Das Verbindende - Michel Serres - E-Book

Das Verbindende E-Book

Michel Serres

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Beschreibung

Agen 1945, Vincennes 2019: Die Angaben am Ende von Michel Serresʼ letztem Buch markieren die Eckdaten seines Lebenswegs und unterstreichen, wie lange er sich mit den darin verhandelten Fragen beschäftigt hat. Geboren als Sohn eines Flussschiffers in Südwestfrankreich, wurde Serres zunächst Seemann, später Philosoph an der Pariser Sorbonne und Mitglied der prestigereichen Académie française. Zeitlebens kreiste sein Denken um Das Verbindende: Boten wie Hermes, den Schutzgott der Reisenden, Kommunikation und interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Auch in diesem Versuch über die Religion, der Summe eines Gelehrtenlebens, steht Das Verbindende im Vordergrund: Religion begreift Serres dabei als das, was Menschen horizontal miteinander und vertikal mit dem Jenseits oder dem Reich der Ideen verbindet. Auf das analytische Zeitalter der Trennungen, Zersetzungen und Zerstörungen, unter anderem der unseres Planeten, so das Vermächtnis des großen Universalgelehrten, folgt ein Zeitalter der Verbindungen. Wollen wir die großen Herausforderungen unserer Gegenwart meistern, müssen wir auf globaler Ebene kooperieren.

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Titel

3Michel Serres

Das Verbindende

Ein Essay über Religion

Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer

Suhrkamp

Die französische Originalausgabe dieses Buches erschien 2020 unter dem Titel Relire le relié bei Éditions Le Pommier/Humensis (Paris).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2021.

Erste Auflage 2021Deutsche Erstausgabe© Suhrkamp Verlag Berlin 2021Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagabbildung: Hufeisenbögen in der Gebetshalle der Kathedralmoschee von Córdoba

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77036-8

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorbemerkung

Vorwort

I

. Hotspots, Scheitelpunkte

Vertikale Verbindung

Das Verbindende. Erste Lesung: Erde und Himmel

Feuerstelle, Brandherd

Die andere Welt

Feuer

Kleine Umrandung dieses Hotspots

Wassergeschichten

Feuergeschichten

Sonnenfeuer in der Pyramide

Wasser und wieder Feuer

Mathematische Physik

Diese heiße Quelle dennoch ernst nehmen?

Zwei Grenzbeispiele

Drei Neuerungen

Erster Donnerschlag

Allgemeines Tauschmittel

Gewaltigerer Donnerschlag

Zeitfragen

Die weisen drei Könige

Weihrauch und Sprache

Unterwegs zum Stern

Von der Epiphanie

Weihnachten im strengen Sinn

Macht und Nullwertigkeit

Zwischenbilanz

Das Verbindende. Zweite Lesung

Theoretisches Zwischenspiel

Woher kommt diese Energie?

Mythos, Geschichte

Zurück zur Gegenwart

Massaker an Unschuldigen

Hiroshima, Hotspot

Ein säkulares Pendant zur Epiphanie

Das verklärte Individuum

Hotspot des Ego

Die Kunst und das Jenseits der Gestalt

Luft und Feuer

Deus absconditus

Sein

Tempel

Vernunft, Energie

Das Bild: Noch ein Puteal, noch ein Tabernakel

Kathedrale in Seenot

Zeitvergleiche

Uhrenvielfalt

Folge von Hotspots

Hotspot Jetzt

Zeit und Tempo

Uhr und Metronom

Sein und Zeit

Imitatio mundi

Hotspot-Reihen

Schornstein des Jetzt

Das Verbindende. Dritte Lesung

Zwei Ereignisse

Hotspots

Legenden oder Tatsachen?

Geschichtsphilosophie

Gloria

Streuung vielfältiger Hotspots, Nacht

II

. Gewalt und Liebe

Horizontale Verbindung

Zur Genese von Verbindungen

Die Tränen des Petrus

Nachts am Kohlenfeuer

Die zwei Tribunale

Ein zweites Gericht

Eine Universallösung für das Problem des Bösen

Das dritte Gericht

Das Erdbeben von Lissabon

Die Tränen des Petrus

Der

progressus ad infinitum

und sein leerer

terminus ad quem

Das Verbindende. Vierte Lesung: Drei Zeremonien

In der Stadt Caere

Schauspiel

Einheitszeremonie

Ruhm und Ehre

Maschinen

Residualreligion

Andere Begräbnisse

Analyse und Synthese

Epistemologie des Falschen

Episteln und Parabeln

Land …

… und Stadt

Geschichte und Stille

Zwei Ketzer vom Lande

Sendung

Der Stadt-Land-Konflikt

Barmherziger Paganismus

Von der Erde zur Stadt

Von geistlichen und weltlichen Mächten

Das tödliche Harte und das pflanzliche Weiche

Drei Opfer

Erste zivilisatorische Errungenschaft

Das Zeichen des Jona (Matthäus 12,40)

