Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen! - Shahak Shapira - E-Book

Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen! E-Book

Shahak Shapira

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Beschreibung

Respektlos, witzig, klug: ein Buch über Deutsche, Juden, Muslime – und einen Nazi mit Wolfgang-Petry-Frisur. Silvester 2015 wurde ein junger Israeli in der Berliner U-Bahn von antisemitische Parolen grölenden Kerlen zusammengeschlagen. Ein Mediengewitter war die Folge, PEGIDA solidarisierte sich, aus Israel kam die Empfehlung heimzukehren. Aber Shahak Shapira wehrte sich weiter: Rassismus sei immer schlimm, egal gegen wen, im Übrigen fühle er sich in Berlin sauwohl. Danach war die Hölle los, Zeitungen weltweit berichteten. Nun schreibt er über sein Leben: lustig über seine Jugend als einziger Jude im tiefsten Sachsen-Anhalt, sehr ergreifend über seine Familie und nachdrücklich in seiner Botschaft: dass jeder selbst entscheidet, ob er ein rassistisches Arschloch ist oder nicht.

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Shahak Shapira

Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen!

Wie ich der deutscheste Jude der Welt wurde

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Respektlos, witzig, klug: ein Buch über Deutsche, Juden, Muslime – und einen Nazi mit Wolfgang-Petry-Frisur.

Silvester 2015 wurde ein junger Israeli in der Berliner U-Bahn von antisemitische Parolen grölenden Kerlen zusammengeschlagen. Ein Mediengewitter war die Folge, PEGIDA solidarisierte sich, aus Israel kam die Empfehlung heimzukehren. Aber Shahak Shapira wehrte sich weiter: Rassismus sei immer schlimm, egal gegen wen, im Übrigen fühle er sich in Berlin sauwohl. Danach war die Hölle los, Zeitungen weltweit berichteten. Nun schreibt er über sein Leben: lustig über seine Jugend als einziger Jude im tiefsten Sachsen-Anhalt, sehr ergreifend über seine Familie und nachdrücklich in seiner Botschaft: dass jeder selbst entscheidet, ob er ein rassistisches Arschloch ist oder nicht.

Über Shahak Shapira

Shahaks Shapiras Familie hat Erfahrung mit den Deutschen. Ein Großvater überlebte knapp den Holocaust, der andere wurde Olympia 1972 in München ermordet. Shahak selbst trug als Kind in Israel Gasmaske, außerdem den Spottnamen «Neonröhre» (wegen seiner blonden Haare). Als er vierzehn war, zog seine Mutter der Liebe wegen mit den Söhnen in eine ostdeutsche NPD-Hochburg, wo die Jugendmannschaft des Fußballvereins von einem Nazi trainiert wurde, Shahak seine Liebe zur Bifi-Salami entdeckte und sein Bruder so brutal attackiert wurde, dass die «Zeit» ein ganzes Dossier darüber publizierte. Heute lebt er als Art Director in Berlin-Neukölln.

Inhaltsübersicht

SilvesterDie Ödyssee50 Shades of BraunSituation 21Zonen-Shahak (14) im Glück: meine erste SalamiMein Kampf (mit der deutschen Sprache)Das Vorhaut-BällebadErst wir. Dann duFrom Saddam with LoveStraight outta PolenDer jüdische AntisemitDer Europäer und die KamelreiterinDirekt vom ErzeugerWeihnachten für AnfängerRevenge of the HühnerbrustSven hat heute leider keinen Stempel für dichAbfliegen und AuflegenDer Burrito der Traurigkeit – eine Liebesgeschichte in 4 AktenDas DrogenschweinDas JudenschweinBack to the PrügelMy 2 Komma 5 Minutes of FameSuck My Jewish SchniedelDeutsch-israelische Beziehungen im BettDiplomatische Maßnahme Nr. 1: AnjaDiplomatische Maßnahme Nr. 2: JanaDiplomatische Maßnahme Nr. 3: CarolinDiplomatische Maßnahme Nr. 4: Theresa, Anne und VanessaDiplomatische Maßnahme Nr. 5: JohannaDer VerräterDas große FinaleSo, hier kommen die WidmungenZitatnachweise

Silvester

«Mensch, das ist ja fast wie zu Hause hier!», schreie ich, um die Explosionsgeräusche der Silvesterraketen zu übertönen. Alle lachen. Die meisten kennen mich erst seit einigen Stunden, doch sie wissen schon, was ich mit «zu Hause» meine. Obwohl mich der liebe Jehova mit einer überaus arischen Tarnung ausgerüstet hat, ist meine jüdische Herkunft eines der ersten Dinge, die man über mich erfährt.

«Hey, ich bin Shahak.»

«Du bist was?»

«Shahak. Das ist ein Name. So heiße ich.»

«Okay. Und dein Vorname?»

«Das ist mein Vorname.»

«Oh, ach so, sorry! Wo kommt das her?»

«Aus dem Hebräischen.»

«Wo ist das denn?»

«Es ist eine Sprache. Aus Israel. Ich komme aus Israel.»

«Ach Quatsch! Du bist doch ganz blond!»

«Ja, pass auf, die haben uns damals Wasserstoff statt Zyklon B in die Gaskammer geblasen.»

An dieser Stelle findet das Gespräch meist sein Ende.

In besonders lauten Umgebungen wie in Clubs oder auf Konzerten schreie ich auch gern irgendeinen willkürlichen Namen ins Ohr meines Gegenübers, meistens «Gandalf» oder «Adolf». In der Regel können sie mich sowieso nicht hören und nicken mich einfach freundlich an.

