Das Verbrechen - David Hewson - E-Book

Das Verbrechen E-Book

David Hewson

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Beschreibung

Sarah Lund, 38, ist furchtlose Kommissarin bei der Polizei in Kopenhagen. Doch der grausame Mord an der neunzehnjährigen Nanna Birk Larsen, deren Leiche aus einem Kanal nahe der Hauptstadt von Dänemark gezogen wird, geht auch ihr nahe. Der Wagen, in dem sich die Leiche befand, gehört zum Fuhrpark von Troels Hartmann, dem liberalen Herausforderer des Bürgermeisters von Kopenhagen, und die Spuren des Verbrechens scheinen eindeutig in die Politik zu weisen … Lund gelingt es in diesem hochspannenden Krimi, politische Abgründe, Intrigen und private Gewalt aufzudecken. Am Ende ist der Mörder gefunden, das Rätsel gelöst. Eine Überraschung - nicht nur für Kommissarin Lund, sondern auch für die Millionen Zuschauer der TV-Serie.

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Zsolnay E-Book

DAVID HEWSON / SØREN SVEISTRUP

DAS VERBRECHEN

KOMMISSARIN LUNDS 1. FALL

Roman

Aus dem Englischenvon Barbara Heller undRudolf Hermstein

Paul Zsolnay Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2012 unterdem Titel The Killing bei Macmillan, London.Der Roman basiert auf Søren Sveistrups Forbrydelsen –einer Serie des dänischen Fernsehens. Koautoren:Torleif Hoppe, Michael W. Horsten und Per Daumiller.

ISBN 978-3-552-05629-9

Copyright © David Hewson 2012

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Non nobis solum nati sumus.

Wir sind nicht für uns allein geboren.

CICERO, DE OFFICIIS I, 22

Erstes Kapitel

FREITAG, 31. OKTOBER

Durch den dunklen Wald, dessen kahle Bäume keinen Schutz bieten, rennt Nanna Birk Larsen. Neunzehn, atemlos, zitternd in ihrem kurzen, zerrissenen Hemd, barfuß, in dem zähen Matsch strauchelnd. Harte Wurzeln haken sich um ihre Knöchel, dichtes Gestrüpp zerkratzt ihre wild rudernden weißen Arme. Sie stürzt, fängt sich wieder, kämpft sich aus stinkenden Tümpeln hoch, versucht das Zähneklappern zu stoppen, versucht zu denken, zu hoffen, sich zu verstecken.

Ein gleißendes Auge verfolgt sie, wie ein Jäger das angeschossene Wild. Im Zickzack, langsam näher rückend, bewegt es sich durch den Pinseskoven, den Pfingstwald. Kahle silberne Stämme ragen aus dem kargen Boden wie Gliedmaßen uralter, versteinerter Leichen. Wieder ein Sturz, der schlimmste. Der Boden unter ihr verschwindet und mit ihm ihre Beine. Um sich schlagend, aufschreiend vor Schmerz und Verzweiflung, stürzt das Mädchen in den sumpfigen, eiskalten Graben, prallt gegen Steine und Holz, paddelt durch scharfkantigen Schotter, spürt, wie ihr Kopf und ihre Hände, ihre Ellbogen, ihre Knie über den harten Untergrund schrammen.

Das kalte Wasser, die Angst, und er, nicht mehr weit …

Sie kämpft sich aus dem Schlamm hoch, keuchend, klettert die Böschung hinauf, stemmt ihre aufgerissenen, blutenden Füße in den Morast, spreizt die Zehen, um darin Halt zu finden. Oben ein Baum. Dürre Blätter streifen ihr Gesicht. Der Stamm ist dicker als die anderen, sie wirft die Arme um ihn und denkt an ihren Vater Theis, einen Schrank von einem Mann, schweigsam, brummig, ein unerschütterliches Bollwerk gegen die Welt draußen. Sie klammert sich an den Baum, wie sie sich früher an ihren Vater geklammert hat. Seine Stärke bei ihr, ihre bei ihm. Nichts sonst brauchte sie, würde sie je brauchen.

Vom unendlichen Himmel kommt ein dumpfes Heulen. Die strahlenden, alles sehenden Lichter eines Flugzeugs fliehen die Grenzen der Schwerkraft, fliehen Kastrup, fliehen Dänemark. Der flüchtige Schein verwirrt und blendet. In dem unerbittlichen Gleißen tasten Nannas Finger über ihr Gesicht. Fühlen die Wunde, die vom linken Auge zur Wange läuft, bösartig, offen, blutend.

Sie riecht ihn, spürt ihn. An ihr. In ihr.

Durch all die Schmerzen, inmitten der Angst, schießt eine heiße Flamme der Wut empor.

Du bist Theis Birk Larsens Tochter.

Alle sagten das, wenn sie ihnen Grund dazu gab.

Du bist Nanna Birk Larsen, Theis’ Kind und Pernilles Kind, du wirst dem Ungeheuer entkommen, das in der Nacht durch den Pfingstwald jagt, draußen am Rand der Stadt, in der es, nur wenige Kilometer und doch so weit entfernt, jenen warmen sicheren Ort namens Zuhause gibt.

Sie steht an den Stamm geschmiegt, wie sie sich früher an ihren Vater geschmiegt hat, die Arme um die rissige silberne Rinde geschlungen, ihr seidig glänzendes Hemd verdreckt und blutverschmiert, zitternd, stumm, redet sich ein, dass Rettung nahe ist, jenseits des dunklen Waldes und der toten Bäume, die keinen Schutz bieten. Wieder streicht ein weißer Strahl über sie. Es ist nicht die Lichtflut aus dem Bauch eines Flugzeugs, das über dem Ödland dahinfliegt wie ein riesiger Maschinenengel, der müßig nach einer verlorenen Seele Ausschau hält, um sie zu retten.

Lauf, Nanna, lauf, ruft eine Stimme.

Lauf, Nanna, lauf, denkt sie.

Der Schein einer Taschenlampe ist jetzt auf ihr, das gleißende Auge. Es ist da.

Zweites Kapitel

MONTAG, 3. NOVEMBER

»Es ist im Hinterhaus«, sagte der Polizist. »Ein Obdachloser hat sie gefunden.«

Halb acht Uhr morgens, noch dunkel. Es regnete eisige Bindfäden. Vicekriminalkommissær Sarah Lund stand im Windschatten des schmutzigen Backsteinbaus in der Nähe der Docks und sah den Uniformierten zu, die das Gelände absperrten. Der letzte Tatort, den sie in Kopenhagen sehen würde. Ein Mord natürlich. Eine Frau noch dazu.

»Das Gebäude steht leer. Wir überprüfen den Wohnblock gegenüber.«

»Wie alt ist sie?«, fragte Lund.

Der Polizist, ein Mann, den sie kaum kannte, zuckte die Schultern und wischte sich mit dem Arm den Regen vom Gesicht.

»Warum fragen Sie?«

Ein Albtraum, wollte sie sagen. Einer, aus dem sie um halb sieben mit einem Schrei hochgefahren war. Als sie aufstand, tappte Bengt, der liebe, fürsorgliche, ruhige Bengt, in der Wohnung umher und packte die letzten Sachen. Mark, ihr Sohn, lag in tiefem Schlaf vor dem Fernseher in seinem Zimmer und regte sich nicht, als sie leise hineinspähte. Am Abend würden sie ins Flugzeug nach Stockholm steigen. Ein neues Leben in einem anderen Land. Neue Ufer. Abgebrochene Brücken.

Sarah Lund war achtunddreißig, eine ernste Frau, die unablässig die Welt um sich herum betrachtete, nie sich selbst. Es war ihr letzter Tag bei der Kopenhagener Polizei. Frauen wie sie kannten keine Albträume, keine Ängste im Dunkeln, kein Aufblitzen eines erschrockenen jungen Gesichts, das vielleicht einmal ihres gewesen war.

Das waren die Phantasien anderer.

»Keine Antwort?«, sagte der Polizist und sah sie missmutig an. Er zog das Absperrband hoch und führte sie zu der eisernen Schiebetür. »Wissen Sie was? So was hab ich überhaupt noch nicht gesehen.«

Er gab ihr ein Paar blaue Schutzhandschuhe und wartete, bis sie sie übergestreift hatte, dann stemmte er die Schulter gegen das rostige Metall. Kreischend wie eine misshandelte Katze ging die Tür auf.

»Bin gleich wieder da«, sagte er.

Sie wartete nicht, ging einfach los, wie sie es immer tat, allein, schaute, erst in die eine Richtung, dann in die andere, die hellen Augen weit geöffnet, schaute nur. Aus irgendeinem Grund schob der Polizist, kaum war sie drin, die Tür zu, so schnell, dass die Katze eine Oktave höher kreischte als zuvor. Und dann verstummte, als die schwere Eisentür sich dröhnend schloss und den grauen Tag aussperrte.

Vor ihr ein Gang in der Mitte eines Raums wie ein Fleischerladen, Träger mit Haken daran. An der Decke eine einzelne Reihe Glühbirnen. Der Betonboden glänzte feucht. Ganz hinten bewegte sich etwas im Halbdunkel, schwang wie ein riesiges Pendel langsam hin und her. Irgendwo klackte ein Lichtschalter, dann war es finster, so finster wie am Morgen in ihrem Schlafzimmer, als ein wüster, unerwünschter Traum sie wachgerüttelt hatte.

»Licht!«, rief Lund.

Ihre Stimme hallte im schwarzen, leeren Bauch des Gebäudes wider.

»Licht, bitte.«

Kein Laut. Sie war eine erfahrene Polizistin, dachte stets an alles, was sie mit sich führen musste, bis auf die Pistole, die ihr immer erst später einfiel. Aber sie hatte die Taschenlampe, wohlverwahrt in ihrer rechten Tasche. Holte sie heraus und hielt sie nach Polizistenart: rechte Hand erhoben, Handgelenk nach hinten abgewinkelt, Lichtstrahl geradeaus, suchend, in Winkel spähend, in die andere nicht schauten.