Die drei Stadien. Zwischenbilanz

Übergang zur Flora

Von der Eucharistie

Die drei Stadien. Bilanz

Da capo – noch einmal zum Ursprung

Abschweifung: Essen

Zugehörigkeitslibido

Frohe Botschaft: Gott und die wahre Liebe

Geburt und Abstammung

Die Heilige Familie

Aufziehen und erziehen

Harte Wissenschaften und weiche Wissenschaften

Das Erbe des Bundes. Der juristische Standpunkt

Die elementare Struktur der christlichen Verwandtschaft

Neuer Marienkult

Die weibliche Triade

Das Mysterium der Dreifaltigkeit

Was heißt lieben?

Auferstehen: Wahr oder falsch?

Credo quia absurdum?

Das innere Licht

Auf unbeschriebenem Blatt erklärte Liebe

Wen lieben?

Ruhm oder Frieden?

Lob und Preis

Wie lieben?

Präpositionen

Glauben in, glauben an, glauben

Präpositionen des Glaubens

Lebensraum

Fern oder nah?

Mathematische Abschweifung

Zurück zur Religion

III

. Das Problem des Bösen

Unterteilungen auf der Weltkarte

Anderes Bild der

partes totales

Lücken

Kognitiver Dualismus

Audio musicam ergo sum

Subjektiv, objektiv, kognitiv und kollektiv

Der Vater und der Tag

Entscheiden

Ende des analytischen Zeitalters

Die zwei Meta

Zwei Erzählungen

Risiko der Synthese: Integralismus

Geschichte der Wissenschaften

Die Gewalt und das radikal Böse

Energie

Beispiele

Methode

Verluste, Abfälle, Entropie

Strukturelle Analogie

Feuer

Der Sündenbock

Auf dem Weg

Die befreiten Sklaven

Unüberwindbares Hindernis

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

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Sonderdruck edition suhrkamp

7Vorbemerkung

Das Verbindende ist das letzte Buch von Michel Serres. Er hat wohl sein Leben lang an ihm gearbeitet. Dieses großartige Buch noch einmal durchzusehen, blieb ihm freilich keine Zeit mehr. Am Vorabend seines Todes hat er es mir geschickt und mich gebeten, es zu veröffentlichen. Mit der größten Freude komme ich dieser Bitte nach.

Sophie Bancquart

8Für Marie-Laure Durand,

versprochen ist versprochen.

In Anerkennung und Freundschaft

Für Suzanne,

Inbegriff der Heiligkeit

9Vorwort

Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. (Johannes 8,3-8)

Selbstverständlich hat die Frau alleine Ehebruch begangen, und so sind die Männer sich einig: Sie muss gesteinigt werden. Die Gewalt innerhalb der Gruppe kehrt sich gegen das Individuum. Anders gesagt: Das Menschenopfer verbindet die Mörder untereinander.

Bevor er antwortet und ihr vergibt, bückt sich Jesus, um etwas auf die Erde zu schreiben. Als wollte der Evangelist in seinem Bericht unter seiner Schrift eine zweite, die Schrift Jesu, erkennen lassen, so wie ein Palimpsest einen Schriftzug zeigt und einen anderen unter ihm verbirgt. Müssen wir den einen wiederlesen, um den anderen zu entziffern?

Der Begriff Religion, sagen die Sprachwissenschaftler, hat zwei Ursprünge, einer wahrscheinlicher als der andere: relegere – »wiederlesen«, »überdenken« – und religare – »verbinden«, »binden«. Dieses Buch wird beharrlich die Texte lesen, um eines Tages vielleicht den einen wiederlesen zu können, den Jesus auf 10die Erde schrieb. Und es wird jene zwei Bedeutungen zueinander in Beziehung setzen, wie es hier der Bericht des Johannes tut: Steht in ihm nicht zu lesen, dass Jesus, indem er dem Opfer vergibt, ohne die Henker zu richten, das Band löst, das die Männer in ihrem schändlichen Einverständnis miteinander verbindet?

Dieses Buch versucht eine Antwort auf diese Frage zu geben.

