eigentlich, Mann?«, brummt er.
»National bin ich selbstverständlich, Herr Kapitän, ich war immer national und Sozialist.«
Dem Koch Arthur Jacobsohn wird das Herz schwer. Das Land nähert sich rasch. Es wirkt dunkel und trübe. Sehr dunkel, sehr trübe, denkt der Koch. Er dreht sich um und geht langsam zur Kombüse. Jetzt wird eine schwere Zeit kommen, denkt Arthur Jacobsohn.
Unten trifft er Jonny Sudde, der noch immer dem Schiff nachstarrt. »Na, Jonny«, sagt Arthur, »dein Genosse Petersen hat eben sein Hemd beschissen. Ist nicht mehr rot, ist nun braun. Du auch, Jonny?«
Jonny lacht ganz leicht. »Mensch«, sagt er, »ich? Nee, bei mir is’ das nicht. Ich bin Sozi und bleibe Sozi. Bin doch Prolet, wie?«
»Na also!«, sagt Jacobsohn, und nun erst kommt ihm die Wut hoch und der Schmerz. »Jude, hat er zu mir gesagt, Jonny!«
»Ach lass man, Arthur, der wird auch mal wieder Herr Jacobsohn zu dir sagen. Und dann langst du ihm eine, verstanden?«
Er verschwindet im Maschinenhaus, der Koch geht in seine Kombüse.
Am zweiten Weihnachtstag 1932 hat der Dampfer Kulm Hamburg verlassen. Am 28. März 1933 kommt er zurück. Um sieben Uhr zwanzig morgens, registriert das Hafenamt Cuxhaven. Drei Monate war die Kulm unterwegs. Funkenbude gibt’s nicht, einen Hafen haben wir nicht angelaufen, der Kühlraum ist voll von silbernen Fischen. Was inzwischen in der Welt geschehen ist, wissen wir nicht. Wie sollten wir auch? Und warum? Ein Seemann sieht die Welt immer nur mit seinen Augen. Wir sind zufrieden, wenn wir ein Schiff haben und das Essen zu essen ist, wenn es ab und zu mal einen Hafen gibt, Musik, Mädels und Tam Tam, hin und wieder einen Brief mit ’ner deutschen Briefmarke; das ist genug, das reicht für einen Seemann zum Leben und zum Sterben. Wir sind mit so wenig zufrieden! Wenn nur das Meer schön ist und manchmal still, wenn das Schiff mit knarrenden Blöcken zu uns getreuen alten Seeleuten spricht, zu uns, die sich danach sehnen, dass das Schiff am Ende unserer Tage in voller Fahrt absacke. Wir sind zufrieden! Nein! Wir waren zufrieden!
Heutzutage sind wir unzufrieden!
Kapitän Schirmer ist deutschnational, der erste Offizier, Herr Petersen, früher Sozialdemokrat und stets regierungstreu, somit heute nicht mehr Sozialdemokrat, Herr Kankuleit, der Zweite, Kucki, der Moses, und Arthur, der Smutje, sind die einzigen, die nicht politisch organisiert sind: sie haben nämlich immer ein Schiff unterm Hintern gehabt und satt zu essen. Der Nationalsozialist an Bord, Herr Fretwurst, unser Maschinist, der sich selbst Ingenieur nennt, ist Nazi geworden, weil seine geschiedene Frau, eine Jüdin, nicht zu ihm zurückkehren wollte. Der Bootsmann Leopold und die Heizer Jonny Sudde und Hinnerk Koch gelten als Sozialdemokraten, weil sie Gewerkschaftler sind, der Berliner Hannes Bull ist katholisch und daher Zentrumsmann, von Karl Baumann behauptet man, dass er Kommunist sei, er bestritt es nicht, und deshalb hatte man ihm auch die Hundewache zugeschanzt, von zwölf bis vier.
Und so waren sie alle etwas geworden, für das sie sich früher nicht interessiert hatten; Parteimitglieder. Sie machten Politik, wurden heftig und misstrauisch, schrien sich an und machten Krach. Und alles das, weil sie alle dasselbe wollten: ein Schiff unterm Hintern, ein Schiff um Gottes, Moskaus oder Hitlers willen! Hungern – gut! Sterben – gut! – Aber nur nicht: Nichts-Tun! Nein, Nichtstun, das wollten sie nicht, und darum gingen sie in die politischen Parteien, alle aus diesen einfachen und ergreifenden Motiven, alle … bis auf Herrn Fretwurst, den Ida, seine Frau, verlassen hatte und der hundert verbissene Nächte lang bereute, Briefe schrieb und zerriss, bis er zu hassen anfing, sie und die Juden überhaupt, die Verdammten, und Nationalsozialist wurde. Die Sonne scheint in der ganzen Welt, es gibt Gemälde, die so schön sind, dass man gleich sterben möchte, und Sterne und Bäume, die noch schöner sind, aber diejenigen, die keine Arbeit haben, die sehen immer nur Brot: weißes Brot und schwarzes Brot, Brot, Brot überall.
Ist die Kulm darum ein Gespensterschiff?
