Das Zeugenhaus - Christiane Kohl - E-Book

Das Zeugenhaus E-Book

Christiane Kohl

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Beschreibung

Opfer und Täter unter einem Dach: Schuld und Sühne 1945

Im November 1945 beginnt in Nürnberg der Prozess gegen die hohen Repräsentanten der NS-Diktatur. Eine Villa am Stadtrand dient als Gästehaus für Zeugen der Anklage sowie der Verteidigung. Auf engstem Raum treffen Schuldige, Mitläufer, Opfer und solche, die sich immer arrangieren, aufeinander. Christiane Kohl recherchierte die ungeheuerlichen Vorgänge im Haus und erzählt hautnah von der dramatischen Verstrickung jedes Einzelnen in jenem Augenblick, als die Welt über Deutschland zu Gericht saß.

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Seitenzahl: 302

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Buch

Nürnberg im Herbst 1945: Die Stadt liegt in Trümmern.Wie überall in Deutschland versuchen die Menschen NS-Diktatur und Krieg zu verdrängen und neu anzufangen. Doch im Nürnberger Gerichtspalast tritt ein Weltgericht zusammen, das über Nazi-Deutschland und seine Repräsentanten urteilen soll. In einer Villa am Stadtrand bewirtet die ungarisch-deutsche Gräfin Kálnoky – im Auftrag der US-Army – eine illustre Gästeschar: Zeugen der Anklage und der Verteidigung warten auf ihre Vernehmung im Nürnberger Prozess. Unter Regie der Alliierten treffen im Zeugenhaus Regime-Gegner, ehemalige KZ-Gefangene, NS-Sympathisanten, Gestapo-Offiziere und Generäle aufeinander. Einstige Todfeinde sitzen gemeinsam bei Tisch und diskutieren in knisternder Atmosphäre über Judenvernichtung, Wehrmachtsverbrechen, die angebliche Unwissenheit Hitlers. Die hochexplosive Stimmung zwischen Abrechnung und Neuanfang erweckt Christiane Kohl in dieser brillant recherchierten, wahren Geschichte auf bewegende Weise zum Leben.

Autorin

Christiane Kohl studierte Politik und Germanistik, arbeitete als Bonner Korrespondentin des Kölner »Express«, als Pressesprecherin im Hessischen Umweltministerium und schließlich als Redakteurin und Reporterin beim »SPIEGEL«. Von 1995-2005 berichtete sie als Italien-Korrespondentin aus Rom, zunächst für den »SPIEGEL«, dann für die »Süddeutsche Zeitung«. Nach weiteren acht Jahren als SZ-Korrespondentin für Ostdeutschland lebt sie heute als freie Schriftstellerin in Nordhessen, wo sie seit 2012 ein jährlich stattfindendes Literatur-Festival organisiert. Bereits in ihrem ersten Dokudrama »Der Jude und das Mädchen« gelang ihr auf der Basis akribischer Recherche ein beklemmendes Stimmungsbild des Nazi-Deutschland der 30er Jahre, das verfilmt wurde. Nach »Das Zeugenhaus« wird mit »Villa Paradiso« zurzeit ein weiteres Buch von der Autorin verfilmt.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinZwei Gästebücher und ein VerdachtGrande Dame mit leichtem GepäckHitlers Leibfotograf oder die Kunst, sich durchzuschlagenDer Ankläger und der GestapochefDer General mit dem roten SchalStellungskrieg um einen FüllfederhalterGeburtstagsschecks vom ZigarettenkönigBittere SouvenirsEin unsittlicher AngriffVon Forellen- und FrauenjägernEin Gast, der Goldzähne zählteSkelette im BirkenwaldEin überzähliges NegligeeHerr Messerschmitt und die MathematikEin Häftling, der mit dem Teufel paktierteVon Kandiszucker und Zyklon BNachwortZeugenhaus-Mitarbeiter, US-Militärs und LangzeitbewohnerBibliografieRegisterBildnachweisCopyright

Zwei Gästebücher und ein Verdacht

Wenn mein Freund Wolfgang nicht dabei gewesen wäre, hätten die beiden alten Herren wahrscheinlich gar nicht angefangen, davon zu erzählen. Aber so begannen sie plötzlich, sich gegenseitig zu überbieten mit ihren Geschichten. Wir saßen am großen Fenster im alten Mühlenraum meines Elternhauses, einer ehemaligen Wassermühle, die vor vielen Jahren zu einem großzügigen Wohnhaus umgebaut worden war. Tagsüber bot sich von dort ein herrlicher Blick in das Grün der Landschaft. Jetzt aber war es dunkel, nur das fahle Licht unserer Tischlampe beleuchtete die am nahe gelegenen Bach stehenden Bäume, die sich wie düstere Gestalten aus dem schwarzen Brei der Nacht hervorhoben. Mein Vater hatte eine gute Flasche Wein aus dem Keller geholt, und so saßen wir in munterer Runde, als das Gespräch die heiklen Themen der Vergangenheit berührte.

Vom Krieg hatte mein Vater schon früher erzählt, von seiner Gefangenschaft und den drei Abschüssen als Sturzkampfflieger. Doch was er nun berichtete, war von anderer Art. Mein Vater wirkte verlegen, er lachte immer mal wieder, während er über jene unruhigen Tage im Berlin der 30er Jahre erzählte, als er dort Jura studierte. Die Nazizeit, das war die Zeit seiner Jugend gewesen, und er hatte sie – dessen war ich mir stets sicher gewesen – nicht unbeteiligt an den Ereignissen durchlebt. Wann immer ich ihn jedoch danach fragte, nie hatte ich eine konkrete Antwort erhalten.

An diesem Abend aber war alles anders. Da breitete mein Vater detailliert Erlebnisse aus seinem Alltag im Nationalsozialismus vor uns aus, in einer Offenheit, wie ich sie noch nie an ihm beobachtet hatte. Auch Bernhard, unser Hausfreund, gab, davon angeregt, immer neue Anekdoten zum Besten. Bernhard von Kleist war damals 79 Jahre alt, hatte wasserblaue Augen und einen leichten Gehfehler, der von einer Kriegsverletzung herrührte. Seit einigen Jahren lebte er im Haus meiner Eltern, der Bärenmühle in Nordhessen. Er war der Unterhalter unserer Mutter, die sich ihr Leben lang vor nichts so sehr gefürchtet hatte wie vor Langeweile.

Es kam immer mal wieder zu Eifersüchteleien zwischen Bernhard und meinem Vater. In diesem Augenblick aber herrschte vollendete Harmonie zwischen ihnen. Beide erzählten sie ohne Pause, und nur das Kaminfeuer knisterte zuweilen so laut, dass es den Redefluss der Männer übertönte. Unsere Mutter drehte sich demonstrativ dem Flammenspiel zu, sie konnte es nicht leiden, wenn sich die Gespräche im Hause ernsthafteren Themen zuwendeten. Mein Freund Wolfgang Korruhn, ein bekannter Fernsehreporter, wollte einen Dokumentarfilm über die Verwicklungen des Chemiekonzerns IG Farben in die systematische Vernichtung der Juden durch die Nazis drehen. Bernhard von Kleist erwies sich in diesem Zusammenhang als interessanter Gesprächspartner, denn er war Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen gewesen. Wir saßen noch lange zusammen. Später in der Nacht machte ich mir Notizen, und so weiß ich noch heute so ziemlich jede Einzelheit, die an diesem 31. August 1980 gesprochen wurde.

Bernhard war kurz in seinem Zimmer verschwunden und tauchte bald darauf mit einem etwas abgegriffen wirkenden Album unterm Arm wieder auf. Das Buch war in hellbraunes Leder gebunden, das von einer dünnen Goldlinie gerahmt wurde, auch die Blattränder waren mit einer hauchdünnen Goldschicht eingefasst. Vorsichtig, als würde er ein Schatzkästlein öffnen, klappte der alte Herr die beiden Buchdeckel auseinander. Leicht vergilbte Buchseiten kamen zum Vorschein, die mit vielerlei Handschriften bekritzelt waren – das braune Lederbändchen war ein Gästebuch. Behutsam blätterte Bernhard von Kleist darin und hatte im Nu mehrere Einträge gefunden, mit denen sich Herren der IG Farben in lauteren Sprüchen verewigt hatten. Da dankte ein Chemiemanager in schnörkeligen Schriftzügen »für das Versüßen bittrer Stunden«. Im Nürnberger Gerichtsgebäude, so konnte sich von Kleist noch dunkel erinnern, hatte der Mann über die Entwicklung des Zyklon B Auskunft geben müssen, jenes Rattengiftes, mit dem Millionen Menschen in den Vernichtungslagern getötet worden waren.

Es gab viele Namen in dem Gästebuch. Einige waren in großzügigen Bögen aufs Papier geworfen und kaum zu entschlüsseln. Andere konnte ich beinahe auf den ersten Blick entziffern. Robert Havemann hatte sich eingetragen, ein Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, der später in der DDR zum Dissidenten wurde. Ein paar Blätter weiter las ich die Unterschrift von Fritz Wiedemann – »ein ehemaliger Adjutant von Adolf Hitler«, wie Bernhard auf meinen fragenden Blick hin erklärte: »Er ist uns ein guter Freund geworden«, fügte er fast stolz hinzu. Der Publizist Eugen Kogon, der lange im Konzentrationslager Buchenwald gesessen hatte, war im Gästebuch ebenso vertreten wie ein Mann namens Edinger Ancker, der ausweislich seiner Eintragung ein Mitarbeiter des berüchtigten NSDAP-Chefs Martin Bormann gewesen war. Ich sah den schmissigen Namenszug von Rudolf Diels, dem »Gründer der Gestapo«, wie von Kleist eilfertig erklärte. Und ich las die krakelige Handschrift einer Gisa Punzengruber, unter deren Namen jemand mit Bleistift den Hinweis »KZ-Zeugin« angefügt hatte.

Immer weiter blätterte ich in dem Buch, und langsam fühlte ich einen leisen Schauer unter der Haut: Wie hatten sich diese höchst unterschiedlichen Menschen so kurz nach dem Ende der NS-Zeit in einem gemeinsamen Gästebuch verewigen können? Wer hatte diese Leute zusammengebracht, und warum?

Das Gästebuch stammte aus einem Zeugenhaus, das während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse eingerichtet worden war. Die Zeugen waren in zwei nebeneinander stehenden Villen am Nürnberger Stadtrand untergebracht, berichtete von Kleist. Seine Frau Annemarie, die längst verstorben war, habe zeitweise als Leiterin der Häuser fungiert. Es musste eine schier unglaubliche Atmosphäre dort geherrscht haben, denn wie die Eintragungen im Gästebuch belegen, hatten NS-Funktionäre und einstige Widerstandskämpfer gleichzeitig unter einem Dach gewohnt. Während sich Täter und Opfer der Nazizeit andernorts mühelos aus dem Weg gehen konnten, saßen sie hier ab Herbst 1945 praktisch Abend für Abend gemeinsam an einem Tisch.

»Wie war die Stimmung?«, platzten Wolfgang und ich beinahe gleichzeitig heraus, wir wollten jetzt jede Einzelheit über diese merkwürdige Herberge erfahren. Doch von Kleist reagierte mit spürbarer Zurückhaltung: »Es wurde viel Bridge gespielt«, meinte der alte Herr gedehnt, während er an seiner Zigarette zog, »man rauchte Zigarren, trank amerikanischen Whiskey und diskutierte über die Fragen der Zeit.« »Selbstverständlich«, fügte er in pedantischem Ton hinzu, »wussten die Herren sich auch in schwierigeren Situationen zumeist wie Gentlemen zu benehmen.«

Wolfgangs Film über die IG Farben wurde, soweit ich weiß, nie realisiert. Doch für mich gab der Abend in der Mühle den Anstoß zu einer Recherche, die mich über viele Jahre beschäftigen sollte. Was hatte sich in jenem Haus abgespielt, in dem sich so kurz nach dem Krieg deutsche Geschichte im Wortsinne ganz hautnah vollzogen hatte? Auf den vergilbten Seiten von Bernhards Gästebuch war festgehalten, was in keiner Gerichtsakte dokumentiert ist: die privaten Ängste und Selbsttäuschungen von Menschen, die während der NS-Zeit mitschuldig wurden, ebenso wie die Bitternis und Wut überlebender Naziopfer. Die Gäste in dem Zeugenhaus – so war mein erster Gedanke – hatten auf engstem Raum durchlebt, was die Deutschen noch heute beschäftigt: Diskussionen über die Naziverbrechen, Schuldzuweisungen, Selbstverleugnungen – und immer wieder die Frage, warum das Unglaubliche hatte geschehen können.

Einer der Männer, die das Haus gut gekannt hatten, war Robert M.W. Kempner gewesen. Der einstige US-Ankläger war nach dem Ende der Nürnberger Prozesse in Deutschland geblieben, er unterhielt eine Anwaltspraxis in Frankfurt. Einige Jahre nach dem Abend in der Mühle traf ich ihn in einem Hotel in Königstein, wo er damals vorzugsweise residierte. Das Hotel Sonnenhof war eine prächtige, mit Türmchen und Erkern versehene Villa, die in einem riesigen Park lag und einen herrlichen Blick in die Landschaft bot.

Im Innern atmete das Haus freilich einen etwas verblichenen Charme, die Polstermöbel wirkten durchgesessen, die Bezüge waren abgenutzt. Kempner hatte im »Grünen Salon« Platz genommen, einem mit einer großen Fensterfront ausgestatteten Raum. Neben ihm saß seine langjährige Assistentin Jane Lester, die ich später noch häufiger treffen sollte. Die beiden waren ein nicht alltägliches Paar: Kempner, damals schon Ende 80, hatte schlohweißes Haar, seine Augen schauten aus tiefen Höhlen hervor, doch er saß aufrecht in seinem Stuhl und schien immer noch der Poltergeist zu sein, der er während der Nürnberger Prozesse gewesen war. Jane Lester, eine zierliche Person mit langem, grauweißem Haar, die seit den Tagen von Nürnberg für Kempner arbeitete, musste in ihrer Jugend eine sehr gut aussehende Frau gewesen sein. Jetzt wirkte sie zurückhaltend, doch es war unschwer zu erkennen, dass eigentlich sie die Zügel in der Hand hielt.

Kempner erinnerte sich noch lebhaft an das Haus und seine Gäste. Es sei »ein Kunststück für sich gewesen«, die politisch völlig unterschiedlich beheimateten Zeugen »einfühlsam unterzubringen«, hatte er schon in seinen Memoiren geschrieben. Jetzt erzählte Kempner, dass es in dem Haus zuweilen auch recht turbulent zuging. Einzelne Bewohner seien immer mal wieder durch Damenbekanntschaften aufgefallen, als deren Folge sich dann allerlei Verwicklungen ergeben hätten, sowohl im Hause als auch außerhalb, berichtete der alte Herr schmunzelnd. Wenn der etwas schwerhörige Kempner mal eine Frage nicht verstand, wiederholte Jane Lester sie ihm. Die alte Dame lebte ebenfalls seit vielen Jahrzehnten in Deutschland, doch sie hatte sich einen starken amerikanischen Akzent bewahrt, sodass ihre Stimme noch immer klang, als sei sie soeben erst aus den USA angereist.

Irgendwann kam Kempner auf die Hausdame des Zeugenhauses zu sprechen: »Eine ungarische Gräfin, blond, blauäugig und bildhübsch«, berichtete er und deutete an, dass auch sie in den Nürnberger Tagen der Prozessgeschäftigkeiten zu den begehrten Damenbekanntschaften gezählt hatte – »es gab viele einzelne Männer und eine Menge attraktiver Frauen«, plauderte der alte Herr, »da war es fast zwangsläufig, dass sich die eine oder der andere trafen«. An den Namen der Hausdame erinnerte sich Kempner nicht mehr, doch die Baronin von Kleist konnte er diesen Beschreibungen zufolge nicht meinen – es musste also noch eine andere Hausdame das Zeugenhaus geleitet haben.

Wieder vergingen einige Jahre, bis ich schließlich Mitte der 90er Jahre nach Nürnberg fuhr. Novalisstraße 24, so lautete die im Gästebuch vermerkte Adresse der Villa. Der erste Eindruck war enttäuschend. Klein und geduckt stand das Gebäude da, ein Würfel mit heruntergezogenem Dach, von ein paar höheren Kiefern umgeben – das Haus wirkte eher schlicht. Drinnen öffnete mir Elisabeth Kühnle, auch sie eine Dame, von über 80 Jahren. Holzdielen knarrten, während sie mich ins Wohnzimmer führte. Eine wuchtige, auf Hochglanz polierte Anrichte beherrschte den Raum, nach Form und Farbe zu urteilen musste sie noch aus der Vorkriegszeit stammen. Über einzelne Möbelstücke waren weiße Spitzendeckchen gebreitet, und irgendwo stand ein Radio, das ebenfalls die Zeit überdauert zu haben schien.

Elisabeth Kühnle plauderte gleich in ihrem glucksenden fränkischen Dialekt los: Ja, die Baronin von Kleist, die sei hier früher auch gewesen – »die tat immer ganz adelig, dabei war sie eine geborene Müller oder so«. Doch zuvor habe eine Gräfin das Haus geführt, eine wirkliche Adelige. »Das war die Kálnoky«, erklärte Frau Kühnle sachkundig und geriet ins Schwärmen: »Was für eine Person! Ein Bild von einer Frau, und eine richtig feine Dame.« Gräfin Kálnoky habe anfangs die Häuser geleitet, später sei sie dann in die USA ausgewandert.

Während der Nürnberger Prozesse hatte Elisabeth Kühnle noch nicht in der Novalisstraße gewohnt. Das Haus gehörte seinerzeit ihrer Tante Elise Krülle. Die junge Frau Kühnle, damals frisch verheiratet, kam aber öfter zu Besuch, und so hatte sie natürlich auch die Gräfin Kálnoky kennen gelernt. Elise Krülle war nach dem Krieg früh verstorben, ihr Sohn Gerhard erbte das Haus und verkaufte es an seine Cousine Elisabeth. Eines Tages hatte sich die Gräfin Kálnoky bei der neuen Besitzerin gemeldet. Danach kamen ein, zwei Postkarten aus Amerika. Dann war der Kontakt jedoch wieder abgerissen, und nun hatte die alte Dame in Nürnberg keine Ahnung, wo genau die Gräfin in den USA zu finden wäre – falls sie überhaupt noch lebte.

Im Winter 1995 klingelte ich an der Tür von Ingeborg Gräfin Kálnoky. Sie wohnte in einem Vorort von Cleveland im US-Bundesstaat Ohio in einer winzigen Wohnung, die hinter einem riesigen Einkaufszentrum lag. Über den Gotha, das Verzeichnis der Adelsfamilien, hatte ich ihren Alterswohnsitz ausfindig machen können. Der kleine Wohnraum war voll gestopft mit Erinnerungsstücken. Schachteln lagen herum, aus denen zerknitterte Bilder hervorquollen, auf einem Tischchen stand ein postergroßes, gerahmtes Foto – darauf war das Zeugenhaus in der Novalisstraße zu sehen. Sauber gebündelt stapelten sich vergilbte Dankesbriefe von früheren Gästen, daneben lag ein braunes Büchlein. Den schon etwas speckigen, mit einem leinenartigen Stoff bezogenen Einband schmückten drei Rhomben in unterschiedlichen Farben, die Seiten mussten schon häufig umgeblättert worden sein, sie hielten nur noch notdürftig zusammen. Doch die vielen Unterschriften auf den Blättern ließen keinen Zweifel aufkommen: Vor mir lag ein weiteres Gästebuch des Nürnberger Zeugenhauses, Novalisstraße 24.

Das Büchlein erinnerte an ein Poesiealbum aus Jungmädchenzeiten. Auch die Gräfin hatte sich trotz ihres hohen Alters eine erstaunliche Jugendlichkeit bewahrt: Sie saß aufrecht in ihrem Sessel, zwischen den schulterlangen, weißen Haaren blitzte eine mehrreihige Perlenkette hervor, die sie immer mal wieder mit ihren langen, sorgfältig lackierten Fingernägeln zurechtzupfte. Es war unschwer zu erkennen, dass die mittlerweile 87-jährige Dame einmal eine ausnehmend schöne Frau gewesen war. Sie hatte zahlreiche Verehrer gehabt, wie sich bald aus ihren Erzählungen ergab. Doch zunächst stellte mir die Gräfin mit ihrer kehligen Stimme und einem verschmitzten Lächeln ihren aktuellen »Lebenspartner« vor: einen schwarzen Kater namens Russel.

Gemeinsam blätterten wir im Gästebuch, wobei Ingeborg Gräfin Kálnoky mal hier und mal dort auf interessante Namenszüge wies. Die erste Eintragung datierte vom Oktober 1945, als Karl Haushofer, ein ehemaliger Lehrer des späteren Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, das Gästehaus besucht hatte. Haushofers Text las sich schwülstig und schwer. »Wir haben über Reinkarnation und solche Dinge gesprochen«, erinnerte sich die Gräfin und fügte lapidar hinzu: »Nicht lange nach seinem Besuch im Gästehaus hat er sich umgebracht.« Auch der Flugzeugkonstrukteur Willy Messerschmitt war ihr noch gegenwärtig – »er wollte für uns einen Staubsauger erfinden«. Heinrich Hoffmann, der Leibfotograf Adolf Hitlers, war ein Dauergast im Zeugenhaus gewesen. »Furchtbar abergläubisch«, kommentierte die alte Dame: »Als ich einmal aus Spaß einen Regenschirm in seinem Zimmer öffnete, hat er sich zu Tode erschrocken.«

Waren da nicht auch Zeugen, die aus Konzentrationslagern kamen? »Oh ja«, sagte Kálnoky: »Ein Bauer, der in Dachau gesessen hatte, war da, er hat mir Strümpfe gestopft.« Mehrfach hätten Gruppen von einstigen KZ-Häftlingen im Zeugenhaus logiert, sie seien aus Majdanek, Treblinka oder Mauthausen gekommen. In solchen Momenten habe sie stets Angst gehabt, dass Hoffmann, der Leibfotograf, die Stimmung verderben könnte: »Er hatte doch so eine furchtbar große Klappe«, und habe stets alles geleugnet, was während der NS-Zeiten an Schrecklichkeiten geschehen war. »Aber denken Sie nur«, fügte sie hinzu, »wenn die KZler abreisten, hat er am Ende noch die Adressen mit ihnen ausgetauscht.«

Ich blieb ein paar Tage in Ohio, um ausgiebig über jedes Detail zu sprechen, das die alte Dame noch erinnern konnte. Abends saß ich an dem gemütlichen Esstisch bei ihrer Tochter Lori Bongiovanni, die eigentlich Eleonora hieß und mit ihrem Mann in einem schönen Landhaus ein paar Kilometer weit entfernt wohnte und die Mutter täglich versorgte. Eleonora war zehn Jahre alt gewesen als Ingeborg Kálnoky die Leitung des Zeugenhauses übernahm. Sie verband noch einige Erinnerungen damit – etwa, dass die Kinder sich gern einen Spaß daraus gemacht hatten, die GIs, die als Wachposten vor den Häusern standen, mit Wasser zu bespritzen. Auch ihr jüngerer Bruder Farkas Kálnoky, den ich Jahre später in Paris treffen sollte, hatte noch ein paar Kindheitsbilder aus Nürnberg vor Augen. Beispielsweise, wie er an einem Weihnachtsabend zwischen den Füßen von vier leibhaftigen Generälen herumkroch und mit seinen neu geschenkten Spielzeugsoldaten eine Feldschlacht simulierte.

Das Zeugenhaus war offenkundig ein Ort der Gegensätze: Schmerz und Freude, Lachen und Weinen, Bitternis und Überheblichkeit lagen ganz nah beieinander. Auf knappstem Raum lebten Menschen zusammen mit Erfahrungen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Immer wieder gab es empfindliche Berührungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Amerikaner hielten die Zeugenherberge gut abgeschirmt vor neugierigen Blicken und Fragen. In den zahlreichen Büchern, die über die Nürnberger Prozesse verfasst wurden, wird die Villa in der Novalisstraße kaum erwähnt, obgleich das Zeugenhaus mehr als drei Jahre lang, von 1945 bis 1948, betrieben wurde und in dieser Zeit weit über 100 Zeugen beherbergte. Zum 30. Jahrestag des Prozessbeginns 1975 hatte die einstige Hausdame Ingeborg Gräfin Kálnoky selbst, mithilfe einer Ghostwriterin, ein Buch herausgegeben, das in den USA unter dem Titel »The Guest House« erschienen ist. Darin berichtet sie unter anderem, wie sie 1945 von den Amerikanern mit der Leitung des Zeugenhauses beauftragt wurde: »Keep things running smoothly«, so wurde ihr aufgetragen, »sorgen Sie dafür, dass alles ruhig verläuft.«

Was 1975 in »The Guest House« zu lesen war, stimmt jedoch nicht immer mit dem Erfahrungsbericht überein, den Kálnoky ohne großen zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen bereits in den 40er Jahren verfasst hatte, und von dem 1949 Auszüge in einer Münchener Zeitung veröffentlicht worden waren. Aber auch darin hatte die Gräfin nicht alle Begebenheiten notiert, wie mir recht bald aus den Gesprächen mit ihr und anderen Zeitzeugen klar wurde. Sicher konnte sie aus damaliger Sicht vieles nicht wissen. Sie hatte ja nicht die ganze Periode des Zeugenhauses miterlebt. Allerdings hatte ich mittlerweile den Verdacht, dass sie auch nicht alles aufschreiben wollte und manches meisterhaft verdrängt hatte.

So begann ich genauer zu recherchieren. Ich besuchte Archive und spürte weitere noch lebende Zeitzeugen auf, um mir ihre Version der Geschichte anzuhören. Es vergingen einige Jahre. Ich studierte Vernehmungsprotokolle, Briefe, Tagebucheintragungen und Erfahrungsberichte und entdeckte Bewohner des Zeugenhauses, die sich seltsamerweise nie in eines der beiden Gästebücher eingetragen hatten. Jeder Einzelne von ihnen erbrachte neue Erkenntnisse, neue Sichtweisen für mich, und so formte sich langsam ein Stimmungsbild jener ungewöhnlichen Hausgemeinschaft, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch sanften Druck der Amerikaner mitten in Deutschland zusammengefunden hatte.

Grande Dame mit leichtem Gepäck

Das Haus strahlte eine gewisse Düsternis aus und doch wirkte es ungleich freundlicher als alles, was Ingeborg Kálnoky in den letzten Wochen gesehen hatte. Mit ihrer Reisetasche in der Hand stand die junge Frau an einem der letzten Augusttage des Jahres 1945 vor dieser seltsam gescheckten Fassade und blinzelte in die Morgensonne. Nach allem was hinter ihr lag, kam ihr die kleine Villa am Wald wie ein rettender Hafen vor, der ihr endlich Schutz bieten könnte. Doch zugleich spürte sie eine unbestimmte Furcht vor der neuen Herausforderung.

Drinnen stand Elise Krülle hinterm Fenster und musterte die Fremde mit misstrauischen Blicken. Blond war sie, sehr blond. Ihr Sohn Gerhard, der ein aufgeweckter Junge von 13 Jahren war, sollte sich später noch genau an die Frau erinnern: »Wie Jean Harlowe« habe sie ausgehen, »so ein Typ Sünderin«. Das Haus der Familie Krülle war wie die Nachbarhäuser in der Straße zur Tarnung vor Luftangriffen mit braunen und grünen Flecken bemalt worden. Ob es der Tarnfarbe zu danken war oder der etwas abseitigen Lage am Stadtrand, ist ungewiss – jedenfalls waren die Häuser hier im Vorort Erlenstegen vom Bombenkrieg relativ unversehrt geblieben, während die Nürnberger Altstadt in Trümmern lag. Nichts als Ruinen sah man unten an der Pegnitz, jahrhundertealte, fein ziselierte Fachwerkhäuser waren wie aufgerissene Mehlsäcke in Staub und Asche zerfallen.

Bei den Krülles hatte lediglich die Garage einen Treffer abbekommen. Vom Dach des Wohnhauses waren durch den Druck mehrerer etwas entfernter eingeschlagener Bomben überdies etliche Ziegel heruntergefallen, Fensterscheiben waren zersprungen, und in einem Zimmer im ersten Stock des Hauses sah man einen metergroßen Brandfleck auf dem Boden, der von Bombenresten herrührte – alles in allem vergleichsweise geringe Schäden. Das war ein Glück für die Krülles und zugleich ein Pech, denn die amerikanische Besatzungsmacht erklärte das Haus in der Novalisstraße 24 sogleich als beschlagnahmt.

Mitte April 1945 waren die Amerikaner gekommen, zuerst die kämpfenden Truppen, später rückte eine Verwaltungseinheit in das Viertel am östlichen Stadtrand von Nürnberg ein. Mutter Krülle hatte den ganzen Krieg über Hühner und Puten gehalten, so gab es immer genug zu essen. Jetzt aber köpften die Amis ein Huhn nach dem anderen, zogen dem Federvieh das Gefieder ab samt der Haut und brieten es. Sie campierten im Elternschlafzimmer und brachten die während des Krieges mühevoll aufrecht erhaltene häusliche Ordnung schnell durcheinander. Sie warfen das Hitlerbild, das im Wohnzimmer hing, auf die Straße und zertrampelten es. Sie verstreuten die Briefmarkensammlung in Zimmern und Korridoren. Und sie kramten Vater Krülles schwarzen Zylinder hervor, mit dem er seine Frau zum Traualtar geführt hatte, um ihn als Zielscheibe für Schießübungen zu benutzen. Nein, der erste Eindruck, den die Krülles von den amerikanischen Befreiern gewonnen hatten, war durchaus zwiespältig gewesen.

Und nun sollte auch noch diese blonde Schönheit einziehen. An der Haustür begrüßte Elise Krülle die Fremde mit der gebotenen Höflichkeit, doch so richtig erfreut war sie nicht. In den letzten Kriegswochen hatte sie mit ihrem Sohn praktisch nur noch im Keller gewohnt, jetzt drohte den beiden womöglich, ganz aus ihren eigenen vier Wänden vertrieben zu werden. Eine Herberge sollte in dem Haus eingerichtet werden; Elise Krülle, deren Mann seit den letzten Kriegstagen als vermisst galt, konnte sich nicht recht vorstellen, wer in ihrem Haus unterkommen sollte. Unterdessen wurde Ingeborg Kálnoky von den Soldaten in die oberen Räume geführt. Es war ihr unangenehm, dass sie sich ein – wenn auch kleines – Schlafzimmer im Hause aussuchen durfte, während die Besitzerin mit ihrem Sohn im Keller hausen musste.

Und überhaupt kamen der jungen Frau plötzlich Zweifel, ob sie der Aufgabe, mit der sie betraut worden war, gewachsen sei. Würden die Damen, die hier im Hause logieren sollten, sie überhaupt ernst nehmen? Einer der Offiziere, der mit ihr ins Haus gekommen war, schien ihre Unschlüssigkeit zu bemerken. »Gnädige Frau«, sprach er sie an, »alle werden Ihnen Folge leisten, selbst Frau Göring – Sie sind schließlich die einzige Gräfin im Hause.«

Ingeborg Gräfin Kálnoky, geborene von Breitenbuch, war erst wenige Tage zuvor in Nürnberg angekommen. Doch in dieser kurzen Zeit hatten sich die Ereignisse in einer Weise überstürzt, dass sich ihr nun der Kopf leicht drehte. Kurz zuvor hätte die 36-Jährige ihr Leben noch für ein paar trockene Brötchen hergegeben, so verhungert war sie gewesen. Jetzt lockte täglich eine warme Mahlzeit aus der amerikanischen Armeeküche. Auf den Betten lagen frische Leinentücher, in denen dicke Wolldecken steckten. Es war nicht lange her, da hatte Kálnoky auf nacktem Steinboden schlafen müssen. Früher, ja, da war alles anders gewesen, da lebte sie in einem herrlichen Schloss in Transsilvanien – Köröspatak, ein weißer Traum, umgeben von Kletterrosen.

Bereits Ende der 30er Jahre aber hatte sie mit ihrem Mann und den Kindern das schöne Anwesen verlassen müssen, weil Transsilvanien in Rumänien lag und die Rumänen auf ihrem Territorium immer weniger ungarische Staatsbürger duldeten. Ihr Ehemann Hugo Graf Kálnoky, der zeitweise zum Broterwerb rumänische Zeitungsartikel ins Ungarische übersetzte, war als Spion beschuldigt worden, binnen 48 Stunden mussten sie das Land verlassen. Fortan wohnten sie in Budapest, doch auch von dort flohen sie im Frühjahr 1944 Hals über Kopf, nachdem die Gestapo eines Tages vor ihrer Wohnungstür gestanden hatte. Graf Kálnoky arbeitete mittlerweile als außenpolitischer Redakteur einer deutschsprachigen Budapester Zeitung. Über den britischen Radiosender BBC waren seine Artikel auch nach Deutschland ausgestrahlt worden – das hatte die Nazis auf ihn aufmerksam gemacht. Der Bischof von Györ, ein befreundeter Adeliger, bot den Kálnokys vorübergehend Asyl. Bald aber drohten die Russen in Ungarn einzurücken, und so machte sich die Gräfin im Januar 1945 mit ihren drei Kindern, dem Kindermädchen Cuci und der Ahnung einer erneuten Schwangerschaft in Richtung Westen auf den Weg.

Sie reisten mit Pferdewagen, im Flüchtlingstreck und in der Eisenbahn. Einmal, als sie im Zug unterwegs waren, flogen plötzlich Jagdbomber heran, und ein Wehrmachtssoldat wollte die Flugzeuge von unten unter Beschuss nehmen. Was für ein Dummkopf! Kálnoky hatte die Gefahr blitzschnell erkannt und sich beherzt auf den Mann geworfen. Der Zug wäre sonst vermutlich bombardiert worden, und mit ihm wären sämtliche Passagiere in die Luft geflogen. Ingeborg Kálnoky fand zunächst bei ihrer Schwester in Wien Unterschlupf, wo die Familie beinahe unter einem Bombeneinschlag begraben worden wäre. Später flohen sie weiter in die Tschechoslowakei und erreichten ein Schloss in der Nähe von Pilsen, das anderen Verwandten gehörte.

Eines Tages entdeckte Kálnokys 8-jähriger Sohn Fárkas vom Schlosshof aus, wie ein Panzertrupp langsam den Berg hinauf rollte. Auf die Fahrzeuge war ein Stern gemalt, also konnte es sich wohl nur um Russen handeln. Ängstlich versteckten sich alle im Keller des Gebäudes, als ein Armeetrupp hereinstürmte. Nach kurzem Hin und Her bot ein Offizier der blonden Gräfin eine Zigarette der Marke »Camel« an, wie sie sich noch viele Jahre später detailgenau erinnerte. Erleichterung breitete sich aus, der Mann war Amerikaner. Damit war der Krieg für Kálnoky beendet, nicht jedoch ihre Odyssee.

Die Gräfin war mittlerweile im neunten Monat schwanger, das Baby konnte jeden Tag kommen, sie brauchte dringend ein Krankenhaus, am besten in Deutschland. Durch Vermittlung eines amerikanischen Armeearztes wurde sie schließlich von Pilsen nach Nürnberg gebracht, allerdings ohne ihre drei Kinder. Die US-Soldaten hatten die Hochschwangere, gut gepolstert mit Matratzen, in einem Panzer abtransportiert, wie ihr Sohn Fárkas Kálnoky noch heute schwören könnte: Er und die anderen Kinder standen und winkten, als die blondgelockte Mutter mit dem Kettenfahrzeug entschwand.

Viele Jahre später traf ich Fárkas Kálnoky in Paris, wo der Graf, mittlerweile ein eleganter Endsechziger, in einem schmucken Vorort lebte. Ein großes Portrait seiner Mutter blickte auf mich herab, während ich auf einem zierlichen, antiken Sofa saß und mir in meinem Block Notizen über seine Erinnerungen machte. »Schauen Sie auf das Bild«, rief Kálnoky unvermittelt aus: »Genau so war sie!« Wir blickten auf das Ölgemälde, das die Gräfin um eben jene Zeit darstellte, als Nürnberg gerade hinter ihr lag. Da war eine bildschöne Frau zu sehen, die sehr bestimmend und zugleich äußerst lieblich und hilfsbedürftig wirkte. »So war sie!« wiederholte Kálnoky, »eine Grande Dame, die den großen Auftritt liebte.« Und zugleich eine Frau, die immer auf Hilfe und Unterstützung hoffen durfte.

