Das Wunder in dir - Vanessa Göcking - E-Book

Das Wunder in dir E-Book

Vanessa Göcking

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Beschreibung

Über die Suche nach dem Sinn und wo er uns begegnet »Welches Leben möchte ich gelebt haben?« Mit dem Tod ihres geliebten Großvaters gerät Sophies heile Welt ins Wanken, und sie sieht sich plötzlich mit den unausweichlichen Fragen des Lebens konfrontiert: Warum bin ich hier? Wofür schlägt mein Herz? Was erfüllt mein Leben? Und was werde ich der Welt hinterlassen?Nach Monaten der Trauer reist sie auf eine einsame norwegische Insel, um sich ihren Fragen und Zweifeln zu stellen. Die Suche nach Antworten führt Sophie nicht nur zu magischen Orten und zauberhaften Begegnungen, sondern vor allem zu sich selbst. Mit der Zeit beginnt sich ihre Sicht auf das Leben zu wandeln, und sie gewinnt Einsichten, die ihr zuvor unvorstellbar erschienen.Eine bewegende Erzählung über die befreiende Kraft der Veränderung, die Suche nach einer tieferen Bedeutung und die Selbstfindung in den turbulenten Phasen unseres Lebens.

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EPUB
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Seitenzahl: 261

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Wunder in dir

Eine Geschichte über den wahren Sinn des Lebens

Vanessa Göcking

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originalausgabe

1. Auflage 2024

Copyright © 2024 VANI Verlag GmbH

VANI Verlag GmbH, Teichgasse 5, 99880 Waltershausen

E-Mail: [email protected]

Website: www.vani-verlag.de

Instagram: vanessa.goecking

Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sowie das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und Übersetzung, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Anke Schild

Korrektorat: Ulrike Hollmann

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Laura Newman

ISBN Print 978-3-9894-2380-0

ISBN E-Book (epub) 978-3-9899-5799-2

ISBN E-Book (pdf) 978-3-9666-1528-0

Vorwort
Am Ende der Welt
Am Ende eines Lebens
Ankunft im hohen Norden
Unerwarteter Besuch
Der Leuchtturm und sein Wärter
Die Kraft der Gegenwart
Über Wahrnehmung und Achtsamkeit
Über das Denken und das Fühlen
Über Individualität und Gleichwertigkeit
Über das Akzeptieren und das Loslassen
Weisheiten aus einem anderen Jahrtausend
Ein Geschenk
Eine Beichte
Ein Versprechen
Ein Geist unterwegs
Das Atelier der Träume
Neue Bekannte
Himmelblau und sternengolden
Aus Alt mach Neu
Ein Festessen
Über Sinnlosigkeit und Wertlosigkeit
Eine überraschende Erkenntnis
Vom Alleinsein und von der Einsamkeit
Geburtstag in der Ferne
Annahme und Verantwortung
Die Kraft der Vergebung
Ein Überraschungsplan
Zwei schlaflose Seelen
Ein Poltergeist der Extraklasse
Edwards Rückkehr
Die Eröffnungsfeier
Der Leuchtturmwärter und das Strahlen
Der Geist und das Licht
Der Tag danach
Der Abschied
Nachwort
Leseliste
Anmerkungen

Dieses Buch ist für

DICH,

damit du die Antwort

auf deine Fragen findest

und dein »Warum« entdeckst.

Vorwort

Manche Ereignisse werfen uns völlig aus der Bahn. Sie erschüttern uns in unseren Grundfesten, stellen unsere Welt auf den Kopf. Ein solches Ereignis kann das Ende einer Liebesbeziehung sein. Oder auch das Ende einer Freundschaft, der Verlust des Jobs, die Diagnose einer schweren Krankheit oder ein Unfall. Dann fangen wir an, uns zu fragen, warum wir morgens aufstehen und wozu wir tun, was wir so alles tagtäglich tun. Wir beginnen, unsere Routinen ebenso zu hinterfragen wie unsere Beziehungen, und überlegen, was wir hinterlassen, wenn wir gehen.

Doch nicht immer sind es konkrete große Ereignisse, die nagende Zweifel und tiefgreifende Fragen aufwerfen. Oftmals handelt es sich hierbei auch um einen schleichenden Prozess, etwa im Rahmen der Wechseljahre oder einer Midlife-Crisis, wenn der Hormonhaushalt aus dem Gleichgewicht gerät und man realisiert, dass ein großer Teil des Lebens schon hinter einem liegt. Vielleicht stellen sich manche dann die Frage, ob es der bessere Teil war, der bereits vergangen ist, und was das Leben ab nun noch zu bieten hat.

Für mich jedenfalls trifft Ersteres zu: Ein punktuelles Ereignis brachte meine Welt ins Wanken und führte zu einer Reise, die ich mir zuvor nicht einmal hätte erträumen können. Um genauer zu sein, war es der Tod meines Großvaters, der mich aus dem gemütlichen Trott meines Alltags herausholte und verhinderte, dass ich so weitermachen konnte wie zuvor.

