Was genau war früher besser? - Michel Serres - E-Book

Was genau war früher besser? E-Book

Michel Serres

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Beschreibung

Früher war alles besser, so hören wir fast täglich von unseren Eltern und Großeltern oder von Mitreisenden in der U-Bahn. Früher, da haben sich die Menschen noch miteinander unterhalten, statt auf ihre Handys zu starren. Sie engagierten sich für die Gemeinschaft, statt vereinzelt vor sich hin zu vegetieren, und nebenbei hatte der Sommer noch die perfekte Temperatur.

Michel Serres wuchs vor über achtzig Jahren im ländlichen Südwestfrankreich auf, und er kann uns erzählen, wie es wirklich war: Ja, die Hühner mögen alle frei herumgelaufen sein, und die Schweine wurden noch nicht mit Antibiotika behandelt. Aber Seuchen und Krankheiten waren an der Tagesordnung, bei Tieren wie bei Menschen. Zwar gab es keine Internetpornos, doch manch junges Paar glaubte, die Liebe werde durch den Bauchnabel gemacht. Die Nostalgie für das Vergangene, so ermahnt uns Serres, lässt uns vergessen, was unsere Gegenwart so wertvoll macht.

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Seitenzahl: 71

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Übersicht

Inhalt

Cover

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Caudillo, Duce, Führer, Großer Vorsitzender …

Krieg und Frieden

Ideologien

Naturvertrag

Sozialer Erregungszustand

Krankheiten

Leben und Tod

Intensiv- und Palliativpflege

Sauberkeit, Hygiene

Frauen

Männer an die Arbeit

Müllhalde der Werkzeuge

Wäscherinnen und Waschkübel

Kran

Herr der Fliegenmaske

Der Bauernrücken

Internate

Ganz normale Reisen

Kommunikationen

Lebensmittelherkunft

Sprachen und Akzente

Kleider und Schlafgewohnheiten

Sexualität

Elektrizität, die gute Fee

Häßlichkeit und Schönheit

Wir sprachen miteinander, während wir warteten

Die Medien

Da capo: Rückkehr zum Politischen

Die Größe der Arten

Kleinheit

Die Woge selbst, die es herantrug, springt zurück mit Grausen

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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3Michel Serres

Was genau war früher besser?

Ein optimistischer Wutanfall

Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer

Suhrkamp

7Durch den steilen Anstieg der Lebenserwartung bevölkert sich unser schönes Land mit dem, was man dümmlich-verschämt Senioren nennt. Ich bin einer dieser Greise. Viele von ihnen verklären, wie wir sehen werden, ihre Jugend. Andererseits nörgeln sie. Denn ob Greis oder Kind, Frau oder Mann, reich oder arm, rechts oder links, gläubig oder gottlos, ob Galloromane oder Okzitanier, Bretone oder Picarde, Elsässer, Korse, Baske – seit den Zeiten unserer gallischen Vorväter regt der Franzose sich auf, er kritisiert, mault, meckert, schimpft, empört sich, fährt aus der Haut, gerät in Wut. Mindestens dreimal die Woche ziert dieses Wort die Titelseiten unserer Zeitungen. Auch die zu Fratzen entstellten Gesichter, von denen es auf François Rudes La Marseillaise, dem Hochrelief auf dem rechten Pfeiler des Arc de Triomphe, wimmelt, schreien jenen Zorn hinaus, für den unsere schlechtgelaunte Nation bekannt ist.

Greise plus Nörgler, zwei nichtexklusive Populationen. Ihre Summe oder Mischung verwandelt unser Frankreich in einen Tummelplatz von Meckergreisen. Längst in der Überzahl und also zu einer gewichtigen Wählergruppe geworden, sind diese redseligen Choleriker zugleich stets bemüht, die Erfolge ihres Daseins ins rech8te Licht zu rücken. Und so erzählen sie Däumelinchen, jener Arbeitslosen oder Praktikantin, die allerdings noch lange für diese Rentner wird zahlen müssen: »Früher war alles besser.«

Das trifft sich gut, denn bei diesem Früher, da war ich schließlich dabei. Ich kann ein Expertenurteil abgeben. Hier ist es.

Caudillo, Duce, Führer, Großer Vorsitzender …

Früher wurden wir von Mussolini und Franco regiert, von Hitler, Lenin und Stalin, Mao, Pol Pot, Ceauşescu … alles gute Leute, ausgewiesene Spezialisten für Vernichtungslager und Folter, Massenhinrichtungen, Kriege und Säuberungen. Verglichen mit diesen illustren Akteuren wirkt so ein demokratischer Präsident eher blaß, es sei denn, er nötigt eine besiegte Nation, den demütigenden Versailler Vertrag zu unterzeichnen, überzieht Dresden mit Bombenteppichen oder zündet eine Atombombe, um die Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki auszulöschen.

Unsere Kindheit stand im Bann dieses politischen 20. Jahrhunderts. Wie oft zwang man uns, vor gehißter Flagge die Nationalhymne zu singen? Bei wie vielen Aufmärschen mußten wir als Kinder mitlaufen, zu Eh9ren von Marionetten, die ihre politischen Meinungen wechselten, wie es die Machtverhältnisse gerade erforderten? Wie viele Lügen hat man uns aufgetischt? Wie viele Gefolterte haben wir schreien hören, wie viele Leichen von Freunden in den Gräben sehen müssen? 

Krieg und Frieden

Früher, da zogen unsere Vorfahren in den Krieg von 1870 und unsere noch jungen Väter in den von 1914, in dem fast alle unsere Bauern fielen. Es folgten der Bürgerkrieg in Spanien, dessen Grausamkeiten das wundervolle Land mit Blut tränkten, dann der Zweite Weltkrieg mit all seinen rassistischen Greueln und schließlich die Kolonialkriege, in Indochina und Algerien, wo ich selbst unter Waffen stand. Mein Großvater entging in der Schlacht von Sedan nur knapp dem Tod, mein Vater wurde im Bombenhagel von Verdun von Kampfgasen vergiftet, und ich mußte die Suezkrise hinter mich bringen. So kannten meine Familie und ich ein Jahrhundert lang nichts als Krieg, Krieg, Krieg … Von der Geburt bis zum Erwachsenenalter hat er meinen Körper geformt, Arme und Beine, Herz und Hirn, der Krieg, der Krieg und wieder der Krieg.

10Seither haben wir fast fünfundsiebzig Jahre Frieden erlebt, was es zumindest in Westeuropa seit der Ilias oder der Pax Romana nie gegeben hat. Es war meine Generation, die Kriegsgeneration, die diesen sechs bis sieben Jahrzehnten, die glücklicher waren als die Blutbäder von einst, den Boden bereitete und sie Wirklichkeit werden ließ. Aber die Ruhe des Friedens verleitet zum Vergessen, während wir das Getöse und die Raserei der Kämpfe nie aus dem Gedächtnis verlieren werden. Städte und Dörfer errichten gar Gefallenendenkmäler, auf denen in kaum zu ertragenden Listen der Toten gedacht wird. Hat unser Meckergreis Gedächtnislücken? Läuft er nie über die inzwischen leeren Dorfplätze? Ist der Friede von heute weniger unterhaltsam als die Kriege von einst?

Früher fielen den fortwährenden Gemetzeln und anderen Staatsverbrechen, dem Gulag oder der Shoah, Dutzende Millionen zum Opfer. Statistiken sagen, daß vor dem letzten Jahrhundert die Zahl derer, die an Infektionskrankheiten starben, stets über der Zahl der Kriegsopfer lag. Das 20. Jahrhundert war das erste, in dem das Grauen der Schlachtfelder mehr Tote gefordert hat als die Arglist der Mikroben. Das strategische Wissen feierte einen glanzvollen Sieg über die tückischen Winzlinge. Um den Tötungsrekord noch zu übertreffen, ersannen findige Experten Kampfflugzeuge, chemische Waffen und Atombomben; und unsere Eliten träumten von massiven Zerstörungen. Welche Meisterwerke der 11Planung und Fertigung haben wir doch früher hervorgebracht!

Nie hatte das Abendland in Wissenschaft und Kunst, Malerei und Musik, Elektrotechnik, Quantenmechanik und Chemie, Technik und Transportwesen, Alltagsleben und Komfort solche kulturellen Höhen erreicht wie zu der Zeit, bevor diese Verbrechen begannen. Nie zuvor hatte es eine solche Blüte der Freiheit und Demokratie gekannt, ganz zu schweigen vom Völkerbund, dem Roten Kreuz sowie ungezählten pazifistischen, egalitären und emanzipatorischen Bewegungen, die wir miterlebt und mitunter auch unterstützt haben. Der Abgrund der Verrohung, in den wir gestürzt sind, und die Zahl der Leichen, die unsere aberwitzige Grausamkeit angehäuft hat, erstaunen weniger als die Beziehung zwischen diesen Greueln und einem solchen Gipfel der Kultur.

Aber wovor schützt sie uns dann, die Kultur?

Früher, nämlich während der Besatzung, tauchten an den Mauern von Paris und anderen französischen Städten mit einem Mal zahllose deutsche Wörter auf. Das hat mich den Abscheu vor herrschenden Sprachen gelehrt und die Liebe zu denen, die man auslöschen will. Da mir heute an den gleichen Orten mehr amerikanische Wörter begegnen als seinerzeit deutsche, die sich an die Nazis richteten, versuche ich, die französische Sprache zu verteidigen, die unterdessen zur Sprache 12der Armen und Unterlegenen geworden ist. Und stelle fest, daß die Kollaborateure dieses wie jenes Sprachimports, die Söhne wie die Väter, der gleichen Klasse angehören, die man Elite nennt.

Sieht man von der Bombardierung der Zivilbevölkerung in den Städten ab, so ist in den Kriegen, meist von Verantwortlichen reiferen Alters beschlossen und organisiert, die männliche Jugend getötet worden. Mit anderen Worten: In den Ministerien, Botschaften und Hauptquartieren saßen Väter aus jener Elite, die sich mit Inbrunst einer im zweistelligen Millionenbereich betriebenen Ermordung ihrer Söhne widmeten. Den Töchtern und Söhnen, die überlebt hatten und zweifellos geblendet waren von der imponierenden Gräberzahl, wurde wenig später in den Hörsälen eine ganz andere Geschichte nahegebracht, die vom »Vatermord«.

Tote und Lügengeschichten, ja, früher war doch wirklich alles besser.

Früher gab es keine Handys und Notebooks, also bekam jeder es in aller Härte mit der ungeschminkten Realität zu tun. Heute dagegen seien die Däumlinge stets in die Watte des Virtuellen gepackt, beschwert sich der Meckergreis, so wie Sancho hinter vorgehaltener Hand auf seinem Esel die aus den Büchern geborenen Eskapaden des Don Quijote belächelt.

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