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Über das kleine Glück und wo es zu finden ist »Eigentlich müsste ich doch glücklich sein …« Im Grunde genommen ist Annas Leben nicht schlecht, doch zwischen Alltagssorgen und endlosen Routinen ist ihr der Funke im Leben abhandengekommen. Dies ändert sich, als sie in einem Antiquitätengeschäft ein Tagebuch aus den 1920er-Jahren entdeckt. Tag für Tag und Seite für Seite taucht Anna tiefer in das Leben der Fremden ein und lernt sich selbst und ihre tiefsten Sehnsüchte besser kennen –um schließlich ihr eigenes Leben neu zu schreiben: ein Leben, das von Leichtigkeit, Freude und Leidenschaft geprägt ist. Eine Erzählung über die verborgene Magie in unserem Leben und die vielen Glücksmomente, die unser inneres Licht erstrahlen lassen.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Sonne in dir
Eine Erzählung über die verborgene Schönheit des Alltags
Vanessa Göcking
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Originalausgabe
1. Auflage Juni 2024
Copyright © 2024 Vanessa Göcking
Vanessa Göcking, Teichgasse 5, 99880 Waltershausen
E-Mail: [email protected]
WhatsApp: +49 361 34946909
Instagram: vanessa.goecking
Website: www.vanessagoecking.com
Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sowie das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und Übersetzung, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Anke Schild
Korrektorat: Ulrike Hollmann
Umschlaggestaltung und Buchsatz: Laura Newman
ISBN Print 978-3-9894-2314-5
ISBN E-Book (epub) 978-3-9666-1324-8
ISBN E-Book (pdf) 978-3-9886-5137-2
Dieses Buch ist für
DICH,
damit du den Zauber
im Alltag entdeckst
und deine innere Sonne
zum Strahlen bringst.
»Eigentlich müsste ich doch glücklich sein …«
Aber wo ist es dann – dieses Kribbeln, das mich morgens aus dem Bett springen lässt, weil ich so richtig Lust auf den Tag habe? Wo sind meine Neugierde und mein Mut, etwas Neues auszuprobieren, auch mal hinzufallen und ohne Angst wieder aufzustehen? Wo ist der Blick für die Magie im Alltag und den Zauber, der hinter jeder Straßenecke und in jeder neuen Begegnung auf mich wartet? Und wo ist die Freude über die vielen kleinen Glücksmomente, die das Leben mir schenkt und die mir oft erst bewusst werden, wenn ich innehalte und mir die Zeit nehme, sie wahrzunehmen?
All diese Fragen habe ich mir einst gestellt und vielleicht geht es dir ähnlich. Vielleicht blickst du gerade auf dein Leben, und obwohl du rational weißt, dass es vieles gibt, wofür du dankbar sein könntest, fühlst du dich dennoch unzufrieden und wenig erfüllt. Oder du hast gerade ein großes Ziel erreicht, auf das du lange und hart hingearbeitet hast, doch die erhoffte Zufriedenheit und das Funkensprühen stellen sich schlicht und ergreifend nicht ein. Möglicherweise findest du dein Leben auch »nicht schlecht«, fragst dich jedoch, ob das schon alles gewesen sein soll oder ob noch etwas anderes, Besseres, Schöneres auf dich wartet – sei es in der Liebe, im Beruf oder in einem anderen Lebensbereich.
Ich erinnere mich noch gut an diesen Zustand. Ich erinnere mich, wie mir zwischen Alltagssorgen und endlosen Routinen der Funke im Leben abhandengekommen ist. Ich weiß noch genau, wie es sich anfühlt, vermeintlich auf der Stelle zu treten, ohne Aussicht auf Veränderung – gefangen in einer Schleife, in der jeder Tag dem anderen gleicht. Und ich erinnere mich an die zehrende Sehnsucht nach mehr: nach mehr Freude, mehr Abenteuer, mehr Leidenschaft und mehr Tiefe. Vor allem jedoch erinnere ich mich an den Moment, in dem ich mich für einen anderen Weg entschied.
Denn was mir damals beinahe rebellisch und unvorstellbar vorkam, erscheint mir mittlerweile fast banal: Wir alle können unserem Leben zu jeder Zeit, in jedem noch so gewöhnlichen Moment, eine ganz neue Richtung geben. Wir alle können unseren Alltag jetzt und hier umkrempeln – entweder alles auf einmal oder sacht, Schritt für Schritt, in unserem eigenen Tempo. Wir alle können das kleine Kind in uns wiederentdecken, dessen Staunen sich in seinen großen Augen widerspiegelt und dessen Herz vor Aufregung und Freude hüpft. Visionen und Wünsche, die wir verloren geglaubt haben, können wieder erwachen, wenn wir sie zulassen und es uns erlauben, zu träumen.