Bevor mein geliebter Opa von dieser Welt ging, lebte ich meist im Moment. Ich liebte meinen Job als Fantasy-Buchautorin und verbrachte meine Freizeit mit Freundinnen, meinem Hund Joshy, den ich wenige Monate zuvor von einem Tierheim übernommen hatte, und Reisen in ferne Länder. Ich ging feiern, gab mich der Musik hin und war meistens gut drauf. Und zwar nicht in der aufgesetzten Art und Weise, mit der man anderen vormacht, dass das eigene Leben klasse ist, obwohl man sich tief im Inneren unzufrieden fühlt. Mir ging es wirklich gut!

Doch dann begegnete mir der Tod als unvermeidbarer Teil des Lebens und brachte Fragen mit sich, die mich aus dem Moment rissen und zum Grübeln brachten. Konnte das Leben, das ich führte, schon alles sein? Sollte es alles sein oder war da noch mehr? Was, wenn ich etwas Wichtiges verpasste oder übersah und es dann später bereuen würde?

Ich dachte sehr viel über das Leben und den Tod nach. Doch letztendlich liefen alle Überlegungen auf dieselbe übergeordnete Frage hinaus: Was ist der Sinn von alledem? Oder auch: Was ist der Sinn des Lebens?

Also begab ich mich auf eine Reise, die ganz anders verlief als geplant. Neben ein paar zauberhaften Begegnungen, magischen Nächten und der Entdeckung eines Ortes, der einem Märchen hätte entspringen können, war es vor allem die Begegnung mit mir selbst, die mir zeigte, worauf es wirklich ankommt.

Vielleicht bist auch du an einem Punkt in deinem Leben, an dem du vieles hinterfragst. An dem sich Dinge im Außen geändert haben – ob selbst herbeigeführt oder ungewollt – oder Dinge im Innen, in deinem Denken und Fühlen. In diesem Fall möchte ich dich dazu einladen, mein Abenteuer gemeinsam mit mir zu erleben. Lass uns zusammen auf diese wunderbare, manchmal chaotische, gelegentlich schmerzhafte und gleichzeitig unfassbar bereichernde Reise gehen. Lass uns zusammen lachen und weinen, zweifeln und hoffen, lernen und wachsen. Lass uns die großen Fragen des Lebens erforschen und versuchen, Antworten zu finden.

In diesem Buch teile ich meine Gedanken und Erfahrungen. Ich teile meine Geschichte – nicht, weil ich glaube, dass sie besonders außergewöhnlich oder einzigartig ist, sondern weil ich im Gegenteil davon überzeugt bin, dass wir alle ähnliche Geschichten haben. Wir alle durchleben Höhen und Tiefen, stellen uns irgendwann die Frage nach dem Sinn des Lebens und suchen nach Antworten.

Vielleicht findest so auch du in meinen Worten ein Stück deiner eigenen Geschichte wieder. Vielleicht helfen sie dir, dich, dein Leben und dein Streben besser zu verstehen. Möglicherweise inspirieren sie dich, deine eigene Reise zu beginnen oder fortzusetzen, und helfen dir, in schwierigen Zeiten Hoffnung und Mut zu finden.

Ich lade dich ein, dieses Buch nicht nur als meine Geschichte, sondern auch und vor allem als deine zu sehen. Denn letztendlich sind wir alle auf der gleichen Reise, der Reise des Lebens. Und während wir auf dieser Reise sind, sind wir nicht allein. Wir sind zusammen auf diesem Weg.

Deine Sophie

Am Ende der Welt

Da saß ich nun und blickte bedröppelt auf mein Smartphone. Diverse Gruppenchats sprudelten über vor verwackelten Fotos glücklicher Pärchen und Kurzvideos, die feiernde Freunde, knallende Korken und überwiegend unspektakuläre Feuerwerke zeigten. Darunter Glückwünsche zum neuen Jahr mit zu vielen Emojis: Sektgläser, Ballon, Feuerwerk, Rakete, Kleeblatt, Herz. Eine Freundin, die etwas esoterisch unterwegs war, teilte einen Artikel, in dem stand, warum man sich mit den Neujahrsvorsätzen nicht zu viel Druck machen sollte. Das sei nicht gut für die mentale Gesundheit, und es sei ohnehin besser, auf die eigenen Bedürfnisse zu hören.