O nein! Trotz der Gespenster politischen Hasses leben die Menschen. Auf der Brücke saufen der Kapitän und sein erster Offizier. Beide können viel vertragen, aber Hannes am Ruder, dem Schirmer zwei Glas Grog in den Hals geschüttet hat, weil er es nicht leiden konnte, wenn jemand zusieht, wenn es ihm schmeckt, Hannes ist schon ungeheuer vergnügt.
Cuxhaven passierte an Steuerbord, an Backbord lag das Land noch zurück. Von Luv kam Kaffeeduft, Arthur klapperte in der Kombüse und sang dabei mit tiefer Stimme. Dann glaste Hannes und Arthur ging nach vorn und weckte: »Rise! Rise!«
Die Elbe wurde auch munter. Die Nebel krochen unter Sandbänke; es wurde strahlender Tag, der Wind von Land war kühl und hell. Er kam aus der Heimat. Schiffe, große und kleine, kamen entgegen; die Großen mit Schleppern und wackelnden Wogen, die Kleinen hastige trippelnde alte Weiber; ab und zu ein Fischerboot mit braunen oder hellen Segeln. Ein großer Engländer überholte die Kulm; eine Stunde später ein Norweger, obgleich der nur halben Dampf fuhr.
Hannes glaste acht Uhr, dann übernahm der Bootsmann, Willi Leopold, (der eigentlich nur Zimmermann war), Kurs und Ruder. Auch Herr Petersen verschwand. Käppen Schirmer, der die Wache von acht bis zwölf Uhr ging, blieb mit Willi allein auf der Brücke. Er hörte auf zu trinken, pfiff sich vom Koch einen dicken Kaffee auf die Brücke; das Fahrwasser wurde verteufelt verwickelt, ständig wechselnde Tiefen, Untiefen und Sandbänke. Der Bootsmann, ein alter grauhaariger Fahrensmann, hielt mühelos den verzwickten Kurs, den der Alte ihm sagte.
Für die Mannschaft gab es nicht mehr viel zu tun, denn mit dem Anstreichen war man schon in der Nordsee fertig geworden; mit dem Löschen würde die Besatzung auch nichts zu tun haben, das besorgten die Hamburger Schauerleute bei Fischladung lieber allein. Schrubben, das ist also das einzige, das immer übrig bleibt, schrubben konnte man jeden Tag, eine feine Arbeit, besonders mit »Helgoländer Soda«, Sand und Wasser.
Unten schrubbten sie also. Kucki, der Moses, schleppte den Wasserschlauch. Schon tauchte an Backbord der Kaiser Wilhelm Kanal auf. Die Sonne wurde warm. Ein merkwürdiges Gefühl spannte alle ein, vom Alten bis zum Moses dasselbe Gefühl, aber keiner sprach davon. Nur hin und wieder erhob Karl oder Arthur oder einer der anderen den Blick und sah hinüber zum Land, zum gelbbraunen; man sah rote Dächer und zarte grüne Wiesen. Arthur saß stumm mit gefalteten Händen in seiner Kombüse, er hatte die Tür weit geöffnet und blickte hinüber zu diesem Land, dessen Anblick, und er wusste nicht, warum, sein Herz und seine Sinne anrührte und seltsam bewegte. »Mensch«, sagte er leise, »was ist denn los? Überall in der Welt gibt es einen Streifen Land. Was ist denn das schon? Moorland, Ackerland, Weiden, poplige Dörfer.«
Aber er merkte ganz genau, wie sein Herz lachte, es lachte seine Gedanken aus, Herrgott!, dachte er auf einmal und das Herz hörte auf zu lachen und lächelte ganz still und froh, »ich bin in der Heimat«, sagte er, »nun bin ich also wieder zu Hause«, und er überblickte das weite, sanfte Land.
Arthur gab sich einen Ruck, betrachtete kritisch die letzten trübseligen Kartoffeln, die, wie alle Lebensmittel an Bord, nach Fisch rochen, weil es nur einen Kühlraum, den Laderaum, gab. Er schnitt die blühenden Halme ab und begann für das letzte Mittagessen an Bord Kartoffeln zu schälen. Eben plätscherten die Schrubber vorbei. »Das letzte Mittag!«, rief Arthur fröhlich hinaus. Alle grinsten zurück. Das letzte Mittagessen. Arthur hat später oft an diese Worte denken müssen.
Es wurde Mittag und Nachmittag. Der Zweite, Herr Kankuleit, hatte die Wache übernommen, aber Käppen Schirmer blieb vorsichtshalber auf der Brücke. Karl stand wie immer unbeweglich am Ruder. Um vier Uhr wurden sie von Herrn Petersen und dem Berliner abgelöst. Schirmer aber blieb. Alle waren aufgeregt. Hannes’ Ausgehhemd, das er gestern gewaschen hatte, war nicht trocken geworden, er warf es Jonny zum Trocknen in die Maschine runter.
