Das Verbrechen - David Hewson - E-Book

Das Verbrechen E-Book

David Hewson

4,9

Beschreibung

An einem Pfahl der Mindelunden-Gedenkstätte in Kopenhagen wird die Leiche der Rechtsanwältin Anne Dragsholm gefunden. Bald darauf wird Myg Poulsen entdeckt, kopfunter hängend in einem Vereinsheim für Kriegsveteranen. Der an einen Rollstuhl gefesselte David Grüner verkohlt unter einem übergestülpten Autoreifen. Lisbeth Thomsen wird von einer Sprengstofffalle in Stücke gerissen. Die Opfer dieser Mordserie waren gemeinsam in einer Sondereinheit der UN in Afghanistan, die Zivilisten getötet haben soll. In einem Bekennervideo an den Justizminister ist von Rache die Rede. Der militärische Geheimdienst mischt sich ein, und der Leiter der Mordkommission ahnt, dass nur die suspendierte Sarah Lund diesen Fall lösen kann.

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Zsolnay E-Book

DAVID HEWSON

DAS VERBRECHEN

KOMMISSARIN LUNDS 2. FALL

Roman

Basierend auf dem Drehbuch von Søren Sveistrup

Aus dem Englischen

von Barbara Heller und Rudolf Hermstein

Paul Zsolnay Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2013 unter dem Titel The Killing II bei Macmillan, London. Der Roman basiert auf Søren Sveistrups Forbrydelsen – einer Serie des dänischen Fernsehens. Koautoren: Torleif Hoppe, Michael W. Horsten und Per Daumiller.

ISBN 978-3-552-05707-4

Copyright © David Hewson 2013

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2014

Umschlag: Johannes Wiebel | punchdesign, München; Motive: shutterstock.com

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Verstehen kann man das Leben nur rückwärts,

leben muss man es vorwärts.

SØREN KIERKEGAARD

Erstes Kapitel

DONNERSTAG, 3. NOVEMBER, 14.42 UHR

39 Stufen führten vom verkehrsreichen Tuborgvej hinauf in den Mindelunden-Park mit seinen stillen Gräbern und den bitteren, unauslöschlichen Erinnerungen. Lennart Brix, dem Leiter der Kopenhagener Mordkommission, kam es vor, als sei er schon sein Leben lang über die Wege hier gegangen.

Vor dem eisigen Regen geschützt, stand er in dem überdachten Treppenaufgang und musste daran denken, wie er vor fast fünfzig Jahren zum ersten Mal hier gewesen war, als Fünfjähriger an der Hand seines Vaters. Damals hatte er sich nicht vorstellen können, was er gleich sehen würde. Für ein Kind war der Tod weit weg, wie ein Albtraum oder eine Märchenwelt. Hier aber, in diesem Park in Østerbro, zwischen der Straße und der Bahnlinie, schien er im Dunkel hinter Grabsteinen und Standbildern zu lauern wie ein hungriger Geist, schien die Namen auf den kalten steinernen Gedenktafeln an den Parkmauern zu flüstern.

Brix, ein hochgewachsener, ernster Mann, dem Phantasien und Illusionen fernlagen, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Vor ihm vollzog sich das vertraute Ritual der Mordkommission. Schwarz uniformierte Beamte stapften mit Taschenlampen und Gerät die Betontreppe hinauf und hinunter wie Bühnenarbeiter vor Beginn der Vorstellung. Funkgeräte rauschten und knisterten. Männer stellten die üblichen Fragen, auf die Brix mit einer knappen Geste die üblichen Antworten gab.

Mindelunden.

Eine quälende Erinnerung, eine unterschwellige Angst, die ihn seit damals nie mehr verlassen hatte.

»Chef?«

Madsen. Ein guter Polizist. Nicht übermäßig intelligent, aber jung und eifrig.

»Wo ist sie?«, fragte Brix.