11I. Hotspots, Scheitelpunkte Vertikale Verbindung

13Das Verbindende. Erste Lesung: Erde und Himmel

Seit ein wohlwollender Lehrer mich in das Geheimnis der Unbekannten X einweihte und mir dadurch die Abstraktion erschloss, seit er mich über ihre mitunter erstaunlichen praktischen Anwendungsmöglichkeiten aufklärte, glaube ich an die Existenz einer virtuellen, unsichtbaren, formalen Welt, die zudem denkbar vielschichtig ist – habe ich sie doch später in verwandelter Form nicht nur im Recht, in der Medizin oder den schönen Künsten wiedergefunden, sondern auch im privaten oder öffentlichen Leben. Nein, ich täusche mich, ich glaube nicht nur an sie, ich sehe sie, wie alle anderen auch, und ich bin in sie eingetaucht, ich habe einen Teil meines Lebens in ihr verbracht.

Ich beginne mit der Mathematik, da Köpfe, denen ihre erhabene Praxis fremd bleibt, die nicht mit ihr gerungen und ihre Unnahbarkeit, ihre freischwebende Abstraktion ebenso erfahren haben wie ihren ganz realen Nutzen, sich schwerer tun, jenes virtuelle Universum wahrzunehmen, das weit davon entfernt ist, sich unseren Gesetzen zu fügen. Nein, wir sind es, die seinen Gesetzen gehorchen, die wir denn auch weniger erfinden als vielmehr entdecken; und ohne sie würden uns die Gesetze dieser Welt, die sich auf wundersame Weise mit ihnen decken, auf immer verschlossen bleiben.

Was wären wir Menschen ohne diese Zweitwelt, die, so abwesend sie ist, unser Innerstes prägt, unsere Einbildungskraft beflügelt, unsere Wahrnehmung bereichert, unsere Beziehungen formt, Gruppen mobilisiert 14und uns mit ihrer sprichwörtlichen Effizienz das Dasein und die Arbeit weniger beschwerlich macht? Wären wir ohne sie überlebensfähig? Ist es am Ende das, was uns von unseren tierischen Geschwistern unterscheidet – dass wir uns ihrer bewusst sind und sie auf alle erdenklichen Weisen nutzen? Liegt in diesem Virtuellen, so filigran aufgefächert wie ein Farbspektrum, das Wesen oder die Stärke des Menschen beschlossen?

Seit unsere Vorfahren begannen, Tiere und Zeichen an Höhlenwände zu malen, seit sie die Darstellung erfanden, die Repräsentation, die – Dies ist kein Tier – die Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit schon im Namen trägt, seit andere Ahnen, zum Beispiel auf der Schwäbischen Alb, im Jungpaläolithikum, vor vierzigtausend Jahren, einen Löwenmenschen schufen, den all die Fetischgötter mit zwei Körpern seiner Unwahrscheinlichkeit zum Trotz von den Ägyptern bis zu den Azteken immer wieder nachbilden sollten, seither also tat sich eine andere Welt auf, mythisch, abgekehrt, formal, imaginär, ästhetisch, symbolisch … Ich weiß nicht, wie ich sie charakterisieren soll, aber sie ist jedenfalls verschieden von der, die Gegenstand unserer unmittelbaren Wahrnehmung ist und unseren Bemühungen trotzt. Und als die artikulierte Sprache auf den Plan trat, brachten ihre Bezeichnungen den Schnittpunkt zwischen dieser unserer Welt und einer sie transzendierenden Kategorienwelt zum Ausdruck.

Plastisch, geschmeidig, fließend, unbeständig, mitunter auch dicht und durchsichtig wie ein Diamant, nimmt diese andere Welt von Ort zu Ort vielfältige Gestalten mit ganz unterschiedlichen Geschichten an. 15Die meisten die Erde bevölkernden Arten legen über alle Breitengrade hinweg ein mehr oder weniger ähnliches Verhalten an den Tag, während sich unsere Kulturen, Sprachen, Konventionen oder Verträge binnen kürzester Distanzen und unter vergleichbaren klimatischen Bedingungen oft erheblich unterscheiden. Zudem entwickeln sie sich derart, dass auch aufeinanderfolgende Generationen ein und desselben Kollektivs sich oft nicht weniger als jene Nachbarn voneinander abheben. Die Kultur folgt der Natur in einer Art Exodarwinismus, der Mutationen und Selektionen rascher und mit größerer Anpassungsfähigkeit ablaufen lässt als die Evolution des Lebens selbst. Wenn der Frühling kommt, legen wir die Mäntel schneller ab, als uns die Haare ausfallen. Mitunter bestimmt diese formale Welt unseren unmittelbaren praktischen Umgang mit den wahrgenommenen Dingen und erlaubt es uns, besser mit ihnen zu leben, ja sie effizienter zu nutzen.

