Die Kraft in dir - Vanessa Göcking - E-Book

Die Kraft in dir E-Book

Vanessa Göcking

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Beschreibung

Über die unbändige Stärke, die in jedem von uns schlummert »Soll ich es wirklich wagen?« Alex führt ein ganz normales Leben: Mutter, Partnerin, Angestellte – ein Rad im Getriebe des Alltags, das zuverlässig funktioniert. Doch hinter der Fassade aus Routinen lodert der Funke eines fast vergessenen Traums: die Eröffnung eines eigenen Buchcafés. Als unerwartet sechs außergewöhnliche Menschen in das Leben von Alex treten, beginnt sich ihre Vision in ein greifbares Ziel zu verwandeln. Doch bevor sie ihren Traum verwirklichen kann, muss sie sich mit einer Reihe unbequemer Wahrheiten über ihr bisheriges Leben auseinandersetzen und mutige Schritte wagen, vor denen sie bisher zurückgeschreckt ist. Ein Liebesbrief an das Leben und an die Kraft in jedem von uns, den Weg der eigenen Träume zu gehen.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Kraft in dir

Eine Erzählung über Innere Stärke und

den Mut zur Veränderung

Vanessa Göcking

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originalausgabe

1. Auflage 2025

Copyright © 2025 VANI Verlag GmbH

VANI Verlag GmbH, Teichgasse 5, 99880 Waltershausen

E-Mail: [email protected]

Website: www.vani-verlag.de

Instagram: vanessa.goecking

Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sowie das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und Übersetzung, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Anke Schild

Korrektorat: Ulrike Hollmann

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Laura Newman

ISBN Print 978-3-9894-2407-4

Vorwort
Ein unmögliches Treffen
Die unbändige Kraft
Eine unruhige Nacht
Wenn die Angst einen Besuch abstattet
Kindergeburtstag
Unsinnigkeiten
Ein Aufruf zur Ruhe
Der alltägliche Wahnsinn
Eine wundersame Entdeckung
Ein Gedanke nimmt Gestalt an
Ein schwieriges Gespräch
Vom Hinfallen und Aufstehen
Konflikte
Ein Bild voller Freude und Leseglück
Die Entschuldigung
Ein Abend mit den Eltern
Vom Loslassen und Sichentspannen
Finanzielle und andere Sorgen
Ein verhängnisvoller Wutausbruch
Ärger und Reue
Ein dünnes Nervenkostüm
Der vergessene Kuchen
Ein flauschiger Geist
Unerbetene Ratschläge
Ein unerwarteter Besuch
Liebeskummer und Seelennot
Letzte Vorbereitungen
Ungebetene Gäste
Eine Flut von Tränen
Beistand und Hilfe
Im Krankenhaus
Lichtblicke
Wiedersehen mit Freundinnen
Ein Kaffee im Stillen
Frieden
Nachwort
Hinweis der Autorin

Dieses Buch ist für

DICH,

damit du dir erlaubst,

deinen Träumen zu folgen

und das Leben

deiner Wünsche zu kreieren.

Vorwort

Wann hattest du das letzte Mal einen Traum?

Und damit meine ich keinen nächtlichen Traum, der im Schlaf von dir Besitz ergreift und sich nach dem Aufwachen auflöst wie ein Echo, das in den Weiten der Berge verhallt, oder wie ein Schatten, der sich in der Dunkelheit verliert. Ich meine einen richtigen Traum! Einen Traum, der dir Schmetterlinge in den Bauch zaubert oder irgendetwas anderes, das dir dieses aufregende Kribbeln schenkt, welches viele von uns ansonsten nur vom Verliebtsein kennen. Einen Traum, der dich strahlen lässt, wenn du an ihn denkst, und die Sorgen für einen Moment beiseiteschiebt, die der Alltag und wir selbst uns allzu häufig aufbürden. Einen Traum, den du aus tiefstem Herzen verwirklichen möchtest, doch vor dem du dich auch fürchtest, weil du nicht daran glaubst, ihn jemals wahrhaftig »mein« nennen zu dürfen.

Ich dachte lange Zeit, dass es für mich einen solchen Traum nicht gibt und dass das okay ist. Schließlich muss nicht jeder Mensch Luftschlösser zurechtzimmern, oder? Manche Menschen sind, wie ich, pragmatischer unterwegs und haben überhaupt keine Zeit für unrealistischen Firlefanz. Außerdem war ich schon mit so vielem in meinem Leben gesegnet: Ich war verheiratet und lebte mit meinem Ehemann, zwei gesunden Kindern und einigen Fellfreunden in einem hübschen Häuschen, das sich in einem liebenswerten bayrischen Städtchen befand und einen wirklich schönen Garten hatte. Wir gönnten uns trotz des Hauskredits einmal pro Jahr eine Reise ans Meer und eine in die Berge und es mangelte in unserem Zuhause weder an Hundeleckerlis noch an Spielzeug für die Kleinen. Natürlich fühlte ich mich häufig erschöpft, von meinen Aufgaben getrieben und von meinen Verpflichtungen erdrückt. Aber auch das ist normal, oder?

So dachte ich jedenfalls, bis ich eines Tages über einen lange vergessenen Traum stolperte – denn ja, auch ich hatte einen Traum, wie ich mir eingestehen durfte. Und nach zahlreichen inneren Kämpfen und äußeren Konflikten entschied ich mich dazu, ihn wahr zu machen, ihm eine Form zu geben und ihn zu leben.

