Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua - Roger Schöntag - E-Book

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua E-Book

Roger Schöntag

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Beschreibung

Die sprachliche Verwandtschaft zwischen Latein und Italienisch waren im Mittelalter nur vage bekannt. Dies ändert sich mit einer Diskussion im Jahre 1435, an der maßgebliche Humanisten wie Leonardo Bruni und Flavio Biondo beteiligt sind, die sich im Geiste der Rückbesinnung auf die Antike fragen, welche Sprache, d.h. welche Art von Latein, die Römer einst gesprochen haben mögen. Hieraus entspinnt sich nun eine Debatte (bis 1601) zwischen Lateinhumanisten und Vulgärhumanisten, an deren Ende sich die Erkenntnis durchsetzt, dass sich das Italienische (und andere romanische Sprachen) aus dem gesprochenen Latein der Antike, dem Vulgärlatein, herleitet. Die sprachwissenschaftliche Aufarbeitung dieser Debatte im Rahmen der italienischen Sprachenfrage (questione della lingua) ist Ziel und Gegenstand vorliegender Abhandlung.

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Seitenzahl: 1578

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Roger Schöntag

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietätenlinguistischen Verortung: Die sprachtheoretische Debatte zur Antike von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435–1601) Unter Berücksichtigung von Dante Alighieri und der mittelalterlichen Sprachphilosophie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395409

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ISSN0564-7959

ISBN 978-3-8233-9540-9 (Print)

ISBN 978-3-8233-0348-0 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel1.1 Thematik1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen1.3 Untersuchungsebenen1.4 Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel2. Forschungsstand3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle3.1.1 Varietätenlinguistische Perspektive3.1.2 Soziolinguistische Perspektive3.1.3 Entwurf eines Beschreibungsrahmens des Varietätenraums3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung4. Die Architektur des Lateins4.1 Lingua viva: Latein in der Antike4.1.1 Die Periodisierung4.1.2 Der Varietätenraum4.2 Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit4.3 Die Darstellung des Lateins und seiner Entwicklung in einem varietätenlinguistischen Modell5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen der Antike in der Frühen Neuzeit6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua6.1.1 Die questione vor dem Hintergrund von Renaissance und Humanismus6.1.2 Kurzcharakteristik der questione della lingua: Fragestellungen und Periodisierung6.1.3 Die „Barbarenthese“ im Kontext von generatio, alteratio und corruptio6.1.4 Das Verständnis von Sprache: lingua morta vs. lingua viva6.1.5 Die Sprachauffassung im Mittelalter6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini6.2.1 Methodische Präliminarien6.2.2 Der unverzichtbare Vorläufer: Dante Alighieri6.2.3 Der Beginn der Diskussion zur antiken Sprachkonstellation (1435)6.2.4 Leon Battista Alberti (Leo Baptista Alberti)6.2.5 Guarino Veronese (Guarinus Veronensis)6.2.6 Poggio Bracciolini (Poggius Florentinus)6.2.7 Francesco Filelfo (Franciscus Philelphus)6.2.8 Lorenzo Valla (Laurentius Vallensis)6.2.9 Weitere Humanisten des 15. Jh. und die Tradierung der Debatte ins 16. Jh.6.2.10 Zwischenfazit: Die prima generazione6.2.11 Pietro Bembo (Petrus Bembus)6.2.12 Baldassare Castiglione (Balthassaris Castillionis)6.2.13 Claudio Tolomei (Claudius Ptolemaeus)6.2.14 Lodovico Castelvetro (Ludovicus Castelvetrus)6.2.15 Benedetto Varchi (Benedictus Varchius)6.2.16 Celso Cittadini (Celsus Cittadinus)6.2.17 Weitere Humanisten des 16. Jahrhunderts6.2.18 Zwischenfazit: Die seconda generazione7. Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte8. LiteraturPrimärliteraturSekundärliteratur

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Version der im Juli 2020 eingereichten und im Juli 2021 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) angenommenen Habilitationsschrift zur Lehrbefähigung für das Fachgebiet Romanische Philologie, die vom Fakultätsrat mit dem Habilitationspreis der Philosphischen Fakultät ausgezeichnet wurde.

Es sei an dieser Stelle den Mitgliedern des Mentorats sowie den externen Gutachtern für die wertvollen Anregungen und konstruktiven Vorschläge zur Präzisierung von so manchem Einzelaspekt gedankt. Für einige kritische inhaltliche Anmerkungen und vor allem die vielen Etappen des mühevollen Lektorats gilt ganz besonderer Dank Dr. Patricia Czezior.

 

Erlangen im September 2021

1Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel

1.1Thematik

Das im Titel angezeigte Thema vorliegender Arbeit, nämlich die Untersuchung des Verständnisses von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit, ist dahingehend zu präzisieren, daß bei einer Analyse mit dem Fokus ‚Vulgärlatein‘ insofern immer auch die gesamte Sprache Latein in die Betrachtung miteinbezogen werden muß, als Vulgärlatein aus aktueller linguistischer Perspektive ganz prinzipiell einen Teilaspekt der lateinischen Sprache darstellt. Das bis heute bestehende Problem einer einheitlichen Definition von ‚Vulgärlatein‘ gilt erst recht für die hier untersuchte Epoche sprachtheoretischer Reflexion, in der das Konzept dessen, was man ab dem 19. Jh. in der Sprachwissenschaft unter ‚Vulgärlatein‘ versteht (cf. Kap. 5), erst nach und nach an Kontur gewinnt, es also um die Vorgeschichte dieses Konzeptes und linguistischen Begriffes geht. Für diese Zwecke wird ein Begriff von Vulgärlatein zugrundegelegt, der unabhängig von den heutigen zahlreichen Einzeldefinitionen einen Minimalkonsens beinhaltet, und zwar im Sinne einer weitgehend zu rekonstruierenden Basis bzw. Ursprache der romanischen Sprachen, die im Gegensatz zum klassischen Latein auf der gesprochenen Sprache Roms bzw. des römischen Reiches (Westteil) beruht und die in einzelnen schriftlichen Texten zutage tritt (cf. Quellen des Vulgärlateins).

Gegenstand der Untersuchung bilden ausgewählte Texte (v. infra) verschiedener Autoren zur Sprachreflexion im Italien der Frühen Neuzeit. Diese Schriften, die je nach Präferenz des Verfassers auf Italienisch oder Latein abgefaßt wurden, dienen als Basis, um die einzelnen Vorstellungen jener Autoren von dem in der Antike gesprochenen (und geschriebenen) Latein zu rekonstruieren. Im Weiteren soll dann, anhand dieser unterschiedlichen Auffassungen, die Entwicklung bzw. der Wandel des Verständnisses des antiken Lateins und seines Varietätenraumes nachgezeichnet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch einer Rekonstruktion eines metasprachlichen Diskurses. Ein wichtiger Aspekt dabei ist ebenfalls der im Untertitel der Arbeit angesprochene begriffsgeschichtliche Teil der Untersuchung, denn im Zuge der Aufarbeitung der eben erläuterten frühneuzeitlichen Diskussion ist es auch möglich und zugleich notwendig, die Entstehung des Begriffes und Konzeptes ‚Vulgärlatein‘ zu skizzieren. Dabei wird auch der antike Ursprung (cf. sermo vulgaris) mitberücksichtigt. Nichtsdestoweniger liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Nachzeichnung der angesprochenen humanistischen Debatte, in deren einzelnen Positionen sich diejenigen Vorstellungen zur Sprachkonstellation der Antike, d.h. vor allem bezüglich des schriftlichen Lateins und seiner mündlichen Varietät(en), abzeichnen, die letztlich Vorboten einer späteren sprachwissenschaftlichen Differenzierung von Latein und Vulgärlatein darstellen.

Den Rahmen für die vorliegende Untersuchung bildet die sogenannte questione della lingua, die Sprachenfrage in Italien, eine Diskussion um die adäquate Literatursprache (d.h. um einen schriftlichen Standard) des Italienischen, die von zahlreichen Gelehrten mit unterschiedlichen Positionen über mehrere Jahrhunderte hinweg intensiv geführt wurde (cf. Kap. 6.1).

Den Höhepunkt dieser intellektuellen Auseinandersetzung kann man im Wesentlichen im 16. Jahrhundert ansetzen, doch reichen einerseits ihre Wurzeln weiter zurück, nämlich in letzter Konsequenz zum Beginn einer umfassenderen literarischen Produktion auf Italienisch (cf. Tre corone) und damit zum potentiellen Konflikt mit der bis dahin dominierenden Schriftsprache Italiens und ganz Europas,1 dem Lateinischen. Ihren Abschluß findet die questione bekanntlich erst im 19. Jahrhundert, als sich schließlich, nicht nur auf der Ebene der theoretischen Diskussion, das in seinen Grundzügen bis heute gültige Modell durchsetzt, sondern mit der Schaffung des italienischen Nationalstaates auch die Voraussetzungen zu einer praktischen Umsetzung gegeben sind, wobei die Herausbildung und schließlich eine weitgehend flächendeckende Verbreitung eines Standarditalienischen im Bereich der mündlichen Kommunikation bis weit ins 20. Jahrhundert dauerte.

Die Sprachenfrage in Italien hat im Laufe der jahrhundertelangen Diskussion zahlreiche Facetten gezeitigt,2 wobei man zwei Kernfragestellungen ausmachen kann: Zum einen gab es zunächst den Konflikt unter den Zeitgenossen, ob es prinzipiell überhaupt möglich ist, im volgare, also der Volkssprache, literarische Werke hervorzubringen, die den gleichen sprachlich-stilistischen, intellektuellen und künstlerischen Stellenwert und Anspruch haben konnten wie die auf Latein abgefaßten. Zum anderen stellte sich gerade in Italien daran anschließend die Frage, welche Varietät des Italienischen man gebrauchen sollte, wenn man denn das Italienische dem Lateinischen als Schriftsprache vorzog.3 Im politisch zersplitterten Italien standen sich einerseits verschiedene diatopische Varietäten und deren scriptae gegenüber, die an verschiedene Machtzentren gekoppelt waren, andererseits gab es mit dem Werk der Tre corone ein übermächtiges literarisches Vorbild, welches in sich wiederum sehr vielfältig war und im 15./16. Jh. bereits archaisch anmutete. Nachdem nach und nach das Italienische als adäquate Sprache für einige literarische Gattungen weitgehend akzeptiert worden war, konzentrierte sich die Diskussion der weiteren Jahrhunderte auf die Frage nach der diatopischen und zeitlichen Verortung einer idealen italienischen Literatursprache.