Seit zwei Stunden ist es 2015 in Berlin, aber eigentlich sieht es hier gerade mehr nach Damaskus aus. Explosionen an jeder Ecke, keine Taxis, dafür aber umso mehr Krankenwagen und jede Menge bewaffneter Irrer auf den Straßen, die ihren Freischein zum kopflosen Verhalten ausnutzen, um anderen wortwörtlich den Kopf abzuknallen. Gerade erst zwei Stunden zuvor, pünktlich zum Jahreswechsel, stand ich im Badezimmer einer großen Altbauwohnung in Kreuzberg mit einer Flasche Wodka in meiner Hand und desinfizierte die blutende Augenhöhle einer jungen Frau, nachdem von der Straße eine Silvesterrakete in Richtung unseres Balkons abgefeuert worden war und sie mitten ins Gesicht getroffen hatte. Während die anderen Gäste der Hausparty etwas ratlos wirkten, schnappte ich mir die grüne Moskovskaya, die ich selbst mitgebracht hatte, und tränkte ein weißes Verbandstuch mit dem klaren Destillat. Der Wodka ist ein guter Kompromiss: mit sieben Euro die Flasche für eine Hausparty nicht zu schade, mit 40% Alkoholgehalt nicht so ein billiges Gesöff wie Gorbatschow. Kaufen Sie keinen Wodka unter 40%, auch wenn Ihnen die Flasche mit 37,5% ironischerweise «des Wodkas reine Seele» verspricht – Sie sind besser als das.

«Ich sehe nur einen grauen Fleck», schrie das Mädchen in Panik. Ich holte ein iPhone aus meiner Hosentasche und flashte mit dem Kamerablitz in ihr Auge. «Die Pupille reagiert, das ist schon mal gut!» Natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich da tat, aber irgendjemand musste souverän bleiben, damit das arme Mädchen keine ernsthafte Panikattacke bekam. «Keine Sorge, der Krankenwagen dürfte jeden Moment kommen.» Ich wischte ihr das Blut aus dem Gesicht, verpasste der Schnittwunde über ihrem Auge einen frischen Wodka-Aufguss und bedeckte sie mit einem provisorischen Verband.

Kein vergnügungssteuerpflichtiger Termin so weit, aber immer noch besser, als alleine zu Hause rumzuhocken. Bis zum Anbruch des letzten Abends des Jahres 2014 hatte nämlich alles danach ausgesehen, als würde ich den Jahreswechsel mal wieder alleine von meiner Couch aus betrachten, wie schon in vielen Jahren zuvor. Am letzten Tag des Jahres 2012, meinem ersten Tag in Hamburg, hatte ich es tatsächlich geschafft, Silvester zu verschlafen. Ich hatte mich also schon auf eine weitere Silvesternacht mit Facebook und YouPorn gefasst gemacht, tragischerweise neben Heiligabend die einzige Nacht im Jahr, in der man nicht mal Essen kommen lassen kann, ohne sich dem mitleidigen Gesichtsausdruck des Lieferjungen auszusetzen. Es hat ja schon was, wenn der erste Mensch, der einem im neuen Jahr begegnet, gleich eine große Salami-Pizza mitbringt, doch wie verhält man sich in einer solch misslichen Situation? Schreit man «Gesundes Neues!» und umarmt den Mann? Und was ist trauriger: Silvester eine Pizza zu liefern oder eine zu bestellen? Klare Sache, der Lieferant wäre nur beruflich alleine unterwegs. Ich hingegen wäre aus rein privaten Gründen einsam.

Zum Glück aller potenziellen Beteiligten wurde mein Gedankenstrang von dem Ton unterbrochen, der Tag für Tag Herzen auf der ganzen Welt höher schlagen lässt: dem iPhone-Nachrichtenton. (Sollten außerirdische Wesen aus unerklärlichen Gründen die Machtübernahme über unseren doch schon recht ausgemolkenen Planeten anstreben, müssten sie lediglich den heiteren Tritonus-Klang aus dem Hause Apple einmal durch die Welt schallen lassen – alle Angehörigen der menschlichen Rasse würden sofort kollektiv ihre Smartphones aus der Tasche holen und mit dumpfem Blick auf das Display starren.)

Es war Nick, ein in Berlin lebender Australier, dessen Bekanntschaft ich mit meiner Exfreundin einige Jahre zuvor in der Odessa Bar in Mitte gemacht hatte. Meistens traf ich Nick auf einer der überfüllten WG-Partys in seiner 290 Quadratmeter großen Wohnung am Tempelhofer Ufer, die nur dann zu Ende gingen, wenn die Polizei kam oder alle Gäste mit einem Taxi ins Berghain abzogen. «Hey, any plans for tonight?», schrieb Nick. Menschen mit Würde hätten an dieser Stelle und zu so später Stunde vielleicht irgendwelche tollen Alibi-Pläne erfunden, um soziale Integrität vorzutäuschen, doch ich antwortete schlicht: «Ah, du bist meine Rettung!», und brach die Bestellung auf pizza.de ab.

Nachdem die Rettungskräfte das verletzte Mädchen abgeholt hatten, ging die Party unermüdlich weiter. Gegen halb drei in der Früh machte sich der besonders feierwütige Kern auf den Weg zu einer anderen Party im Prenzlauer Berg, ich als Ehrenmitglied jedes feierwütigen Kerns ganz vorne mit dabei. Laufen also ein Israeli, ein Australier und acht Holländern Richtung U-Bahn …

Wir weichen den Raketen und Böllern aus, die aus allen möglichen Richtungen in alle möglichen Richtungen fliegen. Die Straßen sind selbst für Berliner Verhältnisse sehr verdreckt, überall liegen die bunten Verpackungen der Pyrotechnik, und das Schießpulver in der Luft riecht wie damals, als ich noch klein war und meine Spielzeugpistole mit roten ringförmigen Zündplättchen auflud. Ich frage mich, warum die Menschen in Deutschland so viel Geld ausgeben, bloß um eine Nacht lang eine vage Vorstellung davon zu bekommen, wie sich das Leben in Syrien tagtäglich anfühlt. Schließlich finden wir einen Unterschlupf in der U-Bahn-Station Hallesches Tor.

Zwei Minuten später hält ein überfüllter Zug. Die Türen öffnen sich, und wir quetschen uns rein. Alle Sitzplätze sind belegt, also stehen wir im Gang. Noch bevor sich die Türen schließen, werden die Geräusche der übrigen Fahrgäste von einem lauten Gesang übertönt:

«Fuck Israel! Fuck Israel! Fuck Israel! Fuck Juden!»

Diese ausgefallenen Lyrics wiederholen sich in Dauerschleife. Sie kommen von einer Gruppe, sieben junge Männer, die ihre musikalische Hetze mit recht asynchronem Klatschen begleiten und mich an eine betrunkene Bande im Bierzelt eines Heimatfestes erinnern würden, wenn sie nicht so orientalisch aussähen. «Fuck Juden! Fuck Israel! Fuck Juden! Fuck Israel!», grölen sie munter weiter. Niemand unter den anderen Passagieren des überfüllten Zuges scheint sich daran zu stören. Manche oxidieren weiter ungestört vor sich hin, andere vertiefen sich, peinlich berührt, in ihre Smartphones, als müssten sie plötzlich die Friedensverhandlungen zum syrischen Bürgerkrieg in einem Gruppenchat mit Assad und ISIS auf WhatsApp führen. Nick schaut mich besorgt an. Ich wiederum schaue mir diese Männer an und frage mich, ob sie wohl jemals einen leibhaftigen Juden gesehen haben.

«Hey! Wir wollen das nicht hören!», sage ich, doch sie wollen mich auch nicht hören und singen einfach weiter. Ihre Sitznachbarn, ein großer rothaariger Mann mit einem ebenso rothaarigen Bart und ein weniger großer dunkelhaariger Mann mit weniger Bart, beide in ihren Dreißigern, fordern nun ebenfalls ein Ende der Hetze.

«Jetzt hört doch mal auf …», sagt der große Rothaarige leicht genervt und erlangt damit die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Judenhasser. Prompt werden die beiden Beschwerdeführer von der Gruppe umzingelt und eingeschüchtert. Abwechselnd schreien sie «Yallah!» oder «Khalas!», während der dunkelhaarige Mann mit wenig Bart vergeblich versucht, mit einem unbehaglichen Lächeln eine Eskalation zu verhindern. Ich möchte näher ran, doch einer von ihnen stellt sich mir in den Weg. Er trägt ein kariertes Hemd und einen unglaublich bescheuerten schwarzen Hut, der aus einem Michael-Jackson-Video stammen könnte und da auch wirklich hätte bleiben müssen. Michael Jackson rät, wir sollten uns lieber nicht mit seiner Crew anlegen. Schließlich seien sie betrunken und wüssten auch gar nicht, was sie da täten. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob er uns beschwichtigen oder bedrohen will, beschließe aber recht zügig, dass es mir egal ist, und hole mein Handy raus. Nachdem mir das iPhone in dieser Nacht schon treue Dienste als medizinische Lampe geleistet hatte, muss es nun als Videokamera herhalten.

So eine Handy-Kamera, das ist schon eine praktische Sache. Menschen benehmen sich anders, wenn sie wissen, dass sie gefilmt werden. Vor allem benehmen sie sich aber anders, sobald sie merken, dass sie gefilmt werden. «Nimm mal deine Wichse runter!», ruft einer von ihnen. Da ich kein wachsartiges Putzmittel hochhalte, schlussfolgere ich nach nur kurzer Analyse, dass er wohl mein Handy meint. «Nein!» Ich weigere mich, meine Wichse runterzunehmen. Ein richtiger Mann steht zu seiner Wichse! Einen Moment später stecke ich sie aber doch noch ein, damit mir ja keiner meine kostbare Wichse aus der Hand wegschnappt. Der Kerl möchte meine Widerspenstigkeit mit Prügel bestrafen, wird aber von seinem Kumpel zurückgehalten, also spuckt er mich an. Er trifft auch, und zwar genau ins Gesicht.

Ich spüre, wie der fremde Speichel mein Kinn runtertropft. Es ist ekelhaft, aber es ist vor allem erniedrigend. Der Zug hält nun Bahnhof Friedrichstraße, unser Ziel. Ich muss meine gesamte Willenskraft zusammenraffen, um mich nicht von Nicks Griff loszureißen und mit einer geballten Faust dem Spucker entgegenzurennen, doch dann schaue ich mir die Menschen hinter mir an, mit ihren unschuldigen holländischen Augen, die eine authentische Schlägerei in der Berliner U-Bahn sicherlich nicht als eines der Highlights ihrer Reise verbuchen würden, und lasse mich fast widerstandslos aus dem Wagen schleifen.

Nach einigen Schritten auf dem Bahnsteig flüstert mir Nick mit besorgter Stimme zu: «Die steigen jetzt auch aus.»

«Pfff, sollen sie doch! Wo sind sie de…»

Ich drehe mich langsam um: Vor mir haben sich fünf Männer im Halbkreis aufgebaut. Links von uns steht noch die U-Bahn mit offenen Türen, einige Meter hinter mir haben sich meine Freunde auf dem Bahnsteig zerstreut. «Lösch das Video», sagt einer nur. Er sieht kräftig aus, trägt eine schwarze Bomberjacke und einen kurzen Bart. Seine Haare sind an den Seiten fast abrasiert, genau wie die der vier anderen Bomberjackenträger an seiner Seite. Ich schlage einen Kompromiss vor: «Wenn ihr uns jetzt in Ruhe lasst, werde ich das Video löschen.» Werde ich natürlich nicht, aber hey, manchmal muss man auch seine Friedensfühler ausstrecken. Er starrt mich an, und ich halte dem Blick stand. Dann nickt er und dreht sich um.

Das war ja fast zu einfach, denke ich mir. Doch auf halbem Weg ändert der Typ offenbar seine Meinung: Er dreht sich wieder zu mir und spuckt mich ebenfalls an. Diesmal trifft er nur meinen Schal. Jetzt reicht es mir.

Zwölf Jahre lebe ich schon in Deutschland. In diesen zwölf Jahren musste ich einiges hinnehmen: Beleidigungen, Drohungen, Schläge – nur weil ich ein Jude bin. Das hört heute auf. Den Scheiß lass ich mir keine Minute länger gefallen.

Dann stürmen die fünf auf mich los.

Die Ödyssee

Umleitung.