Dabei war ich allerdings nicht allein. Denn wie der Zufall, das Schicksal oder mein Unterbewusstsein es wollte, begegneten mir just in dieser Phase meines Lebens sechs ganz besondere Weggefährten. Diese Begleiter sind nun vermutlich nicht das, was du erwartest, und doch gerade deshalb sind sie so viel mehr. Womöglich sind sie mir auch nicht in der Form begegnet, wie du hier von ihnen liest, sondern etwas subtiler, versteckter …

Wenn meine Erklärung noch etwas kryptisch klingen mag, möchte ich dich beruhigen: In dieser Geschichte wird es ganz konkret, und du wirst schon bald verstehen, was ich mit obigen Worten meine. Doch bevor es so weit ist und ich das Geheimnis um meine Weggefährten nach und nach lüfte, möchte ich dir noch ein paar Gedanken und Fragen mit auf den Weg geben.

Vielleicht denkst du, so wie ich es lange Zeit tat, dass du keinen Traum hast. In diesem Fall lade ich dich dazu ein, dich zu fragen, ob das stimmt. Hast du wirklich keinen innigen Wunsch, keine Zukunftsvision, keine Idee, die dein Herz hüpfen lässt? Oder gestehst du dir deinen Traum bloß nicht ein, weil er entweder zu groß wirkt und du Angst vor dem Scheitern hast oder weil er zu klein wirkt und dir im Vergleich zu den Zielen anderer Menschen mickrig erscheint? Schiebst du deine Vision vielleicht gar zur Seite, weil du dich vor der Ablehnung fürchtest, die andere dir entgegenbringen könnten, wenn du für deinen Traum losgehst? Oder weil du fürchtest, dass deine finanziellen und zeitlichen Mittel, dein Können und dein Talent nicht genügen?

Was ist, wenn das alles nicht stimmt? Was ist, wenn es eine andere Wahrheit gibt, eine, die dich beflügelt und dich durch die schwierigen Zeiten trägt? Was ist, wenn du einen Traum hast und ihn wahr machst, ganz so, als wärst du Cinderella und ihre gute Fee in einer Person?

Ich glaube mittlerweile, dass wir alle einen Traum in uns tragen, der wie ein Licht in der Dunkelheit leuchtet und zu unserer eigenen Sonne heranwachsen kann, wenn wir es ihm erlauben. Dieser Traum kann sein, sich selbstständig zu machen, eine Familie zu gründen, eine Weltreise zu unternehmen oder ein Haus zu bauen. Vielleicht ist es auch dein Traum, einen eigenen Song zu schreiben, ein Buch zu verfassen, surfen zu lernen oder einem Pflegekind ein sicheres Zuhause zu schenken. Möglicherweise lässt auch die Vorstellung einer neuen Ausbildung, eines (eventuell auch zweiten) Studiums, einer Freiwilligenarbeit in einem Krisengebiet oder der Adoption eines Tierheimhundes dein Herz höherschlagen.

Es gibt vermutlich so viele Träume, wie es Menschen auf dieser Erde gibt – oder gar mehr, weil man nicht nur einen haben darf. Und kein Traum ist mehr oder weniger wert als ein anderer. Deshalb bricht es mein Herz, dass so viele Träume unverwirklicht, ungelebt bleiben. Lass deinen nicht dazugehören. Lass meine Geschichte dir ein Kompass sein, um das Leben zu kreieren, das dich lächeln und deinen Bauch kribbeln lässt. Vertraue auf deine innere Kraft. Sei mutig. Und mach deinen Traum wahr!

Deine Alex

Ein unmögliches Treffen

Müde zerrte ich meinen Hund durch den kleinen Park des Städtchens, in dem ich mit meiner Familie lebte. Dabei spürte ich die Erschöpfung von Kopf bis Fuß, in jeder Faser meines Körpers. Sie füllte Blei in meine Glieder, vernebelte mein Gehirn und ließ mich meine Umgebung bloß durch einen grauen Schleier wahrnehmen. Wie konnte ich bloß so ausgelaugt sein? Ging es anderen auch so oder machte ich irgendetwas gewaltig falsch? Meine Fragen waren natürlich rhetorischer Natur, da ich die Antworten kannte.

Die vergangenen Wochen waren zu viel für mich gewesen. Zuerst hatte Mia, meine zweijährige Tochter, eine Mittelohrentzündung und nachts nur drei Stunden am Stück geschlafen. Danach schleppte Tom eine Grippe aus dem Kindergarten mit nach Hause und steckte Martin an, der in seiner Wehleidigkeit unsere Kinder um Längen übertraf. Tagelang hatte ich alle Hände voll damit zu tun, zu diversen Ärzten zu rennen, kalte Wickel anzulegen, Tee zu kochen und das Geschniefe, Geschnaufe und Gejammere um mich herum auszugleichen – und das, obwohl ich mich selbst alles andere als fit und gesund fühlte.

Mittlerweile ging es uns allen gesundheitlich wieder gut. Als ich jedoch zur Arbeit zurückkehrte, durfte ich mir obendrein noch die empathielosen Sprüche meines Chefs anhören, der offensichtlich davon ausging, dass ich mich aus Spaß für meine Familie krankschreiben ließ und dass mein Leben ohnehin eine riesige Party war. Immerhin arbeitete ich »nur« vier Tage pro Woche für jeweils sechs Stunden. Dass ich neben meinem Job als Assistenz der Geschäftsführung bei »Autoteile Setzinger und Huber« noch zwei Kinder, einen Golden Retriever und zwei Meerschweinchen versorgte, einen Großteil des Haushalts schmiss, einkaufte, kochte, putzte und Kummerkasten für alle in meinem Umfeld war, kam ihm dabei nicht in den Sinn. Wie auch?, fragte ich mich genervt. Er selbst hat ja keine Kinder und vermutlich kann er sich sogar eine Reinigungskraft leisten.