Die Amerikaner brachten die Schwangere bis ins Stadtzentrum von Nürnberg, wo sie vor einem Haus stoppten, dessen Dach noch intakt zu sein schien. Mit sanftem Druck überzeugten sie die fränkische Hausbesitzerin, der Gräfin eine Ecke auf ihrem Dachboden zur Verfügung zu stellen. Eines Tages im August setzten die Wehen ein, und dank ihrer guten Beziehungen zu den Amerikanern wurde Kálnoky sogar in einem Armee-Jeep ins Krankenhaus gefahren. Am 15. August 1945 brachte Kálnoky ihr viertes Kind zur Welt, ein kleines Mädchen.

Captain Kerr, ein Sanitätsoffizier, hatte sie persönlich ins Krankenhaus gefahren, das von einem christlichen Orden geführt wurde. Einige Tage nach der Niederkunft war er wieder da, diesmal in Begleitung eines Armeegeistlichen. Der Priester hatte dunkles, zurückgekämmtes Haar und eine schwarz gerandete Brille, auch er trug die Uniform eines Hauptmanns. Sein Name war Fabian Flynn, die Gräfin sollte ihn ihr Leben lang nicht vergessen.

Als die beiden Amerikaner das christliche Krankenhaus betraten, holte eine Schwester gerade das Baby. Die zwei US-Offiziere machten es sich im Krankenzimmer bequem, legten lässig ihre Füße auf einen Tisch und begannen, die junge Wöchnerin freundlich, aber bestimmt zu befragen. Sie sei doch ungarische Staatsbürgerin, nicht wahr? Kálnoky bejahte, nicht ohne zu erklären, dass sie von Geburt Deutsche sei, ihre Eltern auf Schloss Ranis in Thüringen lebten und sie selbst die letzten zehn Jahre mit ihrem Mann in Ungarn verbracht habe. Dann sei sie also nicht in Deutschland gewesen während der Hitlerzeit? Captain Kerr schien das zu beruhigen. Englisch spreche sie ja ganz passabel, fuhr der US-Offizier fort – und Ungarisch vermutlich auch? »Ich spreche Englisch, Französisch, Deutsch und Ungarisch«, erläuterte die Gräfin, worauf Kerr nach ihrer Erinnerung bemerkte: »Noch besser«.

Der Captain setzte die eindringliche Befragung fort. Irgendwann beugte sich Pater Flynn fürsorglich zu Kálnokys Bett hinab. Ob sie wisse, was sie jetzt tun werde? Nein, die Gräfin hatte wirklich keine Ahnung, sie wusste ja nicht einmal, wo ihre Kinder geblieben waren. Es gebe da vielleicht eine Möglichkeit, ihr Arbeit zu besorgen, mischte sich jetzt der Captain wieder ins Gespräch, aber das müsse sein Vorgesetzter entscheiden, der Colonel. Man werde anderntags ein Treffen mit ihm arrangieren. Der Priester tätschelte der Wöchnerin noch freundlich die Hand, dann waren die Männer wieder verschwunden, und Ingeborg Kálnoky blieb ratlos und zugleich erwartungsvoll in ihrem Bett zurück.

Es bedurfte noch einiger Gespräche, auch ein Verhör mit einem Offizier des amerikanischen Spionageabwehrdienstes CIC (Counter Intelligence Corps) musste Kálnoky hinter sich bringen. Dann hatte sie den Job: Die Gräfin sollte eine Herberge leiten, in welcher man die Ehefrauen und engen Anverwandten der Hauptkriegsverbrecher unterbringen wollte, denen demnächst in Nürnberg der Prozess gemacht werden sollte. Kálnoky hatte nicht viel Zeit zum Überlegen, wenn sie den Posten haben wollte, musste sie sofort anfangen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr vor wenigen Tagen geborenes Kind im Krankenhaus zurückzulassen. Zuvor sollte das Kind freilich noch getauft werden auf den Namen Ingeborg wie sie selbst. Die Taufe habe Pater Flynn zelebriert, berichtete mir die Gräfin später bei unserem Gespräch in Ohio. Dann war Kálnoky mit leichtem Gepäck zu dem Haus am Wald gefahren. Noch ahnte sie nicht, wie sehr dieser Schritt ihr Leben verändern würde.

Elise Krülle zeigte sich kooperativer als erwartet. Die dunkelhaarige, energische Frau hatte einmal Steuerinspektorin gelernt, aber so gut wie nie in diesem Beruf gearbeitet. Doch sie konnte rechnen und war viel zu lebenslustig und realitätstüchtig, um sich neuen Entwicklungen gegenüber zu verschließen. Es gefiel der 51-Jährigen, dass die junge Gräfin keinerlei Dünkel zeigte und auch selber anzupacken wusste. Die beiden Frauen verband überdies die Sorge um ihre Männer. Elise Krülle hegte kaum mehr Hoffnung, dass ihr Ehemann zurückkommen werde – vermutlich war er in den letzten Kriegstagen bei Berlin gefallen, eine Bestätigung aber gab es nicht dafür. Gräfin Kálnoky hatte seit Monaten kein Lebenszeichen mehr von ihrem Gatten bekommen. Ob er noch in Ungarn war, ob er überhaupt noch lebte – sie wusste es nicht.

Bald rüsteten die zwei Frauen gemeinsam das Haus für die künftigen Gäste. Aus US-Beständen wurden Betten herangefahren und Stühle, die wild durcheinander gewürfelt waren und offenbar aus konfiszierten Haushalten stammten. Armeemitarbeiter lieferten Porzellan und Besteck, Handtücher, amerikanische Wolldecken und Leinentücher, so wunderbar weiß und sauber, dass Kálnoky noch viele Jahre später immer wieder ins Schwärmen darüber geriet. Zwar hatten die GIs der ersten Stunde einigermaßen gewütet in dem Krülleschen Haus, immerhin aber war das Klavier intakt geblieben. Es stand an einer Wand im Speisezimmer. Ein Bücherschrank im Herrenzimmer beherbergte eine ältere Ausgabe von Meyers Konversationslexikon wie auch ein paar von Schillers Werken. Die schon etwas abgegriffene Enzyklopädie sollte sich bald zum heimlichen Favoriten der Gäste entwickeln; ein nützliches Mittel, um sich die Zeit zu vertreiben.

Anfang September 1945 war Ingeborg Kálnoky in das Haus gezogen. Bis die ersten Gäste kamen, sollten noch einige Wochen vergehen. Die Kinder der Gräfin waren unterdessen ebenfalls in Nürnberg eingetroffen, versteckt in einem Armeelastwagen hatten die Amerikaner sie gen Westen geschmuggelt, denn die deutsch-tschechische Grenze wurde bereits von den Russen kontrolliert. Sofort durften die drei Kinder freilich nicht in die Novalisstraße einziehen, weil die offizielle Zustimmung der zuständigen Offiziere noch fehlte. Sie kamen zunächst bei Bekannten unter. In Nürnberg waren in dieser Zeit allerorten hektische Aktivitäten im Gange, um den Beginn des Hauptkriegsverbrecherprozesses vorzubereiten. Im Gericht an der Fürther Straße wurde gehämmert und gezimmert, Kriegsgefangene waren zusammen mit örtlichen Handwerkern damit befasst, den großen Schwurgerichtssaal 600 nach einem eigens angefertigten Modell umzubauen.

Das Grand Hotel beim Bahnhof, Nürnbergs ehemals feinste Herberge, wurde ebenfalls notdürftig repariert, um die zu Prozessbeginn erwarteten Mitarbeiter und Gäste aufzunehmen. Das Gebäude, das gegenüber dem Bahnhof lag, hatte schwere Bombenschäden abbekommen, immerhin aber war der Marmorsaal im Erdgeschoss noch nutzbar. Wo früher gutbürgerliche Hochzeiten gefeiert wurden, da sollten demnächst Jazzmusiker aufspielen – serviert wurde immer noch im Frack. In der Nürnberger US-Society galt der »Marble Room« bald als eine der Top-Adressen. Nur wenige Besucher bemerkten, dass sie im Grand Hotel über Teppichböden flanierten, auf denen teilweise noch die eingewebten Hakenkreuze zu sehen waren.

Aber auch im Nürnberger Vorort Erlenstegen, in dem die Novalisstraße lag, war es mit der beschaulichen Ruhe vorbei. Reihenweise hatten die Amerikaner hier Häuser requiriert, die nun als Unterkünfte für Richter, Ankläger, Dolmetscher und für das Schreibpersonal hergerichtet wurden. Die neuen Bewohner, das fiel dem jungen Gerhard Krülle schnell auf, hatten anscheinend niemals Hunger leiden müssen. Wenn er im Herbst 1945 durch die Straßen des Viertels streifte, sah er, wie große Mengen Lebensmittel in den Mülltonnen verschwanden. Die Einheimischen schlichen immer wieder zu den Abfalleimern und holten heraus, was noch essbar erschien.

Unterdessen hatten die Amerikaner ihre Pläne für das Haus in der Novalisstraße 24 geändert. Statt die Gattinnen der Hauptangeklagten sollte die kleine Villa am Wald jetzt die vom Gericht oder der Anklagevertretung geladenen Zeugen beherbergen. Ingeborg Kálnoky nahm die Nachricht mit Erleichterung auf, denn sie hatte sich schon davor gegraust, täglich mit Frauen wie Emmy Göring Smalltalk machen zu müssen. Freilich ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welch schwierige Aufgabe es sein würde, zwischen den höchst unterschiedlichen Gästen zu vermitteln, die nun erwartet wurden. Denn es sollten Zeugen der Anklage und der Verteidigung in der kleinen Villa unterkommen  – ehemalige Nazis und Widerständler mithin unter einem Dach zusammenleben.

Die Alliierten hatten verschiedene Quartiere für die Zeugen der Prozesse eingerichtet. Da gab es beispielsweise einen speziellen Flügel im Gerichtsgefängnis, in dem jene Zeugen untergebracht wurden, die aus Internierungslagern kamen oder deren Inhaftierung ratsam erschien, weil man sie für schuldig hielt. In diesem Flügel wurden im Herbst 1945 vorübergehend auch einige Ehefrauen von Angeklagten untergebracht, die zunächst in der Novalisstraße hatten unterkommen sollen. Nicht weit vom Gerichtsgebäude entfernt, in der Muggenhofer Straße 2a, war ein weiteres Gebäude zur Zeugenunterkunft umgewandelt worden. Es sollte solchen Zeugen als vorübergehende Bleibe dienen, die nicht aus Gefangenenlagern kamen und sich nach offizieller Anweisung frei bewegen konnten – auch wenn es faktisch nicht immer so war.

Auch das Haus in der Novalisstraße war eine Herberge für so genannte freiwillige Zeugen. Ihr Status der Freiheit aber war relativ, wie sich bald herausstellen sollte. Zeitweilig kontrollierten GI-Posten den Eingang, damit keiner unbefugt das Haus verließ. Manch ein Bewohner wechselte von der Herberge am Waldesrand später direkt ins Gefängnis, andere Gäste kamen aus einem Lager, galten formell als frei und wurden doch diskret bewacht. Einigen wichtigen Zeugen der Anklage waren die Bodyguards gar zum eigenen Schutz verordnet worden, andere standen aus Gründen, die kaum einer durchschaute, unter Zimmerarrest.

Doch zugleich sollte den Gästen ihr Aufenthalt so angenehm wie möglich gestaltet werden. Immerhin erwartete man recht prominente Zeugen. Und so gab es in der alten Stadt an der Pegnitz in diesen Tagen wohl keine exklusivere Zeugenherberge als die Villa in der Novalisstraße. Auch die Anwälte der Angeklagten rissen sich anfangs regelrecht darum, hier Unterkunft nehmen zu dürfen. Neben der Hausnummer 24, die den Krülles gehörte, stand noch das Haus Nr. 22 zur Verfügung. Dort gab es allerdings nur Schlafzimmer. Die Mahlzeiten wurden gemeinsam im Haupthaus eingenommen, wo sich auch das gesellige Leben abspielte. Gräfin Kálnoky hatte die Leitung des Hauses übernommen, Elise Krülle sollte ihr als Zimmermädchen und Servierdame zur Hand gehen.

Als ersten Gast begrüßte Ingeborg Kálnoky einen gebrochen wirkenden alten Mann mit hoher Stirn und wässrig blauen Augen. Professor Karl Haushofer, vormals Lehrer von Rudolf Heß, dem späteren »Stellvertreter des Führers«. Zugleich