Das ist mein erstes deutsches Wort. Obwohl Hitler angeblich so klasse Autobahnen damals gebaut hat, ist der Weg vom Leipziger Flughafen voll davon. Eigentlich hat Konrad Adenauer die Autobahn erfunden, schon in den zwanziger Jahren, aber die Jungs, die in ihren tiefergelegten Nissan Micras mit krassen hundertsechzig Stundenkilometern zu schmissigen Böhse-Onkelz-Platten über jene Asphaltwunder germanischer Ingenieurkunst brettern, sind in der Regel keine Geschichtsexperten.

Es ist der 4. Juli, 2002. In unserem Auto, einem hochwertigen Geländewagen von Mitsubishi, läuft nichts von den Böhsen Onkelz. Es läuft «Mensch» von Herbert Grönemeyer – die erste Strafe, die ich als Jude in Deutschland erdulden muss. Es tut gleichmäßig weh. Olaf, der neue Freund meiner Mutter, erzählt uns, wie Grönemeyer sich nach dem Tod seines Bruders und seiner Frau zurückziehen musste und nun mit einem neuen Album in die Musikszene zurückgekehrt ist. Noch ahnen wir nicht, dass dies das meistverkaufte Album der deutschen Musikgeschichte werden wird.

Olaf und meine Mutter haben sich durch ihr gemeinsames Engagement für die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel im Sportbereich kennengelernt. Sie sprechen einen exotischen Mix aus Deutsch, Englisch und Hebräisch – er nennt sie Baby, sie nennt ihn Nudnik, was auf Jiddisch so viel wie «Nervensäge» bedeutet. Wir fahren von der A9 in eine weitere Umleitung ab, die idyllische Landschaft der sachsen-anhaltinischen Provinz entfaltet sich vor unseren Augen. Burgenlandkreis, so nennt sich diese Gegend: Die von der Saale abfließende Unstrut schlängelt sich zwischen üppigen Weinbergen, mittelalterliche Schlösser flüstern leise alte Geschichten, und majestätische Sonnenblumen bedecken die Felder wie ein frisch bezogenes Bett. Es ist so beschissen.

Hier, in der «Toskana des Nordens», so wird das Unstrut-Tal von skrupellosen Tourismuswerbern tatsächlich genannt, wurde die Himmelsscheibe von Nebra entdeckt, ein 4000 Jahre alter, unglaublich überbewerteter Nudelteller, der im Aussehen an ein Facebook-Emoticon mit Down-Syndrom erinnert. Es versucht zwar zu lächeln, sieht aber trotzdem traurig aus.

Mitten in dieser Mischung aus mittelmäßiger Natur und sparsam gestreuter Kultur befindet sich unser zukünftiger Wohnort: Laucha. Der Name «Laucha» kommt aus dem Slawischen und bedeutet so viel wie sumpfiges Gelände oder morastige Wiese. Ein Kaff mit etwa 3000 Einwohnern, einer Kirche und einer Dönerbude, die der wahrscheinlich einzigen vietnamesischen Familie im Radius von fünfzig Kilometern gehört. Dementsprechend kann man im kleinen Bistro am Marktplatz nicht nur die feinste Selektion von saftigen Scheiben aus dem rotierenden Fleischklumpen bestellen, sondern auch ein authentisches Bami Goreng. Ist zwar ein indonesisches und kein vietnamesisches Gericht, aber Hauptsache, aus Tokio! Oft leiden Restaurants, die gleich mehrere Küchenstile mit Dönerspieß und Wok kulinarisch vergewaltigen, unter einem schlechten Ruf. Zu Recht! Man kann nicht in allen Nationalgerichten dieser Welt brillieren. Für einen Vogel ist das Fliegen Arbeit genug, er muss nicht auch noch schwimmen lernen. Was gibt es allerdings für ein schöneres Zeichen der Integrationsbereitschaft, als wenn der einzige Döner einer Stadt in Sachsen-Anhalt von Vietnamesen betrieben wird?

Doch es gibt noch andere Highlights in Laucha: zum Beispiel den 1930 gegründeten Flugplatz für Segelflieger, den Olaf, der eigentlich aus Hamburg kommt, 1990 wieder auf Vordermann gebracht hat. Den Segelflieger hat er mittlerweile gegen einen Heißluftballon ausgetauscht, mit dem er Einheimische und Gäste auf eine Spritztour über o.g. beschissene Schlösser und Weinberge nimmt. Gefährte, die leichter als Luft sind, fliegen laut deutschem Sprachgebrauch nicht – sie fahren, und wie bei unzähligen weiteren Blasphemien dieser Sprache weiß keiner so genau, warum. So ein Heißluftballon, der fährt also, wohin der Wind ihn weht. Ähnlich wie wir, wobei man schon einen richtigen Wirbelsturm braucht, um von Tel Aviv nach Laucha zu kommen.

Ein weiteres Highlight ist das Gymnasium Laucha, das stolz den Titel «Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage» trägt. Es ist ein beeindruckendes modernes Gebäude aus Glas und Metall. Als einzige Schule in der gesamten Bundesrepublik bietet das Gymnasium Luft- und Raumfahrt als Unterrichtsfach an, inklusive Erwerb der Segelfluglizenz, und es besitzt einen eigenen Weinberg, der von den Schülern der Weinbau AG bewirtschaftet wird. Es war ja damals nicht alles schlecht. Also, in Laucha. Mein persönliches Nonplusultra am Gymnasium war allerdings die Tatsache, dass das Schulgebäude, anders als meine Schule in Israel, nicht von einem fünf Meter hohen Zaun umgeben war. Keine Security am Eingang, kein Metalldetektor, keine Taschenkontrolle – die Kinder konnten die Schule nach Lust und Laune betreten und verlassen. Donnerwetter! Eine Welt ohne Terrorgefahr lächelte mich fröhlich an, und ich lächelte nicht zurück, weil ich ein pessimistisches Kind war, doch die freundliche Geste wurde dankend zur Kenntnis genommen.