Doch unabhängig von den vielen Aufgaben, denen ich versuchte gerecht zu werden, und all den Erwartungen, die erfüllt werden wollten, gab es da noch weitere Energiefresser in meinem Leben, die meinen Tatendrang, meine Kraft und meine Motivation verschluckten wie ein schwarzes Loch. Dazu gehörte das permanente Rauschen der Nachrichten und sozialen Medien, das meine Aufmerksamkeitsspanne zu der eines Goldfisches hatte zusammenschrumpfen lassen. Und natürlich waren da noch meine eigenen Gedanken, die ich nie abschalten konnte und die besonders nachts und in Momenten vermeintlicher Ruhe gerne einem kräftig angestoßenen Brummkreisel glichen. Wie das Blechspielzeug, das bei der Rotation um die eigene Achse einen summenden Ton produziert, erzeugte mein Gehirn unzählige innere Stimmen, die miteinander stritten und mich um meinen Schlaf und – so kam es mir in letzter Zeit häufig vor – beinahe auch meinen Verstand brachten.

Ich wusste, dass ich damit nicht allein war. Viele der Mütter aus meinem Umfeld und auch andere Bekannte berichteten von ganz ähnlichen Symptomen und Phänomenen. Es war, als wäre ein neues Virus ausgebrochen, das dazu führte, dass sich jeder immer müde fühlte. Dass wir uns morgens fragten, ob wir am Vorabend feiern gegangen waren und einen über den Durst getrunken hatten, während wir tatsächlich artig um 22:00 Uhr unter der Bettdecke verschwunden waren. Dass wir Freitagabend vor dem Fernseher versackten, weil keine Kraft mehr da war, um Freundinnen zu treffen oder ins Kino zu gehen. Dass wir in einem Job hängen blieben, der uns keine Freude bereitete, weil sich unsere Motivation zum Verfassen von Bewerbungen wie ein von zu vielen Hausaufgaben frustriertes Kind weinend unter dem Schreibtisch zusammengekauert hatte.

Es wunderte mich daher wenig, dass neulich, als ich bei Google »Warum bin ich« eingegeben hatte, einer der ersten Suchvorschläge »… immer so müde?« war. Die Frage stand also nicht nur bei mir im Raum; ich war damit nicht allein. Wichtiger als die Frage nach dem »Warum?« war für mich jedoch, was ich dagegen tun konnte. Was würde wirklich und nachhaltig helfen, damit ich mich wieder energetisch fühlte und Elan für andere Tätigkeiten hatte als die, die mir auferlegt worden waren – sei es von mir selbst oder anderen? Was musste ich tun, um mich mit Mitte dreißig nicht wie Ende siebzig zu fühlen? Wie konnte ich es schaffen, dass ich wieder mehr Freude und Leidenschaft empfand? Dass ich mein Leben mit Farbe füllte?

Um diese Fragen kreisten meine Gedanken in Dauerschleife immer dann, wenn sie mal gerade nicht um die zahlreichen To-dos kreisten, die ich Tag für Tag erledigen musste. Auch an diesem Freitag stand noch so einiges auf der Liste. Schließlich würde mein kleiner Tom am nächsten Tag fünf Jahre alt werden, und es galt, Kuchen zu backen, Salate zuzubereiten und das Haus für den Kindergeburtstag und die anschließende Familienfeier herzurichten.

»Fünf Jahre …«, murmelte ich leise und spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Es kam mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass ich kugelrund und voller Vorfreude in unserer damaligen Wohnung saß, meinen Bauch streichelte und es gar nicht erwarten konnte, dieses kleine Menschlein endlich kennenzulernen. Und nun würde Tom schon bald schulreif sein!

Einerseits freute ich mich, den großen Tag für meinen kleinen Schatz vorzubereiten. Ich hatte mir speziell für diesen Anlass eine besondere Torte auf Pinterest ausgesucht, die ich nachbacken würde. Andererseits wünschte ich mir ein Flugticket nach Bali zu einem Yoga-Retreat und ein paar Wochen voller Entspannung. Dass dies ein Wunschtraum bleiben würde, war allerdings klar. Und so gesellten sich zu meiner Erschöpfung noch eine drängende innere Unruhe und die Sorge, ob ich alles schaffen würde.

Voller Selbstmitleid schleppte ich mich und mein Gedankenchaos weiter durch die Grünanlage und blieb alle paar Meter stehen, weil Bingo unbedingt am einundzwanzigsten Busch und am dreiundvierzigsten Baum schnuppern musste. Gerade wollte ich meinen Vierbeiner weiterziehen, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Nur wenige Meter von mir entfernt erblickte ich eine Frau auf einer Parkbank. Sie trug einen knallroten Bob, ein enges kiwigrünes Kleid und indigoblaue Stilettos. Mutig, dachte ich mir, und sehr ungewöhnlich für unser unscheinbares Örtchen. Zu meiner Überraschung hob sie ihre Hand zum Gruß und lächelte aufmunternd. Aber mich konnte sie doch sicherlich nicht meinen?

Ich drehte mich zu allen Seiten um, blickte hinter mich, nach links und nach rechts. Doch außer mir und meinem Golden Retriever konnte ich niemand anderen im Park ausmachen. Irritiert sah ich erneut zu der Frau hinüber, die mir soeben gewinkt hatte, und versuchte, meinen Blick scharf zu stellen. Wenn ich so furchtbar müde war wie gerade, schien mir mein Sehorgan jedoch nicht richtig zu gehorchen und entfernte Objekte blieben verschwommen. Irgendwie kam mir die Fremde mit ihrem unkonventionellen Erscheinungsbild vertraut vor …

Der freundliche Gruß war mittlerweile einem fordernden Fuchteln gewichen. Deshalb setzte ich mich in Bewegung und ging langsam in ihre Richtung. Als ich näher kam, stockte mir der Atem. Verwundert rieb ich mir die Augen. Das konnte unmöglich sein!