»An der schlimmsten Stelle. Möchten Sie …?«

Brix stieg die Treppe hinauf ins Dunkel der stürmischen Nacht. Die Reihe der Gedenktafeln zu seiner Linken schien sich endlos hinzuziehen, Name um Name, 151, nur ein kleiner Teil der Widerstandskämpfer, die in den fünf Jahren der Nazi-Besetzung ermordet worden waren. Es seien viel mehr gewesen, hatte sein Vater an jenem sonnigen fünften Mai vor einem halben Jahrhundert gesagt. Damals hatte man in jedem Haus zum Andenken an die Toten Kerzen in die Fenster gestellt.

Seine Gedanken kehrten zu dem klaren, stillen Morgen zurück. Sie waren zum Standbild der Frau gegangen, die ihren toten Sohn in den Armen hielt, doch der kleine Junge mit der Mütze in der Hand hatte wenig mehr gesehen als die Gräber davor, Reihe um akkurate Reihe, jedes mit einer steinernen Umfassung und einer Gedenkurne, alle schön gepflegt. Das würde auch immer so bleiben, hatte ihm sein Vater versichert.

An jenem fernen Kindheitstag war Lennart Brix zum ersten Mal dem Schattenwesen der Vergänglichkeit begegnet, hatte begriffen, dass dessen immerwährende graue Gegenwart ihn von nun an begleiten würde. Es war auch jetzt da, in den blicklosen Augen der Frau, die ihr verlorenes Kind hielt, in den eingemeißelten Namen auf den Marmortafeln. Der Tod lauerte in dem Wäldchen hinter den Gräberreihen, wie ein wildes Tier ins Dunkel geduckt, und wartete auf eine günstige Gelegenheit, in die Stadt zu entkommen.

»Chef?«

Madsen wurde ungeduldig. Zu Recht. Lennart Brix kannte die schlimmste Stelle, und selbst noch nach so vielen Jahren bei der Mordkommission mochte er sie nicht sehen.

»Wir haben den Ehemann. Ein Streifenwagen hat ihn gestoppt, auf der Brücke nach Malmö. Blutverschmiert. Hat wirres Zeug geredet.«

Die Nazis hatten den Mindelunden beschlagnahmt, als sie 1943 ihren Zugriff auf Kopenhagen verstärkten und die benachbarte Ryvangen-Kaserne in Besitz nahmen. In den Armeegebäuden jenseits der Bahnlinie richteten sie eine Kommandozentrale ein. Hier, auf dem ebenen Gelände, auf dem bis dahin Soldaten exerziert und Paraden stattgefunden hatten, führten sie gefangene Widerstandskämpfer zum Pistolenschießstand und erschossen sie. Madsen stampfte mit den Füßen auf die Pflastersteine und blies sich in die Hände.

»Damit dürfte der Fall so gut wie gelöst sein.«

Brix sah ihn nur an.

»Der Mann«, wiederholte der junge Beamte, jetzt sichtlich ungeduldig, »ist von oben bis unten voller Blut.«