Der Mitsubishi-Jeep rollt durch die Hauptstraße, am Rathaus vorbei, wo sich die Dorfjugend von Welt so trifft. Als der Wagen vor der Bahnschranke stehen bleibt, sehe ich einen glatzköpfigen Mann auf einem kleinen Fahrrad am Straßenrand. Sein Gesicht ist gepierct, die Haut von Tätowierungen bedeckt. Es ist ein sonniger Tag mitten im Juli, und die kurze Hose bedeckt nicht mal ansatzweise das riesige Hakenkreuz auf seinem Bein. Willkommen in Laucha.

Gehen drei Juden nach Sachsen-Anhalt … – klingt wie ein schlechter Witz. Ich werde oft gefragt, wie ein vierzehnjähriger Israeli ausgerechnet in einem Kaff in Sachen-Anhalt landen konnte. Es ist ja auch absurd, aber welcher Israeli weiß schon, wie es in der ostdeutschen Provinz zugeht? Die Defizite in den neuen Bundesländern aufgrund der deutschen Teilung waren uns fremd, unsere Mauer in Israel steht ja noch, und genau wie Tel Aviv von weitem wie das Miami des Nahen Ostens funkelt, sieht Laucha auf den ersten Blick nicht viel anders aus als jedes andere langweilige Drecksloch in der Pampa. Wer hätte gedacht, dass die NPD bei der Kommunalwahl von 2009 mit stolzen 13,5 Prozent in Laucha das höchste Ergebnis in Sachsen-Anhalt einfuhr? Oder dass sich die rechtsextreme Szene hier ungestört austoben darf, angeführt vom örtlichen Bezirksschornsteinfeger, der exakt wie eine Mischung aus Adolf Hitler und Wolfgang Petry aussieht (Lutz Battke heißt der Mann – google it)? Ich nicht. Aber ich kannte damals auch nur Herbert Grönemeyer. Und Hitler.

 

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau meine Mutter mich und meinen jüngeren Bruder fragte, ob wir nach Deutschland ziehen wollten. Ich fand die Idee aufregend, denn Israel zeichnet sich nicht gerade durch hohe Lebensqualität aus. Ein paar Jahre vorher, 2000, nach mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern, hatte die zweite Intifada zum Lynchmord an zwei israelischen Reservisten geführt, die sich nach Ramallah verirrt hatten. Ein Mob von über tausend Palästinensern überfiel sie. Sie schlugen sie zu Tode, stachen ihnen die Augen aus, rissen die Innereien auseinander. Das Video davon, das sich weltweit verbreitete, ist schlimmer als jede Game-of-Thrones-Folge: Die leblosen Körper wurden aus dem Fenster der Polizeistation in die Menge geworfen, ein Mann präsentierte stolz seine blutbefleckten Hände und erntete Jubel, während die Leichen auf der Straße in Stücke gerissen wurden. Militärische Reaktionen folgten, Selbstmordattentate, Autobomben, Hass erzeugte Hass. Insgesamt verloren über 3000 Palästinenser und mehr als 1000 Israelis ihr Leben während der zweiten Intifada. Mein letztes Jahr in Israel war eines der blutrünstigsten. Allein im März 2002, vier Monate vor unserem Umzug, starben über 130 israelische Zivilisten durch Selbstmordattentate. Einen Monat später kamen etwa 500 Palästinenser in einem Flüchtlingslager in Jenin zu Tode. Es konnte jederzeit und überall passieren. Zwanzig Tage bevor wir Israel verließen, begann der Bau einer 759 Kilometer langen Absperrung, einer Mauer zwischen Israel und Westjordanland, und die Angst, die in Israel damals zur Tagesordnung gehörte, war vorerst in Vergessenheit geraten.

Ich hatte in Israel nicht viel, was mir den Umzug erschwerte. Ich war nicht sehr beliebt in der Schule, hatte keine Freunde, und mein Erzeuger steckte seine Energie in seine neue Geliebte und eine denkbar hässliche Scheidung, die meine Mutter nach und nach geistig in den Ruin trieb. Sie beschrieb uns unsere Auswanderung als eine Art diplomatische Mission, die lediglich ein Jahr dauern sollte. Doch ich wusste schon damals, dass ich nicht zurückkommen würde. Wahrscheinlich war es ihrerseits ein Versuch, die Tatsache zu rechtfertigen, dass ausgerechnet sie, die Tochter eines Holocaust-Überlebenden, in das Land zurückkehrte, in dem man vor nicht allzu langer Zeit Juden in Dünger für Sauerkraut verarbeitet hatte. In nachdenklichen Momenten stelle ich mir vor, was aus mir geworden wäre, wäre ich 50 Jahre früher auf die Welt gekommen. Ein Stück Seife? Eine Lampe? Arische Turnschuhe? Es gab so viele Möglichkeiten! Währenddessen verbrachte ich meine Freizeit bei unterschiedlichen Psychologen und Richtern, da mein Erzeuger unsere Auswanderung mit der Behauptung rechtlich unterbinden wollte, meine Mutter habe mich manipuliert, um mich gegen meinen Willen nach Deutschland zu entführen.

Frisch entführt in Laucha, erreichen wir das Ziel: die Wohnung, die Olaf bisher alleine bewohnt hat, eine Doppelhaushälfte. In der anderen Hälfte wohnt Jürgen, der Hausmeister des Gymnasiums, mit seiner Frau Karin. Unser Haus steht auf dem Gelände des Gymnasiums, und mein täglicher Weg zur Schule beträgt fortan exakt 15 Meter. Ein ganz gewöhnliches, durchschnittliches Haus, doch verglichen mit der Mehrheit der Häuser in Laucha gehört es eindeutig zur Oberklasse. Aus dem Fenster meines Zimmers kann man auf den Lehrerparkplatz blicken, der aufgrund der Sommerferien noch ganz leer ist. Dahinter eine große grüne Wiese und ein paar Hügel am Horizont. Ganz offiziell wohne ich von nun an in der Eckartsbergaer Straße. Eck-arts-fucking-bergaer Straße. Stellen Sie sich vor, Sie wandern nach Deutschland ein, als kleiner Junge, lange vor den Zeiten von Smartphone und Google Map, sprechen kein Wort Deutsch und landen in einer Straße mit so einem Namen. Zwanzig Buchstaben! Welche Straße in diesem Kuhkaff braucht denn bitte schön zwanzig Buchstaben? Vielleicht haben ja Nazis die Straße kurz vor unserer Ankunft umbenannt («Wenn die grenzdebilen Ausländer es nicht schaffen, sich zu merken, wo sie überhaupt wohnen, werden sie sich auf ihrem fliegenden Teppich zurück ins Judenland verpissen»)? Jede ultraorthodoxe Familie in Jerusalem hat mehr Kinder als Laucha Straßen, und keins von ihnen heißt Eckartsbergaer.