Die Fremde sah mir zum Verwechseln ähnlich. Natürlich meinte ich damit weder ihre Frisur noch ihren Aufzug. Meine langen dunkelbraunen Locken und meine zweckmäßige Kleidung unterschieden sich in jeder Hinsicht von ihrer leuchtend roten Kurzhaarfrisur und ihrer schicken, wenn auch für meinen Geschmack übermäßig farbenfrohen Garderobe. Doch ihr Gesicht glich meinem in jedem noch so kleinen Detail, von den Grübchen am Kinn bis hin zur kleinen Narbe auf der Stirn. Wie war das möglich?

Ich blieb wenige Schritte vor der Fremden stehen und starrte sie mit offenem Mund an. Als ich die Kontrolle über meine Gesichtsmuskulatur zurückgewann, klappte ich den Mund rasch zu, doch zu mehr war ich nicht in der Lage.

War es möglich, dass ich eine Zwillingsschwester hatte und erst jetzt von ihr erfuhr? Oder war ich bereits so erschöpft, dass ich diese Begegnung imaginierte? Vielleicht schlief ich auch gerade und hatte die Geschehnisse des Morgens bloß geträumt?

»Hallo! Schön, dich zu sehen«, brach die Fremde die Stille, und ihre Stimme klang wie meine, bloß klarer und selbstsicherer.

»H-h-hallo«, erwiderte ich stotternd. »Kennen wir uns?«

»Das möchte ich wohl meinen«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Schließlich bin ich du.«

»Äh, wie bitte?«

Das musste eindeutig ein Traum sein – wenn auch ein überraschend detaillierter. Oder ich war in einer dieser Fernsehshows, in der Menschen veräppelt werden, damit sich dann halb Deutschland darüber scheckig lachen kann. Um Himmels willen, dachte ich, bloß das nicht!

»Nun gut, ich geb’s ja zu«, gestand die Fremde nun, »ich bin nicht ganz du. Ich bin bloß ein Teil von dir. Wobei ich denke, dass wir viele Probleme überhaupt nicht hätten, wenn ich ganz du wäre.«

»Äh … Was?«, fragte ich zögerlich.

»›Wie bitte‹ heißt das.«

»Ich verstehe kein Wort«, antwortete ich frustriert und spürte, wie sich das bisschen Farbe, das ich zuvor noch im Gesicht getragen hatte, ähnlich einem Geist verflüchtigte. Ich hatte weder Energie noch Zeit für solche Sperenzien, und am liebsten wäre ich weitergegangen und hätte so getan, als wäre mir diese seltsame Frau nie aufgefallen. Doch meine Beine gehorchten mir genauso wenig wie zuvor meine Augen; sie blieben einfach stehen.

Die Rothaarige rutschte auf der Bank ein paar Zentimeter zur Seite, schlug die Beine übereinander und tippte mit der Hand auf die freie Fläche neben sich. »Setz dich doch. Wir haben einiges zu besprechen.«

Ich wusste in dem Moment nicht, warum ich auf sie hörte, doch ich tat wie mir befohlen. Vielleicht lag es an der magnetischen Kraft, die von ihr ausging und mich buchstäblich zu ihr zog. Möglicherweise auch an der Autorität und der Selbstsicherheit, die sie ausstrahlte und die ihr den Anschein gaben, dass sie Raum einnehmen durfte und sich dafür nicht entschuldigen oder gar rechtfertigen musste – im Gegensatz zu mir, jedenfalls hatte ich im Alltag häufig dieses Gefühl.

Etwas verkrampft nahm ich auf der Kante der Parkbank Platz und bewahrte dabei so viel Sicherheitsabstand zu der Unbekannten wie nur möglich. Bingo reckte die Nase neugierig in die Höhe und schnüffelte in ihre Richtung. Als die Rothaarige meinem Vierbeiner einen strengen Blick zuwarf, zog er den Kopf ein, legte sich mir zu Füßen und kaute – anscheinend verlegen – an einem winzigen Stöckchen herum, das er auf dem Boden gefunden hatte.

»Und jetzt?«, fragte ich unsicher wie eine Erstklässlerin, die auf die Anweisungen der Lehrerin wartete.

»Und jetzt erkläre ich dir noch mal alles ganz langsam«, sagte die Fremde mit erhobenem Kinn und blickte mir dabei tief in die Augen. »Ich bin ein Teil deines Selbst. Ich entspringe dir und deinem Sein, wie viele andere Teile auch. Doch natürlich bin ich wichtiger für dich als die anderen Teile. Und üblicherweise zeige ich mich nicht in einer so … greifbaren Form.«

Bei ihren Worten musterte sie ihr Outfit von den knalligen Absatzschuhen bis hin zu dem gewagten Kleid und strich sich durch ihr kurzes Haar. Dabei schien sie ihren Aufzug zum ersten Mal selbst wahrzunehmen und gleichzeitig sehr zufrieden damit zu sein.

Selbstgefällig fuhr sie fort: »Bezeichne mich gerne als deine ›innere Kraft‹ – denn nicht weniger bin ich für dich. Ich bin dafür zuständig, dass du im Leben vorankommst, dass du deinen Aufgaben gerecht wirst und deine Ziele erreichst. Somit bin ich für dich unverzichtbar und von unendlichem Wert – das versteht sich ja wohl von selbst.«

Sie machte erneut eine Pause und wartete dabei vermutlich auf eine Reaktion meinerseits, zu der ich jedoch nicht imstande war. Als Antwort auf meinen leeren Gesichtsausdruck wanderte ihre linke Augenbraue skeptisch nach oben, dann sprach sie weiter.