So ist es mir ergangen, und weil ich so viele bereichernde Erfahrungen machen durfte, möchte ich meine Geschichte mit dir teilen. Und während du sie liest, wirst du vielleicht feststellen, dass auch in dir etwas schlummert, das zu wecken sich lohnen würde. Vielleicht entdeckst du ein altes Hobby, eine vergessene Leidenschaft oder einen unerfüllten Traum, der nur darauf wartet, von dir in die Wirklichkeit umgesetzt zu werden. Möglicherweise wirst du beginnen, dein Leben aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, wieder mehr Freude und Dankbarkeit für die kleinen Schätze zu empfinden und aus vollem Herzen zu lachen. Und wahrscheinlich wirst du bemerken, zu welchen Menschen, Aufgaben und Orten du ab jetzt »Nein« sagen möchtest, um zu anderen Dingen »Ja« sagen zu können.
Denn letztendlich ist meine Geschichte eine Einladung an dich: eine Einladung, hinzuhören, wenn dein Herz spricht. Eine Einladung, den Mut zu haben, deinen eigenen Weg zu gehen. Und eine Einladung, dein Leben mit all seinen Möglichkeiten zu umarmen und jeden Tag als ein neues Abenteuer zu sehen.
Denn so, wie ich das Licht in mir erkannt habe, kannst auch du das Licht in dir erkennen.
Deine Anna
»Schatz, hörst du mir eigentlich zu?«
Ich nickte hastig und schüttete mir bei meiner nonverbalen Notlüge beinahe meinen Kaffee über den Schoß. In Wahrheit hatte ich nicht zugehört, sondern war mit meinen Gedanken mal wieder bei der Arbeit. Meine Kollegin Svenja hatte mir am Vortag erneut einen Stapel Personalanträge untergeschoben, die eigentlich nicht in meinen Verantwortungsbereich fielen. Und erneut hatte ich nichts dagegen gesagt, sondern ihre Aktion wortlos hingenommen. Wann bin ich eigentlich so geworden?, fragte ich mich. Wann habe ich angefangen, alles zu erdulden und Dinge kommentarlos über mich ergehen zu lassen, obwohl sie mir nicht passten?
»Aaaalso, Anna?«, fragte Jan leicht genervt und zog dabei seine Augenbrauen nach oben. »Kommst du nun mit oder nicht?«
»Ach so, ja klar. Warum nicht …«, antwortete ich mit einem wenig begeisterten Schulterzucken. Mehr Euphorie konnte ich angesichts des Besuchs eines weiteren Antiquitätengeschäfts leider nicht aufbringen.
»Warum nicht …« war eine der Aussagen geworden, die mir in letzter Zeit häufiger über die Lippen kamen. Es fiel mir schwer, mich für Dinge oder Menschen zu begeistern, und jeder Tag fühlte sich gleich an.
Während ich früher viel mit Freundinnen unterwegs gewesen war, spontan Städtetrips unternommen hatte, feiern gegangen war und mich dem Fluss des Lebens mühelos hingegeben hatte, hing ich mittlerweile von Montag bis Freitag von 8:00 bis 17:00 Uhr im Büro fest, bearbeitete Personalanträge, kümmerte mich um die Gehaltsabrechnungen und ließ mir von Svenja auf der Nase herumtanzen. Die Kinobesuche und Fitnessstudiokurse, mit denen ich noch vor wenigen Jahren meine Freizeit gefüllt hatte, waren Fernsehabenden mit meinem Freund gewichen, an denen wir Netflix schauten und ständig die gleichen Gerichte aßen. Und die Reisen, Yoga-Retreats und Ausflüge an die Nordsee, die in meinen Zwanzigern für viele glückliche und erfüllte Stunden gesorgt hatten, wurden durch Haushaltspflichten ersetzt: Samstags und sonntags erledigten Jan und ich unsere Einkäufe, putzten die Wohnung und brachten unser Auto zur Reparatur, das ständig kaputtging, obwohl wir so gut wie nie damit unterwegs waren. Darüber hinaus hatte ich den stark verzerrten Eindruck, dass ständig die Steuererklärung oder der TÜV anstand, obwohl ich rational wusste, dass diese Termine nur alle ein bis zwei Jahre auf mich zukamen. Hin und wieder gingen Jan und ich auch an der Alster spazieren oder bepflanzten den Balkon. Oder wir besuchten Flohmärkte und Antiquitätengeschäfte, weil mein Freund alten Kram liebte.
Ich hingegen sehnte mich nach etwas Neuem. Manchmal beobachtete ich die SUP-Sportler auf der Außenalster, die mit ihren langen Boards und mannshohen Paddeln auf dem Wasser dahinglitten, und ich wünschte mir, dass Jan und ich so was auch mal ausprobieren würden. Auch wäre ich gerne mal wieder tanzen gegangen, hätte gerne neue Leute kennengelernt oder einen Spieleabend mit Freunden organisiert. Doch jedes Mal, wenn ich einen solchen Vorschlag machte, winkte Jan bloß ab: Gerade keine Zeit, gerade keine Lust, gerade kein Dies und kein Das … Also gab ich auf und mich meinem Schicksal hin.
Vermutlich war unser Zustand einfach normal. Jan und ich waren schließlich schon seit über zwölf Jahren zusammen. Ist es da nicht vollkommen verständlich, dass das anfängliche Feuer erloschen ist? Wäre da noch Glut, wenn wir unser Beziehungsleben – wie viele meiner Freundinnen – mit den Jahren auf neue Stufen gehoben hätten?
Vermutlich nicht. Immerhin hatte ich einige Freundinnen, die verheiratet waren und mit Kindern, Hunden, Meerschweinchen und Co. in hübschen Vorstadthäusern mit ordentlichen Gärten lebten und die ebenso im Trott des Alltags festzustecken schienen wie ich. Und selbst wenn es bei ihnen anders wäre, sollte es mir schließlich um mein Leben gehen, und Jan und ich hatten diese neuen Stufen irgendwie verpasst.
Die Frage nach einer Heirat stand zwar mal im Raum, aber wie unbeachtete Gäste es für gewöhnlich tun, ist sie verschwunden, als sich niemand weiter um sie scherte. Gleiches galt für die Kinderfrage. Wir beide wollten immer Kinder haben und doch war das Extrazimmer in unserer Wohnung weiterhin eine zu große Abstellkammer. Ziemlich ärgerlich, wenn man an die hohen Hamburger Mietpreise dachte.
Dieser Mangel wurde mir besonders dann schmerzhaft bewusst, wenn wir Jans oder meine Eltern besuchten. Während unsere Väter sich dezent zurückhielten, hatten unsere Mütter ihre ganz eigenen Strategien entwickelt, um uns auf den Pfad der Fortpflanzung zu bringen. Meine Mutter brillierte dabei mit allzu direkten Fragen wie »Na, wollt ihr nicht auch langsam mal Nachwuchs bekommen?« und dem verträumten Seufzen beim Anblick der Nachbarskinder. Wohingegen Jans Mutter übertrieben auffällig von Jans Bruder Florian, dessen Frau Yvonne und ihren zwei Töchtern schwärmte und nicht müde wurde zu betonen, was für eine tolle »vollständige« Familie das doch war – und dass, obwohl Yvonne einige Jahre jünger war als ich. »Aber na ja, das muss jeder für sich wissen, was einem wichtig ist«, schallte ihre Stimme durch meinen Kopf.
Ähnlich wie dem Thema Familiengründung erging es auch vielen anderen unserer Träume. Die Rundreise durch Asien, das Pilgern auf dem Jakobsweg und der gemeinsame Salsakurs: All diese Pläne sind im Sand verlaufen, weil wir dachten, wir hätten Zeit.
Nun war es nicht so, dass unsere Zeit zu Ende wäre. Wir waren noch immer halbwegs jung, die Möglichkeiten standen uns weiterhin offen. Und dennoch fehlte der Funke, die Zündenergie, die uns endlich aus unserer Bequemlichkeit herausreißen würde. Und überhaupt: War man denn jemals zu alt, um ein paar Dinge im Leben umzukrempeln und glücklich zu werden? Ich glaubte nicht – theoretisch zumindest.
Ich kippte den letzten Schluck meines Kaffees runter und stand auf, um den Frühstückstisch abzudecken. Jan daddelte weiterhin auf seinem Smartphone herum und sah sich YouTube-Videos an, ohne eine Miene zu verziehen. Ich verstaute das Essen im Kühlschrank und räumte den Geschirrspüler ein. Den Tisch wischte ich nicht ab, weil ich schauen wollte, ob Jan die Krümel auch auffielen. Vermutlich würde das jedoch nicht passieren …
Dann tauschte ich meinen ausgewaschenen Schlafanzug gegen das Outfit, das ich bereits am Vortag getragen hatte und das zusammen mit einem Berg an anderen Kleidungsstücken auf einem Stuhl im Schlafzimmer lag. Ich war mir sicher, dass jeder Mensch einen solchen Stuhl zu Hause hatte: mit Hosen und Pullis, die zu sauber für die Wäsche waren und gleichzeitig zu schmutzig für den Kleiderschrank oder die man einfach nicht wieder zusammenlegen wollte. Na gut, vielleicht gab es auch ein paar Menschen auf dieser großen weiten Welt, die Ordnung in ihren Schränken hielten, wo alles fein säuberlich sortiert war und seinen rechtmäßigen Platz hatte. Aber bei den meisten war das doch wohl nicht der Fall, oder?
»Ich bin fertig«, sagte ich zu Jan, der in der gleichen gekrümmten Haltung auf sein Smartphone starrte wie schon vor zehn Minuten. Es erstaunte mich jedes Mal aufs Neue, wie viel Zeit wir alle am Handy verbringen. So viele wertvolle Stunden unseres Lebens vergeuden wir mit dem Blick auf einen Bildschirm, der uns entweder zeigt, dass die Welt gerade untergeht – Stichwort Kriege, Klimawandel, Umweltkatastrophen, Flüchtlingskrise und politische Inkompetenz –, oder demonstriert, dass alle anderen ein besseres Leben führen als wir selbst, ihre cellulitefreien Körper an Traumstränden bräunen oder sich mitsamt ihren wohlerzogenen Kindern zu einem üppigen veganen Sonntagsbrunch mit Freunden treffen, die ebenfalls ihre wohlerzogenen Kinder dabeihaben.
Und obwohl uns das übersteigerte Scrollen durch die sozialen Medien und generell zu viel Bildschirmzeit erwiesenermaßen nicht guttun, zu erhöhtem Stress und sogar Angstzuständen führen können, machen es viele von uns trotzdem. Irgendetwas scheint uns die zweidimensionale Welt zu bieten, an dem es unserem dreidimensionalen Alltag mangelt.
Ist uns die echte Welt nicht mehr knallig genug? Brauchen wir die grellen Farben, wie sie nur Filter ermöglichen? Oder manipuliert Social Media das Belohnungssystem in unserem Gehirn und lässt uns stundenlang irgendwelche Posts lesen und Kurzvideos schauen, bis mal etwas Lustiges und Wissenswertes erscheint und das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird? Vielleicht ist das Internet auch lediglich eine Ausflucht aus dem Alltag, in dem so viele Verpflichtungen auf uns warten, in dem es Konflikte zu lösen und Herausforderungen zu überwinden gilt …
»Perfekt«, erwiderte Jan und riss mich aus meinen Gedanken. Wir verließen gemeinsam die Wohnung Richtung Bahn. Die Krümel blieben auf dem Küchentisch zurück.
Für Hamburger Verhältnisse war es draußen ungewöhnlich warm und ich begann schon nach wenigen Schritten zu schwitzen. Die Sonne strahlte von einem azurblauen Himmel hernieder, die Bäume reckten ihre saftig grünen Kronen in die Höhe und die Straßen waren gefüllt mit Joggern, Händchen haltenden Pärchen, jungen Eltern mit Kinderwagen und Freundinnen, die in Straßencafés Hafermilch-Cappuccinos tranken. Nach einem kurzen Fußweg und einer Fahrt in einer überfüllten U-Bahn erreichten wir das Antiquitätengeschäft Antikstübchen.
Als Jan und ich durch die gläserne Tür nach innen traten, begrüßte uns ein freundliches Glockengeläut, die Luft war überraschend kühl, und der Geruch nach Leder, Holz und alten Büchern füllte den Raum. Jans Gesicht erstrahlte – er war in seinem Metier. Bei diesem Anblick huschte ein Lächeln über meine Lippen. Zwar stellte ich mir meine Freizeitgestaltung anders vor und erfreute mich eher an neuen Möbeln, Büchern und Accessoires als an diesem alten Klimbim, doch Jans Freude mitzuerleben, war den Weg wert gewesen. In diesen Momenten wurde mir wieder bewusst, weshalb ich mein Leben mit diesem Menschen verbrachte und warum er mir so nahestand. Für einen Herzschlag konnte ich erneut das Kribbeln spüren, das ich zu Beginn unserer Beziehung empfunden hatte, als alles noch neu und aufregend war, und das in letzter Zeit leider viel zu selten auftauchte …
Genauso schnell wie mein kleines Hochgefühl verschwand auch Jan schon bald in den Untiefen des Ladens und ließ mich mit meinen Gedanken allein. Ein Gähnen unterdrückend, schlenderte ich durch das Geschäft und war verwundert, wie groß es war. Während esvon außen eher kuschelig klein gewirkt hatte – das Haus war sehr schmal, mit gerade einmal drei Fenstern in den oberen Etagen –, erstreckten sich die Räumlichkeiten scheinbar endlos weit in die Tiefe. Na toll, dachte ich mir, da hat Jan eine Menge zu entdecken. Vermutlich würden wir eine halbe Ewigkeit hier drin verbringen und am Ende wieder mit einem Berg Schnickschnack nach Hause fahren, der nach langen Diskussionen ohnehin ausnahmslos in unserer Abstellkammer (Schrägstrich Kinderzimmer, Schrägstrich Raum verlorener Träume) landen würde.
Um mich nicht in meinen Gedanken an bevorstehende Konflikte zu verlieren, versuchte ich mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und nahm meine Umgebung mit mehr Aufmerksamkeit wahr. Im vorderen Bereich des Ladens, nahe der Eingangstür, stand ein Dutzend verschiedener Tische aus Mahagoni-, Nussbaum- und Kiefernholz mit zum Teil dazugehörigen, zum Teil bunt gemischten Stühlen und Bänken. Viele der Tische waren mit Spitzentischdeckchen verziert, und auf ihnen türmten sich kitschige Figürchen und gruselige Porzellanpuppen sowie Teller und Vasen, die selbst meiner Oma zu altmodisch gewesen wären. An den Wänden hingen goldgerahmte Gemälde mit Landschaften oder nackten Frauen. Der angrenzende Bereich beherbergte massive Ledersofas und Polstersessel mit bestickten Kissen, die Dackel und Blumenornamente zierten. Ich fragte mich, wer diesen Kram kaufte und wie dieses Geschäft sich finanziell über Wasser hielt. Irgendwie war mir hier alles zu viel, zu eng, zu dunkel.
Dahinter begann der antiquarische Teil des Ladens, dessen deckenhohe Regale über und über mit alten Büchern und historischen Schriften gefüllt waren. Ich betrat ihn und nach zweimaligem Abbiegen konnte ich den Eingang des Geschäfts nicht mehr ausmachen. Stattdessen verlor ich mich in einem Labyrinth aus Wörtern und Zeilen. Von der Wärme, dem Trubel und dem Lärm dieses Hamburger Sommertags, den man in der Nähe des Schaufensters zumindest noch teilweise mitbekommen konnte, war hier keine Spur mehr, und wider Erwarten erfüllten mich plötzlich eine seltsame Ruhe und Entspanntheit.
Ich fuhr mit meinen Fingern an einigen Buchrücken entlang, spürte raues Leinen und erhabene Verzierungen auf aufwendig gestalteten Bänden. Welche Geschichten mochten sich wohl zwischen diesen Buchdeckeln verbergen?
Ein Rascheln ließ mich aufschauen. Zwischen zwei üppig gefüllten Bücherregalen erblickte ich eine elegant gekleidete ältere Dame. Ihr graues Haar lugte unter einem mitternachtsblauen Glockenhut hervor und umspielte ihr schmales Gesicht, das trotz der zahlreichen Falten jugendlich und lebensfroh wirkte. Im passenden Farbton zu ihrem Damenhut trug sie ein knielanges Kleid, das mit allerhand Pailletten und Fransen verziert war. Ihr Outfit passte fabelhaft zu diesem Ort mit den alten Werken vergessener Schriftsteller – sie alle schienen aus der Zeit gefallen zu sein.
In ihren mit Samthandschuhen bekleideten Händen hielt sie ein kleines, purpurrotes Büchlein mit einer goldenen Aufschrift, die ich aus der Entfernung nicht entziffern konnte. Als sie mich sah, schenkte sie mir ein Lächeln, klappte das Buch zu und schob es in eines der Regale. Danach zwinkerte sie mir zu und verschwand in einem anderen Gang.
Ich blieb für einen Moment wie angewurzelt zurück. Diese Begegnung war so … anders gewesen. Beinahe wollten sich mir die Begriffe »zauberhaft« und »magisch« aufdrängen. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich eine erwachsene Frau in einem Antiquitätengeschäft war, und nahm Haltung an. Zielstrebig marschierte ich auf das Bücherregal zu, in das die Dame das rote Büchlein gestellt hatte. Während ich die Buchrücken musterte, nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. In der Annahme, dass es sich um die Unbekannte handelte, trat ich um das Regal herum – doch von ihr war keine Spur mehr. Stattdessen begegnete ich Jan, der auf allen vieren das unterste Regal in der Abteilung »Seltene Erstausgaben« musterte. Neben sich hatte er zwei grässliche Nachttischlampen mit bronzefarbenen Füßen und dunkelgrünen Lampenschirmen abgestellt. Ich betete inständig, dass er sie nicht kaufen wollte.
»Schatz, die willst du aber nicht mitnehmen, oder?«, fragte ich mit Verzweiflung in der Stimme und deutete mit meinem Zeigefinger auf die Nachttischlampen des Grauens.
Jan schaute kurz mich und dann seine Errungenschaften an, bevor er sich wieder den Büchern zuwendete.
»Was meinst du? Natürlich will ich sie mitnehmen … Das sind Jugendstillampen. Die findet man nicht mehr so häufig.«
Ich verdrehte die Augen, schluckte einen Kommentar aber herunter. Stattdessen sagte ich: »Darüber können wir gleich noch mal sprechen. Was ich dich eigentlich fragen wollte, war, in welche Richtung die Dame mit dem seltsamen Kleid gelaufen ist …?«
»Wovon redest du?«, erwiderte Jan und rutschte auf den Knien von den Autoren mit dem Anfangsbuchstaben D zu jenen mit E.
»Na, die Frau mit dem blauen Hut und den Samthandschuhen, die aussah, als hätte sie einen Kostümladen überfallen«, antwortete ich seufzend und blickte mich dabei immer wieder zu allen Seiten um. So zackig konnte eine Frau ihres Alters doch wohl nicht unterwegs sein? Bestimmt war sie um die achtzig Jahre alt, wenn nicht sogar noch älter.