Doch wir ließen uns nicht beirren. Und so haben die drei Israelis von der Eckartsbergaer Straße ihre Koffer ausgepackt, in dieser isolierten Oase mitten im braunsten Ort Sachsen-Anhalts, um sich dem Bofrost-Katalog zu widmen, völlig begeistert von der zivilisatorischen Errungenschaft, dass ein Mann mit einem Lkw auf Bestellung tiefgekühlte Pizzen ins Haus bringt.

50 Shades of Braun

Wer am 20. April am Haus Nummer 14 der Oberen Hauptstraße in Laucha vorbeiläuft, der erlebt ein interessantes Spektakel. Pünktlich zum Geburtstag von Adolf Hitler hängt eine schwarz-weiß-rote Flagge aus dem Fenster eines zweigeschossigen Hauses. Auf der Fensterkante steht eine kleine Führerstatue, und lauter Neonazi-Rock tönt aus dem Fenster. Lutz Battke[*] wirkt wie eine erfundene Figur, so peinlich genau, wie er dem Klischee eines Neonazis entspricht. Ein Mann in seinen frühen Fünfzigern, die braune Vokuhila-Haarpracht erweckt den Anschein, als hätte ein depressiver Biber ausgerechnet auf Battkes Kopf den Freitod gesucht. Am Hinterkopf geht es dagegen umso kahler zu: Business in the front, party in the back. Von Battkes dünner Brille hängt eine schwarze Kordel herab, die in den Falten seines Halses verschwindet. Die absolute Glanznummer dieser äußerst gelungenen Selbstinszenierung als nationaler Aktivist prangt allerdings direkt über den hygienescheuen Zähnen: ein kleines, aber feines Hitlerbärtchen.

Schon der Vater ist Gründungsmitglied des NPD-Landesverbandes Sachsen-Anhalt gewesen. Nun liegt der gute Günter Battke auf dem Saalecker Friedhof begraben, nur einige Meter von den deutschnationalen Mördern von Walther Rathenau, dem jüdischen Außenminister der Weimarer Republik, die gerne mal von Nazi-Abordnungen besucht werden. Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu steht auf Battkes Grabstein – ein Zitat aus dem seinerzeit so genannten Treuelied der SS. Der gute Lutz selbst hat es ironischerweise nicht in die äußerst selektive Elite der NPD geschafft: Zwar bekommt er stets die unwahrscheinlich wertvolle Unterstützung seiner Kameraden, doch in Lauchas Stadtrat und im Kreistag sitzen er und seine Mantafahrer-Vokuhila parteilos rum. Kann man etwa selbst für die NPD zu braun sein? Unwahrscheinlich. Und trotzdem scheint Lutz eine Art Affäre für die Partei zu sein, mit der man zwar im Bett all seine schmutzigen braunen Phantasien erfüllen kann, die man aber nie nach Hause zu seinen Eltern nehmen würde.

Als wir damals in Laucha ankommen, ist Lutz noch Bezirksschornsteinfegermeister. Diese elegante Wortkreation beschreibt ein öffentliches Amt: Alle Gebäude mit Schornsteinen und Feuerungsanlagen unterliegen nämlich einem Kehrzwang. Kehrarbeiten dürfen nur vom Bezirksschorndingsbums ausgeführt werden. Das heißt also, dass allein der öffentlich bestellte Volksgenosse Fegermeister, Kamerad Battke in unserem Fall, in jedem Haus in Laucha antanzen darf, um nach den Kaminen zu schauen. Sogar in dem Haus, wo die drei Juden sich einquartiert haben, denn auch Juden brauchen Öfen und Kamine. Damit ihnen nicht kalt wird. Natürlich.

Und so kam es, dass meine Mutter, eine Jüdin, die in Israel zu den Holocaust-Geschichten ihres Vaters aufgewachsen ist, einem Mann Zutritt zu ihrem Haus gewähren musste, der die Ermordung ihrer Familie mit voller Überzeugung und unumwunden bewundert. Jahrelang konnte sie nichts dagegen unternehmen, Vorschrift ist Vorschrift. Erst nach einem unendlich mühsamen Kampf mit den Behörden wurde das Kehrmonopol in unserem Fall ausnahmsweise aufgehoben, und ein anderer Schornsteinfeger kam, ohne Hitlerbart. Vor zwei Jahren wurde Battke die Kehrlizenz ganz entzogen. Eigentlich hatte das schon sechs Jahre vorher passieren sollen, doch Battke reichte Klage ein, und das Oberverwaltungsgericht hatte damals kein großes Problem mit dem braunen Feger, der gerne mal dem Busfahrer die Hand zum Hitlergruß ausstreckt oder der «Opfer des alliierten Bombenholocausts» gedenkt. Da wird man ja wohl noch kehren dürfen!

Es ist schon etwas absurd, wenn ein Mann, der immer noch an das Dritte Reich glaubt, seinen Lebensunterhalt ausgerechnet durch Arbeit für denjenigen Staat verdient, dessen Verfassung er ablehnt, und die Möglichkeiten der Demokratie, gegen die er hetzt, in Anspruch nimmt, um sich rechtlich zur Wehr zu setzen. Widersprüchlicher wäre nur, wenn der bekennende Reichsbürger Xavier Naidoo die seiner Vorstellung nach noch von den USA besetzte Bundesrepublik Deutschland im Eurovision Song Contest repräsentieren würde! Aber wer käme schon auf so eine aberwitzige Idee? Erst als der mediale Druck zu groß wurde, schaltete sich das Bundesverwaltungsgericht ein und bestätigte Battkes Berufsverbot.