Feuerstelle, Brandherd

Frage: Ist die vom Religiösen heraufbeschworene spirituelle Welt nur eine unter anderen, von denen noch die Rede sein wird? Oder ist sie aufgrund ihres frühen Auftretens und ihrer universalen Verbreitung in allen Kulturen der Stamm, von dem andere Virtualitäten abzweigen, die heiße Quelle, der gegenüber alles ihr Entsprungene schon erkaltet ist? Manchmal neige ich zu dieser Hypothese. Jene anderen Virtualitäten mögen oft leuchten wie das Licht auf einer durchsichtigen Eis16scholle, und auch das Religiöse leuchtet, ja, aber es leuchtet nicht nur, es brennt lichterloh. Es ist Licht, gewiss, aber zweifellos auch Energie. Auch andere Virtualitäten drohen freilich Brände zu entfachen und um sich greifen zu lassen. Die Hitze der religiösen Flamme ist schöpferisch, sie sorgt für Emergenz, für zahllose unverhoffte Hervorbringungen, aber sie schürt manchmal auch die furchtbarste Gewalt. Heilig, sanctus, ja, aber auch sakral, sacer, hat diese Flamme zahllose Mordopfer gefordert. Ohne dieses Feuer hätten die Religionen niemals der Unscheinbarkeit ihrer Anfänge zum Trotz über Jahrtausende so zahlreiche Anhänger rekrutieren können. Ob diese Hypothese wahr oder falsch ist, ich weiß es nicht, oft zweifle ich an ihr, aber das allein ist es wert, diese Welten miteinander zu vergleichen. Darum geht es in diesem ersten Teil.

Die andere Welt

Beweise für die Existenz virtueller Welten drängen sich allenthalben auf. Unsichtbar, abwesend und doch unverzichtbar, sind mathematische Gesetzlichkeiten in der Lage, alles Erdenkliche zu entschlüsseln. Weshalb können wir Signalen, in denen sich Wellen überlagern, einen Sinn verleihen? Woraus erwächst das Vertrauen in unsere Verträge? Weshalb leben wir so häufig im Imaginären, in Einbildungen, Träumen, Erinnerungen oder in den Hoffnungen, die wir in unsere Vorhaben setzen? Gäbe es diese unsere Menschenwelt, hier und jetzt, wenn es nicht jene andere gäbe, ohne die wir sie gar nicht verstehen und nicht effizient in ihr arbeiten 17könnten? Aber wo genau befinden sie sich, die Gleichungen und Algorithmen, die Dreiecke und Polyeder? Zeigen Sie mir ihren Sitz oder ihre Stätte.

Manchmal also manifestiert sich die Existenz dieser anderen Welt, so abstrakt, virtuell, bloß möglich sie sein mag, in dieser Welt, manchmal bricht sie jäh über sie herein an einzigartigen Brennpunkten, die, einmal erkaltet, so lange überdauern, dass ihre Spuren die historische Zeit transzendieren. Nennen wir sie Hotspots.

Feuer

Tatsächlich können wir inzwischen die Stellen ausmachen, an denen, hie und da intensiver, das unter den tektonischen Platten liegende Feuer an die Oberfläche drängt und zu Ausbrüchen führt, wie auf La Réunion oder Hawaii, oder zu erkalteten Ablagerungen, wie man sie auf den Malediven oder im Dekkan-Trapp sieht. Das sind die Stellen, die Geologen als »Hotspots« bezeichnen.

Wir kartografieren auch die zahlreichen Orte, an denen Meteoriten auf der Erde eingeschlagen sind, wie in Sibirien oder auf der mexikanischen Yucatán-Halbinsel. Plötzlich treten Kosmos oder Untergrund in Kontakt mit unserem Boden, der sich entzündet, um Lava, Vulkanbomben, Vulkanwolken auszuspeien. Mitunter sind schwere nukleare Winter die Folge. Licht und Schatten, schöpferische und zerstörerische, in diesem Fall gewaltsam ausbrechende Energie.

»Hotspots« sollen also in diesem Buch die Orte heißen, an denen sich zuzeiten eine andere Welt in dieser 18manifestiert, konkrete Bilder des Kontakts mit jener anderen, virtuellen, intelligenten, spirituellen, inspirierenden – gefährlichen? – Realität.