Viele Schiffe zogen vorbei, die Ufer an Backbord wurden grün, an Steuerbord häuften sich Industrieanlagen und Plakate. Jonny ließ das Hemd anbrennen. Zwar nur ein bisschen und ganz unten, wo man es gewöhnlich nicht sieht, aber der Berliner machte schrecklichen Krach, ganz gegen seine Gewohnheit, er war so verwirrt; von der Heimat, den Hakenkreuzflaggen und überhaupt. »Verdammter Sozi!«, brüllte er runter in die Maschine. »Alles zerstört ihr, ihr Schweine! Und du sogar mein Hemd!«
»Hau ab!«, brüllte Jonny zurück. »Geh zu deinem Beichtvater, du Quiddje, und beschwere dich, schwarzes Schaf!«
»Wat denn! Wat denn!«, schrie der Berliner von oben und versuchte die Maschine zu überbrüllen. »Warte man, wenn der Hitler dir sieht.«
»Mensch!«, brüllte Jonny rauf und machte Anstalten, hochzuklettern.
Hannes verschwand. »Mit dem Sozi soll ick mir abjeben!?«, sagte er sehr fein zum Moses, der eben mit einem schweren, überschlappernden Wassereimer ins Logis hinkte.
»Ganz recht, mein Herr Bull«, sagte Kucki gewohnheitsgemäß. Ein Moses muss allen recht geben, sonst gibt’s Senge. Beleidigt eilte Hannes mit seinem angebrannten Hemd ins Logis. Dort war große Wäsche.
Da passierte was.
»Es schwimmt da was! Steuerbord voraus!«, sagte Karl, der am Ruder stand. Es war so ungewöhnlich, dass er sprach, Herr Petersen zuckte ordentlich zusammen.
»Wo?«, fragte Schirmer sofort besorgt, eine Hand am Maschinentelegrafen, um sofort stoppen zu können. Aber als er fragte, hatte er es auch schon entdeckt. Er richtete sein Glas. »Ein Mann«, sagte er kurz; der Maschinentelegraf rasselte, zu gleicher Zeit pfiff der Erste, der Bootsmann sauste vor, aber bevor er noch hochturnte, rief der Alte: »Da schwimmt einer. Los, Willi, hopp! Der Kerl versauft!« Knapp voraus trieb ein Mensch im Wasser. Die Maschine schwieg, das Schiff trieb rasch auf den Mann zu. Das Schweigen der Maschine wirkte auf die im Logis wie ein Kanonenschuss. Sie sausten hoch, nackt, halbrasiert.
Der Alte stand nun selbst am Ruder. Das Schiff lief sich aus. Der Bootsmann, der auf der Back stand, gab dem Alten die Richtung. An Steuerbord klatschte die Strickleiter ins Wasser. »Los, runter!«, brüllte der Alte. Himmel, Hinnerk, der Heizer, war zuerst da; auf einer Gesichtshälfte weißen Rasierschaum, kletterte er behände außenbords hinunter. Die anderen standen am Boot, um es notfalls sofort loszuhieven. Sie starrten hinunter auf den schwimmenden Menschen, der mit aufgerissenem Gesicht die paar letzten Krauler machte, die seine Lunge hergab. Er schien beinahe bewusstlos zu sein, seine Schwimmstöße waren mechanische Bewegungen eines Menschen, der sich selbst schon aufgegeben hat und den nichts mehr hält als die Gier des Körpers nach Licht und Leben.
Plötzlich erwachte er. Die Wellen des Schiffs scheuchten ihn auf. Er starrte hoch mit glotzenden, sinnlosen Augen, man sah, wie er den Namen des Schiffes las, einmal, mehrmals, als begriffe er ihn nicht sofort; dann starrte er geradeaus hoch, »Wohin denn nur?!«, fragten die Leute am Boot. »Auf die Flagge!«, schrie Kucki in höchster Erregung.
Wahrhaftig, die Leiche starrte hinauf auf die Flagge. Und da ging etwas vor. Der Kopf wurde der Kopf eines lebendigen Menschen, der Mund presste sich zusammen, und, bei Gott, der Mann drehte sich um; er drehte um, und mit aller Kraft schlug er sich in die Flucht, weg vom Schiff.
»Der ist verrückt geworden!«, brüllte der Alte von der Brücke.
»Das Boot?«, fragte Hannes zum Alten hoch, aber in diesem Augenblick trieb die Dünung den schwimmenden Mann, trieb ihn heran ans Schiff und warf ihn gegen die Planken. Hinnerk beugte sich herunter, um ihn zu schnappen, da erkannte der Schwimmer, was Hinnerk wollte.
Als der Mann im Wasser erkannte, dass er gleich gerettet sein würde, fasste er einen Entschluss. Man sah es seinem Gesicht an. Er blickte hoch, vorbei an der Flagge, zum Himmel, holte Luft, tief, sein Gesicht wurde ruhig und schön. Kucki sagte später, er würde es nie vergessen können. Und dann, ehe jemand etwas tun konnte, tauchte der Mann unter, man sah seine Füße, er trat sich in die Tiefe. Ein Verrückter? Ein Selbstmörder?
Aber dies Gesicht!
Das zerrissene und dann so sanfte Gesicht! Karl drängte es zu sagen: Lasst ihn doch! Aber er sagte es nicht.