Da ich meine Zeit eher unterhalb der atemberaubenden Skyline Lauchas verbringe, komme ich mit Lutz Battke durch das Fußballspielen in Berührung. Zusammen mit Lauchas amtierenden Bürgermeister, Michael Bilstein (Battke hatte bei der Wahl lediglich 24 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können), ist der Schornsteinfeger einer der Gründer von Lauchas Fußballverein, dem BSC 99 Laucha. BSC steht für Ballspielclub, 99 für das Jahr. Vielleicht aber nur, weil 88 schon vergeben war. Das weiß man nicht so genau, aber die Ungewissheit hat einen geheimnisvollen Touch. Der Fußballverein ist in Laucha unvorstellbar wichtig: Jeden Sonntag fiebert der ganze Ort bei den Spielen mit, auf jedem Volksfest ist Fußball das Hauptthema jeder Unterhaltung, die Kneipe im Vereinsheim fungiert als beliebter Treffpunkt feiner Geister, Siege werden am Rathaus gefeiert, und die Feindschaft zum Verein des Nachbarkaffs Freyburg, Heimat von Rotkäppchen-Sekt und allerhand gescheiterten Existenzen, wird fast genauso sorgfältig gepflegt wie von manchen Ureinwohnern der Judenhass.

Wenn ein Derby mal seinen Höhepunkt erreicht und die Zuschauer ihren Tiefpunkt, werden hier die Spieler der Gegnermannschaft gern mal als Juden bezeichnet. Eigentlich ein tolles Kompliment, doch komischerweise hat sich noch nie ein Spieler dafür bedankt. Sie scheinen es sogar für eine Beleidigung zu halten.

Sogar politisch gesehen hat der BSC 99 Relevanz: In Kleinstädten können auch Sportvereine für den Stadtrat kandidieren, und so sitzt Bürgermeister Bilstein auch als Vizepräsident des BSC im Rat. Während Bilstein mit den alten, weisen Denkern des hohen Rates weltverändernde Schicksalsentscheidungen über die Schriftfarbe für das nächste Heimatfest-Plakat oder die Höhe der Verkehrsschilder in einspurigen Seitenstraßen trifft, kümmert sich Battke derweil um den Nachwuchs und trainiert die F-Jugend: Das sind in der Regel Kinder im Alter von sieben bis acht Jahren – die Zukunft unseres Landes, von der Zukunft der Zukunftslosigkeit trainiert. Doch Lutz wollte aufs Ganze gehen, also versuchte er im Jahre 2010, selbst Stadtoberhaupt zu werden. Dabei sicherte er sich nicht zu missachtende 24 Prozent der Stimmen, dennoch blieb die Sensation aus und Bilstein im Amt.

Und wie so oft bei Rechtsextremen spielt auch in Battkes ambitioniertem politischen Programm die Höchststrafe für Kinderschänder eine große Rolle. Die Verfolgung von Sexualstraftätern ist neben «Ein Herz für Tiere» und «Kein Herz für Ausländer» das beliebteste Engagement unter Neonazis: Kaum ist das Kind fertig missbraucht, schon kommt ein Neonazi blitzkriegschnell daher und fordert die Todesstrafe. Für den Rest ihres Lebens beschädigte Kinder sind eine einfache Methode, sich die klare Zustimmung der empörten Mehrheitsgesellschaft zu holen, selbst wenn man mit Sternburg-Flasche und Springerstiefeln um elf morgens vor dem Lidl-Parkplatz schnell ein bisschen unbürgerlich besoffen klingt. Dieses Ziel findet sich daher im Wahlprogramm jeder rechten Partei, es ist ein Teil der «Normalisierungsstrategie». Kinderschänder-Songs von Nazi-Bands sind wie Weihnachtssongs von poppigen Boy-Bands – jede hat mindestens einen davon im Portfolio.

Dabei geht es natürlich nicht um die Opfer selbst oder darum, wie ihnen geholfen werden könnte, sondern um härteste Strafen für aus der Volksgemeinschaft Auszusondernde. Denn natürlich redet man am liebsten von ausländischen Tätern und von deutschen Kindern. Immigrantenkinder kommen bei der NPD höchstens als «Klaukinder» vor, und im Übrigen muss man nur mal «NPD Kindesmissbrauch» googeln, um festzustellen, dass bei dem Thema zwischen Theorie und Praxis eine gewisse Spannung existiert. Es ist jedenfalls etwas ironisch, wenn der leidenschaftliche Einsatz gegen Kinderschänder ausgerechnet von einem Neonazi kommt, der Kinder im zarten Alter unter seinem Einfluss hat; aber vielleicht habe ich eine etwas andere Definition von Kindesmissbrauch.

Im Verein wird Battke für sein Engagement hoch geschätzt, er gilt als einer der besten Trainer. Auf seiner selbstverständlich braun lackierten Schwalbe steht auch ganz groß: «Ein Herz für Kinder». Direkt neben ein paar anderen emotionalen Sticker-Highlights wie «Ein Herz für Deutschland» und «Unsere Soldaten sind keine Verbrecher. Die beste Truppe der Welt». Braunes Moped, braune Ansichten, braune Zähne – Battkes konsistentes Branding durch allen Lebenslagen ist schon fast zu bewundern. Als wäre er eine fiktive Persönlichkeit, die der wilden Phantasie der Kreativ-Abteilung einer Marketingagentur entstammt. Oder ist das in Wirklichkeit Günter Wallraff? Herr Wallraff, sind Sie Lutz Battke? Hören Sie bitte auf damit. Enthüllungsjournalismus ist tot, wir haben jetzt alle Twitter.