Kleine Umrandung dieses Hotspots

Die Alten stellten sich vor, Jupiter schleudere zuweilen im Zorn Blitze von der Höhe des Olymps herab, die auf der Erde einschlugen. Auch die Gallier sollen befürchtet haben, es könnten unversehens Blitze auf ihre Häupter niedergehen. Die Latiner umgaben Stellen, an denen der Blitz eingeschlagen hatte, mit einer Einfassung aus Stein oder Bronze; so etwas wie ein Brunnenrand. Ihr Wort für dieses Bauwerk, puteal, spielt auf diese Ähnlichkeit an. Wie aber der Brunnen (puteus) eine unterirdische Quelle mit der Erdoberfläche in Verbindung setzt, so markiert das Puteal die Stelle, an der in einem gleißenden Kurzschluss Himmel und Erde in Kontakt getreten sind. Fürchteten die Alten, als sie das Blitzmal ummauerten, von diesem Punkt könnte wie von einem Stern eine gewaltige Energie ausstrahlen?

Im Lateinischen meint das Wort puteal beides, den Schacht und den Schornstein, zwei vertikale Verbindungen in einer, eine von unten und eine von oben, eine vom Wasser und eine vom Blitz geschaffen, zwischen einer anderen Welt und der unseren … Unter unseren Füßen die Erde, am Himmel das Feuer und schließlich, aus den Tiefen emporsteigend, das Wasser. Was die Luft angeht, so bezeichnet das Wort für die Seele, anima, die unsichtbar und körperlos ist, ihre Animation, ihre Beseelung durch einen Hauch. Beste19hen die anderen Welten aus den gleichen Elementen wie die unsere?

Wassergeschichten

Rebekka schöpft wie jeden Abend Wasser für das Essen und die Tiere aus einem Wüstenbrunnen, als Isaak erscheint, den sie heiraten wird, in der Gestalt seines Dieners, eines durstigen Reisenden; und auch Rachel, die schön gewesen sein soll, schöpft Wasser am Brunnenrand, als Jakob des Weges kommt, seinerseits in fremder Gestalt. Beide trinken sie aus dem Krug, den die Frauen ihnen reichen, beide verloben sie sich mit der, die ihnen Wasser einschenkt. Aus den Brunnenschächten quillt Liebe und eine Nachkommenschar, so dicht wie eine Buchenkrone.

Generationen später wird am Rande eines solchen Brunnens eine Samariterin dem Menschensohn begegnen. Unsere Vorfahren, sagt Jesus zu ihr, haben aus diesem Brunnen getrunken und sind gestorben, ich aber reiche dir das Wasser, das ewiges Leben schenkt. Strahlenförmig geht von diesem Brunnen, der Wasser in Ambrosia verwandelt, die Auferstehung der Toten aus.

Feuergeschichten

Der von der Sonnenuhr geworfene Schatten diente weniger der Anzeige der Uhrzeit, der unsere Ahnen keine große Bedeutung zumaßen, als dazu, die Bezie20hung zwischen Himmelserscheinungen und irdischen Gegebenheiten in den Blick zu nehmen. Die Erfindung der Breitengrade etwa verdanken wir der Sonnenuhr. So war sie denn eher astronomisches Observatorium als Zeitmesser. Gnomon nannten die Griechen mit einem Wort, das in ihrer Sprache wie in unserer ans Wissen gemahnt, die senkrechte Achse, den das Sonnenlicht brechenden Schattenstab. Den ersten Blitzableiter?

Es geht also nicht um einen blitzartigen Kurzschluss, sondern um zwei: zwischen Sonne und Erde, im Spiel von Licht und Schatten, wie unsere Augen es sehen, vor allem aber zwischen einem materiellen senkrechten Stab und einem dekodierbaren Wissen, das man als Software bezeichnen kann. Kurzschluss zwischen dem Konkreten auf der einen, dem Abstrakten auf der anderen Seite, zwischen der Energie des Lichts und der Subtilität der Information. Ereignis, das einen Hotspot schafft.

Aus diesem Verhältnis von Licht und Schatten ergeben sich in der Tat Informationen über den Weltraum und die Weltzeit. Wir haben es mit einem der ersten Beispiele künstlicher Intelligenz zu tun: Warum sonst hätte man einen Metallstab gnomon, also »wissend«, nennen sollen? Die Sonne kommt auf die Erde herab, auf der sie mit ihrem Schatten Zeichen hinterlässt, ja eine Schrift, die entziffert werden will. Die Energie des Sonnenfeuers erzeugt eine Information.

21Sonnenfeuer in der Pyramide

Thales, heißt es, kam auf seinen Satz, indem er zu einer bestimmten Uhrzeit den Schatten, den eine der drei großen Pyramiden in Gizeh warf, mit dem eines aufrecht stehenden Menschen verglich. Im genauen Sinne »gnomonisch«, scheinen diese Erzählungen zu vergessen, dass jeder, der wann auch immer am Fuß der Cheops-Pyramide stand, in Chephren und Mykerinos zwei Vergleichsfiguren hätte sehen können. Es ist die Theorie der homothetischen Formen, also der gleichen Form in unterschiedlichen Größen, die hier sichtbare, konkrete, steinerne Gestalt annimmt. Sonnenuhren, sagt die Legende. Einwand: So leicht es ist, die Größe eines Menschen und die Länge des Schattens zu messen, den sein Körper und der Stab eines gnomon werfen, so sehr bleibt die Linie, die exakt durch die Mitte einer Pyramide verläuft, unter undurchdringlichen Steinmauern verborgen.

Um sie sichtbar zu machen, muss ein abstraktes Behältnis ersonnen werden, das Tetraeder, leer, ausgeleuchtet und durchsichtig. Es muss Sonnenlicht ins Dunkel der undurchdringlichen Pyramide gebracht werden. Der Ursprung der Geometrie ist also nicht allein der »gnomonischen« Darstellung von Licht und Schatten geschuldet, sondern einer ganz anderen Leistung. Er ereignet sich in dem Augenblick, da die Sonne sich in die blinde Materie hinabsenkt und sie durchdringt. Kann man sich vorstellen, wie viel Sonnenenergie erforderlich ist, um dem Stein seine Undurchdringlichkeit auszutreiben, kann man sie messen?

22So sieht in konkreten Bildern die überwältigende, blendende Entdeckung des Abstrakten aus. Am Fuße der Cheops-Pyramide erschaut Thales den blendenden Kurzschluss zwischen dieser und einer anderen Welt: Wie ein Blitz durchdringt in der Erkenntnis der Homothetie das Sonnenlicht die Black Box des Steins. Pyramide, also Feuer, nannten denn auch die Griechen dieses Gebäude; und dort, wo er die Parallele zwischen den Elementen des Kosmos und den abstrakten Polyedern beschreibt, bezieht Platons Timaios das Feuer auf das Tetraeder, das heißt auf die Pyramide: In ihr kommt es auf die Erde. Brauchte es also ein Puteal, das einen Hotspot einfasst, um durch einen Satz, der die Jahrtausende überdauern sollte, die Geometrie ins Leben zu rufen?

Platon ist es auch, der später sagt, kein stets nur approximatives Messen werde je zu den idealen Formgesetzen der Geometrie vordringen – anders als die Raumgeometrie, die Erfindung der regulären Polyeder, von denen er zum ersten Mal zeigen kann, dass es ihrer nur fünf gibt. Es muss also eine Sonne diese schwarzen Körper durchdringen und entleeren!

Wasser und wieder Feuer

Eine weitere griechische Legende erzählt vom Schiffbruch des Hippasos von Metapont, den die Pythagoreer beschuldigten, das von der Bruderschaft sorgsam gehütete Geheimnis verraten zu haben: die peinliche, aber unvermeidliche Entdeckung jener irrationalen Längen und Zahlen, deren unendliche Entfaltung den 23Gleichmut des logos störte, also Vernunft, Maß und Proportion aus dem Lot brachte. Sollen wir den Untergang auf hoher See, das Versinken in dem gerade besichtigten Schacht als Strafe Gottes oder als kollektiven Lynchmord begreifen?

Griechischer Herkunft ist auch die Legende, die von der Großtat des Archimedes zu berichten weiß, dessen Brennspiegel im 3. Jahrhundert vor Syrakus die römischen Galeeren in Flammen aufgehen ließen – ein im Wortsinn blitzartiger Übergang von der optischen Geometrie zur todbringenden Schlacht, die Menschen in Fackeln verwandelt, vom gnomon zum Massaker. Rückkehr von der Information zur Energie, Ausrichtung der Energie auf die Gewalt.

Ich wandere weiter auf der Insel Sizilien umher, um zunächst Empedokles zu begegnen, einem der ersten Physiker, der sich, wie eine weitere Legende es will, durch einen Kratersturz in den Ätna entleibt haben soll, und schließlich Ettore Majorana, dem italienischen Kernphysiker, der mehr als zwanzig Jahrhunderte später unter rätselhaften Umständen verschwand, keiner weiß wohin, zweifellos erschrocken über die Aussicht, das quasi solare Feuer der Atombombe in Händen zu halten. Zweiter Übergang von der Physik zur Massenvernichtung, vom erfinderischen zum zerstörerischen Puteal, vom Abstrakten zum Konkreten, von der Information zur Energie und schließlich zur Gewalt: Vulkan, Brennspiegel, hellsichtige und blinde Ankündigung Hiroshimas …

Drei Hotspots, die das Dreieck Siziliens als maßstabsgetreues Modell unserer Welt und ihrer Geschichte ausweisen. Sind wir heute im Begriff, unsere Welt in 24einen Hotspot zu verwandeln? Lange haben wir geglaubt, die Feuer der Wissenschaft erzeugten weniger Gewalt als die der Religion. Wir haben uns, ich habe mich geirrt.

Mathematische Physik

So hartnäckig die Legende sich hält – weder Kopernikus noch Galilei haben den Beweis für die Realität des heliozentrischen Systems beibringen können, der vielmehr von der Relativität der Bewegung vereitelt wurde. Darin haben Pascal, Descartes und Leibniz recht behalten, die übereinstimmend die schon von Astronomen der griechischen Antike vorgebrachten Hypothesen als gleichwertig betrachteten. Erst als James Bradley 1725 das Phänomen der sogenannten »Aberration des Lichts« entdeckte, ließ sich mit Gewissheit behaupten, dass die Sonne im Zentrum der Planetenwelt stand. Und danach erst konnte Immanuel Kant den Ausdruck »kopernikanische Wende« erfinden und so die Zurückdatierung der Wahrheit in Gang setzen, der jene Legende entsprang.

Galileis wahre Erfindung, und sie ist entscheidend, war der Zusammenhang, den er zwischen Mathematik und Erfahrung herstellte. Den Griechen, die darum keine exakte Wissenschaft von der Welt kannten, war deren Schnittpunkt verborgen geblieben. Galilei dagegen setzt Gleichung und Versuchsanordnung zueinander in Beziehung. Durch einen so blendenden wie fruchtbaren Kurzschluss zwischen einer virtuellen und formalen Welt auf der einen sowie der wirklichen und 25wahrnehmbaren Welt auf der anderen Seite kündigt er die moderne Wissenschaft an. So bricht in seiner mathematischen Physik ein Hotspot auf.

Was in dem gegen Galilei angestrengten Prozess in Wahrheit auf dem Spiel stand, hat Alexandre Kojève auf den Begriff gebracht. Galilei erfindet tatsächlich die mathematische Physik, die auf dem Kontakt, dem Kurzschluss einer konkreten, in dieser Welt erprobten Erfahrung mit einer seit Jahrhunderten bekannten, in einer virtuellen, reinen und abstrakten Welt schwebenden Gleichung beruht. Seine Erfindung ist, was Einstein ein Wunder nennen wird und was ich als Hotspot bezeichne: Allein die Mathematik kann, so formal, virtuell oder abwesend sie sein mag, die Wirklichkeit als solche entschlüsseln, ist diese doch, so Galilei, in ihrer Sprache geschrieben.

Die römische Kirche aber lehrte die Inkarnation Jesu Christi, den in blendendes, die christliche Wahrheit überbringendes Licht getauchten Kurzschluss zwischen dieser wirklichen, leibhaftigen Welt und einem unwiderruflich von ihr getrennten Reich. Ein Hotspot, wenn es je einen gab. Hat Galilei der Kirche durch eine entsprechende Geste das Dogma entwendet? Ist es das, was dem Prozess gegen ihn sein Gewicht verleiht? Der von mir gesuchte Bezug zwischen dem dogmatischen Puteal und einem gleichartigen, diesmal der mathematischen Physik geschuldeten Kurzschluss? So unvorhersehbar und unfassbar sie sind – gibt es etwas, das diese zwei Kontaktstellen zwischen Immanenz und Transzendenz, diese beiden Hotspots miteinander verbindet?

Das Universum der physikalischen Gesetze verweist 26auf die Mathematik in ihrer Gesamtheit, auf Geometrie, Topologie, Algebra, Zahlen- und Algorithmentheorie, Wahrscheinlichkeitsrechnung … Die Vielfalt jener Gesetze zeichnet eine Art Schattenriss dieser, der Mathematik. Eine Erfindung schließt also einen genau umschriebenen mathematischen, virtuellen Ort mit einem bestimmten Phänomen der wirklichen Welt kurz; sie spinnt einen Faden aus jenem Gewebe, das, virtuell zumindest, Gleichungen und Erfahrungen verknüpft. Dieser Kurzschluss erzeugt, noch einmal, einen Hotspot.

Kojève behauptet, die mathematische Physik sei im Kontext der Inkarnation entstanden (habe nur in ihm entstehen können?). Dieser Teil des Buchs beleuchtet unter anderem diese Intuition. Pascal findet zu ihr auf seiner Suche nach dem Fixpunkt: Kein Wissen, und sei es das strengste, vermag diesen Halt zu bieten, nichts und niemand außer Jesus Christus selbst, Punkt oder Zentrum, zu dem alles hinstrebt. Die Gesamtheit der Wissenschaften kreist um diese Sonne.

Dass es eine andere Welt als die unsere gibt, das ist die Gewissheit. Dass eine aber älter als alle anderen ist, erweist sie keinesfalls – post hoc sed non propter hoc – als deren Ursache, als Quelle, der alle anderen entspringen, oder als den Stamm, aus dem sie hervorgehen.

Diese heiße Quelle dennoch ernst nehmen?

Die Dinge, mit denen wir umgehen, die Ideen, die wir bilden, die Organisationen, die wir ins Leben rufen – 27können sie als Formationen, als Ablagerungen gelten, erkaltet in mehr oder weniger großem räumlichen oder zeitlichen Abstand von einer untergründigen Glut: Puzzolane verschiedener Gestalt und Größe, Staubsedimente und -verwehungen, massive ungestalte vulkanische Bomben, Konkretionen aller Art, Ausgeburten eines anfänglichen, sei's unterirdischen und permanenten, sei's himmlischen und selteneren Feuers, das hie und da Aerolithe auf die Erde niedergehen lässt? Wie sollen wir diese Brandherde anders als dadurch charakterisieren, dass wir sie religiös nennen?

Zwei Grenzbeispiele

Individuelles Beispiel: Der Mystiker verzehrt sich im inneren, im verinnerlichten göttlichen, im auf die Erde gebrachten prometheischen, im schöpferischen, erleuchtenden, lichtbringenden Feuer – ja, Gottes Werke werden aus der Hitze geboren, aus jenem Urnebel, dem ungeheuren Big Bang der Energie, der die Mystiker zu ihren bewundernswerten Übungen anspornt, dessen intensive Flamme aber auch Häretiker und Hexen verbrennen oder erbitterte Konflikte hervorrufen kann. Wir leben zwischen zwei Feuern, dem einen, das Sonne oder Sterne im Raum verbreiten, und dem anderen, das aus den chthonischen Tiefen dringt, zwischen Höllen- und Himmelsfeuer. Erinnern wir uns noch einmal des alten in den Krater oder Hotspot des Ätna hinabgestürzten Empedokles, der das Doppelgesetz von Liebe und Hass ersann.

28Kollektive Beispiele: Wie geht die Politik aus diesem Feuer hervor? Mobilisiert die weltliche oder säkulare Macht ihre Energie auf entropischem Niveau, auf dem der Macht und des Todes: Hierarchien, Gewalt, Kriege, so häufig, dass sie die Geschichte beherrschen? Während die sogenannte spirituelle oder geistliche Macht ihm die subtile und rare Information abgewinnt?

Die Ideen der Nation oder des Vaterlandes, die eine so formal und erhaben wie die andere und beide fähig, die Massen zu verbinden, indem sie von jedem einzelnen ihrer Kinder fordern, sein Leben für sie zu geben – unterscheiden sie sich wirklich von den imaginären und grausamen Göttinnen und Göttern, die den Enthusiasmus und die Bereitschaft ihrer Adepten wecken, für sie in den Tod zu gehen? Ein und dieselbe heiße Quelle, aber so unterschiedliche Konkretionen, dass man zögert, sie in einem Atemzug zu nennen.

Wie gehen die Religionen selbst aus diesem Feuer hervor? Indem sie die weltlichen Kardinäle von den geistlichen und mystischen Mönchen und Nonnen unterscheiden. Und die Wissenschaften? Indem sie Minister und Rektoren den Forschern, den einsamen Erfindern gegenüberstellen. Stets die mit ihrer Entropie einhergehende Energie auf der einen, die subtile, rare, verschwiegene, lautlose Information auf der anderen Seite.

Diese Hotspots auszuloten, durch das unbegreifliche Dickicht von Mythen zu dringen, die von so tiefem Dunkel sind, dass es uns nicht ganz geheuer ist, uns von ihnen aufklären zu lassen; und jenen merkwürdi29gen Kristallisationsprozess zu begreifen, das ist die abenteuerliche Hoffnung dieses Buchs.

Drei Neuerungen

Wenden wir uns solchen Mythen zu. Antiken Legenden. Midas, dem König von Phrygien, einem Nachbarland von Lydien, hatte Dionysos die Gabe verliehen, alles, was er berührte, in Gold zu verwandeln. Aber nicht lange, und der König verwünschte dieses Talent. Beim ersten Mahl schon wurde in seinen Fingern, zwischen seinen Lippen alles zu Metall. Midas drohte zu verhungern und zu verdursten und flehte den Gott an, ihn von seiner neuen Macht zu befreien. Auf dessen Geheiß hin badete er in dem Fluss, der durch sein Reich floss. Nach diesem königlichen Bad führte der Fluss Gold und wurde Paktolos genannt.