Ich hatte auf meine eigenen Bedürfnisse gehört und das Ergebnis fühlte sich gerade wie ein riesengroßer Misthaufen an: Mutterseelenallein hockte ich auf irgendeiner norwegischen Insel, deren Namen ich nicht mal aussprechen konnte. Letzteres war nicht weiter schlimm, weil ich mich in den vergangenen Monaten so sehr isoliert hatte, dass ich offensichtlich aus den Köpfen meiner Freundinnen gestrichen worden war und es bisher niemandem auffiel, dass ich mich in unseren Chats so gar nicht beteiligte. Eine Beziehung hatte ich mit Mitte dreißig auch nicht. Meistens war ich sehr zufrieden mit diesem Zustand, doch in manchen Situationen fragte ich mich schon, weshalb ich mit keiner meiner bisherigen Partnerinnen dauerhaft kompatibel gewesen war. Und meine Familie begnügte sich mit der Information, dass ich irgendwo im Norden war, wo es viel schneite und der Internetempfang derart mies war, dass ich mich nur alle paar Tage würde melden können. Passend dazu erschien just in diesem Moment eine weitere Videonachricht in einem Gruppenchat, die nicht lud und mir mit dem Kreis, der den Ladevorgang darstellte, den Stinkefinger zeigte.

Resigniert schaltete ich mein Smartphone aus, schenkte mir ein Glas Rotwein ein und setzte mich an den knisternden Kamin. Theoretisch eine recht malerische Szenerie, wenn ich bereit dazu gewesen wäre, den Moment anzunehmen, wie er war: ein kuscheliges Häuschen am Rand einer Klippe, darunter die stürmische See, zur Linken ein spitzer, schneebedeckter Berg und zur Rechten sanfte Hügel mit einer geschwungenen Straße, die in einem Tunnel verschwand. Das Häuschen befand sich in einem Dorf mit gut fünfzig Einwohnern und einem einzigen kleinen Laden, der zugleich als Bäckerei, Lebensmittelgeschäft, Gemeindehaus und – skurrilerweise – Kirche fungierte. Das Nichtvorhandensein von Restaurants und die generell schlichte Infrastruktur ließen vermuten, dass das Dorf und auch die Insel insgesamt sogar im Sommer alles andere als touristisch waren. Dies verwunderte mich nicht im Geringsten. Schließlich eignete sich die Insel aufgrund ihrer Lage eher weniger für einen Abstecher, denn man erreichte sie nur mit einer Fähre, die selbst in der Hauptsaison bloß zweimal pro Woche fuhr. Zudem gab es hier laut Google außer der idyllischen Natur und einem alten Leuchtturm nicht viel zu sehen – schon gar nichts, was es nicht auch anderswo in Norwegen gegeben hätte. Im Januar verirrte sich allerdings außer mir offensichtlich niemand an einen Ort, an dem man die Sonnenstunden ziemlich genau an einer Hand abzählen konnte. Wie war ich bloß hierhergekommen?

Um diese Frage zu beantworten, musste ich gedanklich ein wenig ausholen und in der Zeit drei Monate zurückreisen – zu einem verregneten Nachmittag Ende September …

Am Ende einesLebens

Da lag mein Opa und kam mir so unendlich klein vor. Er war doch immer größer als ich gewesen und so stark. Auf seinem Schoß habe ich gesessen und geweint, wenn die Nachbarskinder nicht mit mir spielen wollten oder wenn ich hingefallen war und mein Knie aufgeschürft hatte. Dann hat er mich getröstet und mich mit kleinen Zaubertricks von meinen Sorgen befreit. Und natürlich hat er stets alles repariert. Egal, ob es sich um meine Lieblingstasse mit Diddl-Maus-Motiv handelte, die mir einmal aus der Hand gerutscht war, oder um meinen grün-gelben Drachen, den ich Tabaluga getauft und der sich im stürmischen Herbstwind in den Ästen eines Baums verheddert hatte: Opa fand für alles eine Lösung. Wenn etwas kaputtging, machte er es ganz. In einer Welt, in der mir als kleines Mädchen so vieles unsicher erschien, war darauf Verlass. Doch diese Zeiten waren vorbei, und ich fragte mich, wie es möglich war, dass ein Mensch im Alter so sehr schrumpfte …

Ich streichelte seine zerknitterte Hand, die an ein altes Stück Pergament erinnerte. Blasse Haut. Dicke, blaue Adern. Alles unendlich weich und zart. Der Kloß in meinem Hals wurde größer, aber ich hatte mir fest vorgenommen, nicht zu weinen. Dies hier würde unser Abschied sein und es ging dabei nicht um mich. Es ging um ihn. Ich wollte ihm ein gutes Gefühl vermitteln, ein bisschen Angst nehmen, ein wenig Vertrauen schenken.

Um mich abzulenken, ließ ich meinen Blick durch das Pflegeheimzimmer gleiten, das mir so gar nicht gefiel. Es war viel zu kahl, nicht mal einen Teppich hatten wir auslegen dürfen, weil das angeblich unhygienisch war. An den gelben Wänden hingen ein paar alte Bilder: Ein Foto meiner Oma mit Trauerflor, eines ihrer goldenen Hochzeit. Bald würden die beiden wieder vereint sein. Das wollte ich zumindest glauben.

Zwei schmale Fenster gewährten einen Blick auf ein kleines Örtchen und einen dahinterliegenden waldigen Hügel. Alles war grau: der Himmel, die Häuser, sogar die Bäume, von denen bereits die ersten ihre üppigen Sommergewänder gegen ihre Herbstkleider ausgetauscht hatten. Passend zum Wetter gluckerte drinnen die Heizung, aber ich fror trotzdem. Es roch nach alten Menschen und Mischgemüse und mir war ein bisschen schlecht.