Das Licht und Lund gingen auf Suche. Decken, alte Kleider, zwei zerdrückte Coladosen, eine leere Kondompackung. Drei Schritte, dann blieb sie stehen. Rechts an der Wand, in Bodennähe, eine Pfütze, scharlachrot, klebrig, auf dem abblätternden Putz zwei waagerechte Streifen, wie verschmiertes Blut, von einer Leiche, die über den Boden geschleift wurde.

Lund holte ihre Nikotinkaugummis hervor und steckte sich einen in den Mund. Sie ließ nicht nur Kopenhagen hinter sich. Auch das Rauchen stand auf der Abschussliste. Sie bückte sich, tupfte einen blauen Latexfinger in die Pfütze, hob ihn an die Nase und schnupperte daran. Drei Schritte weiter stieß sie auf eine Axt, der Griff sauber und glänzend, als sei sie erst tags zuvor gekauft worden. Sie legte zwei Finger in die rote Flüssigkeit an der Schneide, rieb sie aneinander, roch daran, überlegte.

Lund würde sich nie mit dem Nicotinell-Geschmack anfreunden. Sie ging weiter. Das Ding dort vorn war jetzt deutlicher zu sehen. Eine Industrieplane, rot verschmiert. Wie das Leichentuch eines geschlachteten Tiers. Darunter menschliche Umrisse. Lund veränderte die Position der Taschenlampe, hielt sie dicht an der Taille, den Strahl aufwärts gerichtet, musterte die Plane, suchte eine Stelle, wo sie sie greifen konnte. Sie riss die Plane mit einem Ruck weg, und was dahinter war, pendelte im Schein der Lampe langsam hin und her. Das starre Gesicht männlich, der Mund zu einem immerwährenden O geöffnet. Schwarze Haare, rosa Haut, ein monströser Plastikphallus. Auf dem Kopf ein leuchtend blauer Wikingerhelm mit silbernen Hörnern und goldenen Zöpfen.

Lund legte den Kopf schräg und lächelte, der Zöpfe wegen.

Ein Zettel war an der Brust der Sexpuppe befestigt: Danke, Chefin, für sieben gute Jahre. Die Jungs.

Gelächter aus dem Dunkel.

Die Jungs.

Ein guter Scherz. Obwohl sie ruhig echtes Blut hätten nehmen können.

Das Polizeipräsidium war ein graues Labyrinth auf einem aufgeschütteten Stück Land nahe am Wasser. Von außen ein düsterer Kasten, öffnete sich das Gebäude auf einen runden Hof. Klassische Säulen säumten die schattigen Arkaden ringsum. Im Innern führten Wendeltreppen zu den gebogenen, mit gemasertem schwarzen Marmor ausgekleideten Gängen, die sich wie verkalkte Adern um das vollkommene Rund zogen. Lund hatte drei Monate gebraucht, um sich in dem Komplex zurechtzufinden. Auch jetzt noch musste sie manchmal überlegen, wo sie sich befand.

Das Morddezernat lag im zweiten Stock Nordost. Sie saß in Buchards Büro, den Wikingerhelm auf dem Kopf, hörte sich Witze an, packte Geschenke aus, lächelte und schwieg unter den Papphörnern und den goldenen Zöpfen. Dann bedankte sie sich, ging in ihr Büro und begann ihre Sachen zusammenzupacken. Keine Zeit für so viel Aufhebens. Lächelnd betrachtete sie das Foto von Mark auf dem Schreibtisch. Vor drei Jahren aufgenommen, er war neun gewesen, lange bevor er mit dem albernen Ohrring nach Hause kam. Vor – kurz vor – der Scheidung. Dann war Bengt gekommen, um sie nach Schweden zu locken, in ein Leben jenseits der trüben, kalten Fluten des Öresunds.

Ihr Sohn Mark, ernst, damals wie heute. In Schweden würde sich das ändern. Wie überhaupt alles.

Lund schob den Rest – ihren Dreimonatsvorrat Nicotinell, die Stifte, den Bleistiftspitzer in Form eines Londoner Busses – vom Schreibtisch in einen ramponierten Pappkarton und legte das Bild von Mark obendrauf. Die Tür ging auf, und ein Mann kam herein.

Sie schaute, schätzte ab, wie sie es immer tat. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Die Haare kurzgeschnitten, die Miene streng. Große Augen, große Ohren. Die Kleider billig und etwas zu jugendlich für einen Mann, der nicht viel jünger sein konnte als sie. Er trug einen Karton, der ganz ähnlich aussah wie ihrer. Sie sah einen Stadtplan von Kopenhagen darin, ein Kinder-Basketballnetz, ein Spielzeug-Polizeiauto, Kopfhörer.

»Ich suche das Büro von Kommissarin Lund«, sagte er und starrte auf den Wikingerhelm, der an den neuen Skiern hing, einem Geschenk ihrer Kollegen.

»Das bin ich.«

»Jan Meyer. Gehört das hier zur Uniform?«

»Ich gehe nach Schweden.«

Lund nahm ihren Karton, und die beiden vollführten einen kleinen Tanz, als sie sich aneinander vorbeischlängelten.

»Warum denn das, um Himmels willen?«, fragte Meyer.

Sie stellte den Karton ab, strich ihre langen, widerspenstigen braunen Haare zurück und überlegte, ob sie irgendetwas Wichtiges vergessen hatte. Er nahm das Basketballnetz aus dem Karton, besah sich die Wand.

»Meine Schwester hat auch mal so was gemacht«, sagte er.

»Was?«

»Hat ihr Leben hier nicht auf die Reihe gekriegt und ist mit einem Typ nach Bornholm.« Meyer verstaute das Netz auf den Aktenschränken. »Netter Kerl. Hat aber nicht funktioniert.«

Genervt von ihren Haaren, holte Lund ein Gummiband aus der Tasche und fasste sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.

»Warum nicht?«

»Zu weit weg. Den ganzen Tag nur Kühe furzen hören, das hat sie verrückt gemacht.« Er nahm einen Bierkrug aus Zinn heraus und drehte ihn hin und her. »Und wo genau ziehst du hin?«

»Nach Sigtuna.«

Meyer hielt inne und sah sie schweigend an.

»Das ist auch sehr weit weg«, fügte Lund hinzu.

Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und holte einen kleinen Kinderfußball aus dem Karton. Dann stellte er das Polizeiauto auf den Schreibtisch und schob es hin und her. Das Blaulicht begann zu blinken, und die Sirene heulte. Er spielte noch damit, als Buchard mit einem Zettel in der Hand hereinkam.

»Ihr habt euch schon kennengelernt«, sagte der Chef. Es war keine Frage.

Die onkelhafte Ausstrahlung des Mannes, neben dem sie beim Frühstück gesessen hatte, war verschwunden.

»Ja, wir hatten bereits das Vergnügen …«, begann Lund.

»Das ist eben reingekommen.« Buchard gab ihr die Notiz. »Aber wenn du jetzt packen musst …«

»Ich hab noch Zeit«, sagte sie. »Den ganzen Tag …«

»Gut. Du kannst Meyer ja mitnehmen.«

Der Mann mit dem Karton drückte seine Zigarette aus und zuckte die Schultern.

»Er packt gerade aus.«

Meyer ließ das Auto los, nahm den Fußball und ließ ihn in der Hand auf und ab hüpfen. Er grinste. Wirkte dadurch anders, menschlicher, runder.

»Die Arbeit geht vor.«

»Ein guter Anfang«, sagte Buchard. Ein scharfer Unterton. »Wäre mir lieb, Meyer. Und Ihnen auch.«

Lund saß auf dem Beifahrersitz, scannte durchs offene Fenster das Kalvebod Fælled. Dreizehn Kilometer südlich der Stadt, nicht weit vom Meer. Nach mehreren Regentagen ein strahlender Morgen. Würde wahrscheinlich nicht lange schön bleiben. Flaches Marschland, gelbes Gras, Gräben bis zum Horizont und rechts ein kahler, dunkler Wald. Schwacher Meergeruch, ringsum der Gestank verrottender Pflanzen. Die Luft feucht, nahe dem Gefrierpunkt. Ein harter, kalter Winter kündigte sich an.

»Du darfst dort keine Waffe tragen? Und keine Festnahmen durchführen? Was ist mit Strafzetteln?«

Jemand hatte, als er am frühen Morgen seinen Hund ausführte, Mädchenkleider gefunden, auf einem Stück Ödland nahe einem Birkenwäldchen namens Pinseskoven. Pfingstwald.

»Um Leute festzunehmen, muss man schwedischer Staatsbürger sein. Das ist ein …« Lund wünschte, sie hätte gar nicht erst geantwortet. »So ist das dort.«

Meyer schob sich eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund, dann knüllte er die Tüte zusammen und warf sie in den Fußraum. Er fuhr wie ein Halbwüchsiger, zu schnell, ohne viel Rücksicht auf andere.

»Was sagt dein Sohn dazu?«

Sie stieg aus, achtete nicht darauf, ob er ihr folgte. Ein Zivilbeamter stand am Fundort, ein Polizist in Uniform ging auf dem Gelände umher, kickte gegen die welken Grasbüschel. Ein geblümtes Top, wie ein Teenager es tragen mochte, und ein Videothekausweis, das war alles, was sie hatten. Beides in Beweisbeuteln. Auf dem Top waren Blutflecken. Lund drehte sich um dreihundertsechzig Grad, wie sie es immer tat, ihre großen, glänzenden Augen suchend.

»Wer kommt hier so her?«

»Tagsüber hauptsächlich Kindergartengruppen, die einen Ausflug machen. Nachts auch mal Nutten aus der Stadt.«

»Tolle Location, um eine Nummer zu schieben«, sagte Meyer. »Wo bleibt heutzutage eigentlich die Romantik? Kannst du mir das einmal sagen?«

Lund drehte sich noch immer langsam um sich selbst.

»Seit wann liegt das Zeug hier?«

»Seit gestern. Jedenfalls nicht seit Freitag, da war eine Schulklasse hier. Die hätten’s bestimmt gesehen.«

»Keine Vermisstenanzeige? Keine Meldung von einem Krankenhaus?«

»Nein, nichts.«

»Irgendeine Ahnung, wem das gehört?«

Der Kriminalbeamte zeigte ihr die Plastiktüte mit dem Top.

»Größe sechsunddreißig«, sagte er. »Mehr wissen wir nicht.«

Es sah billig aus, die Blumen so knallig und kindlich, dass es auch ironisch gemeint sein konnte. Ein Teenagerscherz: kindisch, aber sexy.

Lund nahm den zweiten Beutel und inspizierte die Ausweiskarte. Ein Name stand darauf: Theis Birk Larsen.

»Das haben wir nicht weit vom Weg gefunden«, sagte der Polizist. »Das Top lag hier. Vielleicht haben sie sich gestritten, und er hat sie aus dem Auto geschmissen. Und dann …«

»Und dann«, sagte Meyer, »hat sie Schuhe, Mantel, Handtasche und Kondompackung genommen, ist den ganzen Weg zu Fuß zurückgegangen und hat sich zu Hause vor den Fernseher gesetzt.«

Lund konnte den Blick nicht von dem Wald lösen.

»Soll ich mal mit diesem Birk Larsen reden?«, fragte der Polizist.

»Ja, tun Sie das.« Sie schaute auf die Uhr.

Noch acht Stunden, dann war es vorbei. Kopenhagen und das Leben davor. Meyer kam heran und hüllte sie in eine Rauchwolke.

»Warum reden wir nicht selbst mit ihm, Lund? Eine Nutte hier auszusetzen. Die Frau zu verprügeln. Meine Sorte Kundschaft.«

»Aber nicht unsere Sorte Arbeit.«

Die Zigarette flog in den nächsten Graben.

»Ich weiß. Ich würde …« Er holte eine Kaugummipackung hervor. Der Mann schien von Chips, Süßigkeiten und Zigaretten zu leben. »Ich würde mich nur gern ein bisschen mit ihm unterhalten.«

»Worüber? Es gibt keinen Fall. Die Prostituierte hat sich nicht beschwert.«

Meyer beugte sich vor. »Ich bin gut im Reden«, sagte er wie ein Lehrer, der zu einem Kind spricht.

Er hatte abstehende, fast schon komische Ohren und war unrasiert. Er könnte gut als verdeckter Ermittler arbeiten, dachte Lund. Vielleicht hatte er das ja auch getan. Sie erinnerte sich, wie Buchard mit ihm gesprochen hatte. Rowdy. Polizist. Meyer konnte beide Rollen spielen.

»Ich hab gesagt …«

»Du solltest mich sehen, Lund. Echt. Bevor du gehst. Mein Geschenk an die Schweden.«

Er nahm ihr die Karte aus der Hand. Las den Namen.

»Theis Birk Larsen.«

Sarah Lund drehte sich ein letztes Mal um die eigene Achse und betrachtete das gelbe Gras, die Gräben, den Wald.

»Ich fahre«, sagte sie.

Pernille hockte auf seinem mächtigen Brustkorb, lachend wie ein Kind. Halbnackt auf dem Küchenboden, am Morgen eines Arbeitstages. Es war Theis’ Idee gewesen, wie fast alles.

»Zieh dich an«, befahl sie, rollte sich von ihm herunter und stand auf. »Geh arbeiten, du Untier.«

Er grinste wie der halbwüchsige Rowdy, den sie noch in Erinnerung hatte. Stieg dann wieder in seine knallrote Latzhose. Vierundvierzig, rotes, graumeliertes Haar, Koteletten bis zu dem breiten Kinn hinab, ein Gesicht, das von einem Augenblick zum anderen von heiß zu kalt und dann wieder zur gewohnten undurchdringlichen Miene wechseln konnte. Pernille war ein Jahr jünger, eine vielbeschäftigte Frau, noch gut in Form nach drei Kindern, sodass sie seine Blicke noch genauso auf sich zog wie vor zwanzig Jahren, als sie sich kennengelernt hatten. Sie schaute zu, wie er in die schwere Hose stieg, und sah sich dann in der kleinen Wohnung um.

Nanna war schon in ihrem Bauch gewesen, als sie nach Vesterbro zogen. In ihrem Bauch, als sie heirateten. Hier, in diesem hellen, farbenfrohen Raum – Topfpflanzen am Fenster, Fotos an den Wänden, all der Krimskrams einer Familie – hatten sie sie großgezogen. Vom schreienden Säugling zum schönen jungen Mädchen, und in zu großem Abstand waren Emil und Anton dazugekommen, jetzt sieben und sechs. Die Wohnung lag über dem Lager von Birk Larsens Spedition. Unten herrschte mehr Ordnung als in den beengten Räumen oben, wo sie zu fünft lebten und einander ständig im Weg waren. Ein Sammelsurium von Souvenirs, Kinderzeichnungen, Spielzeug und vielem anderem. Pernille betrachtete die Küchenkräuter am Fenster, durch die grün das Licht schien.

Voller Leben.

»Nanna wird bald ein eigenes Apartment brauchen«, sagte sie und strich ihr langes kastanienbraunes Haar glatt. »Könnten wir nicht eine Anzahlung machen?«

Er stöhnte, lachte.

»Die Entscheidung überlassen wir besser ihr. Erst einmal muss sie mit der Schule fertig sein.«

»Theis …«

Sie schmiegte sich wieder in seine kräftigen Arme, sah ihm ins Gesicht. Manche hatten Angst vor Theis Birk Larsen. Sie nicht.

»Vielleicht ist das mit der Anzahlung gar nicht nötig«, sagte er.

Sein derbes Gesicht verzog sich zu einem verschmitzten Grinsen.

»Warum nicht?«

»Das wird nicht verraten.«

»Sag’s mir!«, rief Pernille und boxte ihn gegen die Brust.

»Dann wär’s ja kein Geheimnis mehr.«

Er ging die Treppe hinunter ins Lager. Sie folgte ihm. Transporter und Arbeiter, Paletten und in Schrumpffolie verpackte Güter, Inventarlisten und Zeitpläne.

Die Dielen in der Küche knarrten. Vielleicht hatte sie auch geschrien. Sie hatten es gehört, das sah sie an ihren grinsenden Gesichtern. Vagn Skærbæk, Theis’ ältester Freund, der schon vor ihr da gewesen war, tippte sich an einen imaginären Hut.

»Sag schon!« Sie nahm seine alte schwarze Lederjacke vom Haken.

Birk Larsen zog die Jacke an, holte die unvermeidliche Wollmütze aus der Tasche, setzte sie auf. Innen rot, außen schwarz. Er schien in dieser Kluft zu wohnen. Wie ein rotbrüstiger wilder Robbenbulle sah er darin aus, zufrieden mit seinem Revier, bereit, jeden Eindringling abzuwehren.

Ein Blick auf das Klemmbrett, ein Häkchen neben eine Fuhre, dann rief er Vagn Skærbæk zum nächststehenden Transporter. Ebenfalls scharlachrot. Wie an der Arbeitskleidung der Männer prangte auch an dem Wagen der Name Birk Larsen. Und an dem roten Christiania-Dreirad mit dem Transportkasten, das Skærbæk noch immer am Laufen hielt, achtzehn Jahre, nachdem sie es gekauft hatten, um Nanna darin in der Stadt herumzukutschieren.

Birk Larsen. Herrscher über ein glückliches kleines Reich. König seiner kleinen Welt in Vesterbro.

Klatschte in seine riesigen Hände. Bellte Befehle. Dann ging er los. Pernille Birk Larsen blieb stehen, bis sich die Männer wieder an die Arbeit machten. Die Steuervoranmeldung musste fertiggestellt werden. Geld musste bezahlt werden, und das war nie angenehm. Geld musste auch versteckt werden. Niemand gab dem Staat alles, wenn er es vermeiden konnte.

Wir brauchen nicht noch mehr Geheimnisse, Theis, dachte sie.

Unter der bronzenen Absalon-Statue, unter dem Glockenturm und dem zinnenbewehrten Dachfirst, vor der türmchenverzierten roten Backsteinfestung des Rådhus, des Kopenhagener Rathauses, standen drei Plakate: Kirsten Eller, Troels Hartmann, Poul Bremer. Lächelnd, wie es nur Politiker können.

Eller, die Frau, schmale Lippen, wie zu einer Art Schmunzeln zusammengepresst. Die Zentrumspartei, die ewig in einer Art philosophischem Niemandsland festsaß und darauf hoffte, sich an die eine oder die andere Seite anhängen zu können und dann die Brosamen vom Tisch des Herrn abzubekommen.

Darunter strahlte Poul Bremer in die Stadt hinaus, die ihm gehörte. Oberbürgermeister von Kopenhagen seit zwölf Jahren, ein korpulenter, gemütlicher Politiker, jenen Abgeordneten nahestehend, die über die Ausgaben entschieden, gewöhnt an die Meinungsumschwünge seiner trägen Parteisoldaten, wohlvertraut mit dem weit gespannten Netzwerk der Anhänger und Unterstützer, die ihm aufs Maul schauten. Schwarzes Jackett, weißes Hemd, dezente graue Seidenkrawatte, seriöse schwarze Brille, der Typ des freundlichen Lieblingsonkels, des großzügigen Spenders von Geschenken und Gefälligkeiten, des cleveren Verwandten, der alle Geheimnisse kennt, alles weiß.

Dann Troels Hartmann. Der Junge. Der Attraktive. Der Politiker, auf den die Frauen schauten, den sie insgeheim bewunderten. Er trug die Farben der Liberalen. Blauer Anzug, blaues Hemd, offener Kragen. Hartmann, zweiundvierzig, gutaussehend, jungenhafter nordischer Typ. Ein Anflug von Schmerz in den klaren kobaltblauen Augen war dem Objektiv des Fotografen entgangen. Ein guter Mann, sagte das Bild. Eine neue Generation, die die alte mit Macht verdrängte, frische Ideen brachte, Veränderung verhieß. Dank des Wahlsystems schon auf halbem Weg zum Ziel, leitete er mit Energie und Weitblick die Schulverwaltung der Stadt. Schon jetzt Bürgermeister, wenn auch nur für den Bereich Schulen und Hochschulen.

Drei Politiker, im Begriff, gegeneinander um die Krone Kopenhagens zu kämpfen, der Hauptstadt, einer wuchernden Metropole, in der über ein Fünftel von Dänemarks fünfeinhalb Millionen Einwohnern lebte und arbeitete, stritt und kämpfte. Jung und Alt, gebürtige Dänen und Zugewanderte, nicht immer willkommen. Ehrlich und fleißig, faul und korrupt. Eine Stadt wie jede andere.

Eller, die Außenseiterin, deren einzige Chance darin bestand, sich möglichst teuer zu verkaufen. Hartmann, jung, idealistisch. Naiv, sagten seine Feinde, tapfer darauf hoffend, Poul Bremer, den Granden der Stadtpolitik, von dem hohen Ross zu stoßen, das der alte Mann sein Eigen nannte.

In dem kalten Novembernachmittag strahlten ihre Gesichter in die Kamera, für die Presse, für die Leute auf der Straße. Hinter den rauchgeschwärzten verzierten Fenstern des roten Backsteinschlosses namens Rådhus aber, in den Galeriekorridoren und den zellenartigen Räumen, in denen Politiker flüsterten und Ränke schmiedeten, sah das Leben anders aus. Hinter dem starren, künstlichen Lächeln der drei tobte ein Krieg.

Schimmerndes Holz. Hohe, schmale Bleiglasfenster. Ledermöbel. Gold, Mosaiken und Gemälde. Der Geruch von poliertem Mahagoni. Plakate von Hartmann standen überall, lehnten an den Wänden, warteten darauf, in der Stadt verteilt zu werden. In einem Holzrahmen auf dem Schreibtisch ein Bild seiner Frau in ihrem Krankenhausbett, ruhig, tapfer, schön, vier Wochen vor ihrem Tod. Daneben ein Foto von John F. Kennedy und einer rehäugigen Jackie im Weißen Haus. Eine Band spielte im Hintergrund, blickte bewundernd auf die beiden. Jackie lächelnd, in einem seidenen Abendkleid. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Das Weiße Haus, wenige Tage vor Dallas.

In seinem Privatbüro betrachtete Troels Hartmann die Fotos und sah dann auf den Tischkalender. Montagmorgen. Drei der längsten Wochen seines politischen Lebens lagen vor ihm. Das erste einer endlosen Folge von Meetings. Seine beiden engsten Berater saßen mit ihren Laptops vor sich auf der anderen Seite des Schreibtischs und gingen den Tagesplan durch. Morten Weber, Wahlkampfmanager, Freund seit Studienzeiten. Engagiert, ruhig, einzelgängerisch, konzentriert. Vierundvierzig, widerspenstige Locken, beginnende Glatze, ein freundliches, angespanntes Gesicht, umherschweifende Augen hinter einer billigen Goldrandbrille. Wusste nie, wie er aussah, und kümmerte sich auch nicht darum. Schien die ganze Woche nicht aus dem zerknitterten Jackett, das nicht zur Hose passte, herausgekommen zu sein. Am glücklichsten, wenn er sich in Akten vertiefen oder in rauchgeschwängerten Räumen Kompromisse aushandeln konnte. Manchmal rollte er mit seinem Bürostuhl in eine ruhige Ecke, holte seinen Insulinpen hervor, zog sich das Hemd aus dem Gürtel und verpasste sich eine Spritze in seinen wabbeligen weißen Bauch. Dann rollte er an den Tisch zurück und klinkte sich wieder in die Diskussion ein, ohne auch nur eine Sekunde lang den Faden verloren zu haben.

Rie Skovgaard, die politische Beraterin, tat dann so, als bemerkte sie es nicht.

Hartmanns Gedanken schweiften von Webers Aufzählung der Termine ab. Einen Moment lang fühlte er sich aus der Welt der Politik herausgerissen. Zweiunddreißig, ebenmäßiges, ernstes Gesicht, dunkelhaarig, eher attraktiv als schön. Kämpferisch, streitbar, immer elegant. Heute trug sie ein enganliegendes grünes Kostüm. Teuer. Die Frisur schien sie von dem Foto auf Hartmanns Schreibtisch übernommen zu haben. Jackie Kennedy um 1963, das lange Haar um den schlanken Hals geschwungen, scheinbar lässig, obwohl keine Strähne je aus der Reihe tanzte.

»Präsidentenbegräbnisfrisur« nannte Weber es, wenn auch nur hinter ihrem Rücken. Anfangs hatte Rie Skovgaard nicht so ausgesehen.

Morten Weber war der Sohn eines Lehrers aus Aarhus. Skovgaard verfügte über bessere Beziehungen. Ihr Vater war ein einflussreicher Hinterbank-Abgeordneter. Bevor sie zu den Liberalen wechselte, war sie Account Executive der Kopenhagener Niederlassung einer New Yorker Werbeagentur gewesen. Jetzt pushte sie Hartmann, sein Image, seine Ideen, ganz ähnlich, wie sie früher Lebensversicherungen und Supermarktketten verkauft hatte.

Ein ungleiches Team, schwierig manchmal. War sie eifersüchtig auf Weber? Darauf, dass er ihr zwei Jahrzehnte voraushatte, sich im Parteisekretariat der Liberalen hochgearbeitet hatte, der Mann im Hintergrund, während Hartmanns nettes Lächeln und sein einnehmendes Wesen Publicity und Stimmen brachten? Rie Skovgaard war dagegen die Newcomerin, sie witterte Chancen, Ideologien langweilten sie.

»Die Diskussion heute Mittag. Wir brauchen Plakate vor der Schule«, sagte sie in ruhigem, professionellem Ton. »Wir brauchen …«

»Schon erledigt«, sagte Weber und zeigte auf den Bildschirm.

Es war ein trüber Tag. Regen und Wolken. Aus den Fenstern sah man auf die Fassade des Palace Hotel. Nachts warf die blaue Neonschrift ein eigenartiges Licht in den Raum.

»Ich hab heute Morgen gleich einen Wagen hingeschickt.«

Sie verschränkte ihre dünnen Arme.

»Du denkst wirklich an alles, Morten.«

»Das muss ich auch.«

»Was soll das heißen?«

»Bremer.« Es klang wie ein Schimpfwort. »Die Stadt gehört schließlich nicht zufällig ihm.«

»Nicht mehr lange«, schaltete sich Hartmann ein.

»Hast du die neuesten Umfragewerte gesehen?«, fragte Skovgaard.

Hartmann nickte. »Sehen gut aus. Besser als erhofft.«

Morten Weber schüttelte den Kopf.

»Die hat Bremer auch gesehen. Und der wird nicht auf seinem bequemen Arsch sitzen bleiben und sich sein Reich wegnehmen lassen. Das Rededuell heute Mittag, Troels. In einer Schule. Das wird ein Heimspiel. Da kommen die Medien.«

»Apropos Schulen«, unterbrach Skovgaard. »Letztes Jahr haben wir zusätzliche Mittel für mehr Computer beantragt. Einen besseren Netzzugang. Aber Bremer hat das abgeblockt. Seitdem ist der Krankenstand an den Schulen um zwanzig Prozent gestiegen. Damit können wir ihn konfrontieren …«

»Er hat das persönlich abgeblockt?«, fragte Hartmann. »Weißt du das genau?«

Ein leises, spitzbübisches Lächeln.

»Ich hab ein paar vertrauliche Protokolle ergattert.«

Wie eine schuldbewusste Schülerin schwenkte Skovgaard die zarten Hände über den Papieren, die vor ihr auf dem Tisch lagen.

»Da steht’s, schwarz auf weiß. Ich kann was davon durchsickern lassen, wenn es sein muss. Da findet sich auch sonst jede Menge, womit wir ihn konfrontieren können.«

»Können wir den Scheiß bitte lassen?«, giftete Weber. »Die Leute erwarten etwas Besseres von uns.«

»Die Leute erwarten, dass wir verlieren, Morten«, antwortete Skovgaard prompt. »Und das will ich ändern.«

»Rie…«

»Wir werden’s schaffen«, unterbrach Hartmann. »Und zwar auf saubere Art. Ich hab mich zum Frühstück mit Kirsten Eller getroffen. Ich glaube, die wollen das Spiel mit uns machen.«

Die beiden anderen schwiegen. Dann fragte Skovgaard: »Die sind an einem Wahlbündnis interessiert?«

»Ein Bündnis mit Kirsten Eller?«, knurrte Weber. »O Gott. Ein Pakt mit dem Teufel …«

Hartmann lehnte sich zurück und schloss die Augen, glücklich wie seit Tagen nicht mehr.

»Die Zeiten haben sich geändert, Morten. Poul Bremer verliert an Rückhalt. Wenn Kirsten sich mit ihrem nicht unerheblichen Gewicht für uns starkmacht …«

»Dann haben wir eine Koalitionsmehrheit«, ergänzte Skovgaard strahlend.

»Das will gut überlegt sein«, sagte Weber.

Sein Handy klingelte, und er ging damit ans Fenster.

Troels Hartmann überflog die Unterlagen, die Skovgaard für ihn vorbereitet hatte, ein Briefing für das Duell.

Sie rückte ihren Stuhl neben seinen, um mitlesen zu können.

»Du brauchst meine Hilfe nicht, oder? Das sind deine Ideen. Wir wollen dich nur daran erinnern, was du denkst.«

»Das kann ich auch gebrauchen. Ich hab meine Uhr verloren! Eine gute Uhr. Eine …«

Skovgaard stieß ihn an. Sie hatte die silberne Rolex in der Hand, hielt sie diskret unter dem Tisch, sodass niemand sie sehen konnte.

Sie öffnete seine Hand und drückte die Uhr hinein.

»Ich hab sie unter meinem Bett gefunden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie da hingekommen ist. Du?«

Hartmann streifte sich die Rolex übers Handgelenk.

Weber kam mit besorgter Miene vom Fenster zurück, das Telefon in der Hand.

»Die Sekretärin des Oberbürgermeisters ist dran. Bremer will dich sprechen.«

»Wieso?«

»Weiß ich nicht. Aber jetzt sofort.«

Hartmann sah auf die Uhr. »In einer Viertelstunde. Ich tanze nicht nach seiner Pfeife.«

Weber schien verwirrt. »Hast du nicht gesagt, du hast deine Uhr verloren?«

»In einer Viertelstunde«, wiederholte Hartmann.

Flure in alle Richtungen, lang und schimmernd, an den Wänden Fresken von Schlachten und Zeremonien. Majestätische Figuren in voller Rüstung blickten auf die unten entlangeilenden Gestalten herab.

»Sehr glücklich siehst du nicht aus«, sagte Hartmann auf dem Weg zum Büro des Oberbürgermeisters.

»Glücklich? Ich bin dein Wahlkampfleiter. In drei Wochen sind die Wahlen. Du schließt Bündnisse, ohne mir was davon zu sagen. Was erwartest du? Ein munteres Liedchen, einen Freudentanz, einen Scherz?«

»Meinst du, Bremer weiß Bescheid? Über Kirsten Eller?«

»Poul Bremer hört die Flöhe husten. Und außerdem – nimm einmal an, du bist Kirsten Eller und willst einen Deal aushandeln … Probierst du’s dann nur bei einer Seite?«

Vor der Tür zum Rathaussaal blieb Hartmann stehen.

»Lass mich nur machen, Morten. Das krieg ich schon raus.«

Poul Bremer stand in Hemdsärmeln auf dem Podium, neben dem Amtssessel, den er die letzten zwölf Jahre besetzt gehalten hatte. Sprach in jovialem Ton ins Telefon. Hartmann ging nach vorn und griff nach dem Buch, das neben dem Mikro auf dem Tisch lag. Eine Cicero-Biografie. Und hörte zu – was Bremer auch bezweckt hatte.

»Ja, ja. Lass mich ausreden.« Dieses tiefe, volle Lachen, Bremers heiserer Segen für diejenigen, die in seiner Gunst standen. »Du wirst demnächst in der Regierung sitzen. Als Minister. Das prophezeie ich dir, und ich irre mich nie.« Ein Blick auf seinen Besucher. »Sorry … ich muss Schluss machen.«

Bremer setzte sich auf den Platz des Beigeordneten, nicht den des Oberbürgermeisters.

»Hast du das Buch gelesen, Troels?«

»Nein. Sorry.«

»Nimm’s mit. Ein lehrreiches Geschenk. Erinnert uns daran, dass wir nur eins aus der Geschichte lernen, nämlich dass wir nichts aus der Geschichte lernen.« Ton und Auftreten eines freundlichen Lehrers, über die Jahre ausgefeilt. »Cicero war ein guter Mann. Hätte es weit gebracht, wenn er gewartet hätte, bis er dran war.«

»Ist bestimmt keine leichte Lektüre.«

»Komm, setz dich zu mir.« Bremer zeigte auf den Platz neben sich. Den des Oberbürgermeisters. Den Thron. »Probier ihn aus. Er gehört niemandem. Nicht mal mir, du wirst lachen.«

Hartmann ging auf den Scherz ein. Ließ sich auf das harte polierte Holz fallen. Atmete den Mahagonigeruch ein, den Geruch der Macht. Sah sich im Saal um: im Halbkreis die leeren Stühle der Stadträte, davor Flachbildschirme und Abstimmungsknöpfe.

»Es ist nur ein Stuhl, Troels.« Bremer grinste ihn an.

Er sprach und bewegte sich wie ein jüngerer Mann. Das gehörte zum Image.

»Rom mochte Cicero, schätzte seine Ideen. Ideen sind gut für schöne Reden. Viel mehr aber auch nicht. Cäsar war ein Diktator, aber auch ein Gauner, den die Römer kannten und liebten. Cicero war ungeduldig. Penetrant. Ein Emporkömmling. Weißt du, was aus ihm wurde?«

»Er ging zum Fernsehen?«

»Sehr witzig. Sie haben ihn abgeschlachtet. Haben seine Hände und seinen Kopf im Forum Romanum zur Schau gestellt, damit die Leute was zu lachen hatten. Ist manchmal schon ein undankbarer Haufen, dem wir dienen.«

»Du wolltest mich sprechen?«

»Ich hab die Umfragewerte gesehen. Du auch?«

»Ja.«

»Du wirst mal ein guter Oberbürgermeister werden. Du wirst diese Stadt gut regieren.« Bremer strich die Ärmel seines schwarzen Seidensakkos glatt und zog die Manschetten des schicken weißen Hemdes heraus, nahm seine Brille ab, prüfte, ob sie sauber war, und fuhr sich durch das silberne Haar. »Nur noch nicht jetzt.«

Hartmann seufzte und schaute auf seine Rolex.

»In vier Jahren gehe ich in Pension. Wozu also die Eile?«

»Man nennt das, glaub ich, eine Wahl. Dritter Dienstag im November. Alle vier Jahre.«

»Ich mach dir ein Angebot. Ein Platz an meinem Tisch. Mehr Kompetenzbereiche als nur die Schulen. Es gibt sieben Bürgermeister. Den Oberbürgermeister und sechs für die einzelnen Dezernate. Von denen kannst du haben, welches du willst. Dann lernst du, wie die Stadt funktioniert. Wenn es dann so weit ist, bist du gut vorbereitet auf den Job, und ich geb ihn mit Freuden ab.«

Bremer bedachte ihn mit seinem flüchtigen Lächeln.

»Dann hast du keinen Konkurrenten, das garantiere ich dir. Aber nicht jetzt. Du bist noch nicht so weit.«

»Das hast ja wohl nicht du zu entscheiden.«

Das Lächeln erlosch.

»Ich mein’s nur gut. Wieso sollten wir Feinde sein …«

Hartmann stand auf und wandte sich zum Gehen. Poul Bremer vertrat ihm den Weg. Er war ein stattlicher Mann, noch fit. In jungen Jahren, so erzählte man sich, habe er sich mit brutalen Mitteln Unterstützung verschafft. Keiner wusste, ob das stimmte. Keiner wagte zu fragen.

»Troels.«

»Du sitzt schon zu lange auf deinem Stuhl«, sagte Hartmann schroff. »Tritt ohne Aufhebens ab. Mit Würde. Vielleicht finde ich irgendwo einen Job für dich.«

Der alte Mann sah ihn belustigt an.

»Macht dich ein einziges kleines Versprechen von der Zentrumspartei so zuversichtlich? Ich bitte dich. Die sind die Haustiere. Eller, die fette Schlampe, die lutscht doch jedem den Schwanz und lässt ihn dann auf sich pissen. Wenn sie einen Unterausschuss dafür kriegt. Trotzdem …« Er rückte seine goldenen Manschettenknöpfe gerade.

»Die wissen, wo ihr Platz ist. Ein kluger Politiker weiß das.«

Er nahm das Buch und hielt es Hartmann hin. »Lies es. Da kannst du was lernen. Niemand will, dass er in Stücke gerissen wird und die Leute sich dran weiden. Solche Übergänge müssen gemanagt werden. Leise. Effizient. Mit …«

»Du wirst verlieren«, unterbrach ihn Hartmann.

Der alte Mann lachte in sich hinein.

»Armer Troels. Auf den Plakaten wirkst du so eindrucksvoll, aber in natura …«

Er berührte das Revers von Hartmanns Seidenanzug.

»Was ist da drunter, frag ich mich. Weißt du das überhaupt selbst?«

Noch ehe sie den Motor abgestellt hatte, war Meyer schon draußen und zeigte einer Frau, die gerade etwas in den Kofferraum eines Kombis packte, seinen Dienstausweis.

Rot.

Alles hier war leuchtend rot. Die Arbeiter in ihren Latzhosen. Die Transporter. Selbst ein blankgeputztes Christiania-Dreirad mit einem Kasten vorn, um darin Kinder in den Kindergarten zu fahren, Einkäufe zu transportieren oder einen gehfaulen Hund herumzukutschieren. Alles in derselben Farbe, auf allem der Name Birk Larsen.

Lund folgte Meyer, sah sich um und hörte ihm mit halbem Ohr zu. Zwei Schiebetüren führten in einen Raum, der Lagerhalle und Garage in einem war. In der Ecke, hinter Kisten, Kasten und Geräten, ein Büro mit Glasfront, ganz am Ende eine Treppe mit einem »Privat«-Schild. Offenbar wohnte Birk Larsen über seinem Arbeitsplatz.

»Wo finde ich Theis Birk Larsen?«, fragte Meyer.

»Mein Mann ist bei der Arbeit. Und ich muss jetzt zum Steuerberater.«

Eine Frau in den Vierzigern, schick, gutaussehend, kastanienbraunes Haar, eine Spur gepflegter als Lunds. Sie trug einen beigen Gabardinemantel und wirkte gestresst, mit den Gedanken woanders. Kinder, dachte Lund. Unverkennbar. Und sie mochte die Polizei nicht. Wer mochte die schon?

»Wohnen Sie hier?«, fragte Lund.

»Ja.«

»Ist er da oben?«

Die Frau ging in die Garage zurück.

»Kommen Sie wegen der Vans? Wir sind eine Spedition. Da stehen die schon mal im Weg.«

»Nein, darum geht’s nicht.« Lund folgte ihr ein paar Schritte. Noch mehr Rot, noch mehr rote Arbeitskleidung. Kräftige Männer wuchteten Kisten herum, checkten Klemmbretter, musterten Lund von oben bis unten. »Wir wollen nur wissen, was er am Wochenende gemacht hat.«

»Wir waren am Meer. Mit unseren beiden Jungs. Von Freitag bis Sonntag. Hatten ein Ferienhaus gemietet. Warum?«

Planen und Seile. Holzkisten und Paletten. Lund fragte sich, was sie als Nicht-ganz-Polizistin in Schweden vorfinden würde. Darüber hatte sie noch gar nicht richtig nachgedacht. Bengt wollte nach Schweden. Und sie wollte mit.

»Ist er vielleicht noch mal in die Stadt gefahren, weil er was Dringendes zu erledigen hatte?«, fragte Meyer.

Die Frau griff nach einem Aktenordner. Sie schien genervt.

»Nein, ist er nicht. Das war unser erstes freies Wochenende in zwei Jahren. Wieso sollte er?«

Ein unaufgeräumtes Büro. Überall Papierkram. Große Firmen arbeiteten anders. Die hatten Systeme. Organisation. Geld. Lund ging hinaus und schaute in den Kofferraum. Unterlagen und Aktenordner. Kinderspielzeug. Ein kleiner Fußball, ganz ähnlich wie der, den Meyer ins Büro mitgebracht hatte. Ein ramponiertes Nintendo. Sie schlenderte in das Büro zurück.

»Was hat er gemacht, als Sie nach Hause gekommen sind?«, fragte Meyer.

»Wir sind schlafen gegangen.«

»Da sind Sie sich sicher?«

Sie lachte.

»Ja, bin ich.«

Lund wanderte unterdessen in dem Büro umher, sah sich das Chaos an, hielt zwischen all den Rechnungen und Quittungen nach etwas Persönlichem Ausschau.

»Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie Theis da anhängen wollen … ist mir auch egal«, sagte die Frau. »Wir waren am Meer. Dann sind wir zurückgekommen. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«

Meyer schnaubte, warf Lund einen Blick zu.

»Gut. Vielleicht kommen wir ein andermal wieder.«

Er ging hinaus und zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich gegen einen der roten Transporter und schaute zum fahlen Himmel auf. An der hinteren Wand des Büros, hinter ramponierten, altmodischen Ablagekörben, einige Fotos. Ein hübsches junges Mädchen, lächelnd, die Arme um zwei kleine Jungen gelegt. Dasselbe Mädchen in Nahaufnahme, blonde Ringellocken, wache Augen, ein bisschen zu viel Make-up. Um älter zu wirken.

Lund holte ihre Nikotinkaugummis hervor und steckte sich einen in den Mund.

»Sie haben eine Tochter?«, fragte sie, den Blick noch auf das Mädchen gerichtet, das gewinnende Lächeln. Auf beide Fotos, allein, zu alt, und mit den Jungen, die große Schwester.

Die Mutter ging zur Tür. Blieb stehen. Drehte sich um, sah Lund an und sagte leise: »Ja. Und zwei Jungs. Sechs und sieben.«

»Leiht sie sich manchmal den Videothekausweis von ihrem Vater?«

Birk Larsens Frau sah plötzlich anders aus. Das Gesicht schlaff, gealtert. Der Mund offen. Die Augenlider zuckend, als führten sie ein Eigenleben.

»Schon möglich. Warum?«

»War sie heute Nacht zu Hause?«

Meyer war zurückgekommen und hörte zu.

Die Frau legte ihre Papiere ab. Sie schien beunruhigt, erschrocken.

»Nanna war übers Wochenende bei einer Freundin. Lisa. Ich dachte …«

Ihre Hand wanderte zu ihrem kastanienbraunen Haar hinauf, ohne Grund. »Ich dachte, sie ruft vielleicht an. Hat sie aber nicht.«

Lund konnte die Augen nicht von den Fotos lösen, dem Gesicht, strahlend, sorglos in die Kamera blickend.

»Sie sollten sie anrufen. Jetzt.«

Das Gymnasium Frederiksholm im Stadtzentrum. Wo das Geld war. Nicht in Vesterbro. Große Pause. Lisa Rasmussen rief noch einmal an.

»Hier ist Nanna. Ich mach gerade Hausaufgaben. Hinterlasst mir eine Nachricht. Ciao!«

Lisa Rasmussen holte tief Luft und sagte dann: »Nanna, bitte ruf zurück.«

Bescheuert, dachte sie. Dreimal hatte sie an diesem Morgen dieselbe Nachricht auf Nannas Mailbox gesprochen. Jetzt saß sie im Unterricht, und Rama, der Lehrer, sprach über Bürgerrecht und die bevorstehenden Wahlen. Niemand wusste, wo Nanna war. Niemand hatte sie mehr gesehen seit der Halloween-Party am Freitag in der Aula der Schule.

»Heute«, sagte Rama, »habt ihr die Möglichkeit herauszufinden, wem ihr eure Stimme geben wollt.«

Ein Foto auf dem Whiteboard. Das Halbrund der Stühle im Rathaussaal. Drei Politiker, ein gutaussehender, ein alter Mann, eine blasiert wirkende, dicke Frau. Lisa scherte das alles nicht. Von neuem holte sie ihr Handy hervor und tippte eine Nachricht. Nanna, wo steckst du, verdammt nochmal?

»Wir haben das Glück, in einem Land zu leben, in dem wir das Recht haben, unsere Stimme abzugeben«, fuhr der Lehrer fort. »Über unsere Zukunft zu entscheiden. Unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.«

Er war um die dreißig, irgendwo aus dem Nahen Osten, was man ihm aber nicht anhörte. Einige der Mädchen standen auf ihn. Groß, attraktiv. Gute Figur, coole Hemden und Hosen. Immer hilfsbereit. Hatte immer Zeit für die Schüler. Lisa mochte Ausländer nicht besonders. Auch nicht, wenn sie lächelten und gut aussahen.

»Dann lasst mich einmal hören, welche Fragen ihr für das Bürgermeisterduell vorbereitet habt«, sagte Rama.

Die Klasse fast vollzählig, die anderen schienen interessiert.

»Lisa?« Natürlich. »Deine drei Fragen. Hast du die in deinem Handy?«

»Nein.«

Sie hörte sich an wie ein bockiges Kind, und das wusste sie auch. Rama legte abwartend den Kopf schräg.

»Ich hab sie vergessen. Ich hab …«

Die Tür ging auf, und die Direktorin kam herein. Die furchteinflößende Koch, eine untersetzte Frau mittleren Alters, die Deutsch unterrichtet hatte, bevor sie zur Schulleiterin aufgestiegen war.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Ist Nanna Birk Larsen anwesend?«

Keine Antwort.

Sie ging nach vorn.

»Hat jemand von euch Nanna heute gesehen?«

Nichts. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Lehrer. Lisa wusste, was als Nächstes kommen würde. Gleich darauf stand sie mit den beiden draußen auf dem Flur. Koch sah sie aus ihren schwarzen Augen an und fragte gebieterisch: »Wo ist Nanna? Sie wird von der Polizei gesucht.«

»Ich hab Nanna seit Freitag nicht mehr gesehen. Wieso fragen Sie mich?«

Koch bedachte sie mit ihrem Du-lügst-Blick.

»Ihre Mutter hat der Polizei gesagt, sie hätte das Wochenende bei dir verbracht.«

Lisa Rasmussen lachte. Sie und Nanna wurden manchmal für Schwestern gehalten. Gleich groß, gleich angezogen, beide blond, aber Nanna war hübscher. Und Lisa war fülliger um die Taille.

»Was? Sie war nicht bei mir.«

»Du weißt also nicht, wo sie ist?«, fragte Rama ein wenig sanfter.

»Nein! Woher soll ich das wissen?«

»Wenn du was von ihr hörst, sag ihr, sie soll zu Hause anrufen«, sagte Koch. »Es ist wichtig.« Sie warf Rama einen Blick zu. »Ihr Klassenzimmer wird für das Duell gebraucht. Sehen Sie zu, dass Sie um elf draußen sind.«

Als sie gegangen war, drehte Rama sich um, fasste Lisa Rasmussen am Arm und sagte: »Wenn du irgendwas darüber weißt, wo Nanna ist, musst du’s sagen.«

»Sie dürfen mich nicht anfassen.«

»Entschuldige.« Er nahm seine Hand fort. »Wenn du weißt …«

»Ich weiß gar nichts. Lassen Sie mich in Ruhe.«

Lund und Meyer in Birk Larsens Wohnung. Die gleiche Unordnung wie im Büro unten, aber auf angenehme Art. Fotos, Kinderzeichnungen, Topfpflanzen und Blumen. Vasen und Urlaubssouvenirs. Liebevoll hergerichtet, dachte Lund. Sie selbst schaffte das einfach nicht. Die Frau, von der sie inzwischen wusste, dass es Pernille Birk Larsen war, bemühte sich, eine gute Mutter zu sein. Mit Erfolg, soweit Lund das beurteilen konnte.

»Sie ist nicht in der Schule«, sagte sie.

Pernille trug noch immer ihren Regenmantel, als sei das alles gar nicht wahr.

»Dann ist sie bei Lisa, ihrer Freundin. Lisa hat mit ein paar Jungs zusammen eine Wohnung. Nanna ist ständig dort.«

»Lisa ist in der Schule. Und sie hat gesagt, Nanna sei am Wochenende nicht bei ihr gewesen.«

Pernilles Mund stand offen. Ihre Augen waren geweitet, leer. An der Küchenwand die gleichen Fotos wie im Büro: Nanna mit den Jungen, Nanna allein, schön und zu alt für neunzehn. An eine Korktafel gepinnt, neben einem Plan für die Sportveranstaltungen der Schule. Die Wohnung atmete eine Atmosphäre ungezwungener, behaglicher Häuslichkeit. Wie Hundegeruch, vom Besitzer nicht mehr, von Außenstehenden sofort wahrgenommen.

»Aber wo ist sie dann? Was ist passiert?«, fragte Pernille.

»Wahrscheinlich gar nichts. Wir tun auf jeden Fall alles, um sie zu finden.«

Lund ging in den engen Flur hinaus und rief im Präsidium an. Meyer nahm Pernille beiseite und befragte sie zu den Fotos. Nachdem sie zu Buchard durchgestellt worden war, sagte Lund: »Ich brauche alle verfügbaren Leute.« Der alte Mann stellte keine Fragen, hörte nur zu. »Sag ihnen, wir suchen nach einer verschwundenen Gymnasiastin. Nanna Birk Larsen, neunzehn Jahre alt. Wird seit Freitag vermisst. Schick jemanden her wegen der Fotos.«

»Und ihr?«

»Wir fahren zu ihrer Schule.«

Hartmann und Rie Skovgaard mussten ein leeres Klassenzimmer herrichten. Sie ging noch einmal die Zahlen des Bildungsetats durch, er tigerte nervös auf und ab. Schließlich klappte sie den Laptop zu, trat zu ihm und überprüfte seine Kleidung. Blaues Hemd, keine Krawatte. Er sah gut aus. Trotzdem fingerte sie an seinem Kragen herum, kam ihm so nahe, dass er sie festhalten musste. Seine Hände glitten über ihren Rücken. Er zog sie an sich, küsste sie. Ein plötzliches Verlangen. Unerwartet. Sie wollte lachen. Er wollte mehr.

»Lass uns zusammenziehen«, sagte er und schob sie gegen das Pult. Sie ließ sich zurückfallen, schlang leise lachend ihre langen Beine um ihn.

»Hast du denn Zeit dafür?«

»Für dich immer.«

»Nach der Wahl, ja?«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Der Politiker war wieder da.

»Warum diese Heimlichtuerei?«

»Weil ich einen Job zu machen habe, Troels. Und du auch. Komplikationen können wir jetzt nicht gebrauchen.« Ihre Stimme eine Spur tiefer. Die klugen Augen blitzend. »Und wir wollen doch Morten nicht eifersüchtig machen.«

»Morten ist der erfahrenste politische Berater, den wir haben. Der weiß schon, was er tut.«

»Und ich nicht?«

»Das hab ich nicht gesagt. Aber ich möchte jetzt nicht über Morten sprechen …«

Ihre Hände wieder an seinem Jackett.

»Darum kümmern wir uns, wenn du die Wahl gewonnen hast, ja?«

Hartmann umfasste sie von neuem.

Die Tür ging auf. Rektorin Koch schaute herein. Sie schien peinlich berührt.

»Der Oberbürgermeister ist da«, sagte sie. Ein komplizenhaftes Lächeln. »Wenn Sie dann so weit wären …«

Hartmann knöpfte sein Jackett zu und ging hinaus.

Poul Bremer saß breit lächelnd unter dem Poster einer halbnackten Popsängerin. Skovgaard ließ die beiden allein und begann den Raum zu inspizieren.

»Der Zentrumspartei gefallen deine Ideen hoffentlich, Troels. Und viele sind ja auch gut. Wie die von deinem Vater.«

»Ach ja?«

»Sie haben dieselbe Kraft, dieselbe Energie. Denselben Optimismus.«

»Er hatte Überzeugungen«, sagte Hartmann. »Er hat das vertreten, woran er geglaubt hat. Nicht das, was ihm vielleicht ein paar Stimmen gebracht hätte.«

Bremer nickte.

»Zu schade, dass er’s nicht geschafft hat, es durchzusetzen.«

»Na, ich werde an ihn denken. Wenn ich deinen Job habe.«

»Den kriegst du auch. Irgendwann.« Bremer zog ein Taschentuch hervor und putzte seine Brille. »Du bist robuster als er. Dein Vater war irgendwie … Wie soll ich sagen?« Die Brille kehrte an ihren Platz zurück, und die kalten Augen musterten Hartmann von oben bis unten. »Zerbrechlich. Wie Porzellan.«

Bremer hob die rechte Hand. Eine große Faust. Die Faust eines Kämpfers, allem Anschein zum Trotz.

»Er konnte jederzeit zerbrechen.«

Er schnippte mit den kräftigen Fingern, so laut, dass es von den abblätternden Wänden widerzuhallen schien.

»Hätte ich ihn nicht zerbrochen, hätte er es selbst getan. Glaub mir. Im Grunde hab ich ihm einen Gefallen getan. Man sollte nicht zu lange seinen Illusionen nachhängen.«

»Wir müssen zu dem Duell«, sagte Hartmann. »Es wird Zeit …«

Als sie sich zum Gehen wandten, kam ihnen Rektorin Koch entgegen. Sie wirkte besorgt. Eine Frau war bei ihr, in einer blauen Regenjacke, unter der ein merkwürdiger schwarz-weiß gemusterter Pullover hervorsah. Das Haar zurückgekämmt, ein Gesicht wie eine Jugendliche, die keine Zeit hat, an Jungs zu denken. Eine Frau, die nichts auf ihr Äußeres gab. Seltsamerweise, denn sie war erstaunlich attraktiv. Sie sah nach vorn, auf die beiden Männer, nirgendwohin sonst. Sie hatte sehr große Augen, einen starren Blick. Aus irgendeinem Grund war Hartmann nicht überrascht, als sie einen Polizeiausweis zückte. Vicekriminalkommissær Sarah Lund stand darauf. Bremer war stehengeblieben, als er sie näher kommen sah.

»Sie müssen das Duell abblasen«, sagte Lund.

»Abblasen? Wieso?«

»Ein Mädchen wird vermisst. Ich muss mit Leuten hier sprechen. Mitschülern. Lehrern. Ich muss …«

Rektorin Koch führte sie in einen Nebenraum, weg aus dem Flur. Bremer blieb, wo er war. Hartmann hörte sich an, was die Polizistin zu sagen hatte.

»Ich soll das Duell abblasen, weil eine Schülerin blaumacht?«

»Es ist wichtig, dass ich mit allen spreche«, beharrte Lund.

»Mit allen?«

»Mit allen, mit denen ich sprechen möchte.«

Sie stand reglos da. Sah ihn unverwandt an. Nichts sonst.

»Wir könnten das Duell um eine Stunde verschieben«, schlug Hartmann vor.

»Ausgeschlossen«, schaltete sich Bremer ein, der ihnen gefolgt war. »Ich hab Anschlusstermine. Es war deine Einladung, Troels. Wenn du’s nicht schaffst …«

Hartmann trat einen Schritt auf Lund zu und fragte: »Wie ernst ist es?«

»Wir hoffen, dass nichts weiter passiert ist.«

»Ich hab gefragt, wie ernst es ist.«

»Das versuchen wir gerade herauszufinden.« Lund stemmte die Hände in die Hüften und wartete auf eine Antwort. »Also …«

Sie sah sich prüfend um.

»Also sind wir uns einig«, sagte sie.

Bremer holte sein Handy hervor, las die Nachrichten.

»Ruf meine Sekretärin an. Ich versuch dich irgendwo dazwischenzuschieben. Ach, übrigens!« Plötzlich ganz leutselig. »Ich habe gute Nachrichten für deine Schulen in der Innenstadt. Der Krankenstand dort war um zwanzig Prozent gestiegen.« Er lachte. »Das kann doch nicht so bleiben, oder? Deswegen habe ich Mittel für zusätzliche Ausstattung bewilligt. Mehr Computer. Kinder lieben so was ja. Damit dürfte das Problem aus der Welt sein.«

Hartmann starrte ihn an, sprachlos. Bremer zuckte die Schultern.

»Das wollte ich dir eigentlich da drin sagen. Aber so … Wir geben gleich eine Pressemitteilung raus. Gute Neuigkeiten, nicht wahr? Das hörst du sicher gern.«

Längeres Schweigen.

»Ich sehe, du freust dich«, sagte Bremer schließlich, winkte und ging davon.

Halb drei. Sie waren noch in dem Raum, in dem das Duell hätte stattfinden sollen, und kamen nicht weiter. Nanna war am Freitag auf der Halloween-Party in der Aula der Schule gewesen, mit einem schwarzen Hexenhut und einer knallblauen Perücke. Seitdem hatte sie niemand mehr gesehen. Jetzt war der Lehrer an der Reihe.

»Wie ist Nanna so?«

Alle nannten ihn Rama. Er stach hervor, nicht nur wegen seines orientalischen Aussehens. Er war einer von Troels Hartmanns Identifikationsfiguren, Teil einer Initiative zur besseren Integration von Migrantengruppen in die Gesellschaft. Wortgewandt, intelligent, überzeugend.

»Ein gescheites Mädchen«, antwortete er. »Energiegeladen. Will immer irgendwas tun.«

»Ich hab ein Foto von ihr gesehen. Sie wirkt älter als neunzehn.«

Er nickte.

»Wollen sie das nicht alle? Können’s kaum erwarten, erwachsen zu werden. Oder sich wenigstens so zu fühlen. Nanna ist in den meisten Fächern Klassenbeste. Sehr intelligent. Was sie aber nicht hindert, das Gleiche zu wollen wie die anderen.«

»Nämlich?«

Der Lehrer sah sie an.

»Es sind Teenager. Fragen Sie das im Ernst?«

»Was war auf der Halloween-Party?«

»Alle verkleidet. Eine Band. Gespenster und Kürbisse.«

»Hat sie einen Freund?«

»Das müssen Sie Lisa fragen.«

»Ich frage aber Sie.«

Er wirkte etwas verlegen.

»Als Lehrer hält man sich aus solchen Dingen besser raus.«

Lund verließ den Raum, hielt das nächstbeste Mädchen an, bat sie, sich zu setzen, und redete so lange mit ihr, bis sie die Antwort hatte.

Dann ging sie zu dem Lehrer zurück.

»Oliver Schandorff. Ist er hier?«

»Nein.«

»Wussten Sie, dass Oliver ihr Freund war?«

»Wie gesagt: Da wahren wir besser Distanz.«

Sie wartete.

»Ich bin ihr Lehrer. Nicht ihr Aufpasser. Und auch nicht ihr Vater.«

Lund sah auf die Uhr. Die Befragungen hatten über drei Stunden gedauert, und mehr war nicht dabei herausgekommen. Mehr hatte keiner. Auch Meyer, mit einem Suchtrupp in den Wiesen und Wäldern draußen beim Flughafen, hatte nichts gefunden.

»Shit.«

»Tut mir leid«, sagte der Lehrer.

»Ich hab nicht Sie gemeint.«

Sondern mich selbst, dachte sie. Das alles hätte sie wahrscheinlich innerhalb weniger Minuten auch von Pernille erfahren können, wenn sie es versucht hätte. Warum fielen ihr die besten Fragen immer erst ein, wenn sie etwas Greifbares – Menschen, Beweise, ein Verbrechen – vor sich hatte?