Autos darf der Führer der F-Jugend im öffentlichen Straßenverkehr nicht führen, daher bleibt ihm die olle Ostgurke als einziges motorisiertes Fortbewegungsmittel, um seine Truppen zu mobilisieren. Hitler, Stalin, Gaddafi … was hatte die Demokratie schon für Feinde! Furchterregende Tyrannen, die Menschenmassen in Bewegung setzten, mit eiserner Faust und einem Pkw-Führerschein der Klasse B. Herrscherfiguren, die die ganze Welt terrorisierten, mit einem Tausendjährigen Reich, mit Roten Armeen und schwarzen Uniformen. Jedes Zucken ihres Fingers konnte für Millionen den Tod bedeuten. Und was haben wir nun? Kim Jong-un, der gerne mal mit dem Gangnam-Style-Typen verwechselt wird und den hirnverbrannten Ex-Basketballer und Crossdresser Dennis Rodman als Busenfreund hat, und eine grinsende Klobürste, die auf einem braunen Moped mit Schallmauer durchbrechenden 50 Kubikzentimetern durch Sachsen-Anhalt tuckert. Schon am kunstgerechten Malen eines Hakenkreuzes scheitert der moderne Neonazi kläglich – den Beleg dafür können Sie an vielen Hauswänden in ganz Deutschland bewundern. Der arische Traum ist schneller in den Tod gerast als Jörg Haider.

Die Eltern der Spieler wissen Battkes Einsatz zu schätzen. Auch wenn sie seine Weltanschauung nicht ganz teilen, trägt er, finden sie, sein Herz am (sehr) rechten Fleck. Es sei denn, ihr Kind ist zufällig nicht hellhäutig genug, denn als einmal ein talentierter Junge mit dunkler Haut in seine Mannschaft kommen sollte, erklärte Battke: «Schwarze spielen bei mir nicht.» Eigentlich müsste das Gleiche für Juden gelten. 2002 bin ich allerdings schon in der C-Jugend des BSC 99 Laucha. In unserer Mannschaft spielten auch keine Fußballer afroamerikanischer Herkunft, davon gab es nur einen einzigen im Burgenlandkreis – einen begabten jungen Mann, der für die Mannschaft des Nachbardorfs Nebra antrat (Sie wissen schon, die mit dem antiken Nudelteller) und zwar Manuel hieß, von seinen Mitmenschen allerdings den liebevollen Kosenamen «Der Dreckige» bekommen hatte. Zum Glück war seine Hautfarbe nicht volle Kanne dunkel – wer weiß, wie der arme Junge von den Weltfremden genannt worden wäre, wäre er all black everything auf die Welt gekommen. Als Lauchas C-Jugend gegen eine Mannschaft mit einem schwarzen Torwart antreten musste (und damit meine ich nicht Obama-schwarz, sondern Eddie-Murphy-schwarz), demonstrierten meine Mitspieler mit allerlei Geräuschen aus dem afrikanischen Busch ihre Weltoffenheit.

Situation 21

Ich habe mit zwölf angefangen, Fußball zu spielen. Da wurde gerade ein neuer Fußballplatz in Oranit aufgebaut, der israelischen Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin. Oranit ist eine jüdische Siedlung im Westjordanland, die von der Grünen Linie zweigeteilt wird, welche die Grenzen der von Israel im Sechstagekrieg 1967 besetzten Gebiete markiert. «Seam Zone», Nahtzone, so nennt sich die Gegend: Ihre offizielle Funktion ist es, als eine Art «Puffer» das Eindringen von Terroristen nach Israel zu verhindern. Genau 53,87% der Siedlungsfläche befinden sich in palästinensischem Privatbesitz. Das Land wurde angeblich gekauft, doch man kann sich fragen, ob die palästinensischen Verkäufer überhaupt eine Wahl hatten. Ich wuchs also als Siedler auf – das ist so ziemlich das Peinlichste, was ich von mir sagen kann. Glücklicherweise gehört Oranit nicht zu jener Sorte Siedlung, deren Bewohner alle Araber ins Mittelmeer werfen wollen und sich als wöchentlichen Höhepunkt die Luftangriffe der israelischen Armee auf Gaza von ihrem kleinen Garten aus mit Bier und Popcorn reinziehen. Dennoch kränkt mich der Gedanke, womöglich mit solchen Menschen assoziiert zu werden.

Oranit ist ein schicker kleiner Vorort, zwanzig Fahrminuten von den Sandstränden Tel Avivs entfernt. Mit 5000 Einwohnern stellt er nicht gerade eine Weltmetropole dar, der neue Fußballplatz war da schon eine große Sache. All die coolen Kids meldeten sich beim Fußballverein an, und ich, als sehr uncooles Kid, wollte natürlich auch mitmachen. Da ich vorher nur selten mit einem Fußball in Berührung gekommen war, brachte ich nicht allzu viel Talent mit. Aber ich konnte laufen. Schnell laufen. Laufen ist sowieso eine Kunst, die wir Juden über die Jahrhunderte perfektioniert haben. Wir brauchen nur etwas, wovor wir weglaufen müssen: einen Pharao, der uns zum Bauen von Pyramiden zwingen will, oder ein Tausendjähriges Reich, das uns bis auf den Goldzahn veraschen will. Am schnellsten laufen wir vor unseren jüdischen Frauen weg, wenn wir so richtig Scheiße gebaut haben.

Ich komme aus einer Läufer-Familie: Mein Großvater, Amitzur Shapira, war einer der besten Kurzstreckenläufer Israels. Er kam 1932 in Tel Aviv zur Welt, sechzehn Jahre vor Gründung des Judenstaats. Man könnte also sagen, ich habe palästinensische Wurzeln. Nach vielen blutigen Unruhen zwischen Arabern und Juden erhielt die Stadt durch die Briten 1934 die volle Unabhängigkeit von Jaffa. In den Fünfzigern erreichte mein Großvater seinen athletischen Zenit, er zählte zu den angesehensten Sportlern des Landes. Danach wurde er Leichtathletiktrainer im Wingate Institute, das ist Israels olympische Sportakademie und gleichzeitig ein militärisches Trainingslager. Er widmete all seine Energie der sportlichen Erziehung, schrieb Zeitungsartikel und ein Buch über Sportpädagogik, half seinen Schülern, ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen, und nahm an Leichtathletikwettbewerben auf der ganzen Welt teil, sogar an den Olympischen Spielen in Tokio 1964.