Für die vorliegende Arbeit ist vor allem der erste Teil der italienischen Sprachenfrage von Relevanz, insofern im Schnittpunkt zwischen Lateinhumanismus und Vulgärhumanismus ein Diskussionsfeld eröffnet wurde, an dem sowohl die Parteigänger des Lateinischen partizipierten, als auch die Befürworter der italienischen Volksprache in der Literatur Anteil hatten: Es handelt sich dabei um die Frage, welche Art von Latein im antiken Rom bzw. im Imperium Romanum gesprochen wurde.

Die Beschäftigung mit dem Latein wurde nicht zuletzt durch den Geist der Renaissance, d.h. das wiedererwachte, verstärkte Interesse an der Antike angeregt. Seit dem 14. Jh. und vor allem im 15. Jh. begann man, zahlreiche Werke lateinischer und griechischer Autoren wiederzuentdecken, indem man sich in den Bibliotheken auf die Suche nach antiken Kodizes machte.4 Schon 1345 entdeckte Francesco Petrarca (1304–1374) in der Bibliothek der Kathedrale von Verona Briefe Ciceros,51392 stieß Coluccio Salutati (1331–1406) auf weitere Cicero-Briefe (Epistolae ad familiares) in derselben Stadt und Poggio Bracciolini (1380–1459), einer der Erfolgreichsten bei der Manuskriptsuche, entdeckte auf Reisen durch Deutschland und Frankreich während seiner Zeit als päpstlicher Sekretär auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) nicht nur Cicero-Schriften, sondern in St. Gallen auch eine komplette Fassung von Quintilians Institutio oratoria sowie zahlreiche weitere Texte antiker Autoren (cf. Burckhardt [1860] 2009:150–157; Sandys 1915:166–168). So konnte nicht nur der Kanon der lateinischen (und griechischen) Schriften erweitert werden, sondern durch diese intensive Recherchetätigkeit erfuhr auch die Rezeption klassischer Texte einen nachhaltigen Aufschwung. Insbesondere die in diesem Kontext verstärkte Auseinandersetzung mit Cicero hängt eng mit der ersten Phase der questione della lingua zusammen, in der die Frage nach der idealen lateinischen Literatursprache gestellt wird.

Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, daß im Zuge der oben genannten verstärkten Rezeption der römischen Texte, insbesondere Ciceros, man auch gleichzeitig die zu dieser Zeit bereits vorliegende Sprachreflexion mitrezipierte.6

Diese intensive Beschäftigung mit den klassischen lateinischen Texten, dem generellen Interesse an der Antike sowie der zentralen Fragestellung des Lateinhumanismus um ein adäquates, zeitgenössisches Latein sind – wie die Untersuchung zeigen wird – die zentralen Voraussetzungen, daß sich bei einigen Gelehrten nach und nach ein Bewußtsein für die Diglossiesituation der eigenen Epoche herausbildete, mit einem Schriftlatein als high variety7 und der italienischen Umgangssprache (meist in starker diatopischer Ausprägung) als low variety. Somit ergab sich parallel und in Verknüpfung mit der lateinischen questione dieses spezifische Interesse und damit auch die daran anknüpfende Auseinandersetzung mit der antiken Sprachsituation.

Die Teilnehmer an dieser Diskussion setzten sich also mit der konkreten Frage auseinander, welche Sprache die Römer wohl einst in ihrem täglichen Umgang sprachen – eben im Gegensatz zu jener, die durch die bekannte Literatur tradiert wurde – und wie diese Sprache des antiken römischen Volkes mit der Volkssprache des zeitgenössischen Italiens zusammenhing. Dadurch eröffnete sich eine Problematik, die wir heute gängigerweise mit der begrifflichen Dichtomie ‚Vulgärlatein‘ vs. ‚klassisches Latein‘ zu erfassen und abzugrenzen suchen. Die humanistischen Gelehrten versuchten, sich nach und nach eine immer präzisere Vorstellung von den sprachlichen Verhältnissen der Antike zu machen, wobei sie prinzipiell auf zwei Methoden zurückgriffen: zum einen auf den Vergleich mit ihrer eigenen Sprachsituation und zum anderen auf die Informationen, die ihnen die antiken Autoren lieferten. Die Argumentationen in dieser Diskussion waren jedoch nicht von einem originären Interesse an der Erforschung dieses Sachverhaltes geprägt, sondern müssen vor dem Hintergrund der Sprachenfrage und den dort vertretenen Positionen in Bezug auf das Verhältnis ’Latein vs. Volkssprache’ bzw. der Streitfrage um die Adäquatheit des Italienischen als Literatursprache gesehen werden.

Thema der vorliegenden Arbeit ist demgemäß ein metasprachlicher Diskurs im Italien der Frühen Neuzeit, der einerseits eng mit der questione della lingua verknüpft ist, andererseits aber seine eigene Dynamik entwickelt. Damit ist das Interesse an der Rekonstruktion dieses frühneuzeitlichen Disputes hier als ein genuin romanistisches zu verstehen, welches jedoch unzweifelhaft im Schnittpunkt auch mit anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Latinistik oder ganz allgemein der Philologie im traditionellen Sinne steht.

1.2Korpus und zeitlicher Rahmen

Die sich oft auch im mündlichen Streitgespräch herauskristallisierenden Positionen sind uns vor allem durch eine reichhaltige Traktatsliteratur überliefert oder in Form von theoretischen Überlegungen in anderen literarischen Werken (z.B. literarischer Brief, humanistischer Dialog, Apologie). Dabei können aufgrund der Vielzahl der Texte, die sich entweder vorrangig mit dieser Thematik beschäftigen oder aus denen sich zumindest diesbezügliche Stellungnahmen herauslesen lassen, nicht alle Eingang in die Analyse finden, sondern es seien hier nur solche berücksichtigt, die einen wesentlichen Beitrag in dieser Diskussion leisten. Die Selektion der Autoren und Texte richtet sich dabei im Wesentlichen nach denen bereits in der Forschung kanonisierten und sowie danach, ob ein Autor bzw. Text maßgeblich in der zeitgenössichen Rezeption ist und/oder inhaltlich das Thema um neue Aspekte bereichert (cf. Kap. 6.2).

Der zeitliche Untersuchungsrahmen ergibt sich aus den maßgeblichen Traktaten, die den Umbruch in der Auffassung des Lateins bzw. der Volkssprache markieren. Aus diesem Grund läßt sich ein Beginn dieses neuen Bewußtseins durch Dante Alighieri (1265–1321) mit seiner Schrift De vulgari eloquentia (1303/4–1307/8) fixieren (cf. Kap. 6.2.1). Diese Abhandlung – obwohl zeitlich sehr viel früher gelegen als die eigentliche Diskussion – ist insofern von zentralem Interesse, als hier einerseits die mittelalterliche Auffassung von Latein als einer unveränderlichen gramatica nochmals synthetisiert wird, aber andererseits Dante hierbei auch der Volkssprache einen wichtigen Stellenwert zuerkennt. Diese wiederum stellt er äußerst differenziert dar und bringt gleichzeitig die Idee der diasystematischen Diversität (Architektur) einer Sprache mit ins Spiel sowie den Gedanken der Wandelbarkeit einer Sprache.

Der tatsächliche Beginn der Diskussion, die um die Frage der antiken Sprachensituation kreist bzw. im Speziellen um die Frage, welche Sprache die Römer gesprochen hatten und wie daraus das Italienische entstehen konnte, ist hingegen durch Leonardo Bruni (1369/70–1444) und Flavio Biondo (1392–1462) markiert (cf. Kap. 6.2.2), die mit einem zunächst mündlich ausgetragenen Disput im Vorzimmer des Papstes letztlich die gesamte questione della lingua wenn nicht eröffneten, dann doch zumeist grundlegend anregten. Zudem werden in den dann bald darauf entstandenen Schriften – Bruni: An vulgus et literati eodem modo per Terentii Tuliique tempora Romae locuti sint (1435); Biondo: De verbis romanae locutionis (1435), Italia illustrata (1448–1458/1474) – zum ersten Mal einige wichtige Positionen dieser Diskussion fixiert, darunter auch das Argument der Korrumpierung des Lateins, die als corruptio-These in der heutigen Forschung geführt wird (cf. Kap. 6.1.1).

Im Folgenden werden dann zwei Perioden dieser Sprachdiskussion um die Antike unterschieden, und zwar mit Humanisten, die hier, in Anlehnung an bereits in der Forschung üblichen,8 aber chronologisch leicht anders verwendeten Begriffe, als prima generazione und als seconda generazione klassifiziert werden. Die erstere bezieht sich auf die Protagonisten des 15. Jhs., zu denen neben den Initiatoren der Debatte, Bruni und Biondo, Leon Battista Alberti (1404–1472), Guarino Veronese (1374–1460), Gian Francesco Poggio Bracciolini (1380–1459), Francesco Filelfo (1398–1481) und Lorenzo Valla (1407–1457) gehören, denen je eigene Kapitel gewidmet sind (cf. Kap. 6.2.4–6.2.8). Diesen folgen in einer kürzeren synoptischen Darstellung einige Autoren, die das vorliegende Thema weniger ausführlich behandeln oder weniger innovative Beiträge in die Debatte miteinbringen und die hier im Gegensatz zu den Protagonisten der Debatte, denen je ein eigenes Kapitel gewidmet ist und die deshalb als auctores maiores klassifiziert werden, als auctores minores benannt werden (cf. Kap. 6.2.9). Die zweite Generation der Gelehrten im 16. Jh. ist durch die maßgeblichen Vertreter Pietro Bembo (1470–1547), Baldassare Castiglione (1478–1529), Claudio Tolomei (ca. 1492–1556), Ludovico Castelvetro (1505–1571), Bendetto Varchi (1503–1565) und Celso Cittadini (1553–1627) repräsentiert. Neben diesen Protagonisten, die durch ihren allgemeinen Wirkungsradius und/oder die neuen Details, die sie zur Diskussion beisteuerten, als solche für eigene Kapitel ausgewählt wurden (cf. Kap. 6.2.11–6.2.16), folgt analog zur Übersicht des 15. Jhs. auch hier eine Zusammenstellung zu auctores minores in der vorliegenden Debatte (cf. Kap. 6.2.17).