Zwei Jahre zuvor, als ihnen schon mehr oder weniger bewusst war, dass sie auf eine Scheidung zustolperten, hatte Brix seine Frau durch den Mindelunden geführt – ein vergeblicher Versuch, sie für seine Stadt zu interessieren, zu verhindern, dass sie für immer zurückkehrte. Sie stammte aus London und hatte die Bedeutung dieses Ortes nie ganz begriffen. Dazu musste man Däne sein, musste von einem strengen Vater pflichtbewusst hierher mitgenommen worden sein. Die Engländer wussten zwar, was Krieg hieß, waren jedoch, was die Besetzung anging, naiv, ja, gefährlich unwissend. Für sie und auch für die Amerikaner fanden Kriege anderswo statt, sie brachen aus wie ein weit entfernter Flächenbrand und endeten in fremden Ländern in Schutt und Asche. Für die Dänen war es anders, auf eine Art, die Brix nicht erklären konnte. Sie hatten sich nach besten Kräften verteidigt, als die Deutschen 1940 in Jütland einfielen, dann hatten sie sich für einige Zeit in die Rückkehr zu einer Scheinnormalität gefügt, einer Scheinunabhängigkeit in einem vom Krieg zerrissenen Europa, in einer neuen, grausamen Landschaft, zu deren Herren die Nazis bestimmt schienen. Als die ersten Juden verschwanden und mutige Widerstandsgruppen dafür sorgten, dass sich im Volk das Gewissen regte, änderte sich ihre Haltung. Einige setzten sich zur Wehr und bezahlten dafür mit dem Leben. In den Zellen des Politigården, des Polizeipräsidiums, in dem Brix arbeitete, wurden sie gefoltert und dann in den Mindelunden gebracht. Dort fesselte man sie vor einer grasbewachsenen Böschung des Schießstandes an einen Pfahl und benutzte sie als Zielscheiben. Brix hörte noch, wie sein Vater beschrieb, was sich bei der Befreiung im Mai 1945 abgespielt hatte. In den Monaten zuvor hatten die Deutschen noch rasch so viele Gefangene wie nur möglich umgebracht. In der Eile zurückgelassene verwesende Leichen lagen halb vergraben auf Feldern und Wiesen. Sie waren einen schweren Tod gestorben, doch die Erinnerung an die Besetzung starb nicht. Zorn, Trauer und eine geheime Scham wirkten noch immer nach. Zitternd hatte Lennart Brix als Kind vor den drei Pfählen gestanden, die man zum Gedenken hatte stehen lassen, und sich gefragt, ob er so viel Mut aufgebracht hätte. Oder ob er weggeschaut und überlebt hätte. Alle Nachfolgenden mussten sich diese Frage stellen. Doch nur wenige taten es laut.

Das Bellen eines Hundes riss ihn aus seinen Gedanken. Er betrachtete die Kriminaltechniker, die in ihren weißen Schutzanzügen mit grimmigen Mienen die Gräberreihen entlangmarschierten, in das Wäldchen, in dem sich der Rest des Teams versammelte. Vielleicht, dachte er, hatte ihn dieser Moment vor fünfzig Jahren zum Kriminalbeamten bestimmt. Einem Mann, der Erklärungen dort suchte, wo sie schwer zu finden waren.

»Chef?« Madsens Miene zeigte den Enthusiasmus, den Brix von seinen Leuten erwartete. Das Jagdfieber musste sie packen, die Jagd musste ihnen ein Bedürfnis sein. Kripobeamte waren allesamt Jäger. Einige waren besser als andere, aber die beste, die er je gekannt hatte, vergeudete ihr Leben bei der Grenzpolizei in einem gottverlassenen Winkel Seelands. Brix antwortete nicht. Er setzte sich mit großen Schritten in Bewegung. Es musste sein. Ein ebenes grasbewachsenes Rechteck, von den Stiefeln der Polizisten aufgewühlt, an drei Seiten Böschungen, die höchste am Ende. Die Scheinwerfer waren so hell, dass es schien, als stünde der Vollmond am Himmel. Außerhalb des Lichtscheins suchten Männer mit Taschenlampen das Gelände ab.

Drei knorrige Pfähle, Kopien; die Originale standen im Frihedsmuseet, dem kleinen Widerstandsmuseum in der Innenstadt. Eine Frau war mit einem dicken Seil an den mittleren gefesselt, zusammengesackt, die Hände hinter dem Rücken. Blondes Haar, durchweicht von Regen und Schlimmerem, das Kinn auf die Brust gesunken. Eine klaffende Wunde an der Kehle, wie ein makabres zweites Lächeln. Sie trug einen blauen Morgenrock, der bis zur Taille hinab mehrfach aufgeschlitzt war, sodass man Fleisch und Haut sah, wo die rasende Klinge zugestoßen hatte. Das Gesicht schmutzig und übel zugerichtet. Blut war aus der Nase gelaufen und links und rechts des Mundes angetrocknet, wie Schminke eines tragischen Clowns.