Jan stützte sich ab, stand auf und klopfte sich die Hände sauber. »Anna, mir ist hier in der ganzen Zeit niemand begegnet. Die Türglocke hat auch nicht geläutet. Angenehm, oder? Da können wir ganz in Ruhe schmökern und auf Schatzsuche gehen!«
»Seltsam …«, nuschelte ich und ließ Jan bei seinen Erstausgaben stehen, um erneut nach dem Buch zu schauen, das die alte Dame ins Regal gestellt hatte. Anders als befürchtet war es leicht zu finden. Das satte Purpur des Einbands und die zarten goldenen Verzierungen am Buchrücken hoben sich deutlich von den ausgewaschenen Brauntönen ab, die die restlichen Regale in diesem Bereich des Antiquitätengeschäfts dominierten.
Vorsichtig zog ich es heraus. In goldenen Lettern und mit filigranen Blumenranken verziert, prangte darauf das Wort »Tagebuch«. Die Seiten des Buches waren leicht vergilbt, ansonsten jedoch in einem guten Zustand – ganz ohne Risse, Flecken und andere Makel, wie ich sie von Jans Errungenschaften kannte. Es war von vorn bis hinten eng beschriftet, so als hätte jemand versucht, jeden einzelnen Millimeter des Papiers auszunutzen, und dennoch nicht genügend Platz für die eigenen Gedanken gefunden. Die Schrift wirkte zart, mit langen, schmalen Buchstaben; die Texte waren offensichtlich mit einem blauen Füllfederhalter geschrieben. Auf der ersten Seite oben rechts entdeckte ich das erste Datum: Hamburg, den 17. Juni 1923. Verdutzt blickte ich auf meine Smartwatch: Heute war der 17. Juni 2023, es war also exakt einhundert Jahre her, dass dieser Tagebucheintrag niedergeschrieben worden war. Konnte das ein Zufall sein?
Mühsam entzifferte ich die Schrift, die ganz anders war als die holprigen Druckbuchstaben, die ich zustande brachte, wenn ich nicht gerade am Laptop tippte …
Hamburg, den 17. Juni 1923
Liebe Emma,
genau, so werde ich dich nennen. Denn an ein Buch zu schreiben, käme mir doch arg seltsam vor … »Liebes Tagebuch« – nein! Das wäre nichts für mich.
Da stelle ich mir lieber vor, du seist meine Schulfreundin, mit ihrem roten Lockenschopf und ihrem lauten Lachen. Wie ich es vermisse! Wie ich sie vermisse. So viele Jahre ist es bereits her, doch in meinem Herzen ist sie stets bei mir. Also schreibe ich dir, Emma. Und wie wir es damals schon getan haben, möchte ich dir meine tiefsten Geheimnisse anvertrauen, dir erzählen, was mich berührt und wonach ich mich im Herzen sehne.
Die äußere Welt spielt hier keine Rolle. Zu viele Jahre meiner Jugend waren vom Krieg überschattet, zu viel Zeit meines jungen Erwachsenendaseins mit Geldsorgen verschwendet. Hier in diesem Büchlein, liebe Emma, soll es um mich gehen. Denn mich habe ich in all den Jahren irgendwie vergessen. Vielleicht habe ich mich auch verloren. Ich weiß es nicht.
Was ich weiß, ist, dass mein Strahlen weniger wurde. Weißt du noch, was für ein Wirbelwind ich einst war? Wie lustig und frech? Über jeden Käfer und jeden derben Witz konnte ich mich freuen. Es scheint, dass davon zu viel Vergangenheit ist und zu wenig Gegenwart. Von der Zukunft mal ganz zu schweigen.
So allmählich spüre ich jedoch, dass der Durst nach dem Leben zurückkehrt. Ich fühle mich wie in einer Wüste, von innen beinahe vertrocknet, und nur eine Oase der Lebendigkeit vermag mich noch zu retten.
Deshalb, liebe Emma, möchte ich nun einen Schwur leisten: Ich verspreche dir und ich verspreche mir, dass ich ab nun den Zauber in mein Leben zurückholen werde. Ich werde es lernen, wieder zu lachen und mich zu freuen, zu träumen und zu scherzen und ganz bei mir zu sein. All das werde ich hier festhalten – und du, du wirst mich dabei begleiten.
In Liebe
Deine T.
Nachdenklich strich ich mit meinem Zeigefinger über die Worte und fragte mich, wer diese T. war und wie ihr Tagebuch hier gelandet ist. Was waren typische Namen für Damen, die 1923 gelebt haben? Vielleicht Theresa, Thea oder Toni? Oder Tilda? »Tilda« fühlt sich irgendwie passend an, dachte ich mir und spürte mit meinem Finger, an welchen Stellen der Füllfederhalter besonders stark auf das Papier gedrückt worden und an welchen Stellen er anscheinend mühelos über die Seiten geflogen war. Ein seltsamer Cocktail an Emotionen entstand in meinem Inneren. Einerseits spürte ich plötzlich eine unfassbare Traurigkeit und Sehnsucht, so als würde ich etwas oder jemanden vermissen. Andererseits empfand ich bei den Zeilen Hoffnung, Freude, fast schon Übermut. Oje, dachte ich mir mit der sarkastischen inneren Stimme, mit der ich mich selbst oft belächelte, bekomme ich etwa meine Tage? Solche Gefühlsausbrüche hatte ich üblicherweise immer nur kurz vor dem Start meiner Periode, doch dafür war es zu früh im Monat.
Plötzlich berührte jemand meine Schulter. Ich erschrak so sehr, dass mir das Tagebuch beinahe aus der Hand gerutscht wäre, griff im letzten Moment jedoch noch fest zu.
»Jan!«, fuhr ich meinen Freund an, als ich ihn erkannte. »Was soll das?«
»Was soll was? Ich habe dich doch nur kurz berührt. Davor hatte ich schon zweimal nach dir gerufen, aber du hast nicht reagiert …«
»Ja, weil ich etwas gelesen habe«, antwortete ich nachdenklich und blickte hinunter auf das rote Büchlein in meinen Händen. »Ich glaube, ich will das mitnehmen.«
»Du willst etwas von hier mitnehmen? Ernsthaft?«, fragte Jan sichtlich überrascht. Ich konnte seine Verwunderung nachvollziehen, schließlich hatte ich mich stets über unsere Ausflüge in Antiquitätengeschäfte und auf Trödelmärkte lustig gemacht und seine Leidenschaft für alte Objekte als seltsamen Spleen abgetan. Andererseits: Durfte man seine Meinung nicht ändern? Durfte ich mir hier nicht auch mal was kaufen, wo doch auch ich viele Stunden meiner Freizeit an solchen Orten und mit diesem Klimbim verbrachte?
Ich verspürte das große Verlangen, mehr über die Verfasserin des Tagebuchs zu erfahren und ob sie es tatsächlich geschafft hatte, den Zauber in ihr Leben zurückzuholen. Und falls ja, dann wollte ich wissen, wie sie es bewerkstelligt hat und wie auch ich lernen konnte, wieder mehr zu lachen und mich zu freuen, zu träumen und zu scherzen und ganz bei mir zu sein. In diesem Moment legte sich ein Schalter in mir um, und ich spürte den Drang, etwas in meinem Leben zu verändern.
Und so marschierte ich – ohne Jans Frage einer Antwort zu würdigen – mit dem Tagebuch zum Verkaufstresen, auf dem eine große mechanische Registrierkasse stand. Dahinter begrüßte mich ein kleiner, freundlich dreinschauender Herr, der mit seinem gezwirbelten Schnurrbart einem französischen Zeichentrickfilm hätte entsprungen sein können.
»Ich würde gern dieses Buch hier kaufen«, erklärte ich mit einem selbstbewussten Lächeln und platzierte das Tagebuch auf dem Tresen. Jan schob mich leicht zur Seite und stellte die zwei Nachttischlämpchen mit dazu.
»Die hier nehmen wir auch«, sagte er beiläufig und fügte mit einem gönnerhaften Augenzwinkern hinzu: »Ich zahle.«
»Sehr gerne«, antwortete der Herr mit einem Lächeln, das seinen Schnurrbart nach oben zucken ließ. Er griff nach den Lampen, drehte sie um, um das Preisschild unter dem Fuß zu lesen, und tippte etwas in einen kleinen, grauen Taschenrechner. Dann schlug er das Buch auf, blätterte nach vorne und ganz nach hinten und zog seine Augenbrauen nach oben. »Seltsam …«, murmelte er nachdenklich.
Fragend blickte ich ihn an. Meine Augenbrauen taten es den seinen gleich und wanderten ebenfalls einen Zentimeter Richtung Haaransatz.
»Da habe ich wohl vergessen, einen Preis zu verzeichnen«, sagte er und zog einen schweren Ordner unter dem Tresen hervor. »Ich schaue kurz in meiner Inventarliste nach, was ich für dieses hübsche Büchlein vorgesehen habe.«
Dann begann der schnurrbärtige Herr in aller Seelenruhe, vor sich hin zu summen, und durchblätterte den riesigen Ordner Seite für Seite.
Nach einer gefühlten Ewigkeit – ich musste dem Impuls widerstehen, mit meinen Fingern auf den Tresen zu trommeln – klappte Monsieur seinen Ordner schwungvoll zu und erklärte mir, dass das Tagebuch in seiner Inventarliste nicht auffindbar sei.
»Wie meinen Sie das: Es ist nicht auffindbar?«
»Ich meine, dass dieses Tagebuch gar nicht hier sein dürfte«, entgegnete der Ladenbesitzer mit einer Freude in der Stimme, die meiner Meinung nach überhaupt nicht zu dem Inhalt des Gesagten passte. »Dieses Büchlein ist nicht in meiner Liste vermerkt, und glauben Sie mir, ich betreibe mein Geschäft schon länger, als Sie auf dieser Erde verweilen, und noch nie – und damit meine ich: noch nie – habe ich einen Fehler bei meiner Inventur gemacht. Bei mir ist alles sorgsam vermerkt. Jeder Wareneingang und jeder Warenausgang, alles makellos und fehlerfrei. Dafür stehe ich ein.«
»Okayyy … Und?«, antwortete ich und schob meinen Kopf nach vorn, um zu signalisieren, dass ich auf die Pointe wartete.
»Und dieses Buch steht nicht in meiner Liste. Daher existiert es nicht.«
Das Fragezeichen auf meinem Gesicht schien äußerst komisch zu sein, denn Jan versuchte, sein Lachen mit einem künstlichen Husten zu kaschieren. Leider erfolglos. Nach einem wütenden Blick von mir drehte er sich um und begutachtete mit übertriebener Neugierde eine gläserne Clownsfigur.
»Ich verstehe nicht, was Sie mir gerade sagen wollen«, entgegnete ich nun etwas ungeduldig. »Natürlich existiert dieses Buch. Schließlich halten Sie es gerade in den Händen, und sollte nicht der unwahrscheinliche Fall vorliegen, dass wir alle dieselbe Sache halluzinieren, scheint es auch real zu sein. Nennen Sie mir doch bitte einen Preis und ich zahle ihn.«
»Das kann ich nicht tun«, fuhr der Ladenbesitzer fort, ohne eine Miene zu verziehen. »Es wäre zutiefst unethisch, einfach so einen beliebigen Preis festzulegen, obwohl ich den Wert dieses Bandes noch überhaupt nicht faktenbasiert ermittelt habe … Aus diesem Grund würde ich Ihnen das Büchlein gerne schenken. Mir scheint, dass Sie die Richtige dafür sind.«
Ungläubig starrte ich ihn an. Auch wenn ich nicht verstand, was er mit dem zweiten Satz meinte, hatte ich mit einer solch netten Geste nicht im Geringsten gerechnet.
»Sind Sie sicher? Ich gebe Ihnen gerne etwas dafür.«
»Absolut sicher«, meinte der Ladenbesitzer. »Es sind dann 65 Euro für die Lampen – und das Büchlein ist mein Geschenk für Sie.«
Er verstaute das Tagebuch in einer braunen, knisternden Papiertüte, und nachdem Jan bezahlt hatte, marschierten wir samt seiner Nachttischlampen zurück zur U-Bahn.
In der folgenden Nacht schlief ich kaum. Ich wusste nicht, ob es an den schrecklichen Lampen lag, die wider Erwarten doch nicht in der Abstellkammer gelandet waren und nun unsere Nachttische zierten, oder daran, dass ich vor dem Schlafengehen zu viel Tee getrunken hatte und andauernd auf die Toilette musste. Jedenfalls wälzte ich mich von einer Seite auf die andere und empfand eine irrationale Wut darüber, dass Jan friedlich neben mir schnarchte.
Ständig blickte ich auf mein Handy und rechnete immer wieder neu aus, wie viele Stunden ich noch schlafen könnte, bevor die Sommersonne unsere Dachgeschosswohnung in einen Ofen verwandeln würde. Um 5:00 Uhr morgens gab ich auf, zog mir einen leichten Pulli an und setzte mich mit einer Tasse Kaffee auf den Balkon. Wie schön ruhig es sonntagmorgens doch war, wenn alle noch schliefen und keine Autos fuhren …
Ich genoss die Stille ein paar Minuten, dann wurde mir langweilig. Mal keine neuen Eindrücke zu erhalten und keine Inhalte zu konsumieren, fiel nicht nur mir schwer – dessen war ich mir sicher. Die meisten Menschen, die ich kannte, brauchten ständig Beschallung: Entweder lief das Radio oder der Fernseher, nebenbei wischte man sich durch Instagram oder TikTok. Wäscheaufhängen und Kochen funktionierten nur noch mit einem Podcast im Ohr und Duschen und Joggen gingen ausschließlich mit Musik. Selten können wir mit unseren Gedanken allein sein. Warum ist das so?
Haben wir Angst vor dem, was wir über uns lernen würden, wenn wir uns einmal tatsächlich mit uns auseinandersetzen würden? Können wir unsere eigene Gegenwart überhaupt noch genießen? Oder verstricken wir uns so sehr in Aufgaben, Verpflichtungen und Erwartungen, dass wir ohne äußeren Lärm an unserer inneren Stille zugrunde gehen würden?