Das Versprechen der Künstlichen Intelligenz - Hartmut Hirsch-Kreinsen - E-Book

Das Versprechen der Künstlichen Intelligenz E-Book

Hartmut Hirsch-Kreinsen

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Beschreibung

Künstliche Intelligenz wird in der Öffentlichkeit aktuell heiß diskutiert. Die Technologie birgt große gesellschaftliche Veränderungen, vor allem wird sie als Schlüssel betrachtet, gegenwärtige ökonomische und gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Hartmut Hirsch-Kreinsen arbeitet zukünftige Entwicklungsperspektiven Künstlicher Intelligenz heraus und geht der Fragestellung nach, welche Interessen und Akteure ihre schnelle Entwicklung insbesondere in den letzten Jahren bestimmt haben. Welche Versprechungen werden an die »Promising Technology« geknüpft und können sie eingelöst werden? Deutlich wird: Die neue Technik fordert den Wandel grundlegender Strukturen des deutschen industriell geprägten Innovationssystems heraus und regt eine Neuorientierung der Innovationspolitik an.

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Hartmut Hirsch-Kreinsen

Das Versprechen der Künstlichen Intelligenz

Gesellschaftliche Dynamik einer Schlüsseltechnologie

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Künstliche Intelligenz wird in der Öffentlichkeit aktuell heiß diskutiert. Die Technologie birgt große gesellschaftliche Veränderungen, vor allem wird sie als Schlüssel betrachtet, gegenwärtige ökonomische und gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Hartmut Hirsch-Kreinsen arbeitet zukünftige Entwicklungsperspektiven Künstlicher Intelligenz heraus und geht der Fragestellung nach, welche Interessen und Akteur:innen ihre schnelle Entwicklung insbesondere in den letzten Jahren bestimmt haben. Welche Versprechungen werden an die »Promising Technology« geknüpft und können sie eingelöst werden? Deutlich wird: Die neue Technik fordert den Wandel grundlegender Strukturen des deutschen industriell geprägten Innovationssystems heraus und regt eine Neuorientierung der Innovationspolitik an.

Vita

Hartmut Hirsch-Kreinsen, Prof. i.R. Dr., ist Research Fellow an der Sozialforschungsstelle Dortmund.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Erwartungen und KI-Dynamik

Technologieversprechen

Fragestellung

Methodische Basis

Zum Gang der Argumentation

Teil I: Konzept und Begriffe

1.

Promising Technology

1.1

Leitmotiv und Koordinationsfunktion

Innovationsdynamik

Expectation-Requirement-Cycle

1.2

Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Bedingungen

Gesellschaftliche Voraussetzungen

Rückwirkungen

Innovationssystem

2.

Entwicklungslinien der KI

2.1

KI, ein Sammelbegriff

Informationsverarbeitungs-These

2.2

»Paradigmen« der KI

Symbolische KI

Konnektionistische und neuronale KI

2.3

Maschinelles Lernen

2.4

Weitere Teilbereiche der KI

Agentensysteme

Situiertheit

Embodiment

2.5

Koexistenz verschiedenster Konzepte

Teil II: Dynamik der KI

3.

Frühe Versprechungen in den 1970ern

3.1

Beginn in den USA

»Geburtsstunde der KI«

Selektiver Beginn in Europa

Frühe Skepsis und Kritik

3.2

Bundesrepublik: KI in der wissenschaftlichen Nische

Vorläufer und später Beginn

Ein »Invisible College«

Lockere Vernetzung

Erstes Technologieversprechen

Beginnende Institutionalisierung

4.

Jenseits der Nische – Kommerzieller Aufbruch in den 1980ern

4.1

Erweiterung des Technologieversprechens

4.2

Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Unternehmen

Wissenschaft

Forschungspolitik

Unternehmen

4.3

Weitere Institutionalisierung der KI

5.

Krise und Konsolidierung ab Ende der 1980er

5.1

Krisenursachen

Überzogene Versprechungen und Anwendungsgrenzen

Erosion der KI-Community

5.2

Anschließend: Konsolidierung

Verhaltene Perspektiven

Wiederentdeckung der konnektionistischen KI

Anwendungsorientierung

»KI in der Champions League«?

6.

Dynamik ab den 2010ern

6.1

»Big Bang« der KI

6.2

Ein gesellschaftlich orientiertes Technologieversprechen

KI als »Zweite Welle« von Industrie 4.0

Ökonomische Prognosen

Positive gesellschaftliche Visionen

Aber auch: politische Herausforderungen

6.3

KI-Community als »Driving Force«

Koordination durch acatech

6.4

Politik: Agenda Setting, Koordination und Förderung

Später offizieller Einstieg

Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung

Nur begrenzte Fördervolumina

Förderaktivitäten auf vielen Ebenen

Ansätze von Normierung und Regulation

6.5

Wissenschaft und Unternehmen

Wissenschaft

Unternehmen und kommerzielle Interessen

Wachsende Bedeutung von Start-ups

Wachsende Investitionsvolumina

6.6

Unterstützung durch den öffentlichen Diskurs

Öffentliche Faszination

Kritik und Skepsis

6.7

Widersprüchliche Diffusion

Segmentiertes Anwendungsfeld

Unterschiedlichste Anwendungsfunktionen

7.

Zwischenresümee: Entwicklungsphasen, Akteure und Interessen

Teil III: Perspektiven – Dynamik in Grenzen

8.

Grenzen und Herausforderungen der KI

8.1

Anwendungsprobleme

Schwieriger Wissenstransfer

Fachkräftemangel und Kompetenzengpässe

8.2

Ungewisse ökonomische Effekte

Implementations- und Folgekosten

Datenkosten

Sunk Costs

8.3

Bremsende ökonomische Rahmenbedingungen

Zurückhaltende Investitionsrate

Produktivitätsparadox

»Adaptionsverzögerungen« als Ursache?

8.4

Herausforderung Normierung und Regulation

8.5

Hohe technologische Hürden

Begrenzte Leistungsfähigkeit

Bislang ungelöste Entwicklungsprobleme

9.

Eine europäische und deutsche KI-Variante?

9.1

Technologische Souveränität

9.2

Industrieorientierung

9.3

»Trustworthy AI«

Breit angelegtes KI-Versprechen

Regulationsrahmen

9.4

Impact vertrauenswürdiger KI

Ein politisch getriebener Diskurs

Widersprüche

Langfristiger Impact

9.5

Vertrauenswürdige KI als Alleinstellungsmerkmal?

9.6

Deutsche und Europäische KI im internationalen Vergleich

10.

Längerfristige Perspektiven

10.1

Ein neuer AI-Winter?

10.2

Weitreichende Versprechungen: Artificial General Intelligence

Artificial General Intelligence

10.3

»Veralltäglichung« der KI

Teil IV: KI – ein besonderer Innovationsmodus

11.

Institutioneller Rahmen

11.1

Nationales Innovationssystem

11.2

Industrieorientierung des deutschen Systems

12.

Besonderheiten des KI-Innovationsmodus

12.1

Merkmale des Innovationsmodus

Transdisziplinarität

Wandel der Akteurskonstellation

Agile Unternehmensstrategien

Erweiterte Kompetenzprofile

Fluide Interaktion und Koordination

Erweitertes Verständnis von Innovation

Internationalisierung und Ausdifferenzierung von Innovationsebenen

12.2

Innovationssystem unter Druck

Offenes Ecosystem vs. eingespielte Innovationsketten

Widersprüchliche Akteurskonstellation

Zögerlicher Kompetenzwandel

Internationalisierung versus technologische Souveränität

12.3

Segmentationstendenzen

13.

Innovationspolitik für KI

13.1

KI-orientierte Maßnahmen

Wissenstransfer und Transdisziplinarität

Breites Förderspektrum

Technologieoffenheit

Transparenz und Erklärbarkeit

Soziotechnische Systemgestaltung

»Weg vom traditionellen Forschungsmodell«

13.2

Missionsorientierung der Innovationspolitik

Widersprüche der Steuerung

Grundanforderungen

Zielsetzungen

Neues Rollenverständnis

Teil V: Logik des Technologieversprechens

14.

Anschlussfähige Rhetorik

15.

Vereinfachungen und Kurzschlüsse

15.1

Mehrdeutigkeit und unklare Metaphorik

15.2

Schlüsseltechnologie: ein vager Begriff

Übersehene Anpassungserfordernisse

Anschlussmöglichkeiten

15.3

Verkürztes Innovationsverständnis

Unausweichlichkeit

Technikdeterministische Sicht

15.4

Übersteigerte ökonomische Erwartungen

Empirie freie Vision

Übersehene Nebenfolgen

Negiertes Produktivitätsparadox

15.5

Generalisierung von Einzelfällen

15.6

Legitimationsbeschaffung

16.