Den zeitlichen Schlußpunkt der Untersuchung markiert demzufolge Celso Cittadini, der in seinem Trattato della vera origine (1601) zum ersten Mal nicht nur eine konkrete Vorstellung von der Heterogenität des Latein formuliert, und zwar auch im Wandel der Zeit, sondern der auch versucht, dies anhand von epigraphischen und literarischen Quellen zu belegen. Die Variabilität der Volkssprache ist zu diesem Zeitpunkt längst communis opinio, so daß er der heutigen Vorstellung vom ‚Vulgärlatein‘ in Bezug auf einige Aspekte schon ziemlich nahekommt.

Diese zeitliche Beschränkung ist insofern zu rechtfertigen, als einerseits mit Cittadini die Diskussion um die Sprachsituation in der Antike argumentativ zu einem Abschluß gebracht wurde und andererseits die weitere Geschichte des Begriffs ‚Vulgärlatein‘ Teil der modernen wissenschaftlichen Begriffsgeschichte darstellt, zu der eben jener wieder das Initium bilden würde.9

1.3Untersuchungsebenen

Zentrales Thema der vorliegenden Untersuchung ist die Vorstellung des Varietätenraumes des antiken Lateins, des Sprachwandels vom Lateinischen (bzw. Vulgärlateinischen) zu den romanischen Sprachen sowie allgemein der Konstellation der antiken Sprachen des römischen Imperiums in der Frühen Neuzeit im Spiegel zeitgenössischer Traktate. Die hier vorgenommen Analyse bedingt deshalb einerseits, daß auf das Latein der Antike Bezug genommen wird, also auf die historische Sprache in ihrer diasystematischen Heterogenität, andererseits auf das zeitgenössische Latein des 15./16. Jh. Da im Zuge der verschiedenen Einzelanalysen vielfache Relationen zwischen Objekt- und Metaebene auftreten, soll diese Beziehungen vorab noch einmal deutlich gemacht werden.

Auf Objektebene ist die Sprache Latein sui generis anzusiedeln sowie ihre historische Entwicklung. Dazu gehören im Einzelnen die Frage nach der diasystematischen Vielfalt des Lateinischen (diatopische, diastratische und diaphasische Variation), nach der Herausbildung einer lateinischen Schriftsprache und deren Entwicklung sowie nach der Entstehung einer klassischen Norm innerhalb dieser Schriftsprache und dem Verhältnis ‚Schriftsprache vs. gesprochene Sprache‘ im Laufe der Jahrhunderte. Darüberhinaus ist dazu auch die Frage nach der Ausdifferenzierung der romanischen Sprachen aus dem gesprochenen Latein hinzuzunehmen.

Auf der Metaebene erscheinen verschiedene als synchron zu begreifende Ausschnitte der Betrachtung. Zentrale Fragestellung ist der Blick auf das antike Latein durch die an dieser Diskussion beteiligten Humanisten (Synchronie ‚Frühe Neuzeit‘, cf. Kap. 6). Diese versuchten, die Architektur des Lateins in der Antike rekonstruieren, und zwar zum einen mit Hilfe des Vergleichs ihrer eigenen Situation in Bezug auf das Verhältnis ‚Latein vs. Volkssprache‘ in Italien und zum anderen vor allem, indem sie Hinweise zur Diversität des Lateinischen und zum antiken Verhältnis ‚Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit‘ bei den überlieferten römischen Autoren nachgingen bzw. als bestimmte Stellen als solche interpretierten. Dies war möglich, da die römischen Autoren selbst sowohl Überlegungen zur Sprache ihrer eigenen Zeit als auch früherer (schriftloser) Zeiten angestellt hatten, also auch versuchten, die Entwicklung der eigenen Sprache vor ihrer Zeit zu verstehen (Synchronie ‚römische Antike‘, cf. Kap. 4).

Wenn also aus heutiger Perspektive, wie in vorliegender Arbeit als Zielsetzung formuliert, die Vorstellung der Humanisten in Bezug auf das antike Latein rekonstruierten werden soll, und zwar mit den hier vorgestellten wissenschaftlichen Methoden anhand des zugrundeliegenden Korpus (cf. Kap. 1.1, 1.2 und 1.4), muß berücksichtigt werden, daß die Untersuchungen der Gelehrten der Frühen Neuzeit zum antiken Latein maßgeblich durch die metasprachlichen Kommentare der römischen Autoren zu deren eigener Zeit, aber auch zu früheren Epochen geprägt sind, wobei es nicht unerheblich ist, auf welches Korpus an Autoren und Texten jene frühneuzeitlichen Sprachtheoretiker sich dann im Einzelnen beziehen.

Im Fokus der Betrachtung stehen hier also synchrone Ausschnitte der Betrachtung (römische Antike, Frühe Neuzeit), und zwar einerseits auf der Metaebene (Sprachreflexion der Humanisten, Sprachreflexion der römischen Autoren) und andererseits auf Objektebene, indem in vorliegender Arbeit versucht werden soll, diese beiden historischen Sprachsituationen (Latein in der Antike, Latein/Italienisch in der Frühen Neuzeit) mit aktuellen wissenschaftlichen Kategorien zu erfassen.

Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei jedoch die dazwischenliegende metasprachliche Tradition, also die Kontinuität der Sprachreflexion von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, die das Denken und die Vorstellungswelt der untersuchten Humanisten mit beeinflußt hat.

In diesem Sinne ist zudem zu berücksichtigen, daß die ausgewählten synchronen Ausschnitte ebenfalls wieder in sich eine historische Entwicklung der metasprachlichen Betrachtung beinhalten, also natürlich keine absoluten Synchronien bilden, sondern relative, die z.T. sehr unterschiedlich große Zeiträume umfassen (röm. Antike mind. 1000 Jahre, Frühe Neuzeit ca. 200 Jahre). So sei beispielsweise darauf verwiesen, daß Isidor v. Sevilla (560–636 n. Chr.) sich auf Livius (59 v.–17 n. Chr.) bezieht (beide innerhalb der Synchronie ‚römische Antike‘) oder Cittadini (1601) Reflexionen von Dante (1303/4) aufgreift (beide Synchronie ‚Frühe Neuzeit‘), so daß man bei einem Argument, welches Cittadini von Isidor übernimmt, der sich selbst wiederum auf Livius bezieht, eine mehrfache Brechung der Perspektive berücksichtigen muß.

1.4Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel

Um den bereits vorgestellten metasprachlichen Diskurs mit seinen verschiedenen Aspekten, insbesondere in Bezug auf die Erfassung der gesprochene Sprache der römischen Antike und damit die Vorstellungswelt der Frühen Neuzeit in Bezug auf das Latein in seiner Architektur rekonstruieren zu können, werden in der vorliegenden Untersuchung zwei unterschiedliche methodische Verfahren angewandt.

Zum einen soll die zeitgenössische Traktatliteratur mit Hilfe des heutigen Instrumentariums varietäten- und soziolinguistischer Begrifflichkeit analysiert (cf. Kap. 3.1) und somit unter dieser Perspektive untersucht werden, was an Einsichten in die Architektur des Lateinischen und in Bezug auf das Verhältnis von ,Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit‘ bereits vorhanden ist. Dabei werden in diesem Analyseschritt zunächst bewußt bestimmte kontextuelle historische Implikationen weitgehend ausgeblendet, d.h. die heutigen Begrifflichkeiten in gewisser Weise anachronistisch angewendet, um das Verständnis der Sprache bzw. Sprachsituation klarer herausarbeiten zu können. Das gilt beispielsweise für Begriffe wie Varietät, Diasystem (diatopisch, diastratisch, diaphasisch), Diglossie und Ausbau genauso wie für Substrat, Superstrat und Adstrat.

Zum anderen ist es dann wiederum nötig, die einzelnen Traktate auch zu „rekontextualisieren“,10 also in dem entsprechenden zeitgeschichtlichen Diskurs zu verorten, d.h. die Texte ganz traditionell philologisch bzw. hermeneutisch zu interpretieren (cf. Kap. 3.2). Die beiden separat gewonnenen Erkenntnisstränge, die keinesfalls antogonistisch aufzufassen sind, sondern sich produktiv ergänzend, sollen dann wiederum zu einer Gesamtschau zusammengeführt werden. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise sollen folgende konkrete Untersuchungsziele erreicht werden:

Die Vorstellungen der einzelnen Autoren der Frühen Neuzeit hinsichtlich des Lateins, insbesondere dessen, was heutzutage unter Vulgärlatein zu verstehen ist, sollen herauspräpariert werden (cf. Kap. 6.2), d.h. moderne, innovative einerseits und traditionelle Konzeptionen andererseits deutlich gemacht werden, und zwar durch folgende Verfahren:

durch die Gegenüberstellung und Vereinigung der modernen Lesart der Traktate (varietäten- und soziolinguistische Begriffe) mit einer traditionellen, also der Verortung der untersuchten Schriften im Kontext der Zeit (‚Rekontextualisierung‘);

durch die Gegenüberstellung des damaligen Kenntnisstandes (Frühe Neuzeit) über das Latein und seine Varietäten mit den heutigen.

Die Darstellung des Prozesses des Wandels dieser Sprachvorstellungen über die Antike in dem Zeitraum von Dante bzw. von Leonardo Bruni/Flavio Biondo bis Celso Cittadini bildet den zweiten Fokus dieser Arbeit (cf. Kap. 7).