»Jedenfalls bin ich hier, weil mir in deinem Kopf zu viel los ist und ich bei dem Geplapper deiner anderen Anteile nicht die Aufmerksamkeit von dir erhalte, die ich verdiene. Damit ist jetzt ein für alle Mal Schluss!«

Sie unterstrich den letzten Satz mit einem selbstsicheren Nicken und streckte ihre Brust noch ein Stückchen weiter raus.

Ich saß auf der Kante der Parkbank wie versteinert. Ein Teil von mir?, schoss es mir durch den Kopf. Meine innere Kraft? Aber wie … Ja, wie …?

Ungeduldig schnippte die Rothaarige mit den Fingern vor meinen Augen herum. Ihre Bewegungen waren zu hektisch, ihre ganze Präsenz schien mir die Luft abzuschnüren.

»Äh«, war schließlich der wenig eloquente Kommentar, den ich mit Mühe und Not zustande brachte, bevor die Panik mich übermannte.

Obwohl ich immer rascher nach Luft schnappte, schienen meine Lungen nicht genügend Sauerstoff zu bekommen. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn und mir wurde zugleich brütend heiß und eisig kalt. Dann tat mein Körper das wohl Einzige, was ihm in diesem Augenblick plausibel erschien – plötzlich wurde alles schwarz.

Die unbändige Kraft

»Hallo?«, hörte ich eine panische Stimme aus der Ferne. »Geht es Ihnen gut?«

Die Stimme kam näher. Wenige Sekunden später tätschelte jemand vorsichtig mein Gesicht. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

»Was?«, nuschelte ich leise und öffnete die Augen. Über mir sah ich das faltige Gesicht einer älteren Dame, deren hellblaue Augen mich besorgt musterten. »Was ist passiert?«

»Ich habe gerade meinen morgendlichen Spaziergang gemacht und Sie auf der Bank sitzen sehen. Plötzlich haben Sie nervös nach Luft geschnappt und dann sind Sie in sich zusammengesackt«, erklärte meine Retterin. »Ich denke wirklich, dass wir einen Arzt rufen sollten. Aber ich habe kein Telefon dabei. Haben Sie eines?«

Erschrocken setzte ich mich auf und stieß dabei fast mit der alten Frau zusammen.

»Bingo«, rief ich hektisch, doch da sah ich meinen Hund bereits artig neben mir sitzen. »Gott sei Dank.«

Liebevoll streichelte ich meine Fellnase und war dankbar für seine Gegenwart. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er während meines Blackouts ein Eichhörnchen oder eine Katze gesehen hätte und weggelaufen wäre. Zwar war Bingo die meiste Zeit überaus gelassen und fast schon faul unterwegs, doch bei manch einem Tierchen setzte sein Jagdtrieb dann doch ein und in diesem Fall gab es kein Halten mehr.

Ich bemerkte den fragenden Gesichtsausdruck meiner Gesprächspartnerin und erinnerte mich an ihre Frage. Angestrengt lächelnd lehnte ich ihren Vorschlag ab.

»Wissen Sie, bei mir ist gerade viel los; das hat mich wohl überwältigt. Aber jetzt geht es mir schon viel besser. Danke Ihnen, wirklich.«

Ich stand auf, und obwohl meine Beine sich anfühlten, als bestünden sie bloß aus Pudding, zerrte ich meinen Vierbeiner im Rekordtempo zum Ausgang des Parks. Die hilfsbereite Dame rief mir noch etwas hinterher, doch ich verstand sie nicht und drehte mich auch nicht um. Im Gegenteil: Ich beschleunigte meinen wackeligen Gang noch um ein paar Takte, denn das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte, war, dass mich eine zuckersüße, aber wildfremde Rentnerin zu einem Arzt schleppte und mein ohnehin knapp kalkulierter Zeitplan völlig aus den Fugen geriet.

Nachdem ich um eine Ecke gebogen und außerhalb ihres Sichtbereichs war, lehnte ich mich gegen eine Hauswand und atmete tief durch. Die schattige Fassade war an diesem sonnigen und ungewöhnlich warmen Frühlingstag angenehm kühl und beruhigte meinen Geist, sodass ich darüber nachdenken konnte, was soeben passiert war. War das gerade eine Panikattacke gewesen? Hatte die alte Dame vielleicht doch recht und ich sollte medizinische Hilfe in Anspruch nehmen? Oder handelte es sich bloß um ein unverkennbares Zeichen, dass ich in den kommenden Tagen besser auf mich achten und mir mehr Pausen einräumen musste?

»Das wird aber nicht reichen«, ertönte plötzlich eine Stimme neben mir und ließ mich zusammenfahren. Es war die Frau mit dem knallroten Bob und dem kiwigrünen Kleid – »ein Teil von mir«, wenn man ihrer völlig abgefahrenen Erklärung Glauben schenken wollte. Ich machte einen Satz zur Seite und funkelte die Fremde wütend an.

»Was zum …?«, entfuhr es mir. »Wieso verfolgen Sie mich? Und überhaupt … Sie können sich nicht einfach so an mich heranschleichen. Ich bekomme noch einen Herzinfarkt! U-u-u-und außerdem … Was wird nicht reichen?«

»Ein paar Pausen«, antwortete die Fremde mit einem kräftigen Kopfschütteln und gänzlich unbeeindruckt von meinem Wunsch, sich weniger wie ein Super-Ninja und mehr wie ein normaler Mensch zu verhalten. »Und würdest du bitte damit aufhören, mich gedanklich als Fremde zu bezeichnen? Das ist wirklich beleidigend.«

»W-w-w-woher wissen Sie …?«, stotterte ich.