»Ich habe Durst«, hauchte mein Opa, und ich sprang sofort auf, um ihm etwas zu trinken zu holen. »Was möchtest du denn?«

»Ich hätte so Lust auf einen Schluck von dieser Orangenlimo«, flüsterte er und zeigte auf eine quietschgelbe Flasche, die auf einem kleinen Tisch stand.

»Kein Problem, bekommst du«, sagte ich und wollte schon einschenken, als er mich unterbrach.

»Aber das geht nicht. Ich vertrage das nicht mehr. Ich bekomme davon immer Hautausschlag.«

»Opa, den Hautausschlag hast du doch von den chemischen Reinigungsmitteln bekommen, mit denen sie deine Bettwäsche gewaschen haben. Die waschen wir jetzt zu Hause. Darum musst du dir keine Sorgen mehr machen«, versuchte ich ihn zu beruhigen, leider erfolglos.

Mein Opa war zu diesem Zeitpunkt siebenundneunzig Jahre alt und bis vor einem halben Jahr hatte er noch in seiner eigenen Wohnung gelebt und jeden Morgen Sport gemacht oder – wie er es nannte – sich der »körperlichen Ertüchtigung« gewidmet. Dazu gehörten ausgedehnte Spaziergänge und sogar Kniebeugen. Soll heißen: Er hat durchaus gesundheitsbewusst gelebt und war dazu auch unfassbar hartnäckig. Ich schenkte ihm also ein Glas Wasser ein und hätte direkt losheulen können. Er hatte doch nicht mehr viel Zeit und dennoch gönnte er sich nicht mal diese kleine Freude einer maßlos überzuckerten, künstlich schmeckenden Orangenlimo.

Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, half ihm beim Aufsetzen und unterstützte ihn beim Trinken. Danach sackte er erschöpft zurück in die Kissen. Wieder nahm ich seine Hand, doch der Kloß in meinem Hals war mittlerweile so groß wie ein Tennisball und ich konnte mich einfach nicht mehr zusammenreißen. Tränen liefen meine Wangen herunter, und ich sagte etwas, was ich ihm viel zu selten gesagt hatte: »Opa, ich hab dich lieb!«

Wir verweilten noch ein wenig in diesem Moment. Er eingefallen, blass und erschöpft unter einem Berg Decken. Ich zitternd, seine feinen Hände haltend, an diesem schrecklichen Ort, den ich hasste und dennoch nicht verlassen wollte, weil ich wusste, dass es mein letzter Besuch sein würde. Wir beide wussten es. Einfach so. Das war’s. Das war der Abschied.

Nach ein paar Minuten oder ein paar Stunden – ich weiß es nicht – wurde uns beiden klar, dass ich nun würde gehen müssen. Also erhob ich mich, nahm meine Jacke, ging zur Tür und drehte mich noch einmal um. Und da waren sie, die Worte, die ich nie vergessen würde und die eine Lawine von Fragen in mir auslösten, der ich nicht entkommen konnte: »Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft.«

Kurz wollte ich erwidern: »Danke, ich dir auch.« Dann fiel mir auf, wie schwachsinnig diese Antwort gewesen wäre. Wie sollte man auf diesen Wunsch schon antworten, wenn das Gegenüber gar keine Zukunft mehr hatte?

Also nickte ich nur kurz und presste ein Lächeln raus. Wie ferngesteuert trat ich aus seinem Zimmer, schlurfte zum Treppenhaus und verließ das Pflegeheim zum allerletzten Mal.

Ankunft imhohen Norden

So kam es, dass ich mich Ende Dezember, knapp drei Monate später, auf hoher See wiederfand. Und obwohl ich mit meinem Zwiebellook aussah wie ein Michelin-Männchen – oder eine Michelin-Frau, falls es so etwas gibt –, zitterte ich vor Kälte. Unter mir spritzte schäumendes Wasser gegen den Bug des Schiffes und über mir kreischte eine Möwe, die den Sturm offensichtlich genauso witzlos fand wie ich.

Mein Hund Joshy und ich waren die einzigen Passagiere bei dieser Überfahrt. Es handelte sich hierbei auch nicht um die Autofähre für Touristen, die im Sommer zweimal pro Woche vom Festland aus verkehrte. Die hatte nämlich seit Oktober Winterpause und würde erst im April wieder in Betrieb genommen. Stattdessen war ich auf einem Versorgungsschiff untergekommen, das die Insel im Winter je nach Wetterlage nur ein paarmal pro Monat anfuhr. Mein Auto hatte ich nicht mitnehmen können. Das stand nun einsam geparkt auf einem verschneiten Parkplatz und würde hoffentlich noch da sein, wenn ich im Frühling zurückkäme. Wobei ich mir nicht wirklich Sorgen darum machte, schließlich ist Norwegen ein Land mit einer vergleichsweise niedrigen Kriminalitätsrate und meine alte Gurke würde ohnehin niemand haben wollen.

Ich zog meine pinkfarbene Wollmütze tiefer ins Gesicht und rieb meine Hände. Vermutlich war es nicht nur die äußere Kälte, die mir zu schaffen machte, sondern vor allem die innere Kälte, die mich seit dem Tod meines Großvaters begleitete. Und der Schlafmangel. Schlafmangel hatte mich schon immer frösteln lassen und während der letzten Nächte hatte ich acht Stunden gemütliches Bett gegen fünf Stunden Rücksitzbank eingetauscht. Daher war es auch kein Wunder, dass mein Rücken schmerzte wie der einer alten Frau. Nun war ich zum Glück auf der letzten Reiseetappe und schon bald würde ich mit einem heißen Tee und einer kuscheligen Wolldecke vor dem Kamin sitzen, die großen Werke berühmter Philosophen und Philosophinnen lesen und endlich die Frage aller Fragen beantworten: Wozu sind wir hier?

Mit »wir« meinte ich uns Menschen so ganz allgemein. Man hätte meine Frage also auch folgendermaßen formulieren können: Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es überhaupt einen Sinn, wo wir doch sowieso alle sterben? Falls es ihn gibt, was ist meiner und welches Leben will ich am Ende gelebt haben? Was möchte ich hinterlassen? Und was von mir wird die Zeiten überdauern?

Davor würde ich jedoch noch vom Hafen, der den Bildern auf Google Maps nach zu urteilen eher einer provisorischen Anlegestelle ähnelte, zu meiner Unterkunft kommen müssen. Diese hatte ich online zu einem Schnäppchenpreis ergattert. Zwar war das Angebot an Apartments und Ferienhäusern auf der Insel klein, die Nachfrage jedoch noch kleiner und im Januar ging sie gen null – beziehungsweise null Komma eins, schließlich gab es da noch mich. Bedauerlicherweise befand sich das schnuckelige kleine Häuschen, das so wirkte, als wäre es just einem Märchen der Gebrüder Grimm oder einem Fantasy-Roman von Cornelia Funke entsprungen, am anderen Ende der von stürmischer See umpeitschten Landmasse. Bei meiner Reiseplanung hatte ich darin kein Problem gesehen. Da war allerdings auch mein Auto noch ein Teil der Gleichung gewesen. Uber und andere Fahrdienst-Apps, die ich zu Hause in Berlin ständig nutzte, würden mir hier herzlich wenig bringen, und wenn ich den Fährmann richtig verstanden hatte, fuhren auf der Insel noch nicht einmal öffentliche Busse.

Als eine graue Kontur immer klarer am Horizont hervortrat, rutschte mir mein Herz in die Hose. Obwohl ich Berlin schon vor Tagen verlassen, eine Autofähre über die Ostsee genommen und eine gefühlte Ewigkeit entlang beeindruckender Wälder und verschneiter Berge immer weiter nach Norden gefahren war, wurde mir erst jetzt so richtig klar, was ich hier tat: Neunzig Tage lang würde ich wie eine Einsiedlerin leben, mit dem klaren Ziel, wieder zu mir zu finden. Denn eines stand fest: So, wie es seit dem Verlust meines Opas bei mir lief, konnte es nicht weitergehen. Ich konnte so nicht weitermachen – schließlich ertrug ich mich selbst kaum noch und anderen wollte ich meine Launen erst recht nicht zumuten.

Natürlich war da die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen und in den ersten Wochen nach Opas Tod hatten ich selbst und mein Umfeld noch Verständnis dafür. Trauern ist wichtig, um mit etwas abzuschließen, um loslassen zu können und den Blick schließlich wieder Richtung Zukunft zu wenden. Dabei darf jeder seinen eigenen Weg finden: Manche weinen viel. Andere vollführen Abschiedsrituale und schreiben zum Beispiel einen letzten Brief an den verstorbenen Menschen. Manche sprechen mit ihren Liebsten darüber. Andere machen es lieber mit sich selbst aus …

Je nach der Art des Verlusts gab es jedoch – so erschien es mir – unausgesprochene Deadlines für Trauer. Ab Tag X hatte man sich einfach wieder »normal« zu verhalten, um Freundinnen, Kollegen und Co. nicht mit der eigenen Emotionswelt auf den Senkel zu gehen. Je näher einem ein Mensch stand, je jünger die Person war und je dramatischer die Todesumstände sich gestalteten, umso länger »durfte« getrauert werden. Handelte es sich hingegen, wie in meinem Fall, um einen sehr alten Menschen, der auf natürliche Weise das Zeitliche gesegnet hatte und für den das friedliche Einschlafen vermutlich eine Erlösung von Schmerz und Erschöpfung darstellte, hatte man die Trauerphase doch bitte knackig zu halten. Zwar wird theoretisch stets gepredigt, dass jeder Mensch ganz individuell mit einem Verlust umgehen darf und dass dies vollkommen in Ordnung ist. Praktisch gelebt wird es in meinen Augen leider nicht. Zumindest nicht immer und nicht überall.

Besonders schlimm gestaltet sich dieser Sachverhalt meiner Meinung nach bei der Trauer um Haustiere. Ich erinnerte mich noch gut an den Tod unseres Familienhundes, der starb, als ich zwölf Jahre alt war – und der mich seit meiner Geburt begleitet hatte. Am Tag seines Todes musste ich an der Geburtstagsfeier einer Großtante teilnehmen. Während einige aus meiner Familie Mitgefühl für ein kleines Mädchen zeigten, das zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert war und den Verlust seines geliebten Begleiters betrauerte, hatten andere ganz und gar kein Verständnis für die Tränen am Kaffeetisch. Am meisten hatte sich der Spruch »So schlimm ist das nicht, es war doch nur ein Tier und kein Mensch« in mein Gedächtnis gebrannt. Dabei hatte ich gar keinen Vergleich angestellt! Mir ging es nicht um eine objektive Bewertung des Geschehens und meines Gemütszustandes, sondern schlichtweg um das Zulassen und das volle Erleben meiner Traurigkeit. Seitdem fragte ich mich, weshalb bei einem Todesfall Vergleiche angestellt wurden. Schließlich geht es einem Trauernden niemals um den Vergleich, sondern um den individuellen Verlust. Vergleiche stellen nur Außenstehende an – und sie haben gar kein Anrecht darauf.

So oder so hatte ich die starke Vermutung, dass neben dem Verlust meines Opas noch etwas anderes hinter meiner Traurigkeit, meiner Antriebslosigkeit und meinen Zweifeln lag. Einige Jahre zuvor hatte ich auch schon meine Oma verloren, also Opas Frau, die mir ebenfalls nahegestanden hatte, deren Tod ich dennoch bedeutend besser weggesteckt hatte. Jetzt war es vielmehr die grundlegende Frage nach dem Sinn unseres Daseins und danach, was nach dem Tod übrig blieb, die plötzlich wie ein fettes Stoppschild in meinem Leben aufgetaucht war und mich in allem, was ich tat, blockierte.

Spaß haben mit Freundinnen und unbeschwert lachen – durfte ich das überhaupt, wo doch täglich Menschen starben? Flugreisen in ferne Länder unternehmen – war das noch vertretbar, wo unser Planet durch die Klimakrise bereits jetzt dem Untergang geweiht war? Als Autorin arbeiten und Bücher über fantastische Welten schreiben – ging das in Ordnung, wenn überall Kriege ausbrachen? War es da nicht wichtiger, etwas Handfestes zu machen, das den Menschen in Notsituationen wirklich half?

Während ich zuvor eine echte Macherin war, hinterfragte ich auf einmal viel und tat wenig. Wenn ich einen Moment der Freude empfand, wurde dieser direkt von einem schlechten Gewissen darüber zerschmettert, dass es auf der Welt so viel Unheil gab, und wenn ich mich in Selbstmitleid suhlte, war ich im Nachhinein wütend, dass ich mein Leben nicht besser auskostete … schließlich war es endlich.

Dazu kam die Frage, was nach dem Tod übrig blieb – denn die Welt drehte sich weiter, mit oder ohne den geliebten Menschen. Da war nicht nur die blöde Sonne, die am Tag von Opas Beerdigung so gehässig vom Himmel strahlte und überhaupt nicht verstand, wie unpassend ihr Erscheinen war. Da waren auch die vielen Gräber, die zu Beginn bestimmt noch mit reichlich Hingabe gepflegt wurden und mittlerweile von Unkraut und vertrockneten Grabpflanzen überwuchert waren. Was war von diesen Menschen geblieben? Was haben sie hinterlassen? Und sind wir nicht letztendlich alle dem Vergessen geweiht? Meine Gedanken kreisten ständig um diese Fragen und raubten meiner Welt sämtliche Farbe.

Natürlich waren mein wackliges Gefühlsleben und meine düsteren Gedanken auch meinem Umfeld nicht verborgen geblieben. Die besorgten Blicke meiner Eltern waren kaum noch auszuhalten und auch mein Verlag fand die neue Version von mir ganz und gar nicht toll. Erst hatte ich die Frist für mein neues Buchmanuskript immer weiter nach hinten geschoben, dann reichte ich etwas ein, von dem ich wusste, dass es abgedroschen und wenig originell war – nur um irgendein Manuskript abzugeben. Doch erst als meine Freundin Anna ein ernstes Wort mit mir redete und für ihre Verhältnisse die Situation überraschend dramatisch beschrieb, wurde mir klar, dass ich etwas ändern müsste. Anna machte sich ganz offensichtlich große Sorgen um mich, und so dämmerte mir, dass es meinen Teufelskreis zu durchbrechen galt. Andernfalls würde ich meine mentale Gesundheit, langjährige Freundschaften und meine Karriere aufs Spiel setzen.

Ich entschied mich dazu, mir eine Auszeit zu nehmen, fernab von dem Trubel der Großstadt. Das war natürlich nur möglich, weil ich weder Kinder noch eine Beziehung oder sonst irgendwas hatte, was mich in meinen heimischen vier Wänden hielt. Dank meines Jobs als Autorin konnte ich von überall aus arbeiten, wobei in den vergangenen Monaten, wie schon erwähnt, ohnehin keine neue Idee entstanden war. Gewissermaßen stellten mein Singlestatus und meine Freiberuflichkeit somit ein echtes Glück dar und erlaubten es mir, dem grauen Winterhimmel vom Kollwitzkiez ein paar Monate lang den Rücken zu kehren.

Als Startpunkt für meine Reise zu mir selbst hatte ich klischeehaft die Zeit kurz vor dem Beginn des neuen Jahres gewählt. Einen positiven Nebeneffekt hatte das schon mal: Ich entkam der Silvesternacht, von der ich noch nie ein großer Fan gewesen war. Zu viele Erwartungen knüpfen sich daran, und wo viele Erwartungen sind, ist bekanntermaßen auch viel Enttäuschung. Ähnliches habe ich auch schon bei Weihnachtsfeiern und anderen großen Events beobachtet: Wenn alles perfekt laufen soll und genügend Druck entsteht, kann schon das kleinste Missgeschick, ein schiefer Blick der Schwiegermutter (die ich nicht hatte), ein verbrannter Kuchen oder eine Regenwolke die Stimmung in den Keller katapultieren, wo diese sich ängstlich zusammenkauern und für die nächsten Tage verweilen würde.

Zusätzlich wählte ich Jahreszeit und Ort so, dass ich mich ohne FOMO, also die Angst, etwas zu verpassen, würde einigeln können. Denn meine Leseliste war lang und meine Ausstrahlung ohnehin nicht auf ihrem Höhepunkt. Was eignete sich da besser als eine einsame norwegische Insel im Winter?

Unerwarteter Besuch

»Prost Neujahr!«, sagte ich laut zu meinem Weinglas. Und natürlich zu Joshy, der seinen Kopf schief legte und mich mit seinen großen treuen Hundeaugen anblickte. Ich war gedanklich wieder im Hier und Jetzt, an diesem tristen Neujahrstag in meiner nach Fichtenholz duftenden Hütte, angekommen.

»Natürlich eignet sich für eine Sinnreise so einiges besser als eine einsame norwegische Insel im Winter«, murmelte ich weiter und dachte an Julia Roberts in »Eat, Pray, Love«. Sie hatte es richtig gemacht: lecker essen in Italien, meditieren in Indien und die ganz große Liebe finden auf Bali.

»Und was mache ich …«, lamentierte ich weiter und unterbrach mich abrupt selbst. Wenn ich nicht aufhörte, mit meinem Weinglas zu sprechen, würde ich noch wie eine langweilige Version von Tom Hanks in »Cast Away« enden, und was für Mister Hanks der Volleyball Wilson war, würde für mich eine Flasche Cabernet Sauvignon werden. Das klang ganz und gar nicht gesund und eignete sich bestimmt nicht für ein nennenswertes Vermächtnis nach meinem Tod.

Ich stand auf, ging zur Küchenzeile und kippte den edlen Tropfen in die Spüle. Dann stellte ich den Wasserkocher an, öffnete eine Packung Kamillentee und versenkte einen Teebeutel in den Untiefen einer Tasse, die sich problemlos in den Haushalt einer Familie von Riesen hätte einfügen können. Über eine solche Riesenfamilie hatte ich schon mal einen Fantasy-Roman geschrieben. Auch Zwerge, Einhörner, Feen und andere magische Wesen waren Teil der Welten, die ich noch bis vor wenigen Monaten mit Leichtigkeit erschaffen und in eleganten Sätzen zu Papier gebracht hatte. Von meiner beflügelten Fantasie war leider nicht viel übrig geblieben und die Gründe lagen auf der Hand …

Während der Tee zog und gemütlich vor sich hin dampfte, blickte ich hinüber zu dem Stapel Bücher, der sich auf dem Holztischchen neben dem Kamin und Lesesessel befand. Das »Tao te king« von Laotse und die »Selbstbetrachtungen« von Mark Aurel gehörten genauso dazu wie der Roman »Zum Leuchtturm« von Virginia Woolf, »Siddhartha« von Hermann Hesse und »Der Mythos des Sisyphos« von Albert Camus. Teil meines Bücherstapels waren außerdem Viktor E. Frankls Werke »Über den Sinn des Lebens« und »… trotzdem Ja zum Leben sagen«, Jostein Gaarders »Sofies Welt«, Eckhart Tolles »Jetzt! Die Kraft der Gegenwart« sowie Bronnie Wares »5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen«. All diese Bücher hatte mir mein Buchhändler des Vertrauens, Gustav, empfohlen, als ich mich über Literatur erkundigte, die vom Sinn des Daseins und des menschlichen Vermächtnisses handelten.

Ich musste zugeben, dass ich von seiner Auswahl zunächst überrascht und auch ein wenig irritiert war. Sie erschien mir so willkürlich. Immerhin fehlten in der Liste große Namen wie Platon oder Epikur. Auch waren mir zu wenige Autorinnen vertreten, wobei das vermutlich historisch bedingt war, da das Verfassen von Büchern bis vor wenigen Jahrzehnten ein beinahe ausschließlich männliches Metier war. Und doch vertraute ich Gustav. Er kannte mich schon lange und noch nicht einmal hatte er mich mit seinen Empfehlungen enttäuscht. Schließlich versicherte er mir, dass die von ihm ausgewählten Bücher Rat und Impulse darüber gaben, wie wir unser Leben leben können – und zwar aus unterschiedlichen kulturellen und zeithistorischen Perspektiven.

In jedem Fall klang der Großteil meiner Leseliste nach schwerer Kost, doch dank der Abgeschiedenheit meines Häuschens und des schlechten WLANs hatte ich zumindest nicht viel, womit ich mich ablenken konnte. Meine Hoffnung war, dass die großen Denker und Denkerinnen der Geschichte mir erklären würden, was im Leben wirklich zählt, wie ich meine Zeit verbringen sollte und wie ich das bombastische Stoppschild in meinem Gehirn umnieten konnte, das mich seit Monaten blockierte.

Ich nahm den Teebeutel aus der dampfenden Tasse, verbrannte mir beim Ausdrücken Zeigefinger und Daumen und schmiss ihn mit einem leisen Fluchen in den Mülleimer. Mit der Tasse in der Hand spazierte ich zurück zum Kamin, ließ mich in den gemütlichen Sessel plumpsen und schlug eines der Bücher auf. Doch ich kam nicht einmal bis zum Ende des ersten Absatzes, als Joshy aus seinem Hundebettchen sprang und wie wild zu bellen begann.

»Was ist denn los, Joshy?«

Ich klappte mein Buch zu und stand auf, um meinen struppigen Begleiter zu streicheln, als plötzlich ein Räuspern hinter mir ertönte. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte ich mich um und schleuderte mein Buch in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

»Oho«, schimpfte der Fremde und duckte sich, um dem Wurfgeschoss auszuweichen. »Begrüßt man da, wo du herkommst, so einen Gast?«, fragte er – überraschenderweise auf Deutsch.

»Wer sind Sie?«, zischte ich. Meine Augen glitten dabei hektisch zwischen dem Mann und meiner Umgebung umher, die ich nach einem zuverlässigeren Verteidigungsmittel scannte.

»Mein Name ist Bjørnstjerne Leifson Østergaard, aber du kannst mich Björn nennen«, sagte der Fremde mit einem starken norwegischen Akzent, während er das Buch zu seinen Füßen neugierig musterte, ohne es aufzuheben. Er war ein großer Mann mit grauem Haar und einem dichten Bart, gekleidet in einen dicken Wollpullover, der ihn gegen die Kälte schützte. Ich schätzte ihn auf Mitte siebzig, vielleicht auch älter.

»Was wollen Sie von mir? Und wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?«, fragte ich mit einer Mischung aus Misstrauen und Panik. Wenn mir hier etwas geschehen würde, würde es Tage dauern, bis jemand Wind davon bekäme …

Während sich in meinem Kopf die Horrorszenarien überschlugen, hatte mein Hund sich bereits beruhigt und hüpfte freudig zu Björn – oder wie auch immer der Fremde in Wahrheit hieß – hinüber. Am liebsten hätte ich Joshy zurückgehalten, doch ich war zu langsam. Björn lächelte und ließ sich geduldig von dem struppigen Wollknäuel beschnüffeln, das aufgeregt mit dem Schwanz wedelte und ihm zwar nahe kam, ihn aber nicht berührte.

»Keine Sorge, ich bin nicht hier, um dir zu schaden«, sagte Björn und ging langsam zur Essecke, wo er auf einer Bank Platz nahm. Im Sitzen wirkte er weniger bedrohlich.

»Vielmehr möchte ich dich bei deinem Vorhaben unterstützen. Es ist ein schwieriges Unterfangen, auf das du dich da eingelassen hast. Und ich wage zu behaupten, dass du es ohne meine Hilfe nicht schaffen wirst.«

Verdutzt blickte ich ihn an. »Wie meinen Sie das? Woher wissen Sie, was ich hier vorhabe? Oder überhaupt, dass ich etwas vorhabe?«

»Nun, ist das nicht offensichtlich?«, fragte Björn und deutete vielsagend um sich. »Eine junge Frau allein auf einer einsamen norwegischen Insel im Winter, umgeben von einer Unmenge an Büchern über den Sinn des Lebens und was so damit zusammenhängt …«