Da es sich mitunter um Autoren bzw. Schriften handelt, die im Rahmen der questione della lingua durchaus schon Gegenstand von Untersuchungen waren, soll eben genau dieser bisher eher vernachlässigte Aspekt zur Vorstellung über die Sprachsituation der Antike fokussiert werden (nicht die gesamte questione) und gerade auch bei schon des Öfteren diskutierten Positionen sollen kritische Stellen besonders hervorgehoben werden. Dabei erlaubt es die hier dargelegte, doppelte Analyse-Perspektive, das Denken im Spannungsfeld zwischen Mittelalter und Neuzeit adäquat darzustellen sowie Gemeinsamkeiten und Diskrepanzen zwischen frühneuzeitlichem und modernem Wissensstand präzise herauszuarbeiten.

Das Desiderat des hier skizzierten Unterfangens ergibt sich nicht nur aus der bisher fehlenden Begriffsgeschichte zum Vulgärlatein (cf. Kiesler 2006:8), sondern auch aus einer bisher noch nicht in gebotenem Umfang vorliegenden Nachzeichnung dieser spezifischen frühneuzeitlichen Diskussion,11 vor allem nicht unter dem dezidierten Blickwinkel moderner Erkenntnisse der Varietäten- und Soziolinguistik vor dem Hintergrund einer vertieften Forschung zur antiken Sprachsituation und der Entstehung der romanischen Sprachen.

Die Vorgehensweise die gesamte Debatte durch die Behandlung der Positionen der einzelnen Humanisten zu strukturieren, richtet sich zum einen ganz pragmatisch nach der Mehrzahl bisheriger Forschungsarbeiten zu diesem Thema (cf. Kap. 2), zum anderen hat es den Vorteil, daß dadurch die gesamte Denkrichtung einzelner Protagonisten und der Kontext der Entstehung einzelner Ideen zu dieser Debatte deutlicher herausgearbeitet werden können. Um hingegen den Verlauf der Debatte und bestimmte Entwicklungstendenzen sowie die entsprechenden einwirkenden Faktoren aufzeigen zu können, dienen die jeweiligen Zwischenresümees sowie das ausführliche Fazit am Schluß der Arbeit.

2.Forschungsstand

Der vorliegende Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur ist an dieser Stelle bewußt selektiv und knapp gehalten, da eine entsprechende Behandlung pro einzelnem Themenkomplex in den verschiedenen theoretischen Kapiteln bereits erfolgt ist. Ausgeklammert werden sollen hier deshalb insbesondere die Forschungsübersichten zu den Fragen der Sozio- und Varietätenlinguistik, da hierzu einzelne Kapitel folgen, in denen die aktuelle Forschungslage kontrovers diskutiert wird (cf. Kap. 3.1.1, 3.1.2), sowie gleichermaßen zum Phänomen der Rekontextualisierung und Hermeneutik (cf. Kap. 3.2).

Es sei deshalb mit einem kurzen Überblick zum Thema der Architektur des Lateinischen begonnen. Eine Einführung in die Geschichte der lateinischen Sprache bieten die Synopsen von Schmidt (1996) im Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL) mit der Genese aus dem Indogermanischen, von Steinbauer (2003) in den Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK) zur Romanischen Sprachgeschichte sowie von Herman (1996) im LRL und von Seidl (2003) im HSK, beide mit einer Aufschlüsselung der Varietäten. Als Handbücher bzw. umfangreiche Darstellung sind Clackson (2011) und Willms (2013) zu nennen, letztere mit expliziter Ausrichtung an Studierende. Hervorzuheben ist das außerordentlich fundierte Werk von Poccetti/Poli/Santini (2005) zur Geschichte und den Varietäten des Lateinischen mit vielen ausführlich diskutierten Einzelaspekten. Ebenfalls in ihrer Materialfülle unverzichtbare Werke sind die von Adams (2003, 2007), der wohl erstmals systematisch die Diatopik des Lateins untersucht sowie die Mehrsprachigkeit der römischen Gesellschaft.

Zu den Ursprüngen des Lateinischen liegt eine Monographie von Baldi (2002) vor, eine wichtige Studie zum Sprachbewußtsein und der (stilistischen) Variation des Lateinischen ist die sehr detaillierte und mit viel Belegmaterial angereicherte Arbeit von Müller (2003). Aus romanistischer Perspektive arbeitet Müller-Lancé (2006), der sowohl die lateinische Sprachgeschichte als auch varietätenlinguistische Differenzierungen berücksichtig. In der Latinistik gilt das Werk von Hofmann (³1951, [11926]) zur Umgangssprache als ein früher Blick auf die Variation des Lateinischen. Diese Perspektive ist zum Teil bis heute prägend und nur langsam finden moderne varietätenlinguistische Einflüsse ihren Weg in die philologisch geprägten Traditionen (cf. Handbücher supra).

Einen Überblick zum mittelalterlichen Latein liefert Stötz (2002) mit seinem fünfbändigen Handbuch zu Wortschatz, Bedeutungswandel, Lautlehre sowie Syntax und Formenlehre, außerdem Berschin (2012), das hingegen gesamtphilologisch konzipiert ist. Eine verdichtete aber komplette Geschichte des Lateinischen liegt mit Kramer (1997) vor, der auch varietätenlinguistische Aspekte miteinfließen läßt. An Grammatiken mit Kapiteln zur Sprachgeschichte und Variation des Lateinischen sind Leumann/Hofmann (1928), Palmer (1990) und Meiser (2010) zu nennen.

Das Vulgärlateinische wird in der Forschung erstmals von Schuchardt (1866–1868) in Bezug auf den Lautwandel thematisiert, im weiteren liegen wichtige Arbeiten von Silva Neto (1957), Vossler (1953), Väänänen (11963, 42002) und Herman (1967) vor, der zahlreiche weitere Tagungen zu diesem Thema initiiert hat.12 In neuerer Zeit sind Forschungskompilationen von Euler (2005) aus indogermanistischer Perspektive und Kiesler (2006) aus romanistischer Perspektive entstanden. Den Übergang zum Romanischen behandeln vor allem Coseriu (1978, 2008), Wright (1982), Iliescu/Slusanski (1991) und ganz aktuell der Beitrag von Reutner (2014) in der Reihe der Manuals of Romance Linguistics (MRL).

Der zweite Teil des Forschungsüberblicks soll nun dem zentralen Untersuchungsgegenstand der humanistischen Debatte im 15. und 16. Jh. gewidmet sein. Die Zahl der Publikationen zu den allgemeinen Themenbereiche ‚Renaissance‘ und ‚Humanismus‘ ist entsprechend der Vielfalt des Spektrums an Fachwissenschaften, die sich damit auseinandersetzen, geradezu unüberschaubar. Für eine Synopse zur hier relevanten begrifflichen und inhaltlichen Abgrenzung sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen (cf. 6.1.1) und vorab nur selektiv auf ein paar Grundlagen-Werke. Nach wie vor unverzichtbar und nicht nur wissenschaftsgeschichtlich von Relevanz sind die Darlegungen von Burckhardt (2009, [1860]), dessen Kultur der Renaissance in Italien bis heute immer wieder aufgelegt wird. Wichtige Werke, die ebenfalls dazu beigetragen haben, diesen Untersuchungsbereich, vor allem im Rahmen der Geschichtswissenschaft und Philologie zu konstituieren, liegen mit der zweibändigen Arbeit von Kristeller (1973/1975) sowie mit dem Sammelband und der Monographie von Buck (1969, 1987) vor, des Weiteren zählt dazu auch Baron (1966, 1968) und Burke (1998), der ebenfalls einen umfassenden Blick auf diese europäische Epoche wirft. Als Exempel einer ausgewählten neueren Übersicht seien die Aufsatzsammlung von Wyatt (2014) in der Reihe der Cambridge Companions to Culture genannt sowie die Monographien von Fubini (2003) und von Baker (2015). Erwähnenswert ist auch das aktuelle zweibändige Monumentalwerk zu Philosophie der Epoche von Leinkauf (2017). An spezifischen Lexika seien zum einen die mehrbändige englische Encyclopedia of the Renaissance von Grendler (1999a) genannt, das Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit von Jaumann (2004), der 9. Supplementband (Renaissance-Humanismus) des Neuen Pauly von Landfester (2014a) und schließlich, eher kompakt, das Lexikon der Renaissance von Münkler/Münkler (2005).

In Bezug auf das speziellere aber dennoch bereits recht gut untersuchte Thema der questione della lingua in Italien sind neben älteren Werken von Luzzato (1893), Vivaldi (1894–1898), Furnari (1900), Belardinelli (1904), Labande-Jeanroy (1925) und Hall (1942), Mazzacurati (1965) und vor allem Vitale (1984 [11960]) als Referenz zu nennen. Neuere monographische Übersichtsarbeiten wären beispielsweise Bagola (1991) sowie Marazzini (2013, 2018) und Vitale (2006) sowie die Sammelbände von Pozzi (1988) und Belardi (1995) und schließlich die Aufsätze von Grayson (1982), Baldelli (1982) und Marazzini (2016).13 Ebenfalls zu nennen ist zudem die Anthologie mit den wichtigsten Schlüsseltexten von Pozzi (1988) und Scarpa (2012), wobei vor allem die neueren Arbeiten wie die von Marazzini und Scarpa den Begriff der questione sehr weit fassen und bis in die aktuelle Sprachdiskussion ausdehnen.14 Ausgewählte Aspekte der Sprachendiskussion beleuchten zum Beispiel die Arbeiten von Schunck (2003), die den metasprachlichen Diskurs des Sprachwandels diskutiert und hierzu wertvolle Einblicke liefert, sowie Ellena (2011), die insbesondere die Rolle der norditalienischen Varietäten in den Blick nimmt, aber darüberhinaus auch einen wertvollen Leitfaden für diese Epoche mit einem umfangreichen Quelleninventar bietet, oder aber Sabbatino (1995), der speziell die Kontroverse in Neapel beleuchtet. Einen wichtigen Überblick zur Periodisierung der Epoche liefert Koch (1988b), dessen Grundgerüst auch im Vorliegenden als Bezugsrahmen aufgegriffen wird.

Als die wichtigsten Forschungsarbeiten für den Kernbereich vorliegender Arbeit, also die Debatte um die Sprachkonstellation der Antike vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung von Latein- und Vulgärhumanismus, seien folgende angeführt: An chronologisch erster Stelle sei Strauss (1938) genannt, der bereits früh den Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Ursprung des Konzeptes Vulgärlatein und der humanistischen Auseinandersetzung herstellt und nach wie vor zu konsultieren ist. Ebenfalls wertvolle Hinweise finden sich bei Klein (1957), der zahlreiche Aspekte der Gelehrten-Diskussion um das aufkommende volgare in der lateindominierten Literatur auf den Punkt bringt und in seiner Präzision in Bezug auf die sprachhistorischen Zusammenhänge unverzichtbar bleibt. Als Übersichtsstudien mit je unterschiedlichen Schwerpunkten in Form von Aufsätzen seien exemplarisch Migliorini (1949), Fubini (1961), Bahner (1983) und Kristeller (1973/1975; 1984) genannt sowie Faithfull (1953) zum spezifischen Aspekt der lingua viva. Einige ausgewählte Humanisten des 15. und 16. Jhs. werden in der knappen Zusammenstellung bei Dionisotti (1968) diskutiert, allerdings im Wesentlichen unter dem Aspekt der questione della lingua.

Die wichtigsten Protagonisten des 15. Jh. in dieser Debatte werden in der fundierten Darstellung von Tavoni (1984) behandelt, der zahlreiche Einzelfragen behandelt sowie wichtige Zusammenhänge zwischen den Konzepten der Humanisten herausarbeitet; zudem finden sich dort Auszüge der jeweils relevanten Primärtexte. Auf Tavoni basiert im Wesentlichen auch das Buch von Marchiò (2008), allerdings mit einem leicht veränderten und erweiterten Inventar der an der Debatte beteiligten Humanisten. Auch hier werden Primärtexte in Auszügen präsentiert, die dann im Wesentlichen inhaltlich zusammengefasst und partiell kommentiert werden, allerdings deutlich weniger tief als bei Tavoni. Äußerst wertvoll und kondensiert erweist sich die Monographie von Mazzocco (1993), der ebenfalls die wichtigsten Teilnehmer und den historischen Kontext behandelt, allerdings ohne Textauszüge wie Tavoni und Marchiò, dafür mit reichlich Zitaten und zahlreichen Belegen, die die Zusammenhänge zwischen den humanistischen Autoren verdeutlichen. Eine kürzere aber dennoch aufs Wesentliche reduzierte Darstellung findet sich in einigen Kapiteln bei Coseriu/Meisterfeld (2003). Hier werden ebenfalls keine vollständigen Primärtexte abgedruckt, sondern es finden sich nur einzelnen Schlüsselzitate, die dann kommentiert und in den sprachhistorischen Zusammenhang gestellt werden. Eine kommentierte Auswahl von Textauszügen allein mit Biondo, Bruni, Poggio und Valla wurde kürzlich auf Französisch von Raffarin (2015) herausgegeben, was eine nützliche Quelle in Bezug auf die Texte darstellt, jedoch als Sekundärliteratur wenig ergiebig ist. Eine sehr umfangreiche Einleitung und ausführliche Anmerkungen zu den abgedruckten Primärtexten samt italienischer Übersetzung bieten schließlich aktuell Marcellino/Ammannati (2015), allerdings rein für die Schlüsseltraktate von Bruni und Biondo. Für das 16. Jahrhundert kann außer auf die allgemeinen Darstellungen zur questione della lingua und zur italienischen Sprachgeschichte15 nur auf Schlemmer (1983a) zurückgegriffen werden, der in seiner Untersuchung allerdings den Fokus auf das Superstrat hat,16 sowie partiell auf Marazzini (1989), der das Sprachbewußtsein vom Humanismus bis zur Romantik untersucht. Vereinzelte Hinweise finden sich auch in der auf Vorlesungen der 1970er Jahre zurückgehenden und erst kürzlich herausgegebenen Sprachwissenschaftsgeschichte von Coseriu (2020). Neuere Aufsätze, die vorliegende Debatte mitberücksichtigen und das 15. und 16. Jh. behandeln, wären Schöntag (2017b) und Eskhult (2018).

Gerade die von italienischen Wissenschaftlern verfassten Arbeiten zu dieser Thematik haben oft eher eine gesamtphilologische Ausrichtung, in dem der hier im Fokus stehende linguistische Aspekt eher beiläufig behandelt wird, d.h. auch, daß Begiffe wie Diglossie oder diastratisch wenn, dann nur beiläufig auftreten und keine durchgehende sozio- oder varietätenlinguistische Verortung der einzelnen Traktate vorgenommen wird. So verwenden beispielsweise Tavoni (1984:XII, XV) und Mazzocco (1993:192, 195, 199) allein den Terminus diglossia, aber keine Begriffe des Diasystems; Marcellino/Ammanati (2015) immerhin neben diglossia (id. 2015:23) auch diastratico (id. 2015:25), während bei Marchiò (2008) mit diesen Begriffen gar nicht operiert wird. Letztlich bieten allerdings auch Schlemmer (1983a) oder Coseriu/Meisterfeld (2003), die sehr wohl einzelne Phänomene diasystematisch benennen, keine systematische varietätenlinguistische Analyse.

Die in der Forschung nachgezeichnete Debatte wird zudem meist auf die Anfangsjahre bzw. maximal auf das 15. Jh. beschränkt (v. supra),17 während hier, aus genannten Gründen (cf. Kap. 1.2) explizit der Zeitraum auf das 16. Jh. bzw. bis Anfang des 17. Jh. ausgedehnt wird (1435–1601) und somit auch mehr Humanisten und ihre Positionen berücksichtigt werden können.

Die Spezialliteratur zu den einzelnen Protagonisten der vorliegend nachgezeichneten Debatte sind den entsprechenden Kapiteln zu entnehmen, ebenso die zahlreichen Einzelstudien zu diversen Teilaspekten des abgehandelten Themas.

3.Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive

Wie bereits in der Einleitung angesprochen (cf. Kap. 1.3Untersuchungsebenen) besteht die methodische Grundlage der vorliegenden Arbeit darin, eine Analyse auf zwei Ebenen vorzunehmen, um das Ziel, nämlich die Erfassung der Vorstellungen über das antike Latein in der Frühen Neuzeit und den Wandel dieses Verständnisses adäquat erschließen zu können (cf. Kap. 1.4Untersuchungsmethode- und Untersuchungsziel).

Auf der ersten Analyseebene soll dabei versucht werden, die frühneuzeitlichen Texte rein unter dem Blickwinkel moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Erkenntnisse und Begrifflichkeiten zu erfassen, um sie dann auf der zweiten Untersuchungsebene wieder zu rekontextualisieren, d.h. sie adäquat im Kontext der Zeit zu verorten. Durch die Gegenüberstellung von moderner, rein varietäten- und soziolinguistischer und traditioneller, gesamtphilologischer, historischer Perspektivierung sollen zum einen methodisch schärfer als bisher die beiden Herangehensweise voneinander getrennt werden und zum anderen sollen durch eben diese Trennung auf der Analyseebene die Ansätze moderner Forschung präziser von den zeitgeschichtlichen Implikationen abgehoben werden.

Im Folgenden sei nun deshalb zunächst ein Abriß zu den theoretischen Grundlagen gegeben, in dem Modelle und Begrifflichkeiten im Sinne eines wissenschaftlichen Instrumentariums reflektiert werden sollen.

3.1Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle

3.1.1Varietätenlinguistische Perspektive

Die im vorliegenden Fall gestellte Aufgabe an ein begriffliches Instrumentarium ist die Fähigkeit zu einer möglichst präzisen Erfassung von bestimmten historischen Phänomenen und Konstellationen.

Vorrangig geht es um die Beschreibung der Architektur des Lateins in der Antike sowie um die Situationen seiner Verwendung, auch im Verhältnis zu anderen Sprachen. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, Phasen der Entwicklung des Lateins bis in die Frühe Neuzeit darzustellen sowie den situationsabhängigen Gebrauch von Latein und Italienisch in derselben Epoche. Dabei sollen sowohl die nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben ermittelbaren sprachlichen Phänomene und Situationen der Sprachverwendung beschrieben werden können, als auch deren Wiedergabe aus Sicht der antiken und humanistischen Sprachreflexion.

Zentrale Aspekte sind demnach die Vielfalt und Einheit von Sprachen, situationsbedingter Gebrauch von Sprachen sowie Sprachwandel.

Die beiden hier in Betracht zu ziehenden linguistischen Teildisziplinen Varietätenlinguistik und Soziolinguistik liefern jedoch Modelle, die in ihrer Mehrheit, nicht nur, aber hauptsächlich, für synchron gegenwartsbezogene Phänomene konzipiert sind; nichtsdestoweniger sind sie hier primäre Referenz und sollen hier zunächst weitgehend unabhängig von ihrer Adäquatheit in Bezug auf die anvisierte historische Konstellation untersucht bzw. kritisch hinterfragt werden.

Aus der hier im Vordergrund stehenden romanistischen Perspektive ist das prominenteste Modell zur Beschreibung der Heterogenität einer Sprache das von Coseriu entwickelte System der verschiedenen Dimensionen von Sprachvariation, das sogenannte Diasystem.

Zur adäquaten Erfassung und Beschreibung der Coseriu’schen Theorie gehört zunächst seine grundlegende Unterteilung des Sprachlichen an sich. So differenziert er in Bezug auf die Tätigkeit des Sprechens drei Ebenen, nämlich die universelle Ebene, die historische Ebene und die individuelle (oder aktuelle) Ebene. Was prima facie wie eine Umbenennung der Saussure’schen Konzepte und Begrifflichkeiten langage, langue und parole aussieht (Saussure 1986:23–35), birgt trotz aller unbestreitbarer Referenz an die prägende theoretische Differenzierung des Begründers des Strukturalismus einige Spezifika, die eine direkte In-Bezug-Setzung dieser Begriffspaare nicht zulassen.18 Zunächst einmal liegt der Trichotomie Coserius eine andere Perspektive zugrunde, insofern er durch seine Benennung die jeweilige Zuordnung und die Art der Abstraktion noch deutlicher in den Vordergrund stellt. Zudem weist Coseriu auf bestimmte Charakteristika hin, die der jeweiligen Ebene zugehören, die bei Saussure so nicht in gleicher Weise explizit werden.19 Dazu gehört u.a. die Tatsache, daß der universellen Ebene auch bestimmte sprachliche Phänomene zugeordnet werden können, Sprache also nicht nur eine unbestimmte Abstraktion oder eine reine faculté de langage (Saussure 1986:25) ist,20 oder, daß auf der Ebene der historischen Einzelsprache bestimmte Diskurstraditionen wirksam werden. Hinzu kommt, daß Coseriu dieses Konzept einerseits mit den von Humboldt abgeleiteten Merkmalen der menschlichen Sprache, nämlich ‚Tätigkeit‘ (energeia), ‚Wissen‘ (dynamos) und ‚Produkt‘ (ergon) korreliert (Coseriu 1958)21 und andererseits mit seiner Trichotomie ,System-Norm-Rede‘ (Coseriu 1952), wodurch die Saussure’sche Opposition langue vs. parole ergänzt werden soll.

Auf der Ebene der historischen Einzelsprache, die hier von besonderem Interesse ist, unterscheidet er aufgrund der Tatsache, daß diese für ihn keine Einheit darstellt, wiederum drei verschiedene Ebenen mit bestimmten Charakteristika:

- Unterschiede der geographischen Ausdehnung einer Sprache, d.h. DIATOPISCHE Unterschiede, die Lokaldialekte und Regionalsprachen konstituieren. […]22

- Unterschiede zwischen den sozial-kulturellen Schichten einer Sprache, d.h. DIASTRATISCHE Unterschiede, die sprachliche Ebenen wie Hochsprache, gehobene Umgangssprache, Volkssprache charakterisieren. […]

- Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachstilen, d.h. DIAPHASISCHE Unterschiede, die synphasische Ebenen wie gebräuchliche Umgangssprache, feierliche Sprache, familiäre Sprache, Sprache der Männer, Sprache der Frauen, poetische Sprache, Prosasprache usw. voneinander unterscheiden. (Coseriu 1973:38–39)

Eine wichtige Ergänzung dazu sind seine darauffolgenden Erläuterungen, die deutlich machen, daß er sich die einzelnen Ebenen als sich überlagernde vorstellt, so daß verschiedene Merkmale auch in Kombination auftreten können, wie er an dem Verb se dévorer erläutert, welches sowohl als ‚südfranzösisch‘ (diatopische Ebene) als auch als ‚familiär‘ (diaphasische Ebene) charakterisiert werden kann. Dies bringt ihm zum Ergebnis, daß „eine historische Sprache nie ein einziges Sprachsystem“ sein kann, „sondern immer ein DIASYSTEM, eine Summe verschiedener Sprachsysteme, die miteinander koexistieren und sich gegenseitig beeinflussen und überlagern“ (Coseriu 1973:40).23

Eine weitere wichtige Unterscheidung, die er in diesem Kontext trifft, ist die zwischen Architektur und Struktur einer Sprache, wobei er unter Architektur die „inneren Unterschiede“ versteht, also nicht die Oppositionen im Saussure’schen Sinne, sondern die Verschiedenheiten, die sich zwischen den eben ausgeführten Ebenen manifestieren, während die Struktur sich gerade durch die Oppositionen, d.h. durch die Unterschiede auf einer Systemebene, also innerhalb einer funktionellen Sprache, konstituiert (Coseriu 1970:32–34; 1973:40).24

Die in der Romanistik prominenteste Weiterentwicklung dieser diasystematischen Ebenengliederung der Sprache wurde nach einigen Vorarbeiten (z.B. Koch/Oesterreicher 1985; Koch 1985, 1986; Oesterreicher 1988) in einer Untersuchung zum gesprochenen Französischen, Italienischen und Spanischen von Koch/Oesterreicher (11990) präsentiert. Im Zuge weiterer Publikationen (z.B. Koch/Oesterreicher 1994, 2001; Koch 1997, 1999; Oesterreicher 1993, 1995, 1997) und einer überarbeiteten spanischen Übersetzung (1997) sowie einer Neuauflage der ersten Monographie (²2011) ist es inzwischen durchaus usus, vom Modell ,Koch/Oesterreicher‘ zu sprechen, wenn man eine bestimmte Betrachtungsweise in der romanistischen Varietätenlinguistik meint.

Dieses im Laufe der Zeit herausgearbeitete Modell ist durch viele moderne sprachwissenschaftliche Theorien und Konzepte inspiriert, dennoch kann man konstatieren, daß es bestimmte Grundpfeiler theoretischer Vorgänger-Modelle gibt, auf denen es ruht und die im Folgenden skizziert werden sollen.

Eine der für Koch/Oesterreicher fundamentalen Differenzierungen im Hinblick auf ihre Untersuchung zur gesprochenen Sprache ist die auf Söll (11974) zurückgehende Opposition von Konzeption und Medium. Ausgehend von der einfachen Feststellung, daß man Umgangssprache auch schreiben bzw. lesen kann und umgekehrt elaborierte Texte auch vorgelesen werden können und damit hörbar werden, trifft er zunächst die mediale Unterscheidung phonisch vs. graphisch mit dem Hinweis, daß erstere Kommunikationsform die primäre sei,25 um dann noch eine konzeptionelle zwischen schriftlich und mündlich vorzunehmen (cf. Söll 1985:19–20).

Söll, der seine theoretischen Überlegungen zwar prinzipiell allgemein verstanden haben will, aber diese rein anhand des Französischen konzipiert, stellt im Folgenden die sich überlagernden Differenzierungen zwischen code phonique vs. code graphique und code/langue parlé vs. code/langue écrit in einer Matrix dar. Bedingt durch den seit der Normierungsphase des 16./17. Jh. großen Normdruck im Französischen und die dadurch historisch gewachsene große Diskrepanz zwischen konzeptionell gesprochener und konzeptionell geschriebener Sprache, lassen sich die Unterschiede im Modell besonders gut illustrieren.

Koch/Oesterreicher (2011:3) übernehmen von Söll – unter Auslassung zahlreicher weiterer interessanter dort diskutierter Ansätze26 – genau diesem Aspekt und betonen dabei vor allem die absolute Dichotomie der medialen Opposition im Sinne einer Entweder/Oder-Relation und das Kontinuum im Bereich der konzeptionellen Differenzierung von ‚geschrieben‘ vs. ‚gesprochen‘. In der von Koch/Oesterreicher übernommenen Matrix von Söll, die sie je um ein italienisches und spanisches Beispiel ergänzen wird ein grundsätzliches Problem offenbar, nämlich, daß einerseits die Relation von konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit je Sprache eine andere ist und andererseits die mediale Repräsentation eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.27 So sollte nach Hunnius (2012:38–41) dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, grundsätzlich mehr Gewicht beigemessen werden, da die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist. Gerade in Bezug auf die neuere Kommunikation und ihre Formen (v. infra E-Mails, Chats, Online-Foren etc.) wird dies auch von Krefeld (2015a) kritisch gesehen und von Massicot (2015:112, 149–150, 190–191) empirisch gestützt, die ebenfalls die größere Abhängigkeit vom Medium hervorhebt.

Ein wesentlicher Verdienst von Koch/Oesterreicher ist es nun, mithilfe der Ergebnisse der bisherigen Forschung zu den je unterschiedlichen Implikationen von gesprochener und geschriebener Sprache sowie, damit zusammenhängend, bestimmten Kommunikationsmustern bzw. Versprachlichungsstrategien,28 ein Modell entwickelt zu haben, welches das von Söll postulierte konzeptionelle Kontinuum in Bezug auf spezifische Faktoren näher erfaßbar machen soll. Um den Grad konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit einer Äußerung zu bestimmen, schlagen sie zehn Parameter vor, die die Kommunikationsbedingungen einer konkreten Äußerungssituation beschreiben sollen: Grad der Öffentlichkeit, Grad der Vertrautheit (der Kommunikationspartner), Grad der emotionalen Beteiligung, Grad der Situations- und Handlungseinbindung, Referenzbezug (Bestimmung der Sprecher-origo), Grad der physischen Nähe (der Kommunikationspartner), Grad der Kooperation (Mitwirkungsmöglichkeiten), Grad der Dialogizität, Grad der Spontaneität, Grad der Themenfixierung (Koch/Oesterreicher 2011:7). Mit Hilfe dieser Parameter ist nun für sie jede Äußerung innerhalb des von ihnen so genannten Kontinuums zwischen kommunikativer Nähe und kommunikativer Distanz exakt zu verorten.29

Nichtsdestoweniger wurden mit dieser Zusammenstellung wichtige Anhaltspunkte zur Einordnung von Gesprächssituationen geliefert, die dann die beiden Autoren in Korrelation zu bestimmten Versprachlichungsstrategien setzen, dargestellt in der inzwischen bekannten Graphik eines Parallelogramms, in der die mediale Differenzierung der Sprache (graphisch/phonisch) und das konzeptionellen Nähe-Distanz-Kontinuum verknüpft werden. Der Grad von Nähe bzw. Distanz wird dabei durch die genannten Kommunikationsbedingungen determiniert und äußert sich in Form von bestimmten Sprachphänomenen und Versprachlichungsstrategien in einer konkreten Äußerung in einer bestimmten Sprache (cf. Nähesprechen vs. Distanzsprechen). Im Zuge dieser Korrelierung wird auch deutlich, daß es zwischen dem graphischen Code und der Distanzsprache sowie zwischen dem phonische Code und der Nähesprache eine bestimmte Affinität gibt (Koch/Oesterreicher 2011:12). Hierbei sei noch darauf verwiesen, daß die Parameter der Versprachlichungsstrategien – aufgeführt sind nur Art der Kontextpräferenz, hoher/niedriger Planungsgrad, Vorläufigkeit/Endgültigkeit, Aggregation/Integration – noch kürzer als die Kommunikationsbedingungen abgehandelt werden (weitere Erläuterungen u. Parameter in Koch/Oesterreicher 1985:21–23), obwohl angesichts der dort durchgeführten Anwendung auf die drei romanischen Sprachen eigentlich das Gegenteil der Fall sein müßte.30

Indem Koch/Oesterreicher (2011:14) noch auf den Begriff ‚Diskurstradition‘ rekurrieren und diesen ebenfalls zu einem wichtigen Pfeiler ihres Gesamtmodells machen, vervollständigen sie zum einen das Erklärungsmuster, wieso Mündlichkeit anderen Regeln unterworfen ist als Schriftlichkeit, und können zum anderen gleichzeitig argumentieren, inwiefern jedwede Äußerung bestimmten Traditionen und Normen unterworfen ist.31

Das Konzept der Diskurstradition geht prinzipiell auf Coseriu (1980) zurück, doch wurde es auch durch Arbeiten von Schlieben-Lange (1983) und anderen maßgeblich mitgeprägt, bis schließlich Koch (1988) den eigentlichen Begriff ‚Diskurstradition‘ einführte und näher bestimmte. Im Weiteren entstanden dann prägende Arbeiten von Koch (1997), Oesterreicher (1997) sowie Aschenberg/Wilhelm (2003), Wilhelm (2001) und Kabatek (2011) zu diesem wichtigen Konzept, welches auch in vorliegender Arbeit eine tragende Rolle einnehmen wird.

Mit ‚Diskurstradition‘ wird ein wichtiger Aspekt des Coseriu’schen Diasystems charakterisiert, insofern eine historische Einzelsprache von bestimmten Traditionen des Sprechens bzw. Schreibens geprägt ist. Im Zuge seiner Textlinguistik exemplifiziert Coseriu, wie die Produktion von (schriftlichen) Äußerungen nicht nur der Norm einer Sprache unterliegt, sondern auch gewissen historisch gewachsenen Traditionen der Versprachlichung:

Einen Text aufgrund der Kenntnis einer besonderen Texttradition („Sonett“, „Roman“) und aufgrund einer einmaligen Intuition als Gefüge von individuellen Redeakten produzieren. (Coseriu 1994:46)

Im Hinblick auf die Frage nach der Angemessenheit einer Äußerung bzw. eines Diskurses nimmt Koch die Coseriu’sche Frage nach einer spezifischen Norm für einen Diskurs auf und beantwortet diese damit, daß hierbei gewisse Regeln wirksam werden, die zusätzlich zur allgemeinen Sprachnorm einer bestimmten Einzelsprache funktionieren.

Doch orientiert sich die Angemessenheit nicht nur an den idiosynkratischen Parametern des je individuellen Diskurses, sondern auch an den Traditionen, in denen er steht. Dies sind einerseits natürlich die Sprachnormen, und andererseits aber – gewissermaßen querliegend dazu – bestimmte Diskurstraditionen, die offensichtlich als Diskursnormen intersubjektiv gültig sind und den jeweiligen Sinn eines Diskurses mitkonstruieren: Textsorten, Gattungen, Stile etc. (Koch 1988:341–342)

Im Weiteren verweist Koch (1988:342) auf bestimmte Diskursregeln, die zwar auf Sprachregeln basieren, aber nicht unbedingt einzelsprachlich gebunden sind; sie sind konventionell und historisch gewachsen und damit konstitutiv für eine bestimmte Art des Diskurses.

Zu ergänzen ist dazu noch, daß Diskurstraditionen mehr sind als Textsorten, literarische Gattungen oder Stile, denn Diskurstraditionen sind nicht nur auf die Schriftlichkeit beschränkt, im Gegenteil, das gesamte Spektrum menschlicher Äußerungen, im Sinne eines Textes (in weitester Auslegung) bzw. Diskurses ist durch bestimmte historisch gewachsene Traditionen strukturiert. Das schließlich von Wilhelm (2001) synthetisierte Verständnis von Diskurstradition ist zentral für das von Koch/Oesterreicher entworfene Gesamt-Modell, denn einzelsprachliche Phänomene sind prinzipiell immer auch im Kontext ihrer diskurstraditionellen Verankerung zu untersuchen, damit sie varietätenlinguistisch zu verorten sind.

Jeder Text/Diskurs steht in einer bestimmten Diskurstradition, er befolgt die Regeln einer bestimmten Textgattung. So wie der Sprecher für seinen Äußerungsakt eine bestimmte Einzelsprache oder ein einzelsprachliches Register auswählt […], so muß er sich auch für eine bestimmte Diskurstradition […] entscheiden. So wie es keine sprachliche Äußerung ‚außerhalb‘ einer historischen Einzelsprache geben kann […], so kann es auch kein Sprechen ‚außerhalb‘ einer bereits etablierten Diskurstradition geben: Unser Sprechen bedient sich notwendig der Form des Grußes, der Gedichtsammlung, des Telephongesprächs, des Briefes usw. Jede Rede ist einzelsprachlich, und sie ist gattungshaft, diskurstraditionell geprägt (Wilhelm 2001:467).

Im Rahmen ihrer theoretischen Überlegungen, die letztlich darauf abzielen, sprachliche Variation und Varietäten adäquat beschreiben zu können, insbesondere im Bereich der Mündlichkeit, versuchen nun Koch/Oesterreicher aus den bisher beschriebenen Grundpfeiler – d.h. Konzeption/Medium (Söll), Diasystem (Coseriu), Diskurstraditionen (Koch et al.), Nähe/Distanz (Koch/Oesterreicher) – eine Synthese, indem sie die Parameter ,Mündlichkeit/Schriftlichkeit‘ und Nähe/Distanz in das Coseriu’sche Diasystem integrieren und dabei eine vierte Dimension erschaffen (cf. Koch/Oesterreicher 2011:16).

In ihrem System des Varietätenraums gibt es – ganz analog zu Coseriu – die Dimensionen diatopisch, diastratisch, diaphasisch, die als markiert apostrophiert werden und die Dimension der nicht-markierten Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit. Diese neue Ebene ,gesprochen/geschrieben‘ (im konzeptionellen Sinn) verfügt nun über die Pole ‚Nähe‘ vs. ‚Distanz‘ und ist in sich wiederum in zwei Ebenen gegliedert, wobei die erste innerhalb des Nähe-Distanz-Kontinuums auf den universalen Aspekt rekurriert und die zweite auf spezifisch einzelsprachliche Phänomene Bezug nimmt. Die Strukturierung der einzelnen Ebenen des Varietätenraums ergibt sich aus dem von Coseriu entlehnten Konzept der Varietätenkette,32 die in der Interpretation von Koch/Oesterreicher (2011:16) besagt, daß bestimmte sprachliche Phänomene im Zuge einer Veränderung ihrer Funktion innerhalb einer Sprache prinzipiell entlang der Dimensionen diatopisch → diastratisch → diaphasisch → unmarkierte Nähesprache/Distanzsprache aufrücken können, und zwar unidirektional allein in dieser Abfolge (und ggf. auf einer „Teilstrecke“ davon).33

Das unbestreitbare Verdienst des in zahlreichen Publikationen immer wieder mit neuen Nuancen bedachten Modells von Koch/Oesterreicher liegt sicherlich darin, wichtige Aspekte und Bedingungen im komplexen Gefüge von mündlicher und schriftlicher Kommunikation sichtbar und faßbarer gemacht zu haben. Dazu gehört vor allem die konsequente Weiterentwicklung der Söll’schen Dichotomie von Medium vs. Konzeption und die Etablierung des Nähe-Distanz-Kontinuums mit den sie konstituierenden Parametern sowie die Entwicklung des Konzeptes der Diskurstraditionen. Obwohl prinzipiell zunächst zur Erfassung des aktuellen synchronen Varietätenraums einer Sprache konzipiert, eignet sich das Modell auch zur Erfassung von historischen Sprachsituationen.34 Dabei kommt neben den Diskurstraditionen auch den im Rahmen ihrer Theorie entwickelten Begrifflichkeiten zur Kennzeichnung der Transferprozesse eine wichtige Bedeutung zu. So wird strikt zwischen der medialen Verschriftung (phonisch → graphisch) bzw. Verlautlichung (graphisch → phonisch) und der konzeptionellen Verschriftlichung (gesprochen → geschrieben) bzw. Vermündlichung (geschrieben → gesprochen) unterschieden, wobei der konzeptionelle Bereich als Kontinuum zu verstehen ist (cf. Oesterreicher 1993:271–272; Koch/Oesterreicher 1993:587; 2001:587).35

Das Koch/Oesterreicher-Modell mit all den hier geschilderten Facetten ist im weiteren einerseits auf große Akzeptanz gestoßen und wurde immer wieder rezipiert,36 andererseits gab es im Zuge dieser vertieften Auseinandersetzung mit dieser Theorie auch zahlreiche kritische Hinweise auf inhärente Probleme. Kabatek (2003:203–204), Schöntag (2014:512–519) und Krefeld (2015a:265–268) fassen einige der wichtigsten Kritikpunkte zusammen, wobei der Hauptaspekt die Streitfrage ist, ob es zwingend notwendig ist, den unmarkierten Nähe/Distanz-Bereich als eine vierte Dimension zu eröffnen.37 Wie bei Kabatek zurecht vermerkt, gerät dabei die Bedeutung des medialen Aspektes, z.B. bei der Herausbildung einer Distanzsprache in einer Schriftkultur, ins Hintertreffen und vor allem ist es ganz prinzipiell kontrovers, ob diese – diamesischen Unterschiede, wie es Mioni (1983:508–509) ohne die Differenzierung von Konzeption und Medium nennt – nicht Teil der Diaphasik sind.38 In der Kritik stehen auch die Überschneidung von Diaphasik und Diastatik, die Varietätenkette bzw. ihre Unidirektionalität sowie die Vermischung von universalen und einzelsprachlichen Kriterien.39

Merkwürdig allein in der Graphik zum Varietätenraum erscheint m.E. aber auch, daß hier eine wohl eher nicht beabsichtigte Affinität von ‚Nähe‘ und ‚niedrig‘ suggeriert wird, denn im Zuge der Darstellung des Kontinuums innerhalb der einzelnen Ebenen (diatopisch stark/schwach, diastratisch niedrig/hoch, diaphasisch niedrig/hoch) wird explizit die linke Seite des gesamten Spektrums als ‚gesprochene Sprache‘ im weiteren Sinne gefaßt (cf. Koch/Oesterreicher 2011:17). Unzweifelhaft ist es jedoch möglich ein stilistisch als eher ‚hoch‘ einzuordnendes Gespräch/Rede noch dem Bereich der konzeptionellen Mündlichkeit und damit der Nähesprache zuzurechnen – man kann sich durchaus elaboriert ausdrücken (z.B. im Rahmen eines Seminars) und trotzdem sind Merkmale wie Hesitationen, Anakoluthe etc. zu registrieren.

Eine damit verknüpfte Fragestellung ist die der Verankerung der Standard- oder Normvarietät einer Sprache in diesem Modell oder neutraler formuliert die Referenzvarietät.40 Wie Dufter (2018:67–69) zu Recht festestellt ist es nicht unproblematisch, die üblicherweise als diatopisch ,neutral/unmarkiert‘, diastratisch ,höhere Gesellschaftsschicht‘, diaphasisch ‚höheres Register‘ verstandene variété zéro (ibid. 2018:67) eindeutig zu verorten, zumal wenn es sich um nicht-standardisierte Sprachen – das sind die meisten der Welt – oder plurizentrische Sprachen handelt.

Weitere Probleme des Modells ergeben sich vor allem im Bereich der konkreten Anwendung wie am empirischen Teil von Koch/Oesterreicher (2011) selbst deutlich wird.

So beginnt das Kapitel zur Italienischen Nähesprache im weiteren Sinne, in welchem diastratische und diaphasische Merkmale zusammen untersucht werden, mit einer Apologetik:

Dass wir diese Mittelzone im folgenden Abschnitt zusammenfassen, heißt nicht, dass wir den bedeutsamen Unterschied zwischen der diastratischen und der diaphasischen Varietätendimension verwischen wollen. (Koch/Oesterreicher 2011:208)

Dies mag theoretisch glaubhaft und begründet sein, aber die weiteren Ausführungen zu den einzelnen Stilregistern (Diaphasik) und den einzelnen schichtengebundenen Varietäten (Diastratik) zeigen, genauso wie die angesprochenen einzelnen Merkmale, daß die Unterscheidung tatsächlich nicht ohne weiteres aufrechtzuerhalten ist. Exemplifizieren läßt sich das an der Behandlung des italiano popolare, welches sie als eine genuin diastratische Varietät (ibid. 2011:208) bezeichnen, und zwar im Gegensatz zum français populaire, welches strikt diaphasisch wäre. Dann sind sie jedoch gezwungen zu konstatieren, daß es generell im Italienischen keine lautlichen Merkmale gibt, die „genuin diastratisch oder diaphasisch markiert“ (ibid. 2011:2009) wären. Im Bereich der Morphosyntax wiederum gäbe es wiederum „praktisch keine morphosyntaktischen Erscheinungen, die genuin diaphasisch niedrig markiert sind“ (ibid. 2011:210). Zwischenresümee wäre dann, daß in der Lautung aus diastratischer und diaphasischer Perspektive keine Merkmale vorhanden sind (nur sekundäre aus der Diatopik) und in der Morphosyntax nur diastratische, also solche des italiano popolare. Was die Lexik anbelangt, so ist die Diastratik hier im Prinzip auf Gruppensprachen beschränkt (gerghi) (ibid. 2011:211), es sind also keine bzw. kaum Merkmale festzustellen, die dem italiano popolare im Sinne einer schichtenspezifischen Sprache zuzurechnen wären. Aus ihrer eigenen Argumentation, nach der ja prinzipiell Phänomene von der diastratischen Dimension in die diaphasische aufrücken können, wäre an dieser Stelle doch eigentlich die Schlußfolgerung nötig, daß das italiano popolare im Italienischen, offensichtlich auch auf der diaphasischen Ebene funktioniert.41 Zudem wird offensichtlich, daß beide Dimensionen, zumindest für das Italienische, kaum zu trennen sind, sonst gäbe es zahlreichere und salientere Unterscheidungsmerkmale. Weiterhin wird ebenfalls deutlich, daß innerhalb der Diastratik – von Gruppensprachen abgesehen – keine weiteren Schichten des Substandards faßbar sind und in der Diaphasik die verwendeten Begrifflichkeiten kaum zuzuordnen sind, wie sie selbst eingestehen.42

Was die Italienische Nähesprache im engeren Sinne anbelangt, d.h. die Dimension der unmarkierten Mündlichkeit, so konzentrieren sich die herausgefilterten Merkmale im Wesentlichen auf die Morphosyntax (ibid. 2011:213). Gerade bei so manchem der hier aufgelisteten sprachlichen Charakteristika stellt sich jedoch unweigerlich die bereits von zahlreichen Kritikern angesprochene Frage, ob dies nicht doch eher eine Frage des Registers ist. Betrachtet man beispielsweise das System der Demonstrativa, in dem zwischen dem dreistufigen im Schriftlichen und dem zweistufigen im Mündlichen unterschieden wird, so ist zumindest zu bezweifeln, ob das Modell der präskriptiven Norm in konzeptionell und medial schriftlichen Texten noch durchgehalten wird. Über aller Differenzierung schwebt zudem im Italienischen immer die Frage nach der diatopischen Prägung, was eine Einordnung in die Dimensionen der Diastratik/Diaphasik und erst recht in die vierte der Unmarkiertheit erheblich erschwert. Koch/Oesterreicher (2011:213–214) gestehen für die Nähesprache im engeren Sinne ein, daß aufgrund der diatopischen Implikationen für das Italienische hier keine Aussage für den lautlichen Bereich getroffen werden kann, woran sich jedoch unweigerlich die Frage anschließt, wieso dies dann ohne weiteres für andere Bereiche möglich sei.

Damit soll nicht etwa das Modell per se in Frage gestellt werden, sondern lediglich, daß unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Varietätenräume haben, die je auf eine andere Art und Weise funktionieren. Es hat wohl durchaus seine Berechtigung, daß Söll einst seine begrifflichen Unterscheidungen am Französischen entwickelte, da in dieser Sprache der Abstand zwischen gesprochener und geschriebener Sprache enorm groß ist. Dies ist auf die starke Normierungsphase, die das Französische durchlief, zurückzuführen und die noch immer starke Präsenz einer präskriptiven Norm, die wohl auch dazu beitrug, daß sich ein dezidiertes Bewußtsein für Stilregister herausgebildet hat.43 Zudem hat sich das Französische – zumindest in Frankreich – zu einer Sprache mit sehr schwacher diatopischer Ausprägung entwickelt.44 Mit anderen Worten: Wenn eine Sprache in das Koch/Oesterreicher-Modell paßt, dann am ehesten das Französische. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist vor allem, daß man das Coseriu-Koch/Oesterreicher-Modell flexibler handhabt und nicht der Versuchung erliegt, alle „Leerstellen“ mit sprachlichen Merkmalen und Kategorien auffüllen zu müssen.

Das Problem der „Enge“ des Modells, und zwar schon des ursprünglichen bei Coseriu, wird genau an der besprochenen Schnittstelle zwischen Diaphasik und Diastratik virulent, wie sich in der umfangreichen Forschung zu varietätenlinguistischen Fragestellungen auf der Basis des Diasystems zeigt.45 Problematisch erscheint vor allem die Frage, wie die diastratische Ebene in modernen Gesellschaften zu verstehen ist, in denen es keine ausgeprägten Schichten mehr gibt, bei denen durch ein entsprechendes Standes- oder Klassenbewußstein auch die Art der sprachlichen Äußerung eben an diese Gesellschaftsschicht (lat. stratum) gebunden ist. Andererseits sind die (post)modernen Gesellschaften nach wie vor in verschiedene Gruppen gegliedert, aber zum Teil eben in anderer Form, wobei stärker als zu früheren Zeiten ein Individuum oft an vielen verschiedenen sozialen (und sprachlichen) Gruppen partizipiert. Letztlich hat es sich in weiten Teilen der Forschung eingebürgert den Begriff ‚diastratisch‘ sowohl für bestimmte an Schichten gebundene Varietäten zu verwenden, als auch im Sinne von Gruppen-, Sonder- und Fachsprachen.46 Das mag unter Umständen vertretbar sein, wenn man eine Gesellschaftsschicht im Sinne einer großen Gruppe interpretiert, aber wirklich schlüssig ist diese Vermengung von Ebenen nicht. Hinzu kommt, daß innerhalb von einzelnen Gruppensprachen – zu bestimmen nach Parametern wie Alter, Geschlecht, Beruf etc. – wiederum eine große Heterogenität festzustellen ist.47

Der Versuch, diese im Zuge weiterer Forschung vermehrt in den Fokus geratenen Bereiche gruppensprachlich bedingter Kommunikation zu klassifizieren, mündete vor allem in der Romanistik in eine Explosion der dia-Begrifflichkeiten. Eine erste Erweiterung erfuhr dabei das Coseriu’sche Dreierschema durch die Auseinandersetzung mit der metalexikographischen Forschung (cf. Hausmann 1977, 1989) und wurde bis hin zu einer extremen Ausprägung bei Schmidt-Radefeldt (1999)48 oder Thun (2000) betrieben. Die Blickweise schwankt letztendlich zwischen einer Gleichberechtigung aller neu konzipierten dia-Ebenen und der Unterordnung aller neuen unter das Dach der Diastratik. In beiden Fälle stößt das zunächst kompakte Modell – das ja auch schon von Anfang an umstritten war – an die Grenzen seiner Belastbarkeit.49

Vergessen wird dabei oft, daß die Qualität der einzelnen Varietäten bzw. Ebenen im Modell sehr heterogen ist und letztlich nur die diatopische Ebene den Anspruch erheben kann, ein vollwertiges in sich geschlossenes Sprachsystem zu sein, wie bereits Coseriu konstatierte (cf. Coseriu 1988:51).