»Meine Güte, das habe ich doch nun wirklich schon mehrfach gesagt! Ich. Bin. Ein. Teil. Von. Dir. Schon vergessen oder soll ich es dir buchstabieren?«, gab die Rothaarige in einem ruppigen Ton zurück. »Anders gesagt: Ich bin ein Konstrukt deines Gehirns. Deshalb kenne ich selbstverständlich auch jeden deiner Gedanken. Das ist ja wohl klar … Sollte man zumindest meinen.«

»Hmmm …«, machte ich hilflos und vollends verwirrt.

»Und wenn wir einmal dabei sind«, fuhr mein Gegenüber fort, »kannst du auch aufhören, mich zu siezen. Ich duze dich schließlich ebenfalls, und nichts anderes ergibt Sinn, wo wir doch ein und dieselbe sind und uns nicht näher sein könnten.«

»Okay …«, antwortete ich verhalten. Ich sieze unbekannte Personen gerne so lange wie möglich, insbesondere, wenn sie mir unsympathisch oder, wie im Fall der Rothaarigen, nicht geheuer sind. Das »Sie« verspricht einen gesunden Abstand, eine Distanz, die mir Sicherheit und das Gefühl von Kontrolle schenkt. Beim »Du« verschwimmen die Grenzen gerne allzu schnell, dann passiert es mir, dass ich mich angreifbar und verletzlich mache. Und das gefällt mir ganz und gar nicht.

Doch egal, ob »Sie« oder »du«, fest stand, dass ich meine Gesprächspartnerin unbedingt und so schnell wie möglich abschütteln musste. Offensichtlich war sie nicht ganz richtig im Kopf. Ein Konstrukt meines Gehirns, dachte ich spöttisch. Von wegen!

Nein, es musste eine andere Erklärung dafür geben, warum diese Frau mir so verdammt ähnelte. Wieso ihre Gesichtszüge, ihre Statur und ihre Stimme den meinen bis ins kleinste Detail glichen. Und woher sie wusste, wie ich sie innerlich titulierte.

Vielleicht war sie doch mein Zwilling und nach unserer Geburt ist im Krankenhaus etwas schiefgelaufen und wir wurden getrennt? Und dass ich sie in meinen Gedanken als Fremde bezeichnete, war nichts Ungewöhnliches, schließlich war sie mir fremd. Vielleicht handelte es sich bei ihrem Kommentar bloß um einen Zufallstreffer?

»Du kannst entweder nach alternativen Antworten suchen und keine finden«, sagte die Rothaarige ungeduldig und etwas verärgert, »oder du kannst mir glauben und sparst uns beiden eine Menge Zeit und Nerven. Die brauchen wir nämlich, wenn wir dein – gelinde formuliert – eher durchschnittliches Leben besser machen wollen.«

»Wie bitte?«, fragte ich, plötzlich brüskiert und deutlich wacher. »Wer sagt denn, dass mein Leben durchschnittlich ist und ich es besser machen will? Ich mag mein Leben!«

»Aber sicher magst du dein Leben. Vieles davon jedenfalls. Doch bei Weitem nicht alles, da wollen wir uns nichts vormachen.«

Die Rothaarige setzte sich in Bewegung und ich folgte ihr gehorsam. Es war, als ob uns ein unsichtbarer Faden verband, als ob ich nicht anders konnte, als mit ihrem Schritt mitzuhalten.

»Dass ich ein Teil von dir bin, ist offensichtlich«, fuhr sie fort. »Nur du kannst mich hören und sehen und niemand sonst – außer natürlich Bingo und andere Tiere. Das kannst du gerne mal ausprobieren, indem du jemanden fragst, ob neben dir noch eine andere Person steht. Oder du lässt es sein, damit die Leute nicht denken, du wärst verrückt. Außerdem weiß ich alles über dich. Ich kenne jedes Geheimnis, jeden intimen Wunsch, jeden Gedanken, den du je gedacht, und jedes Gefühl, das du je gefühlt hast. Teste mich. Und wenn wir damit fertig sind und du mir glaubst, können wir dein Leben endlich von seiner Durchschnittlichkeit befreien und mehr aus dir machen.«

»Das ist absurd«, sagte ich kopfschüttelnd, folgte der Rothaarigen jedoch weiter auf Schritt und Tritt. »Aber na gut … Welchen Spitznamen trug ich als kleines Mädchen?«

»Das ist einfach: Lexie. Du hast den Namen gehasst und fandest, dass ›Alex‹ eine viel passendere Abkürzung für ›Alexandra‹ ist – was natürlich stimmt. Doch sind wir mal ehrlich, die Frage hätte auch jemand anderes beantworten können, deine Mutter oder deine Schulfreundinnen von damals zum Beispiel. Frag mich etwas Geheimes.«

Nachdenklich kratzte ich mich am Kopf.

»In wen war ich zuallererst in meinem Leben verknallt?«

»In Tobias, zweite Klasse. Allerdings war er, wie die anderen Kinder, sehr gemein zu dir. Er hat dir ständig ein Bein gestellt und einmal sogar deine Stifte aus dem Fenster geworfen.«

Ich spürte ein Stechen in der Brust. Die Erinnerung an meine Grundschulzeit tat weh, weil es wahrlich keine schöne Zeit für mich gewesen war. Doch die Überraschung über das Wissen der Rothaarigen über mich und mein Leben lenkte mich rasch von diesen dunklen Gedanken ab. Konnte das, was sie behauptete, tatsächlich stimmen?