»Fünfzehn bis zwanzig Wunden an Brust und Hals«, sagte Madsen. »Sie ist nicht hier getötet worden. Der Mann hat am Telefon gesagt, die Wohnung sei voller Blut gewesen, als er kam. Von der Frau keine Spur. Da sei er einfach losgefahren.«

Madsen trat vor und sah sich die Leiche genauer an.

»Sieht nach einer Beziehungstat aus.«

Der Hund bellte jetzt wie rasend.

»Kann denn nicht jemand das Tier zur Räson bringen?«, sagte Brix.

»Chef?«

»Holt den Mann zur Vernehmung ins Präsidium. Mal sehen, was er zu sagen hat.«

Madsen trat von einem Fuß auf den anderen.

»Sie scheinen sich nicht sicher zu sein.«

»Sie ist Rechtsanwältin. Und er ist ebenfalls Anwalt. Richtig?«

»Ja.«

Brix betrachtete den geschundenen Leichnam.

»Warum hier?« Er schüttelte den Kopf. »Ausgerechnet. Das ergibt keinen Sinn.«

»Leute umzubringen ergibt nie Sinn, oder?«

Doch, dachte Brix. Manchmal schon. Aufgabe des Kriminalbeamten war es, die Logik aus Blut und Knochen herauszufiltern. Er musste die ganze Zeit an Sarah Lund denken, die Beamtin, die er verloren hatte und die in Gedser ihr Leben vertrödelte. Welche Schlüsse würde sie aus der Szenerie hier ziehen? Welche Fragen würde sie stellen, wo würde sie sich umsehen? Was er vor fünfzig Jahren in diesem Park erlebt hatte, hätte eigentlich auch ihm diese große Gabe verleihen müssen, und ein wenig davon hatte er auch mitbekommen. Aber es war ein anderes Talent, als Lund es hatte. Er konnte mit den Toten sprechen, konnte sich ihre Antworten ausmalen. Sie dagegen …

Der hochgewachsene, strenge Chef der Kopenhagener Mordkommission wollte so schnell wie möglich weg von hier. Der Ort beeinträchtigte sein Urteilsvermögen, seinen kostbaren Verstand. Irgendwie – er würde nie verstehen, wie – konnte Lund die Antwort der Toten hören.

»Was soll ich tun?«, fragte Madsen.

»Was ich eben gesagt habe. Bringen Sie den Mann ins Präsidium.«

Er ging über den matschigen Pfad zurück, vorbei an dem Gräberfeld, den Namen an der Mauer, dem Standbild der Mutter mit ihrem ermordeten Sohn in den Armen, der Gedenktafel mit den unbeholfenen patriotischen Versen eines Pfarrers namens Kai Munk, der vor einem Menschenalter in einer dunklen Januarnacht bei Silkeborg in Jütland von der Gestapo ermordet worden war. Er stieg die Betonstufen hinunter, vorsichtig wie seinerzeit als Fünfjähriger. Ihm war übel und schwindlig gewesen damals, und er hatte erkannt, dass die Welt nicht der sichere, freundliche Ort war, für den er sie gehalten hatte, dass auf ihn, wie auf jeden irgendwann, ein Schatten wartete. Am Fuß der Treppe schaute Lennart Brix nach rechts, nach links, überzeugte sich, dass niemand ihn sah. Marschierte zu dem Gestrüpp am Rand der belebten Straße und tat, was er vor fünf Jahrzehnten auch getan hatte: Er übergab sich in die von Müll, weggeworfenen Flaschen und Zigarettenkippen übersäten Büsche. Dann saß er stumm und elend unter dem rotierenden Blaulicht in seinem Zivilfahrzeug, horchte auf die Sirenen und den Polizeifunk und wünschte sich, er wäre gläubig und könnte beten, dass Madsen recht hatte. Dass sie es mit einem Fall von seltsam brutaler häuslicher Gewalt zu tun hatten, den sie schnell und sauber abschließen würden. Eine Beziehungstat, weiter nichts.

Zweites Kapitel

MONTAG, 14. NOVEMBER, 07.45 UHR

Gedser lag an den trüben Wassern der Ostsee, ein Städtchen mit achthundert Einwohnern. Die meisten lebten von der Fähre, die tagsüber zwischen Gedser und Rostock verkehrte. Nach der Teilung Deutschlands hatte sich der Schmuggel hier im Wesentlichen auf politische Flüchtlinge aus dem kommunistischen Osten konzentriert. Im 21. Jahrhundert aber war man aktiver geworden: Drogen – harte und weiche –, Menschenhandel mit dem Nahen Osten und darüber hinaus. Das Schmuggelgut war jetzt von anderer Art, und die Behörden konnten nur noch hoffen, die Flut ein wenig eindämmen zu können.

Sarah Lund, in der blauen Uniform der Grenzpolizei, das lange dunkle Haar unter der Schildmütze hochgesteckt, hatte nichts von ihrer Phantasie und Neugier eingebüßt. Nachdem der Fall Birk Larsen in einem Desaster geendet hatte und ihr Partner Jan Meyer angeschossen worden war, hatte die Kopenhagener Polizei sie entlassen und ihr diesen bescheidenen, schlecht bezahlten Posten in einem Provinznest angeboten, in dem sie niemanden kannte und niemand sie kannte. Sie hatte es bereitwillig hingenommen und war in ein kleines Holzhaus gezogen, in dem es auch nach zwei Jahren noch keine persönlichen Gegenstände gab, nur ein wenig zweckmäßige Kleidung und ein paar Fotos von ihrem inzwischen 14-jährigen Sohn Mark, der bei seinem Vater in einem Vorort von Kopenhagen wohnte. Es war ein Dasein in der Schwebe, an einem öden, leblosen Ort, wenn auch weitgehend ohne die Schuldgefühle, die sie in der Stadt gequält hatten. Sie war schuld daran, dass der Fall Birk Larsen im Chaos geendet hatte. Ihretwegen würde Meyer, einst ein tüchtiger, fröhlicher Mann, für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt sein. Und so arbeitete sie in Gedser, sah sich die Lastwagen an, die im Hafen auf die mächtigen Schiffe rollten oder sie verließen, beobachtete die Gesichter der Fahrer, wenn sie ihre Trucks auf den Kai lenkten, hatte bald Übung darin gewonnen, ein nervöses Flackern in ihren Augen zu entdecken. Keiner hatte im zurückliegenden Jahr so viele Illegale geschnappt wie sie. Was allerdings niemanden beeindruckte. Was spielte es schon für eine Rolle? Die Schwierigkeit für diese Menschen bestand darin, die schmale Wasserstraße zwischen Rostock und Gedser zu überqueren. Wenn das geschafft war, befanden sie sich auf dänischem Boden, und nur wenige – illegal hin oder her – würden in ihre Heimat zurückgeschickt werden. Sie machte ihren Job, so gut sie konnte. In den Pausen zwischen den Fähren las sie und schrieb hin und wieder an ihren Sohn und ihre Mutter Vibeke.

Ihren vierzigsten Geburtstag letzte Woche hatte sie allein gefeiert. Drei Dosen Bier und ein Brief an Vibeke, in dem sie von einer fiktiven Party mit ihren fiktiven neuen Freunden berichtete. Und ein Pocketradio hatte sie sich gekauft. Im Moment saß sie allein in dem kleinen Büro der Grenzpolizei und hörte über Kopfhörer die Morgennachrichten. Draußen regnete es aus einem gleichmäßig trüben Himmel.

»Die Zukunft des Anti-Terror-Pakets scheint ungewiss …«, begann der Sprecher.

Lunds wachsamer Blick folgte der Fähre, die aus dem Hafen schwerfällig aufs Meer hinausmanövrierte.