Weiterungen: Technikutopie KI

Resümee: Der Mythos der intelligenten Maschine

Literatur

Vorwort

Der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) bezeichnet eine Technologie, mit der seit Jahrzehnten faszinierende gesellschaftliche Zukunftsaussichten verbunden werden und die völlig neue, bislang nicht gekannte ökonomische und soziale Anwendungspotenziale in Aussicht stellt. Auch gegenwärtig stellt die KI immer wieder ihre besondere Leistungsfähigkeit unter Beweis, seien es die immer besser funktionierenden Programme der Spracherkennung, die oftmals sehr hilfreichen Spamfilter für E-Mails, autonom fahrende Autos oder auch Kunst produzierende Neuronale Netze. Spätestens seit den 2010er-Jahren gilt KI daher als eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts, mit deren Hilfe nicht nur weitreichende Produktivitätsfortschritte erreicht, sondern auch die vor uns liegenden ökonomischen, sozialen sowie ökologischen Herausforderungen bewältigt werden sollen. Das Wissen über diese Technologie und die Fähigkeiten, sie anzuwenden, wird als Voraussetzung dafür angesehen, dass nicht nur Deutschland, sondern die gesamte EU in der internationalen Technologiekonkurrenz nicht abgehängt und das erreichte Wohlstandsniveau nicht gefährdet werden. Daher versuchen Deutschland und die EU seit Längerem, durch hohe Investitionen und gezielte innovationspolitische Maßnahmen mit den das Feld der KI dominierenden USA und China gleichzuziehen. Dabei gewinnt der KI-Diskurs zeitweise den Charakter eines Hypes und die damit verknüpften Erwartungen haben geradezu technikutopischen Charakter. Obgleich sich mit der KI zugleich auch vielfältige Befürchtungen, Ängste und geradezu dystopische Perspektiven in Hinblick auf mögliche soziale und ethische Folgen verbinden, ist bis heute die öffentliche Faszination, die von dieser Technologie ausgeht, ungebrochen.

Resümiert man die circa 70-jährige Entwicklungsgeschichte der KI, so kann allerdings keineswegs von einer ungebrochenen Dynamik oder gar einem kontinuierlichen Aufschwung dieser Technologie gesprochen werden. Vielmehr ist der Entwicklungsprozess der KI von Aufschwung- und Krisenphasen gekennzeichnet. Dies betrifft insbesondere die Entwicklung in den USA, teilweise – mit dem bekannten amerikanisch-europäischen Timelag – aber auch die deutsche Situation. Denn die mit der KI verknüpften Visionen erwiesen sich teilweise als überzogen und die mit ihr verknüpften Erwartungen als völlig unrealistisch. Die Enttäuschungen der hoch gespannten Erwartungen hatten daher die Abkehr ursprünglich stark engagierter Akteure, den Verzicht auf weitere Investitionen in die KI-Entwicklung und ein schnelles Nachlassen des politischen und öffentlichen Interesses zur Folge. Insbesondere im letzten Jahrzehnt ist jedoch eine erneute nachhaltige Beschleunigung der KI-Dynamik und ein rasant steigendes gesellschaftliches Interesse an der KI-Thematik unübersehbar.

An dieser Entwicklungsgeschichte setzt die vorliegende Studie an und es werden aus einer technik- und innovationssoziologischen Sicht die gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren dieser Dynamik in den Blick genommen. Die weitverbreitete Auffassung ist, dass die KI-Dynamik hauptsächlich von der jeweils verfügbaren Leistungsfähigkeit der Rechnersysteme und den Grundlagen und Methoden der KI bestimmt wird. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive greift eine solche ausschließlich informatik- und technikzentrierte Begründung jedoch zu kurz. Vielmehr zeigt die Forschung instruktiv, dass Verlauf und Ergebnisse technologischer Innovationen maßgeblich als Resultate sozialer, ökonomischer und politischer Entscheidungen und Einflussfaktoren verstanden werden müssen. Dies gilt ohne Frage auch für die Entwicklung der KI, insbesondere für ihren gegenwärtigen Boom.

Die These der vorliegenden Studie ist daher, dass mit KI ein »Technologieversprechen« verbunden ist, das bei vielen Akteuren Interesse weckt, in der Öffentlichkeit weitreichende Zukunftserwartungen hervorruft und letztlich zu hohen Investitionen und vielfältigen innovationspolitischen Fördermaßnahmen führt. Diese These begründet den »roten Faden« der folgenden Argumentation. Davon ausgehend richtet sich die Analyse zum einen auf das konkrete Verlaufsmuster der Dynamik und die Zukunftsperspektiven der KI, zum Zweiten auf die damit zusammenhängenden Herausforderungen für Innovationsprozesse und Innovationspolitik sowie zum Dritten auf die Wirkungsmechanismen und die Rhetorik des Technologieversprechens selbst.

Diesen Fragen wird in der vorliegenden Studie mit dem Hauptfokus auf die deutsche KI-Entwicklung empirisch nachgegangen. Lediglich am Rande und nur soweit für die vorliegende Analyse erforderlich, werden die »großen« und grundlegenden sowie heftig umstrittenen Fragen des KI-Diskurses angesprochen. Nämlich die weitreichende und bis heute kaum hinreichend zu beantwortende Frage, welche generellen gesellschaftlichen und politischen Folgen die KI nach sich zieht und wie diese zu bewerten sind, dann die Frage nach den bislang kaum geklärten vielfältigen rechtlichen und ethischen Herausforderungen »autonomer« KI-Systeme und schließlich die Frage, inwieweit der Begriff der KI selbst ein Mythos ist. Denn er vermittelt eine Vision, die letztlich daran scheitern muss, dass menschliche Intelligenz und menschliches Bewusstsein grundsätzlich nicht mit formalen Modellen und programmierten Algorithmen erfassbar sind.

Die vorliegende Studie entstand in den Jahren 2021 und 2022 als Expertise zum Thema »Dynamik der Künstlichen Intelligenz«. Sie stand im Kontext des vom BMBF geförderten Projektes »KI – Mensch – Gesellschaft« (KI.Me.Ge.), das bis Ende 2022 am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. (ISF München) durchgeführt wurde.1 Besonders gedankt sei an dieser Stelle den Kollegen*innen des ISF München, namentlich Michael Heinlein, Norbert Huchler und Regina Wittal, für die Kooperation im Rahmen des Projektes KI.Me.Ge. Darüber hinaus sei Thorben Krokowski von der Sozialforschungsstelle der TU Dortmund für seine engagierte Mitarbeit an den durchgeführten Expertengesprächen und seine kenntnisreiche und kritische Begleitung der Expertise besonders gedankt. Ein herzlicher Dank geht auch an Edgar Illert, der das Manuskript und vor allem das Literaturverzeichnis professionell redigiert und schließlich auf einen lesbaren Stand gebracht hat. Weiterhin möchte ich Judith Wilke-Primavesi, der Programmleiterin des Campus Verlags, ausdrücklich für ihr Interesse an der Buchpublikation danken. Schließlich sei Eva Janetzko, wissenschaftliche Lektorin bei Campus, für ihre sehr hilfreiche Beratung und ihr Lektorat gedankt.

Berlin, im Herbst 2022

Hartmut Hirsch-Kreinsen

Einleitung

Dass der Begriff der Digitalisierung nicht nur einen technologischen, sondern auch einen gesellschaftlichen Megatrend bezeichnet, ist weithin unstrittig. Erwartet werden völlig neue und ständig erweiterte Anwendungsmöglichkeiten digitaler Technologien und als Folge wird mit einem geradezu disruptiven gesellschaftlichen Wandel gerechnet. Unstrittig ist, dass in den letzten Jahren ein tiefgreifender Entwicklungsschub digitaler Technologien Platz gegriffen hat. Gründe hierfür sind die dramatische Steigerung der Leistungsfähigkeit der Computersysteme und die gleichzeitige massive Senkung ihrer Kosten. Darüber hinaus eröffnen das Internet und die weltweite datentechnische Vernetzung von Systemen und Orten sowie die rasante Zunahme global verfügbarer Daten bis vor Kurzem kaum vorstellbare Anwendungsmöglichkeiten der digitalen Technologien.

Als ein treibendes Moment dieses Technologieschubs gilt Künstliche Intelligenz (KI) bzw. im internationalen Sprachgebrauch Artificial Intelligence (AI). Sie ist seit Jahren Gegenstand eines Booms, ja eines Hypes nicht nur in fachlichen Diskussionen, sondern auch in Politik und Gesellschaft insgesamt. KI kann ohne Übertreibung als »most promising technology of our era« angesehen werden (Brynjolfsson et al. 2017: 7) und aufgrund der ihr zugeschriebenen Fähigkeit, komplexe Probleme »autonom« und »smart« zu bearbeiten, erzeugt sie eine große Faszination in der Öffentlichkeit. Medial gefeierte Highlights wie der Sieg des IBM-Schachcomputers Deep Blue gegen den damaligen Schachweltmeister Garry Kasparov im Jahr 1997 oder der Sieg des KI-Systems Alpha Go im Jahr 2016 gegen den Weltchampion des Go-Spiels verstärken diese Sicht noch nachhaltig. Auch belegen vielfältige alltägliche Anwendungen immer wieder die besondere Leistungsfähigkeit von KI-Systemen und finden sich inzwischen in vielen alltäglich genutzten Systemen. Typisch ist hier das Smartphone, dessen Funktionen ohne KI-Komponenten nicht denkbar sind. Andere bekannte Anwendungen sind Spamfilter, Suchmaschinen, maschinelle Übersetzungen, medizinische Diagnostik und Systeme der Spracherkennung. Freilich ist der Begriff KI auch ein Etikett, das Waren und Produkte interessant macht, das, um den Absatz zu steigern, inflationär auf viele Geräte, ob Autos, Onlineshops, Suchmaschinen oder Kühlschränke und Waschmaschinen, geklebt wird (Lenzen 2018: 21). Verschiedentlich wird deshalb auch sehr kritisch von »Fake AI« gesprochen (Kaltheuner 2021). Innovationspolitisch wird in Deutschland und der EU KI als »Schlüsseltechnologie« angesehen, die massiv gefördert werden muss, um im globalen Technologiewettlauf insbesondere mit den USA und mit China nicht ins Hintertreffen zu geraten. Denn nur dann, so unisono die Ansicht vieler Expertinnen und Experten sowie Politiker*innen, könne das deutsche und das europäische Wirtschaftsmodell erfolgreich weiterentwickelt und der erreichte Wohlstand gesichert und ausgebaut werden.

Befördert wird die Faszination allerdings auch von einem bis heute weitverbreiteten unklaren Verständnis, was unter KI eigentlich zu verstehen ist. Dies ist nicht zuletzt Resultat des Umstandes, dass KI ein weites, unübersichtliches Feld unterschiedlichster Konzepte und Methoden umfasst und es bis heute offensichtlich keine allgemein akzeptierte Begriffsdefinition gibt. Daher werden teilweise auch für ein und dieselbe KI-Anwendung verschiedene, unscharfe Bezeichnungen verwendet wie zum Beispiel die oft undifferenziert synonym verwendeten Begriffe Maschinelles Lernen, Künstliche Neuronale Netze und Deep Learning. Auch dient der Terminus KI häufig lediglich als Schlagwort für die generelle Anzeige eines Trends aktueller hochtechnologischer Entwicklungen (Bauberger et al. 2021: 908). Und bis heute denken viele beim Stichwort KI – so etwas spöttisch eine im Rahmen der vorliegenden Studie interviewte KI-Expertin – an den Terminator aus dem bekannten Science-Fiction-Film mit Arnold Schwarzenegger aus den 1980er-Jahren.

Dabei ist KI keinesfalls ein neues und wirklich unbekanntes Technologiefeld. Vielmehr kann der Beginn ihrer Entwicklung grob auf die Mitte der 1950er-Jahre datiert werden, wo in den USA der Begriff Artificial Intelligence erstmals öffentlich gebraucht wird. Seitdem ist allerdings die KI-Entwicklung von einer Folge von Aufschwung- und Abschwungphasen gekennzeichnet, letztere als »AI-Winter« bezeichnet. So stellt schon vor Jahren ein kritischer Beobachter der KI-Entwicklung fest, dass diese nach einem immer wiederkehrenden Muster verlaufen: »Jedesmal wenn neue Ideen oder Konzepte ins Spiel gebracht werden, tritt nach verblüffenden Anfangserfolgen die Entwicklung schon bald auf der Stelle, um sich dann zwischen unüberwindlichen Hindernissen zu verstricken.« (Brödner 1997: 189) Spätestens seit den 2010er-Jahren lässt sich nun ein kontinuierlicher Aufschwung, geradezu ein Boom der KI-Entwicklung identifizieren, einhergehend mit der Diffusion dieser Technologie in verschiedenste gesellschaftliche Anwendungsfelder sowie einem dazugehörigen Diskurs, der zeitweise den Charakter eines Hypes annimmt. Indes sind Prognosen über die zukünftige Entwicklung widersprüchlich. Sie reichen von der Erwartung eines weiterhin ungebrochenen Booms der KI bis hin zu einem erneuten Niedergang.

Erwartungen und KI-Dynamik

Mit der vorliegenden Studie wird an diese Debatten angeknüpft.2 Eine allgemein akzeptierte Erklärung für die verschiedenen KI-Phasen ist, dass diese maßgeblich von der Entwicklung der Rechnertechnologie sowie den jeweils verfügbaren Konzepten und Methoden der KI bestimmt werden. Insbesondere wird die KI-Dynamik der letzten Jahre als Folge des schnell steigenden informationstechnologischen Fortschritts sowie der sich dadurch ständig erweiternden Nutzungsmöglichkeiten für die KI gesehen. Als zentrale Faktoren werden hierbei die massiv gestiegene Leistungsfähigkeit und Rechenkapazitäten von Computern, ihre dramatische Verbilligung, die Entwicklung nutzbarer komplexer KI-Methoden wie Neuronale Netze sowie schließlich Big-Data-Methoden und die Verfügung über große Datenmengen, besonders über das Internet, angeführt.

Die schnell fortschreitende informations- und datentechnologische Entwicklung ist ohne Frage eine notwendige Voraussetzung für diese Dynamik der KI, denn dadurch werden technologische Restriktionen für die Realisation von KI-Systemen kontinuierlich überwunden und die Grenzen ihrer Nutzung hinausgeschoben. Freilich handelt es sich dabei um lediglich technologische Potenziale, die aus soziologischer Sicht allein noch keine hinreichende Erklärung für die wechselnden Verlaufsmuster der KI-Entwicklung und den gegenwärtigen Boom sind. Die Frage ist damit nicht beantwortet, ob überhaupt und in welcher Weise die in bestimmten Entwicklungsphasen jeweils gegebenen technologischen Potenziale zu der tatsächlichen Nutzung, Diffusion und konkreten Anwendung dieser Technologie führen. Denn folgt man dem Common Wisdom der sozialwissenschaftlichen Technik- und Innovationsforschung, so besteht zwischen der Entwicklung neuer Technologien und ihren möglichen Anwendungspotenzialen einerseits, ihrer Verbreitung und Nutzung und schließlich ihren sozialen Konsequenzen etwa in Arbeitsprozessen andererseits kein deterministischer Zusammenhang. Vielmehr handelt es sich dabei um eine komplexe und wechselseitige Beziehung, die von einer Vielzahl nicht-technischer, ökonomischer, sozialer und politischer Faktoren geprägt wird. Deren Einfluss entscheidet darüber, in welcher Weise die Nutzungspotenziale der Technologien tatsächlich ausgeschöpft und realisiert werden und welche sozialen Konsequenzen letztlich damit auch verknüpft sind.3

Diese generellen techniksoziologischen und innovationstheoretischen Argumente können mit grundlegenden Überlegungen aus der Sociology of Expectations verknüpft werden. Danach ist wirtschaftliches Handeln im Kapitalismus von einer temporalen Struktur gekennzeichnet, die durch »Zukunftsimaginationen« überwunden und bewältigt wird. Konsequenz ist, dass Akteure, wollen sie Einkommen und Gewinne erzielen oder ihren Status verbessern, »Imaginationen einer wirtschaftlichen Zukunft« erzeugen und ihre Entscheidungen danach ausrichten, ob sie diese Zukunft verwirklichen oder vermeiden wollen (Beckert 2018: 13). Dies betrifft etwa Investitionsentscheidungen, die Vergabe von Krediten, aber eben auch die Dynamik und unterschiedlichen Verlaufsmuster technologischer Innovationen.

Wie die Innovationsforschung überzeugend zeigt, kommt »Erwartungen« über die zukünftigen Chancen neuer Technologien ein überaus hoher Einfluss auf Verlauf und Richtung von technologischen Innovationen zu. Denn Innovationen zeichnen sich in der Regel durch Risiken und Ungewissheiten in Hinblick auf ihren Verlauf, ihre Realisierbarkeit sowie die angestrebten, zumeist ökonomischen Effekte aus. Dies trifft sowohl für den Beginn einer neuen, möglicherweise radikalen Entwicklung, aber auch für eine Weiterentwicklung schon existierender Technologien und die Entscheidungen über konkrete Nutzungsformen zu (van Lente/Rip 1998; Bender 2005; Borup et al. 2006; Konrad 2006; Rip 2018). Denn Erwartungen und damit verknüpfte Versprechungen, Visionen und Szenarien über mögliche und wünschenswerte Entwicklungsperspektiven reduzieren die Ungewissheiten und die Komplexität von Innovationen, eröffnen konkrete Handlungsperspektiven für die Entwickler, interessieren weitere beteiligte Akteure und koordinieren ihr Handeln. Oder in den Worten von Harro van Lente und Arie Rip: »Erwartungen und Geschichten über die Zukunft im Allgemeinen reduzieren die grundlegende Kontingenz in einem nichtdeterministischen Sinn, indem sie Entwürfe zur Verfügung stellen, die zum Handeln verwendet werden können.« (1998a: 217)

Technologieversprechen

Auf diesen Überlegungen basiert die These der folgenden Analyse: Mit der KI ist ein Technologieversprechen verknüpft, das die KI-Dynamik in ihren verschiedenen Phasen maßgeblich bestimmt und vorantreibt. Dieses Technologieversprechen ist als Narrativ zu verstehen, das Entwicklungspotenziale der KI, denkbare Möglichkeiten ihrer Anwendung und Nutzung sowie die damit zukünftig realisierbaren Gewinne in Aussicht stellt. Dabei kann es sich um die Lösung vorhandener technologischer Probleme und Engpässe, um die Steigerung ökonomischer Effizienz und Effektivität, wie aber auch um einen als wünschenswert angesehenen sozialen und gesellschaftlichen Wandel handeln. Solche von einflussreichen und an der Technologie und ihrer Entwicklung interessierten Akteuren vorgebrachten Technologieversprechen haben in ihren verschiedenen Phasen die KI-Entwicklung stets erneut und maßgeblich angestoßen. Dabei muss allerdings das Technologieversprechen für interessierte Adressaten in mehr oder weniger einsichtiger Weise mit dem gegebenen Stand der Forschung und einer erwartbaren Technologieentwicklung begründet sein. Damit sollen bei potenziell interessierten Akteuren Erwartungen in Hinblick auf den technischen, ökonomischen oder auch sozialen Nutzen der Innovation geweckt werden und sie für die Beteiligung an entsprechenden Innovationsmaßnahmen, etwa durch Investitionen und Förderung, Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten oder auch Anwendungen, gewonnen werden.

Dass Versprechungen, Erwartungen und Enttäuschungen die KI-Entwicklung prägen, zeigen immer wieder zumeist kritische Studien über die Entwicklungsgeschichte der KI (Dreyfus 1965; Cyranek/Coy 1994; Breiter 1995; Brödner 1997; Buchanan 2006; Larson 2021). Einerseits handelt es sich um Versprechungen, die sich angesichts nur beschränkter Leistungsfähigkeit und hoher Anwendungsprobleme der jeweils verfügbaren KI-Systeme und Methoden als überzogen erweisen. Resultat sind oftmals »Erwartungsenttäuschungen« wichtiger beteiligter Akteure (Ahrweiler 1995: 22) und ihr Rückzug aus dem Technologiefeld. Andererseits aber bietet die schnelle und ganz offensichtlich dynamische Entwicklung der KI stets wieder Anlass für neuerliche Versprechungen, die mit großer Überzeugungskraft die Erwartungen und das Interesse vieler Akteure und der interessierten Öffentlichkeit an dieser Technologie wecken. Diese Versprechungen schöpfen ihre Kraft aus »transhistorischen« und »transkulturellen« fantasievollen Geschichten über die intelligente Maschine, die die Menschheitsgeschichte durchziehen und lange vor dem Aufkommen moderner Wissenschaften existierten (Cave et al. 2020).

Auf den Punkt bringt diese von Versprechen getriebene KI-Dynamik ein früher Protagonist der amerikanischen KI und Gründungsmitglied der American Association for Artificial Intelligence Bruce G. Buchanan: »The history of AI is a history of fantasies, possibilities, demonstrations, and promises.« (Buchanan 2006: 53) Ähnlich lautet die Feststellung eines deutschen KI-Wissenschaftlers aus dem Jahre 1994, der nicht erreichte Ziele und ein ständiges Hinausschieben und Erneuern der Perspektiven der KI-Entwicklung betont: »Das ist ein altes Spiel in der AI. Man sagt: In 10 Jahren werden wir das und das haben, und in 10 Jahren stellt man dann die gleiche Frage und sagt: In 20 Jahren werden wir das erreicht haben. In 20 Jahren stellt man wieder die gleiche Frage, und auch in 50 Jahren werden wir die gleiche Frage stellen.« (Cyranek/Coy 1994: 259)

Fragestellung

Auf diese Überlegungen bezieht sich die vorliegende Studie. Aus technik- und innovationssoziologischer Sicht werden die sozialen Bestimmungsfaktoren wie auch die gesellschaftlichen Folgen dieser widersprüchlichen Dynamik mit insgesamt drei Fragen in den Blick genommen.

Zum einen wird untersucht, inwieweit die KI-Dynamik von Technologieversprechen und daran orientierten kollektiven Erwartungen über ihre zukünftigen Potenziale getrieben wird. Der Fokus richtet sich dabei sowohl auf die vergangene Entwicklung als auch mögliche Zukunftsperspektiven.

Zum Zweiten wird gefragt, welchen neuen Herausforderungen mit dem Technologieversprechen KI für Innovationsprozesse und die institutionellen und politischen Rahmenbedingungen des Innovationssystems einhergehen. Denn die KI-Entwicklung konstituiert einen spezifischen Innovationsmodus, der mit den bisherigen Innovationspraktiken und -routinen und vor allem mit den tradierten Grundsätzen von Innovationspolitik nur mehr bedingt kompatibel ist.

Zum Dritten wird der Frage nachgegangen, auf welchen inhaltlichen und rhetorischen Voraussetzungen das Technologieversprechen KI und sein Einfluss auf den Verlauf der KI-Dynamik beruht. Deutlich wird, dass das Technologieversprechen KI letztlich seine Überzeugungskraft daraus zieht, dass es an den uralten Mythos der intelligenten Maschine anknüpft, die der menschlichen Intelligenz ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist.

Mit dem Begriff der Dynamik werden dabei mehrere miteinander verschränkte Dimensionen der Genese einer neuen Technologie bezeichnet: die Entwicklung ihrer wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen, die beteiligten Akteure und die von ihnen vorgetragenen Technologieversprechen, die innovationspolitischen Fördermaßnahmen, der Technologiediskurs und die Erwartungen über die Nutzungspotenziale und schließlich die Institutionalisierung eines soziotechnischen Feldes der KI.

Der Begriff Technologie wird dabei im Folgenden weit gefasst. Bezeichnet werden damit Wissensbestände und Rationalitätskriterien, die bestimmte Methoden und Verfahren mit Plausibilitätskriterien versehen, die die Angemessenheit der gewählten Mittel im Hinblick auf die gewünschten Zwecke feststellen und schließlich daraus sich ergebende Nutzungsmöglichkeiten und Systemausprägungen bestimmen (Lösch 2012). Eingeschlossen sind in dieser Definition konkrete Techniken und technische Systeme, die Realphänomene bezeichnen (Mayntz 2001). KI kann daher als Technologie bzw. auch als technologisches Feld sehr verschiedener Methoden und Konzepte verstanden werden, mit denen kognitive Leistungen computertechnisch reproduziert werden sollen (Ahrweiler 1995a: 43). Sie wird als Sammelbegriff für die Entwicklung, Konzeptualisierung und Anwendungen von »Algorithmen« bzw. »algorithmischen Systemen« verwendet, die in konkrete technische Artefakte und Programme sowie technische Prozeduren umgesetzt werden (Bauberger et al. 2021: 908).

Methodische Basis

Empirische Basis der Studie ist die Analyse der Entwicklungsdynamik der KI in der Bundesrepublik. Dabei werden allerdings internationale Bezüge keineswegs ausgeklammert, denn die KI-Entwicklung verläuft in hohem Maße in internationalen Kontexten.4

Methodisch hat die Studie eine breite qualitative Basis: Zum einen basiert sie auf den Ergebnissen der Analyse der laufenden wissenschaftlichen, politischen und öffentlichen Diskurse über KI, insbesondere auf der Durchsicht und Auswertung einer großen Zahl von »grauen« Dokumenten, Preprints, politischen Verlautbarungen, Websites, Studien und einschlägiger Fachpublikationen aus nationalen und internationalen Kontexten. Als besonders informativ erwiesen sich oftmals Interviews und Statements von KI-Expertinnen und Experten, die im Internet zugänglich waren.

Zum Zweiten beruht die Argumentation auf den Ergebnissen eigener ausführlicher Expertengespräche. Zwischen Oktober 2021 und März 2022 wurden im Rahmen des Projektes 19 Interviews mit 16 KI-Expertinnen und Experten aus Deutschland durchgeführt. Befragt wurden zehn grundlagen- und anwendungsorientierte Wissenschaftler*innen sowie sechs KI-Expertinnen und Experten aus KI-nahen Wissenschaftsdisziplinen und Anwendungsfeldern. Hervorzuheben ist, dass sich darunter vier Emeriti aus der ersten Generation der KI-ler der Bundesrepublik befanden.5 Die Interviews wurden online durchgeführt und dauerten mindestens eine Stunde, oft waren sie deutlich länger. Die Expertengespräche umfassten teilweise mehrere Feedbackrunden, zum Beispiel per E-Mail zur Klärung noch offener Fragen oder zur Diskussion erster Thesen. Mit drei Experten konnten in einer zweiten ausführlichen Interviewrunde einzelne Fragestellungen vertieft werden. Die Interviews wurde aufgezeichnet und die zentralen Thesen der Gespräche transkribiert.

Zum Dritten bedient sich die Analyse einer Reinterpretation vorliegender eigener Forschungsergebnisse über den gesellschaftlichen Digitalisierungsprozess der letzten Jahre. Schließlich flossen in die Argumentation Ergebnisse und Erkenntnisse aus der laufenden Beteiligung des Autors an einschlägigen Workshops, Tagungen, wie aber auch informellen Gesprächen im Feld der KI ein.

Zum Gang der Argumentation

Die Fragestellungen und die leitende These, wonach die KI-Dynamik und ihre verschiedenen Entwicklungsphasen von Versprechungen getrieben werden, soll mit den folgenden Argumentationsschritten entfaltet werden:

Im Teil I werden die analytischen Grundlagen der Untersuchung ausgeführt; begründet wird das Konzept des Technologieversprechens und es wird der Begriff der KI genauer geklärt. Im Teil II wird ausgehend vom Konzept des Technologieversprechens die Dynamik der KI in der Bundesrepublik in Hinblick auf ihre verschiedenen Phasen und ihre wissenschaftlich-technologischen, akteursbezogenen, politischen und institutionellen Dimensionen nachgezeichnet. Es handelt sich dabei um den empirischen Hauptteil der Untersuchung. Daran wird im Teil III angeknüpft, in dem Thesen zur Perspektive und den zukünftig denkbaren Entwicklungspfaden der KI formuliert werden. Dabei wird vor allem auch auf das vielfältige Bündel von Grenzen und Herausforderungen einer schnellen weiteren KI-Entwicklung und Diffusion eingegangen und die Relevanz und Chancen einer europäischen bzw. deutschen KI-Entwicklung erörtert. Im Teil IV wird nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen der Dynamik der KI gefragt. Konkret wird dabei der wechselseitige Zusammenhang zwischen den institutionellen Bedingungen des Nationalen Innovationssystems und der KI-Dynamik in den Fokus genommen. Davon ausgehend werden zentrale Anforderungen an eine KI-orientierte Innovationspolitik formuliert. Mit dem Teil V wird die Kategorie des Technologieversprechens aufgegriffen und es wird diskutiert, an welche besondere inhaltliche und rhetorische Architektur seine Wirksamkeit gebunden ist. Im Resümee wird abschließend das Argument ausgeführt, dass die anhaltende Überzeugungskraft des Technologieversprechens KI letztlich auf dem uralten Mythos der intelligenten Maschine beruht, die der menschlichen Intelligenz ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist.

Teil I: Konzept und Begriffe

1.Promising Technology

1.1Leitmotiv und Koordinationsfunktion

Die These vom Technologieversprechen KI kann präzisiert werden mit dem Konzept der Promising Technology (van Lente/Rip 1998; Bender 2005). Das Kernargument lautet, dass Akteure bei ihren Entscheidungen, an einer Technologieentwicklung teilzunehmen, sich zunächst noch an einem noch sehr allgemeinen Versprechen über diese erst noch zu entwickelnde Technologie orientieren. Das Versprechen offeriert im Prinzip interessierten Akteuren eine Entwicklungsperspektive, stellt zukünftige Nutzenpotenziale in Aussicht, eröffnet einen einzuschlagenden Weg für die Innovation und begründet auch die Möglichkeit für die Durchsetzung eigener Interessen. Es bietet die Voraussetzung dafür, weitere Akteure anzusprechen, sie in den Innovationsprozess einzubinden, ihr Handeln zielgerichtet zu koordinieren sowie Wissens- und Innovationsressourcen zu mobilisieren und Investitionen in Forschung und Entwicklung zu initiieren. Anders formuliert, das Technologieversprechen hat die Funktion eines Leitmotivs für heterogene Akteure mit ihren im Grunde sehr unterschiedlichen Interessen, die in einen Innovationsprozess eingebunden werden. In diesem Sinn lässt sich festhalten, dass Versprechen »[…] do not strive for truth or accuracy, but are meant to influence spezific social processes in technological developments« (Geels/Smit 2000: 880).

Freilich ist dies sehr voraussetzungsvoll. Wie noch genauer zu begründen ist, ist hierfür eine rhetorische Architektur des Technologieversprechens erforderlich, die durch Generalisierung und Pauschalisierung ein hohes Maß Anschlussfähigkeit ermöglicht. Mehr noch, mit dem Verweis auf technologisch lösbare gesellschaftliche Herausforderungen wird zugleich an eine gesellschaftspolitische Debatte über wünschenswerte gesellschaftliche Weiterentwicklung angeknüpft und es wird damit Interesse von Akteuren jenseits der zunächst angesprochenen Fachöffentlichkeit geweckt (Hirsch-Kreinsen 2016: 12 f.). Soziologisch gesprochen, fungiert ein Technologieversprechen als Boundary Object mit einem sehr allgemeinen Kern von Ideen, der mit verschiedensten Kontexten verknüpft und von unterschiedlichsten Akteuren aufgegriffen werden kann. Das heißt, die Formbarkeit eines solchen Grenzobjekts erlaubt eine Vielzahl von lokalen Interpretationen und Praktiken, die sich locker auf einen Gemeinsamkeiten stiftenden Kern beziehen lassen (Faust 2021: 72). Dabei kann ein Technologieversprechen entweder den Charakter einer explizit artikulierten und rhetorisch vorgebrachten Meinung, eines Vortrages oder eines Diskussionsbeitrages haben oder als Dokument, Objekt oder generell als materialisierte Darstellung präsentiert werden (Brown et al. 2003: 6).

Innovationsdynamik

Ein Technologieversprechen bezeichnet mithin einen Startpunkt, von dem aus ein Innovationsprozess angestoßen, koordiniert und vorangetrieben wird. Es entsteht eine Entwicklungsdynamik, die mit van Lente und Rip (1998; 1998a) analytisch mit mehreren Schritten grob präzisiert werden kann:

Im ersten Schritt wird ein Versprechen formuliert, das Zukunftsvisionen postuliert und damit verschiedenste Akteure interessiert und eine kollektive Orientierung herstellt. Entworfen wird ein solches Technologieversprechen in der Regel von einer kleinen Gruppe in der Sache engagierter und von den formulierten Visionen überzeugter Protagonisten etwa aus dem Wissenschaftsbereich, der Politik oder auch aus Unternehmen. Dabei weicht diese Gruppe oftmals vom Stand der Forschung und bisherigen technologischen Entwicklungspfaden ab und entwirft eine neue technologische Vision. Folgt man der Innovationsforschung, so ist die Voraussetzung hierfür ein »protected space« bzw. eine Nische, in der diese Gruppe institutionell geschützt und relativ autonom ihre Ideen entwickeln kann. Eine solche Nische kann geschaffen werden durch strategische Investitionen von Unternehmen, durch eine gezielte politische Förderung, oder aber auch durch die gezielte Nutzung vorhandener akademischer Freiräume. Nischen werden auch als »incubation rooms« für radikale Innovationen angesehen, da sie insbesondere vor dem Druck existierender Technologiepfade und der damit verwobenen Interessen schützen (Geels 2004; Markard/Truffer 2008). Zudem müssen diese Akteure über hinreichende kommunikative und interaktive Ressourcen verfügen, um im späteren Verlauf ihrer Anstrengungen das Technologieversprechen zunächst einer Fachöffentlichkeit präsentieren zu können und das Interesse ihrer Mitglieder an dem Versprechen zu wecken. Angestoßen wird auf diese Weise ein Diskurs, in dem denkbare Optionen und Perspektiven einer neuen Technologie zwischen einer zunehmend größeren Zahl von interessierten Akteuren ausgetauscht werden.6 Dieser Austausch- und Kommunikationsprozess ist die Voraussetzung dafür, dass das ursprünglich nur von einer kleinen Gruppe Interessierter vorgetragene Technologieversprechen verallgemeinert wird und die daran geknüpften Erwartungen kollektiven Charakter gewinnen (Konrad 2006: 431).

Der zweite Schritt wird als Agenda Setting gefasst. In dessen Verlauf wird die Vision der neuen Technologie fortgeschrieben und präzisiert, Anforderungen an die Entwicklung und die erforderlichen Innovationsschritte definiert, die Rollen verschiedener zu beteiligender Akteure beschrieben und damit insgesamt der Innovationsprozess strukturiert. Es findet eine Transformation der schriftlich niedergelegten, in Vorträgen präsentierten oder sonst wie fixierten Perspektiven, Visionen und Ziele in Handlungsbedarf und in kollektiv orientierte Handlungsanweisungen statt. Generiert wird damit eine Agenda, die wie ein Drehbuch das weitere Handeln der beteiligten Akteure in einer Weise strukturiert, die der beabsichtigten Innovation förderlich ist (Bender 2005: 174). Die Akteure mit ursprünglich divergierenden Interessen entwickeln ein gemeinsames Interesse an der Innovation, arbeiten zunehmend in einer koordinierten Weise zusammen und sie versuchen, Lösungen zu erarbeiten, die die in der Agenda spezifizierten Anforderungen erfüllen. Es entsteht so eine vorher so nicht existierende Community of Practice, das heißt eine vernetzte Akteurskonstellation, die, geteilten Entwicklungsperspektiven folgend, einen Diskurs über die zu verfolgenden Ziele führt und damit eine gemeinsame Wissensbasis über Potenziale und Entwicklungserfordernisse der neuen Technologie generiert (Wenger 1998). Dabei wird die Agenda fortlaufend spezifiziert, leitet weitere Innovationsschritte an und formt damit einen sich abzeichnenden technologischen Entwicklungspfad.

Ein dritter Schritt stellt die zunehmende Verfestigung und Strukturierung dieses Interaktionszusammenhangs dar und er gewinnt den Charakter eines zunehmend stabilen Handlungskontextes mit spezifischer Logik und normativer Verbindlichkeit. Insofern kann dieser Prozess auch als Institutionalisierung von Handlungsverbindlichkeiten begriffen werden. Es entstehen soziale Strukturen, die durch vernetzte Akteurskonstellationen, arbeitsteilige Routinen und gefestigte Wahrnehmungsmuster bestimmten Handlungsweisen Optionen für weitere konkrete Innovationsverläufe eröffnen und andere mehr oder weniger ausschließen. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die am Innovationsprozess beteiligten Akteure bei ihren Entscheidungen, Handlungen und Interaktionen an diesen Bedingungen orientieren – wodurch sie durchaus auch zu ihrer Reproduktion und Reputation beitragen.

Ergebnis ist die Emergenz eines neuen soziotechnischen Feldes. Mit diesem werden in institutionentheoretischer Perspektive jene Organisationen bezeichnet, »die gemeinsam einen abgegrenzten Bereich des institutionellen Lebens konstituieren: die wichtigsten Zulieferfirmen, Konsumenten von Ressourcen und Produkten, Regulierungsbehörden sowie andere Organisationen, die ähnliche Produkte oder Dienstleistungen herstellen bzw. anbieten« (DiMaggio/Powell 2000: 149). Mit dem Feldkonzept wird die Komplementarität im Prinzip unterschiedlicher Funktionen und Interessenlagen betont.7 Sofern sich ein solches Feld durch Wettbewerb, Staat oder Professionen konstituiert, ist von einer stabilen Interaktion zwischen den beteiligten Akteuren auf dem Wege von Koalitions- und Machtprozessen, Informationsaustausch oder gegenseitiger Beobachtung auszugehen. Konstitutiv für ein soziotechnisches Feld ist der Fokus der beteiligten Akteure auf eine bestimmte Technologie und ihre Entwicklungsperspektiven.

Expectation-Requirement-Cycle

Diese von einem Technologieversprechen getriebene Innovationsdynamik kann zusammenfassend als Expectation-Requirement-Cycle mit verschiedenen Stufen gefasst werden (Geels/Smit 2000; Brown et al. 2003): Ein mit dem Stand der Forschung und Technologieentwicklung mehr oder weniger konkret begründetes Technologieversprechen stößt einen Diskurs über Entwicklungsziele an, diese begründen Erwartungen und werden dann in Form einer Agenda in Innovationsanforderungen übersetzt. Diese generieren Handlungsverbindlichkeiten und koordinieren das Innovationshandeln heterogener Akteure. Im Erfolgsfall wird ein neues soziotechnisches Feld institutionalisiert und kontinuierlich erweitert.8 Dieser Prozess lässt sich grafisch wie folgt darstellen (Abbildung 1):

Abb. 1:Expectation-Requirement-Cycle

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Geels/Smit 2000

Empirisch kann die Dynamik des Kreislaufprozesses allerdings in verschiedener Weise verlaufen. Divergenzen können beispielsweise in Hinblick auf die zeitliche Dimension bzw. den historischen Verlauf einer Technologieentwicklung auftreten. Denn ein Technologieversprechen kann kontinuierlich fortgeschrieben oder auch erneuert werden, es ist unterschiedlichen Interpretationen zugänglich und hat daher nur selten einen abgeschlossenen Charakter. Bekanntes Modell hierfür ist der Gartner-Hype-Cycle of Emerging Technologies, dem zufolge die Erwartungen über eine technologische Vision rasch zunehmen, später nach einem einmal erreichten Gipfel in ein Tal der Enttäuschungen abstürzen und schließlich realistische Perspektiven Platz greifen, in deren Kontext die weitere Technologieentwicklung vorangetrieben wird (Christensen/Finck 2021). Dabei ist nicht auszuschließen, dass das Technologieversprechen als treibendes Moment der Innovation seine Überzeugungskraft und Legitimität verliert und daran ursprünglich geknüpfte Erwartungen nicht mehr begründbar sind.

Je nach Situation muss daher von unterschiedlichen Verlaufsmustern der Innovationsdynamik ausgegangen werden. Als unterscheidende Kriterien können hierfür die zentralen Dimensionen eines sich jeweils einspielenden Kreislaufs herangezogen werden: die technologischen Grundlagen, das darauf bezogene jeweilige Technologieversprechen und die damit begründeten Zukunftserwartungen, die maßgebliche, das Technologieversprechen vorantreibende Akteurskonstellation und letztlich die Struktur des jeweils entstehenden soziotechnischen Feldes. Wie noch genauer zu zeigen ist, lassen sich mit dieser Begrifflichkeit die verschiedenen Entwicklungsphasen der KI recht präzise bezeichnen.

1.2Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Bedingungen

Mit dem Konzept der Promising Technology wird die Handlungsebene der Interaktion heterogener Akteure und die Mechanismen ihrer Koordination im fortlaufenden Innovationsprozess in den Blick genommen. Eine Wechselwirkung mit gesellschaftsstrukturellen Bedingungen, die die handelnden Akteure bereits vorfinden oder die sie beeinflussen oder mit ihrem Innovationshandeln generieren, wird nicht unmittelbar angesprochen. Freilich lassen sich diese Fragen in soziologischer Perspektive nicht ausblenden: Dabei geht es darum zu klären, welche gesellschaftlichen Strukturen Ausgangspunkt eines Technologieversprechens und der damit angestoßenen Technologieentwicklung sind und wie diese davon beeinflusst werden. Umgekehrt ist zu fragen, wie neue Technologien gesellschaftlichen und institutionellen Wandel beeinflussen und welche gesellschaftlichen Konsequenzen eine neue Technologie und ein damit verwobenes neues soziotechnisches Feld haben.

Gesellschaftliche Voraussetzungen

Technologieversprechen entstehen in gesellschaftlichen Kontexten: »Jede Zukunft hat eine Geschichte: Technologische Innovationen werden durch die kulturellen Normen des sozialen Zusammenhangs, in dem sie entstehen, beeinflusst, ebenso durch ›promissorische Vergangenheiten‹ […], um vergangene Zukünfte zu beschreiben.« (Beckert 2018: 283 – Hervorh. i. Orig.) Vor allem aber ist Technologieentwicklung »unabdingbar« an die Existenz eines bestimmten Wissenspools bzw. State of the Art von Wissenschaft und Technologie, an ihre jeweiligen Organisationsformen und institutionellen Bedingungen, mithin an gesellschaftsstrukturelle Bedingungen gebunden (Mayntz 2001: 8). Dieser Wissenspool, insbesondere auch die Erfahrungen mit Bottlenecks bisheriger Entwicklungen und ihrer Anwendungen sind die Basis für inkrementelle Weiterentwicklungen von Technologien entlang ihrer eingespielten Trajektorien, oder aber sie dienen als expliziter Abstoßpunkt für die Einleitung eines wissenschaftlichen und technologischen Paradigmenwechsels mit disruptiven Neuentwicklungen (Dosi 1982).

Diese Zusammenhänge zeigen insbesondere die bekannten evolutionstheoretischen Innovationskonzepte, die Innovationsverläufe stets als eingebettet in institutionellen Bedingungen begreifen (Edquist 1997; Werle 2005; Lundvall 2007). Handeln und Erwartungen können daher kein alleiniger Ausgangspunkt für Analysen sein, weil sie stets auch strukturiert werden durch die gesellschaftliche Position der Agierenden. Generell formuliert, ein überzeugendes Technologieversprechen muss mehr oder weniger einsichtig, positiv oder negativ mit dem Stand der Forschung und Technologie verknüpft sein und ist rückgekoppelt an institutionelle Bedingungen des je gegebenen Wissenschafts- und Innovationssystems.

Rückwirkungen

Umgekehrt stellt sich aber auch die Frage, wie neu entwickelte Technologien auf Gesellschaftsstrukturen zurückwirken und diese verändern. Ausgangspunkt muss dabei die ebenso banale wie folgenreiche Feststellung sein, dass es nicht möglich ist, gesellschaftlichen Wandel zu verstehen, ohne den Einfluss von Technik zu berücksichtigen (Zammuto et al. 2007). Oder wie weit ausholend ein Technikhistoriker feststellt: »Machines make history by changing the material conditions of human existence.« (Heilbroner 1994: 69) Technologische Entwicklung muss daher als bestimmender Faktor sozialer Ordnungsbildung verstanden werden bzw. Technologie trägt ursächlich zur Reproduktion und Produktion sozialer Ordnungsstrukturen bei. Konkreter, erfolgreiche Technologieentwicklung impliziert stets die Genese eines soziotechnischen Feldes, das gegebene gesellschaftliche Strukturen, etwa bestimmte Anwendungsfelder und Wirtschaftssektoren, unter Veränderungs- und Anpassungsdruck stellt (Dolata/Werle 2007: 27 ff.).

Je nach Technologie, ihren spezifischen Innovationserfordernissen und den Besonderheiten der damit zusammenhängenden soziotechnischen Felder können Anpassungs- und Veränderungsdruck in verschiedenen Anwendungsbereichen, Wirtschaftssektoren oder generell gesellschaftlichen Teilsystemen allerdings stark variieren (Dolata/Werle 2007: 27). In Hinblick auf die Dynamik und die Rückwirkungen der KI sind die Besonderheiten dieses soziotechnischen Feldes als »Hochtechnologie« in Rechnung zu stellen (Ahrweiler 1995: 5). Folgt man der Innovationforschung, so ist ein solches Feld durch eine besonders fortgeschrittene Technologie gekennzeichnet, die primär auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen und hohen Investitionen für Forschung und Entwicklung generiert wird.9 Als weiteres Merkmal gilt, dass diese Technologie im Kontext einer komplexen Konstellation und Interaktion heterogener Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen entwickelt wird. Diese im Vergleich zu anderen Technologiefeldern besondere Konstellation umfasst danach hauptsächlich Wissenschaftler verschiedener Forschungseinrichtungen, technologieorientierte Unternehmen sowie Vertreter der Forschungspolitik (Whitley 2000 [1984]; Ahrweiler 1995). Petra Ahrweiler fasst diese Konstellation in Anschluss an Richard Whitley in ihrer KI-Studie als »Scientific-Political-Economic Community (SPE-Community)«, die die Konstellation der am Forschungs- und Entwicklungsprozess maßgeblich beteiligter Interessengruppen und Akteure bezeichnet und die ein Hochtechnologie-Feld wie das der KI entscheidend prägt (Ahrweiler 1995: 5). Rückgebunden an ein Technologieversprechen und damit verknüpfte Erwartungen treiben diese koordiniert und in Abstimmung ihrer jeweils spezifischen Interessen und Motivlagen eine Technologieentwicklung voran, die zur Institutionalisierung eines Hightech-Feldes führen kann.

In Anlehnung an diese Überlegungen soll im Folgenden von einer KI-Community gesprochen werden, die als die für die KI-Dynamik bestimmende Akteursgruppe anzusehen ist. Sie umfasst vor allem interessierte und einflussreiche Akteure aus Wissenschaft, Politik und Unternehmen und kann KI-bezogen als Community of Practice ähnlichen und komplementären Motiven, Interessen und technologischen Orientierungen ihrer Beteiligten verstanden werden. Das heißt, das zentrale Merkmal dieser Akteurskonstellation ist keineswegs eine Identität der Interessen der beteiligten Akteure. Vielmehr ist von der Komplementarität der im Prinzip divergenten Interessen von Akteuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen auszugehen, insofern sie orientiert am Technologieversprechen sich bei der Technologieentwicklung wechselseitig ergänzen und verstärken sowie temporär oder auch dauerhaft gemeinsame Innovationsziele verfolgen (Wenger 1998). Freilich ist die Stabilität einer solchen Konstellation komplementärer Interessen keineswegs garantiert. Sie unterliegt Wandlungstendenzen zum Beispiel in Hinblick auf ihre Existenz oder ihre konkrete Zusammensetzung, die etwa dem jeweiligen Erfolg oder Misserfolg einer technologischen Innovation, einer Änderung der Interessenlage und Zielen der beteiligten Akteure oder auch externen Einflüssen geschuldet sein können. Wie noch zu zeigen ist, trifft dies auch auf die KI in ihren historisch verschiedenen Entwicklungsphasen zu.

Innovationssystem

Die Frage nach dem wechselseitigen Zusammenhang zwischen Technologieentwicklung und gesellschaftlichen Strukturbedingungen verweist unmittelbar auf die Kategorie des Innovationssystems. Folgt man Überlegungen aus dem Feld der Innovation Studies, so wird mit dieser Kategorie ein gesellschaftliches Teilsystem bezeichnet, dessen Institutionengefüge, Akteurskonstellationen, eingespielte Interaktionsmuster sowie Wissensbestände und Innovationspraktiken mit technologischen Innovationen in unmittelbarer Wechselwirkung stehen (Nelson/Winter 1982; Edquist 1997; Lundvall 2007). Die Genese einer neuen Technologie wird danach einerseits von den Bedingungen eines Innovationsystems geprägt, andererseits ist im Gefolge erfolgreicher technologischer Neuerungen von Rückwirkungen auf diesen institutionellen Zusammenhang auszugehen (Werle 2005; Dolata/Werle 2007; Markard/Truffer 2008).

Dies trifft fraglos auch für die Entwicklung der KI zu. Bezogen auf die KI-Dynamik in Deutschland muss daher für die Analyse dieser Wechselwirkung der institutionelle Rahmen des Nationalen Innovationssystems (NIS) in den Fokus genommen werden. Obgleich vielfach wegen seiner begrifflichen Unschärfe und schweren Abgrenzbarkeit gerade im Fall international stark beeinflusster Innovationsprozesse kritisiert (zum Beispiel Werle 2005; Godin 2017), kann es doch als analytisch brauchbare Heuristik für die Analyse des Zusammenhangs zwischen der KI-Dynamik und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angesehen werden. Wie später noch genauer gezeigt wird, setzt dabei diese Dynamik das deutsche Nationale Innovationssystem und mit ihm vor allem auch die Innovationspolitik unter erheblichen Anpassungs- und Veränderungsdruck. Freilich weisen die je gegebene institutionelle Konstellation und die damit verknüpften Handlungsmuster eines Innovationssystems in der Regel ein hohes Maß an Interdependenz bzw. Komplementarität und damit auch Stabilität auf.

2.Entwicklungslinien der KI

2.1KI, ein Sammelbegriff

Obgleich das Thema KI seit Jahrzehnten intensiv diskutiert wird, handelt es sich dabei um ein auch für Fachleute nur schwer überschaubares und häufig umstrittenes Themenfeld. Offensichtlich ist bis heute keine allgemein anerkannte Definition von KI zu finden. Das Forschungsgebiet ist umfassend und vielfältig und daher sind auch die Versuche, KI zu definieren, sehr unterschiedlich. Als begriffliche Gemeinsamkeit wird häufig die Fähigkeit eines Systems angesehen, selbst gestellte Ziele zu erreichen. Dabei ist allerdings wiederum die Frage, inwieweit eine Maschine sich selbst Ziele stellen kann oder ob diese Ziele vom Menschen vorgegeben werden sollen, immer wieder Gegenstand zahlreicher Kontroversen (Koehler 2021: 3). In erster Näherung sei daher auf die Definition eines seit Jahrzehnten anerkannten Lehrbuchs der KI zurückgegriffen:10 »›Künstliche Intelligenz‹ ist eine wissenschaftliche Disziplin, die das Ziel verfolgt, menschliche Wahrnehmungs- und Verstandesleistungen zu operationalisieren und durch Artefakte, kunstvoll gestaltete technische – insbesondere informationsverarbeitende – Systeme verfügbar zu machen.« (Görz et al. 2021: 2)

Danach kann die KI als Teil der Informatik als eine Ingenieurwissenschaft sowie als Teil der Kognitionswissenschaft als eine Erkenntniswissenschaft angesehen werden. Dabei werden von der KI zwei grundlegende Ziele verfolgt: zum einen die Konstruktion intelligenter Systeme, die bestimmte menschliche Wahrnehmungs- und Verstandesleistungen maschinell verfügbar und praktisch nutzbar machen, und zum anderen die kognitive Modellierung, das heißt die Simulation kognitiver Prozesse durch Informationsverarbeitungsmodelle (ebd.). Konkreter, mit dem Begriff KI werden Modelle, Algorithmen und technische Lösungen beschrieben, die es erlauben, bisher vom Menschen ausgeführte komplexe Vorgänge auf lernende Maschinen und Software zu übertragen.11 Methoden der KI aktuell werden beispielsweise bei der Bild- und Spracherkennung, der Steuerung autonomer Systeme in Militär, Haushalt und Industrie, der medizinischen Diagnostik und Therapie und teilweise beim autonomen Fahren eingesetzt (EFI 2019: 170).12 Zusammengefasst lässt sich KI daher als Technologie im oben definierten Sinn (Einleitung) verstehen: »Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet KI als Sammelbegriff sowohl Anwendungen im Sinne technischer Artefakte und Programme (›Algorithmen‹ bzw. ›algorithmische Systeme‹) als auch Technologien im Sinne technischer Prozeduren und fungiert häufig auch einfach nur als Platzhalter für Themen der Digitalisierung.« (Bauberger et al. 2021: 908)

Informationsverarbeitungs-These

Wie bei der KI-Definition anklingt, ist die forschungsleitende Idee der KI die Informationsverarbeitungs-These (Ahrweiler 1995: 15). Diese besagt, dass kognitive Leistungen, das heißt Wahrnehmungs- und Verstandesleistungen des Menschen, als das Ergebnis von formalen Informationsverarbeitungsprozessen anzusehen, operationalisierbar, durch Modelle abbildbar und durch Algorithmen formalisierbar sind. Menschen werden als perzipierende und rezipierende Systeme begriffen, die Daten aus der sie umgebenden Welt aufnehmen und auf formalisierbare Weise verarbeiten. KI zielt entsprechend darauf, diese mithilfe von Computertechnologien gleich welcher Art technisch zu reproduzieren und als technisches System in verschiedensten sozialen und ökonomischen Bereichen anwendbar zu machen. Diese These kann als »shared belief« und Konstitutionsbedingung der KI-Wissenschaft angesehen werden (ebd.: 18 f.).

Dieser Anspruch ist fundamental und holistisch, denn er zielt darauf, letztlich über »intelligente« Systeme zu verfügen, die dem Menschen ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen sind (Larson 2021). Diese Vision impliziert, dass die KI einen stark interdisziplinären Charakter aufweist. Bezüge zur Philosophie ergeben sich aus grundsätzlichen Fragen über menschliches Denken und Handeln, Bezüge zur Linguistik ergeben sich aus Fragen nach Sprachverstehen und Sprachproduktion, während Psychologie und Neurowissenschaften Grundlagen zur Umsetzung von menschlichen Repräsentations- und Informationsverarbeitungsmechanismen liefern. Daneben existieren naturgemäß zentrale Bezüge zur Mathematik (Görz et al. 2021: 3).

Freilich ist von Anbeginn der KI an umstritten, wie weitreichend die Modellierung und Algorithmierung menschlichen Denkens und letztlich menschlicher »Intelligenz« gehen können.13 Konkret werden hierzu konträren Positionen vertreten, die sehr vereinfacht mit zwei Begriffen umschrieben werden:

Zum einen wird von der schwachen KI gesprochen; die Annahme ist, dass alles, was bei kognitiven Prozessen formal operationalisierbar ist, sich grundsätzlich auch mit formalen Systemen darstellen und auf einem Computer berechnen lässt. Vieles aber, was das menschliche Denken kennzeichnet und was mit Termini wie Kreativität oder Bewusstsein benannt wird, entzieht sich danach weitgehend einer Operationalisierung. Mit Systemen schwacher KI werden in der Regel Verfahren bezeichnet, die sich auf die Lösung konkreter Anwendungsprobleme richten.14

Zum Zweiten wird von der starken KI oder auch Artificial General Intelligence gesprochen. In dieser Perspektive sind Bewusstseinsprozesse generell nichts anderes als Berechnungsprozesse und menschliche Intelligenz und Kognition könnten auf bloße Informationsverarbeitung reduziert werden (Görz et al. 2021: 6 f.). Konzepte der starken KI versuchen, eine Maschinenintelligenz zu entwickeln, deren intellektuelle Fähigkeiten denen des Menschen gleichen oder diese sogar übertreffen (EFI 2019: 170).

Freilich ist festzuhalten, dass es heutzutage kein KI-System gibt, das den Bewusstseinsprozessen des Menschen auch nur nahekommt. Es ist innerhalb der Wissenschaft umstritten, ob solche Systeme jemals und – wenn ja – wann realisiert werden können. Es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der einschlägigen Fachleute Konzepte schwacher KI mit spezifischen Anwendungsfunktionen verfolgen und absehbar als realistisch einschätzen. Dies belegen vor allem auch die Interviewergebnisse der vorliegenden Studie. Als realistisch gilt, dass absehbar schwache KI-Systeme weiterentwickelt werden und in verschiedenste Anwendungsfelder diffundieren (Enquetekommission 2020: 50). Zugleich bleiben aber die weitreichenden Visionen einer Artificial General Intelligence virulent und werden von vielen KI-Akteuren als langfristig anzustrebende und nicht auszuschließende Entwicklungsperspektive der KI angesehen.15

2.2»Paradigmen« der KI

Die in der KI verfolgten Methoden sind verschieden und es werden von Anbeginn an divergierende Ansätze verfolgt. Es wird auch von verschiedenen »Paradigmen« der KI gesprochen, die zum einen als symbolische KI und zum anderen als konnektionistische bzw. neuronale KI bezeichnet werden (Görz et al. 2021: 11). Diese stellen für die Analyse und Erklärung der KI-Dynamik wissenschafts- und technologieseitig wichtige Einflussfaktoren und auch zentrale Merkmale einzelner Entwicklungsphasen dar. Die beiden Paradigmen basieren auf völlig unterschiedlichen Methoden und mathematischen Konzepten, stehen im Verlauf der Entwicklung zeitweise in heftiger Konkurrenz zueinander und richten sich auf sehr verschiedene Anwendungsprobleme (Ahrweiler 1995: 22 ff.).

Symbolische KI

Der Fokus der symbolischen KI zielt auf die Repräsentation von Wissen und die Verarbeitung von nicht numerischen Symbolen als wichtige Basis von Prozessen der Informationsverarbeitung. Arbeiten von Newell, Shaw und Simon aus der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre folgend, werden dabei Symbole als bezeichnende Objekte verstanden, die den Zugriff auf Bedeutungen – Benennungen und Beschreibungen – ermöglichen. Die symbolische Ebene ermöglicht die Betrachtung von Plänen, Prozeduren und Strategien und sie stützt sich auf Vorstellungen regelgeleiteter generativer Systeme. Gegenstand der symbolischen KI sind nicht kognitive Prozesse, sondern die Bedeutung, die sich einem Prozess aufgrund symbolischer Beschreibungen zuordnen und nach Regeln verknüpfen lässt. Symbolverarbeitende Ansätze in der KI lassen sich daher in der Weise verstehen, dass einzelne Denkschritte und das Wissen des Menschen direkt in eine Programmsprache übersetzt werden. Dabei werden ganzheitliche Denkprozesse in regelhafte Elemente zerlegt und die Regeln und ihr zugehöriges Datenmaterial in Software überführt (Görz et al. 2021: 12; Ahrweiler 1995: 23).