»Es stimmt«, bestätigte sie. »Sonst wüsste ich doch auch nicht, dass Martin und du seit Wochen – oder sind es gar schon Monate? – keinen Sex hattet, und wenn ihr dann doch mal intim werdet, du an andere Dinge denkst, weil es dir so schwerfällt, abzuschalten. Ich wüsste nicht, dass du deine Kinder über alles liebst, aber dich trotzdem manchmal nach der Freiheit sehnst, die du vor ihrer Geburt hattest. Ich hätte keine Ahnung von dem schlechten Gewissen, das du aufgrund dieser Gedanken mit dir herumschleppst und das auf deinen Schultern lastet wie ein riesiger Felsbrocken. Und natürlich wüsste ich auch nicht …«

»Ist ja gut«, unterbrach ich die Rothaarige ruppig. »Ich glaube dir.«

Auf keinen Fall wollte ich mehr von dem hören, was sie zu sagen hatte. Zu sehr schämte ich mich dafür, dass ich mich manchmal so ausgelaugt und überfordert fühlte, dass ich die Entscheidung für meine Familie anzweifelte und besorgniserregende Fluchtgedanken entwickelte. Zwar hielten meine Zweifel nie lange an und die meiste Zeit war ich mehr als dankbar für meine Ehe und meine zwei kleinen Schätze, aber allein die Worte zu denken, die sie soeben ausgesprochen hatte, fühlte sich schon falsch an.

»Okay, mal angenommen – so ganz theoretisch –, es stimmt, was du sagst … Auch wenn es komplett abgefahren klingt … Also angenommen, du wärst wirklich so etwas wie ein Teil von mir …«, fuhr ich murmelnd fort, während ich der auffällig gekleideten Frau folgte, die im Stechschritt voranmarschierte.

Wir liefen so zügig, dass Bingo bereits hechelte. Zu meiner Überraschung blieb er dennoch nirgends stehen, um zu schnüffeln oder sich auszuruhen, sondern folgte der Rothaarigen und mir ohne Murren.

»Und du bist hier, weil …?«

»Das sagte ich doch bereits«, antwortete mein »Teil«, der mir weniger wie meine innere Kraft denn wie eine strenge Antreiberin vorkam. War sie es, die bewirkte, dass ich ständig weiterarbeitete, auch wenn ich mich erschöpft fühlte? War dieser Teil meines Selbst dafür verantwortlich, dass ich bei Ruhepausen ein schlechtes Gewissen bekam?

Wir bogen in die Straße ein, in der ich lebte, als meine Begleitung plötzlich stehen blieb – und ich mit ihr.

»Ernsthaft?«, fragte die Rothaarige entrüstet. »Du nennst mich ›Antreiberin‹?«

»Ähm, ja?« Meine Antwort klang kläglich und eher wie eine Frage, da meine Stimme zum Ende hin entschuldigend nach oben hüpfte.

Kurz hatte ich Angst, dass ich meinen Anteil damit verletzt hatte. Doch dann begann die Antreiberin zu grinsen.

»›Innere Kraft‹ gefällt mir zwar besser und eines Tages wirst du es genauso sehen wie ich«, setzte sie an, »doch ›Antreiberin‹ ist auch nicht schlecht. ›Antrieb‹ bedeutet immerhin, dass etwas durch Motivation in Bewegung gesetzt wird. Antrieb ist ja mit der Bereitschaft zum Handeln verbunden, im Gegensatz zum faulen Herumhängen und Nichtstun. Und schließlich ist Antrieb eine innere und vom Bewusstsein weitestgehend unabhängige Kraft, die bestimmt, mit welcher Dauer, Geschwindigkeit und Intensität du deinen Herausforderungen im Leben begegnest.«

»Wow … Das hast du wirklich gut auf den Punkt gebracht, schätze ich.«

»Natürlich habe ich das«, gab mein Gegenüber zurück. »Ich bringe Sachverhalte stets gut auf den Punkt. Und um auf deine Frage zurückzukommen: Warum bin ich hier? Nun, wie du sicherlich selbst bemerkt hast und wie ich vorhin bereits erwähnt habe, ist in deinem Kopf zu viel los. Und du tust zu wenig von dem, was ich vorgebe. Deshalb habe ich mich dazu entschieden, mich dir auffälliger zu zeigen und dich mehr an die Hand zu nehmen. Ach, und noch etwas: Unsere Gespräche sollten sich künftig weniger im Kreis drehen. Pass besser auf, dann vertrödeln wir auch keine Zeit mit ewigen Wiederholungen.«

»Okay, ich bemühe mich«, murmelte ich und fragte dann besorgt: »Bedeutet die Tatsache, dass ich dich sehe, dass ich verrückt bin?«

Meine Frage wurde mit einem brüskierten Blick abgestraft. »Über diese Beleidigung sehe ich jetzt mal geflissentlich hinweg und schreibe sie stattdessen deinem generell verbesserungswürdigen Gesamtzustand zu«, antwortete die Antreiberin und setzte sich wieder in Bewegung – und ich mich mit ihr.

»Okay, ich verstehe und werte das als ›Nein‹«, murmelte ich nachdenklich, wobei ich mir ehrlicherweise nicht sicher war, ob ich tatsächlich verstand, was hier gerade passierte.

Mittlerweile waren wir an unserem Haus angekommen. Meine Gesprächspartnerin blickte mich auffordernd an.

»Na, willst du nicht aufschließen?«

»Ach so, ja, klar.«

Ich kramte den Türschlüssel aus meiner Tasche. Eilig schloss ich auf und machte Bingo von der Leine los, der sogleich in der Küche verschwand, um aus seinem Näpfchen zu trinken. Einen solch zügigen Marsch erlebte er nicht alle Tage.

»Und nun?«, fragte ich planlos.