»… nachdem Justizminister Frode Monberg nach einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden ist. Über seinen Zustand ist bisher nichts Näheres bekannt. Im Parlament steht heute die Lesung der neuen Anti-Terror-Gesetze an. Ministerpräsident Gert Grue Eriksen erklärte, Monbergs Fehlen werde keine Auswirkungen auf die Verhandlungen mit den Koalitionspartnern der regierenden Zentrumspartei haben …«

Politiker, murmelte Lund. Für Nanna Birk Larsen hatten sie nichts getan. Hatten nur an sich selbst gedacht. Jetzt drang die weltmännische Stimme des Ministerpräsidenten in ihre Ohren. Grue Eriksen gehörte seit so langer Zeit der dänischen Führung an, dass schon der Klang seiner Stimme ein Bild wachrief: Silberhaar, freundliches Gesicht, strahlendes Lächeln. Ein Mann, der Vertrauen weckte. Der seinem Land Ehre machte.

»Das Anti-Terror-Paket ist in der derzeitigen Situation notwendig«, sagte Grue Eriksen überzeugend. »Wir befinden uns im Krieg mit einem heimtückischen Feind, der sich feige im Verborgenen hält. Der Kampf gegen den Terrorismus muss weitergehen, hier und in Afghanistan.«

Die Illegalen, die Lund geschnappt hatte, sahen nicht wie Terroristen aus, fand sie. Nur wie traurige, arme Ausländer, angelockt durch die Lüge, der Westen sei ein angenehmer, großzügiger Ort, wo man sie mit offenen Armen aufnehmen werde. Nächstes Nachrichtenthema.

»Der Verdächtige im Mordfall Mindelunden bleibt weiter in Untersuchungshaft. Vonseiten des Chefs der Mordkommission, Lennart Brix, wurden nur wenige Informationen über die zehn Tage zurückliegende Tat herausgegeben. Aus dem Polizeipräsidium verlautet jedoch, dass der Verdächtige, der mutmaßliche Ehemann des Opfers, in Kürze aus der Untersuchungshaft entlassen wird, sofern kein Durchbruch bei den Ermittlungen erzielt wird und …«

Lund zog die Ohrhörer heraus. Weil in der Autoschlange für die nächste Überfahrt ein Laster stand. Nur deswegen. Aus keinem anderen Grund. Es spielte keine Rolle, dass ihre Schicht zu Ende war und ihre Ablösung bereits auf das Büro zukam. Kopenhagen war Geschichte. Die Polizeiarbeit auch. Sie war nicht glücklich darüber. Aber auch nicht enttäuscht. Es war, wie es war. Sie ging dem Kollegen entgegen, sprach mit ihm über Dienstpläne und die letzten Kontrollberichte. Darüber, was die neuen Anti-Terror-Gesetze für sie bedeuten würden. Noch mehr Schreibkram wahrscheinlich, weiter nichts. Sie steuerte wieder auf das Büro zu, um ihre Zehnstundenschicht abzuschließen, und fragte sich, ob sie später in ihrem Bungalow am Rand des trostlosen Ortes würde schlafen können. Ein schwarzer Ford stand vor der Tür. Hinter der Frontscheibe ein Parkausweis, der ihr bekannt vorkam: das Polizeipräsidium. Ein Mann in ihrem Alter stand daneben. Größer als Jan Meyer, drahtiger. Aber wie Meyer gekleidet: schwarze Lederjacke, Jeans. Das Gesicht genauso blass und abgespannt, das Haar genauso kurz geschnitten, der gleiche Dreitagebart. Jan Meyer hatte Glupschaugen und große Ohren gehabt. Der Mann hier hatte weder das eine noch das andere. Er sah gut aus, auf eine dezente, fast bescheiden wirkende Art. Nachdenklich hinter der professionell distanzierten Maske, die der Job verlangte. Durch und durch Polizist, dachte sie. Er hätte auch eine Dienstmarke auf der Brust tragen können.

»Hallo«, sagte er mit heller, fast kindlicher Stimme und folgte ihr ins Büro. Sie schaltete ihr Walkie-Talkie aus und legte es in die Schublade. Schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Er blieb in der Tür stehen.

»Sarah Lund?«

Der Kaffee schmeckte wie immer abgestanden.

»Ulrik Strange. Ich hab Sie x-mal angerufen. Hab Nachrichten hinterlassen. Die haben Sie wohl nicht bekommen.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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