Zweihundertfünfunddreißig dreigeschossige Häuser bildeten die kleine Siedlung Humleby, vier Straßen von Birk Larsen entfernt. Schiefergrau und ein dunkles Blaugrau, im neunzehnten Jahrhundert für Arbeiter der nahe gelegenen Werft erbaut. Dann hatte die Carlsberg-Brauerei expandiert, und sie waren in die Hände von Männern übergegangen, die Bier brauten. Jetzt gelangten sie nach und nach auf den Markt, begehrte Immobilien, selbst wenn sie stark renovierungsbedürftig waren. Theis Birk Larsen hatte das Preiswerteste erworben, das er bekommen konnte. Hausbesetzer waren darin gewesen und hatten ihr Gerümpel zurückgelassen, Matratzen und billige Möbel. Es musste ausgeräumt und vieles musste renoviert werden. Das meiste wollte er selbst machen, in aller Stille, ohne Pernille etwas davon zu sagen, bis es fertig war und sie aus der kleinen Wohnung über der Garage herauskonnten. Vagn Skærbæk half ihm. Die beiden kannten sich seit Jugendzeiten, hatten viel miteinander durchgemacht, einschließlich einiger Auftritte vor Gericht. Für Birk Larsen war Vagn inzwischen so etwas wie ein jüngerer Bruder, ein Onkel für die Kinder. Langjähriger Angestellter der Firma, zuverlässig, vertrauenswürdig, lieb zu Anton und Emil. Ein Einzelgänger, der kein eigenes Leben zu haben schien, wenn er die rote Montur ablegte.

»Pernille sucht dich«, sagte Skærbæk und steckte sein Handy ein.

»Pernille darf nichts von dem Haus erfahren. Das weißt du ja. Kein Wort, bis ich’s sage.«

»Sie telefoniert rum und fragt nach dir.«

Ein Gerüst stand an dem Haus, die verrottenden Fenster waren verhängt. Birk Larsen bezahlte seine Leute dafür, dass sie neue Dielen, Regenrinnen und Rohrleitungen heranschafften, und hatte ihnen das Versprechen abgenommen, den Mund zu halten, wenn Pernille in der Nähe war.

»Die Jungs kriegen jeder ein eigenes Zimmer«, sagte er und betrachtete das graue Haus. »Und siehst du das Fenster da ganz oben?«

Skærbæk nickte.

»Da zieht Nanna ein. Sie bekommt das ganze Dachgeschoss, mit eigenem Eingang und so. Pernille kriegt eine neue Küche. Und ich …« Er lachte. »… ein bisschen Ruhe und Frieden.«

»Das kostet doch ein Vermögen, Theis.«

Birk Larsen schob die Hände in die Taschen seiner roten Latzhose.

»Das schaff ich schon.«

»Vielleicht kann ich helfen.«

»Und wie?«

Skærbæk war ein schmächtiger, nervöser Mann. Er trat von einem Fuß auf den anderen, noch unruhiger als sonst.

»Ich hab da dreißig Fernseher an der Hand, fabrikneu, vom Feinsten. Wir müssen nur …«

»Hast du Schulden? Ist es das?«

»Hör mal. Die sind schon zur Hälfte verkauft … Wir können halbe-halbe machen …«

Birk Larsen holte ein Banknotenbündel aus der Tasche und zog ein paar Scheine heraus.

»Wir müssen nur einen Gabelstapler ausleihen …«

»Hier.« Er faltete die Scheine zusammen und drückte sie Skærbæk in die Hand. »Vergiss die Fernseher. Wir sind keine Teenager mehr, Vagn. Ich habe Familie. Eine Firma.« Skærbæk behielt das Geld in der Hand. »Zu beiden gehörst du dazu. Und das bleibt auch so.«

Skærbæk schaute auf die Scheine. Wenn er nur irgendwann einmal diese idiotische silberne Halskette verlieren würde, dachte Birk Larsen.

»Was meinst du, wie das für die Jungs wäre, wenn sie ihren Onkel Vagn im Knast besuchen müssten?«

»Das brauchst du nicht, wirklich …«, begann Skærbæk.

Doch Theis Birk Larsen hörte nicht mehr zu. Pernille kam auf dem Christiania-Rad angefahren, in einem Tempo, dass die glänzende rote Box auf und ab hüpfte. Er vergaß das geheime Haus, die Bauarbeiten und die Frage, woher das Geld dafür kommen sollte. Sie sah furchtbar aus. Pernille stieg ab, trat zu ihm und packte ihn am Revers seiner schwarzen Lederjacke.

»Nanna ist verschwunden.« Sie war außer Atem, blass, voller Angst. »Die Polizei hat deinen Videothekausweis gefunden, nicht weit vom Flughafen. Und auch …« Sie hob die Hand an den Mund. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Was?«

»Ihr Top. Das rosarote, geblümte.«

»Mit solchen Tops laufen doch viele herum. Oder?«

Sie sah ihn scharf an.

»Und der Videothekausweis?«

»Haben sie schon mit Lisa gesprochen?«

Vagn Skærbæk hörte zu. Sie sah ihn an und sagte: »Bitte, Vagn.«

»Braucht ihr Hilfe?«

Ein Blick von Birk Larsen, und er ging davon.

»Was ist mit diesem Schwachkopf?«

»Nanna ist nicht mehr mit Oliver zusammen.«

Zornesröte war ihm in die Wangen gestiegen.

»Haben sie mit ihm gesprochen?«

Ein tiefer Atemzug, dann sagte sie: »Das weiß ich nicht.«

Er holte die Autoschlüssel hervor und rief Skærbæk zu: »Bring du Pernille nach Hause. Und das Dreirad.«

Ein Gedanke.

»Warum bist du nicht mit dem Wagen gekommen?«

»Die haben mich nicht gelassen. Ich bin nicht in der Verfassung, haben sie gesagt.«

Theis Birk Larsen legte die mächtigen Arme um seine Frau, hielt sie fest, küsste sie, berührte ihre Wange, sah ihr in die Augen. »Nanna ist nichts passiert«, sagte er. »Ich geh sie suchen. Fahr nach Hause und warte dort auf uns.«

Er stieg in den Van und fuhr los.

»Ich setz dich bei Oma ab. Den Schlüssel hast du, ja?«

Der Himmel hatte sich zugezogen, und der Tag endete in Nebel und Nieselregen. Lund fuhr nach Østerbro hinaus, auf dem Beifahrersitz ihr zwölfjähriger Sohn Mark.

»Soll das heißen, wir ziehen doch nicht nach Schweden?«

»Doch, ich muss nur noch was erledigen.«

»Ich auch.«

Lund schaute ihn an. Doch im Kopf sah sie nur das plattgedrückte gelbe Gras, das blutverschmierte Top eines jungen Mädchens. Und das Foto von Nanna Birk Larsen, lächelnd, die ältere Schwester, stolz auf ihre kleinen Brüder. Zu erwachsen wirkend mit dem starken Make-up. Sie hatte keine Ahnung, wovon Mark redete.

»Das hab ich dir doch gesagt, Mama. Der Geburtstag von Magnus.«

»Mark, wir fliegen heute Abend. Das ist längst beschlossen.«

Er stöhnte genervt und schaute aus dem regengestreiften Fenster.

»Siehst aus wie ein mumpskranker Elch«, sagte sie.

Sie lachte. Er nicht.

»Mark, es wird dir bestimmt gefallen in Schweden. Die Schule soll richtig gut sein. Und ich hab mehr Zeit für dich. Dann können wir …«

»Er ist nicht mein Vater.«

Lunds Telefon klingelte. Sie sah auf die Nummer und klemmte sich den Kopfhörer ans Ohr.

»Nein, natürlich nicht. Aber er hat einen neuen Eishockeyclub für dich gefunden.«

»Ich hab schon einen Eishockeyclub.«

»Im FCK bist du immer der Kleinste. Das willst du doch nicht mehr.«

Schweigen.

»Oder?«

»Er heißt KSF.«

»Ja«, sagte sie ins Telefon.

»KSF«, wiederholte Mark.

»Ich bin unterwegs.«

»K … S … F«, sagte Mark ganz langsam.

»Ja.«

»Du sagst es jedes Mal falsch.«

»So?«

»Ja.«

Es war jetzt nicht mehr weit, und sie war doppelt froh darüber. Sie wollte mit Meyer sprechen. Und Mark war … im Weg.

»Es dauert jetzt nicht mehr lange, dann fahren wir zum Flughafen. Du hast den Schlüssel, ja?«

Unter einem gleichförmig trüben Himmel schritten zwanzig blau gekleidete Beamte in einer Reihe langsam über die gelbe Fläche und stocherten mit rot-weißen Stäben in Schlamm und Grasbüscheln. Suchhunde schnupperten an der feuchten Erde. Lund sah ihnen einen Moment lang zu, dann ging sie in den Wald. Ein zweiter Trupp arbeitete sich zwischen den flechtenbewachsenen Bäumen durch, untersuchte den Boden, verteilte Spurenkarten, folgte anderen Hunden. Meyer in seiner Polizeijacke war bis auf die Haut durchnässt.

»Wie sicher ist die Spur?«, fragte sie.

»Ziemlich sicher. Die Hunde haben sie von der Fundstelle des Tops bis hierher verfolgt.« Er sah auf seine Notizen und zeigte auf ein zehn Meter entferntes Dickicht. »Da waren auch ein paar blonde Haare, an einem Busch.«

»Wo führt die Spur hin?«

»Genau hierher. Wo wir gerade stehen.« Meyer deutete mit der Landkarte darauf. Ein weiterer Blick auf seine Notizen. »Sie ist gerannt. Im Zickzack durch den ganzen Wald. Und hier hat sie angehalten.«

Lund sah ihm über die Schulter.

»Was ist hier in der Nähe?«

»Ein Waldweg. Könnte sein, dass ein Auto sie da aufgelesen hat.«

»Was ist mit ihrem Handy?«

»Seit Freitagabend ausgeschaltet.« Er mochte so naheliegende Fragen nicht. »Hör mal, Lund, wir haben alles gründlich abgesucht. Zweimal. Hier ist sie nicht. Wir verschwenden nur unsere Zeit.«

Sie wandte sich ab und ging davon, ließ den Blick wieder über das Marschland und das gelbe Gras schweifen.

»Hallo?«, sagte Meyer mit dem trockenen Sarkasmus, den sie inzwischen an ihm kannte. »Bin ich unsichtbar, oder was?«

Sie kam zurück. »Verteilt euch«, sagte sie. »Sucht alles noch einmal ab.«

»Was? Hast du mir überhaupt zugehört?«