»Nun gehen wir einkaufen. Du hast schließlich noch viel für morgen zu tun. Oder hast du das schon vergessen?«

Ich schüttelte den Kopf. Nein, hatte ich nicht. Niemals vergaß ich meine To-dos, weil ich die Liste immer und immer wieder in meinem Kopf durchging – selbst wenn ich krank oder im Urlaub war. Also schnappte ich meinen Autoschlüssel und fuhr gemeinsam mit der rothaarigen Nervensäge los zum Supermarkt.

Eine unruhige Nacht

Abends fiel ich völlig erschöpft ins Bett. Mit meiner für andere unsichtbaren Antreiberin im Rücken hatte ich den ganzen Tag gewuselt, Essen vorbereitet, Geschenke verpackt, Servietten gefaltet, Staub gesaugt und nebenbei die Kinder betreut. Es war keine Zeit für weitere Gespräche mit der Rothaarigen geblieben, um die vielen Fragezeichen aufzulösen, die in meinem Kopf umherschwirrten wie Seifenblasen. Als Mia und Tom nach einer nervenaufreibenden und tränenreichen Runde Zähneputzen endlich im Bett lagen und ich alle To-dos von meiner inneren Checkliste gestrichen hatte, verschwand meine Antreiberin schließlich genauso schnell, wie sie gekommen war, und ließ mich mit meinem gedanklichen Chaos allein zurück. Mit ebendiesem inneren Tumult lag ich nun im Schlafzimmer und starrte die Decke an.

»Schatz, machst du das Licht aus?«, fragte Martin, der mir bereits den Rücken zugewandt hatte.

»Wie? Ach so, ja klar«, antwortete ich und schaltete meine Nachttischlampe aus.

Am liebsten hätte ich meinem Ehemann von meiner Begegnung mit der Rothaarigen erzählt und ihn gefragt, ob auch er schon mal Besuch von einem Teil seines Selbst bekommen hatte. Doch vermutlich würde er mir ohnehin nicht glauben, was an diesem alles andere als gewöhnlichen Freitag in meinem Leben passiert war. Oder schlimmer noch: Er würde mir diagnostizieren, dass ich einen an der Waffel hätte.

Martin fand es schon seltsam, wenn ich ihn fragte, an was er gerade dachte. Meistens war die Antwort dann »An nichts«, woraufhin ich ihm erklärte, dass es nicht möglich war, an nichts zu denken, weil man doch immer an irgendetwas denkt. Mit »man« sprach ich dabei allerdings nur von mir, wie er mich daraufhin stets wissen ließ. Seiner Meinung nach war es durchaus möglich, das laute Rauschen und die inneren Stimmen leiser zu drehen – so leise gar, dass sie komplett verstummten.

An manchen Tagen glaubte ich ihm und wollte ebenfalls lernen, mehr in mir zu ruhen, auf mich und das Leben zu vertrauen und im Moment präsent zu sein. An anderen Tagen war ich davon überzeugt, dass er schlichtweg keine Lust hatte, seine Gedanken mit mir zu teilen. Vielleicht war er zu faul zum Sprechen, oder es handelte sich bei dem, woran er gerade dachte, um etwas, von dem er meinte, ich könnte wütend oder enttäuscht darauf reagieren. Jedenfalls war der heutige Tag einer, an dem ich niemandem die Aussage abkaufen würde, dass es möglich war, an nichts zu denken – nicht einmal dem Dalai Lama.

Nervös drehte ich mich von der Rückenlage auf die Seite und kniff meine Augen fest zusammen, in der Hoffnung, dadurch einschlafen zu können. Natürlich machte ich mir damit selbst etwas vor, und ich wusste es. Nicht einmal an »normalen« Tagen schlief ich abends »einfach so« ein. Während Martin bereits fröhlich vor sich hin schnarchte, ging ich stets den vergangenen Tag durch und ohrfeigte mich innerlich für die Fehler, die mir unterlaufen waren: eine E-Mail, die ich ohne nochmaliges Lesen rausgeschickt hatte und in der nun der wichtigste Punkt fehlte, eine viertelstündige Verspätung, als ich nachmittags unsere Kinder von der Betreuung abholte, verbunden mit der entsprechenden Verärgerung der Erzieherin, oder ein Telefonat mit einem Handwerksbetrieb, in dem es mir nicht gelungen war, einen baldigen Termin zu bekommen. Auch malte ich mir die Verpflichtungen der kommenden Tage in allen Details aus, schrieb im Kopf Einkaufslisten und rechnete hin und her, wie wir den nächsten Familienurlaub finanzieren konnten, wo doch seit Jahren alles teurer wurde und uns der Hauskredit weiterhin im Nacken saß.

Zu den mir bereits bekannten Sorgen gesellte sich nun die Frage nach meiner Begegnung im Park. Ich hatte mittlerweile verstanden, dass die Rothaarige, die behauptete, meine innere Kraft zu sein, die ich jedoch als Antreiberin wahrnahm, ein Produkt meiner Fantasie war. Trotzdem war ihre Präsenz so greifbar gewesen, so real! Es war, als ob sie tatsächlich neben mir auf der Parkbank gesessen hätte und durch die Gänge des Supermarkts gestreift wäre. War das »normal«? Erlebten andere Menschen ähnliche Dinge und sprachen vielleicht einfach nicht darüber oder ging es bloß mir so? Was konnte das alles bedeuten?

Mit einer Mischung aus Neugier und Unsicherheit griff ich nach meinem Handy, das auf dem Nachtschränkchen neben meinem Bett lag. Ich hoffte, dass eine schnelle Internetrecherche mir einige Antworten liefern könnte oder zumindest einen Anhaltspunkt, was ich von meiner heutigen Begegnung halten sollte. Leider machte diese Aktion alles noch viel schlimmer, da Doktor Google mir die wildesten Störungen diagnostizierte und Krankheiten, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte.