Dein geliebter Feind - Lisa Unger - E-Book

Dein geliebter Feind E-Book

Lisa Unger

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Beschreibung

Er liebt dich - und er lässt dich niemals los

Annies Leben scheint perfekt: Sie lebt mit ihrem liebevollen Ehemann und ihrer Tochter in einem idyllischen Haus am Strand. Doch der schöne Schein trügt. Nicht einmal ihr Name ist echt. Vor Jahren floh sie vor ihrem Stiefbruder Marlow, einem Serienkiller. Annie erinnert sich nur noch bruchstückhaft an die Zeit unter seiner Kontrolle. Marlow ist seit vielen Jahren tot, doch die Vergangenheit verfolgt sie noch immer. Als sie rätselhafte Nachrichten erhält, wird ihr klar: Sie und ihre Tochter schweben in tödlicher Gefahr ...

"Dieser Thriller fegt über einen hinweg wie ein Orkan - und es gibt kein Entkommen." Entertainment Weekly

"Dieses Buch ist wirklich etwas Besonderes. Wieder einmal ist es Lisa Unger gelungen, mir schlaflose Nächte zu bereiten." Crimespree Magazine

Ein Psychothriller erster Güte der internationalen Bestsellerautorin Lisa Unger.

eBooks von beTHRILLED - Mörderisch gute Unterhaltung!

Dieser Roman erschien erstmals unter dem Titel "Denn du bist mein" beim Wilhelm Goldmann Verlag.



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Seitenzahl: 558

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

PROLOG

ERSTER TEIL

ANGEKNACKST

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

ZWEITER TEIL

ZWEIMAL GESTORBEN

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

EPILOG

ANMERKUNG DER AUTORIN

DANK

Weitere Titel der Autorin:

Die treue Freundin

Die folgsame Tochter

Für immer sollst du schweigen

Hüte dich vor deinem Nächsten

Über dieses Buch

Annies Leben scheint perfekt: Sie lebt mit ihrem liebevollen Ehemann und ihrer Tochter in einem idyllischen Haus am Strand. Doch der schöne Schein trügt. Nicht einmal ihr Name ist echt. Vor Jahren floh sie vor ihrem Stiefbruder Marlow, einem Serienkiller. Annie erinnert sich nur noch bruchstückhaft an die Zeit unter seiner Kontrolle. Marlow ist seit vielen Jahren tot, doch die Vergangenheit verfolgt sie noch immer. Als sie rätselhafte Nachrichten erhält, wird ihr klar: Sie und ihre Tochter schweben in tödlicher Gefahr ...

Der Roman erschien erstmals 2009 unter dem Titel »Denn du bist mein« beim Wilhelm Goldmann Verlag, München

Über die Autorin

Lisa Unger ist eine amerikanische Thrillerautorin, deren Romane es in ihrem Heimatland regelmäßig auf die Bestsellerliste schaffen und vielfach begeistert besprochen werden. Auch international kann die Autorin mit ihren Thrillern große Erfolge verzeichnen, ihre Bücher erscheinen in 26 Sprachen, werden millionenfach gelesen und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Lisa Unger lebt mit ihrer Familie an der Westküste Floridas.

Lisa Unger

Dein geliebter Feind

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2008 by Lisa Unger

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Black Out«

Originalverlag: Shaye Areheart Books

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzungen von Eva Bonné liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

This translation published by arrangement with Crown,an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2009 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Denn du bist mein«

Für diese Ausgabe:Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Irmgard PerkouniggCovergestaltung: Manuela Städele-Monverdeunter Verwendung von Motiven © Magdalena Wasiczek / Trevillion ImageseBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7517-1633-8

be-ebooks.de

lesejury.de

Für

Ocean Rae, Sophie, Lucy, Matilda, Zoé und Josie,

für meine Tochter und die Töchter von Frauen,

die ich liebe und bewundere ...

Wir wollen unsere Töchter lieben, ihre Seelen beschützen

und sie ihre eigene Kraft und Stärke entdecken lassen,

damit sie so heiter und schön bleiben

wie am Tag ihrer Geburt.

PROLOG

Heute ist etwas Interessantes passiert. Ich bin gestorben. Wie schrecklich, werden Sie jetzt sagen. Wie tragisch. Sie war so jung und hatte noch alles vor sich. In der Zeitung wird ein Artikel über mich erscheinen, die junge Frau, die zu hell strahlte und zu schnell verglühte. Ich werde im kleinen Kreis beigesetzt werden – ein paar weinende Freunde, einige schniefende Nachbarn und Bekannte. Was für ein Theater sie um meinen armen Ehemann Gray machen werden! Sie werden ihm versprechen, immer für unsere Tochter da zu sein, die jetzt ohne mich aufwachsen muss. Wie traurig, werden sie sagen. Was hat sie sich bloß dabei gedacht?

Aber nach einer Weile wird die Trauer sich legen, alle werden in ihr normales Leben zurückkehren, und ich wurde zu einer Erinnerung verblassen – eine Erinnerung, die sie hin und wieder traurig stimmen wird und daran denken lässt, wie schnell es zu Ende gehen kann. Aber gleichzeitig werden sie lächeln. Denn wir hatten auch gute Zeiten. So viele schöne Abende, an denen wir zu viel getrunken, herzlich gelacht und riesige Steaks gegrillt haben.

Ich werde sie ebenfalls vermissen und in guter Erinnerung behalten. Aber auf andere Weise; denn mein Leben in ihrer Mitte war ein Täuschungsmanöver, eine sorgfältig konstruierte Lüge. Und obwohl ich einige von ihnen gut kennen und lieben lernte, hat mich keiner von ihnen wirklich gekannt. Sie wussten über mich nur, was ich freiwillig offenbarte, und selbst das war zum Teil erfunden. Ich werde mich so an sie erinnern, wie man sich an einen Lieblingsfilm erinnert; mir werden schöne Momente und einzelne Sätze in den Sinn kommen. Aber letztendlich werde ich einsehen müssen, dass meine Zeit mit ihnen eine Fiktion war, so vergänglich und unwirklich wie eine Geschichte aus einem Buch.

Jetzt stehe ich am Bug eines Containerschiffs. Mit einer für seine Größe beachtlichen Geschwindigkeit zerteilt der Frachter die Nacht und frisst sich durch die hohen Wellen, während die Gischt zischend in die Höhe spritzt. Das Wasser ringsum ist schwarz. Mein Gesicht ist nass vom Sprühnebel und so windgepeitscht, dass ich meine Haut kaum noch spüre. Dabei hatte ich noch eine Woche zuvor eine solche Angst vor dem Wasser, dass ich es nicht einmal gewagt hätte, mich an eine Poolkante zu setzen und die Beine hineinzuhängen. Weil ich aber plötzlich so viele Dinge zu fürchten habe, sah ich mich gezwungen, diese Angst abzulegen.

Der Mann am Ruder hat mir schon zweimal mit fuchtelnden Armen signalisiert, ich solle hereinkommen. Ich hebe die Hand, um zu signalisieren, dass es mir gutgeht. Hier draußen zu stehen tut weh, aber der Schmerz ist genau das, was ich jetzt brauche. Außerdem bin ich nirgendwo weiter von meinem alten Leben entfernt als hier auf dem Schiffsbug. Ich brauche noch mehr Abstand, bevor ich irgendwann unter Deck gehen und vielleicht sogar einschlafen kann.

Ich spüre den heißen Atem meines Verfolgers im Nacken. Für ihn werde ich niemals zu einer Erinnerung verblassen. Ich werde immer sein Ziel sein, das Objekt der Begierde, das sich stets neu entzieht. Und wenn es nach mir geht, wird sich daran nichts ändern. Aber ich kenne seine Gier, seine Geduld, seine Hartnäckigkeit. Sein Herz schlägt einmal, während meins zehnmal pocht. Und ich bin so müde. Ich stehe in der Eiseskälte und frage mich, ob die Jagd heute Nacht enden und wer von uns beiden am Ende tot sein wird, wirklich tot.

Ich stehe am Bug und klammere mich an der Reling fest. Ich sage mir, dass der Tod das Hintertürchen ist, durch das ich jederzeit entkommen kann. Ich bräuchte mich lediglich vorzubeugen und über die Reling fallen zu lassen, um in der Dunkelheit zu verschwinden. Aber ich werde es nicht tun, nicht heute Nacht. Wie sehr wir doch am Leben hängen! Selbst die Bemitleidenswertesten unter uns, die kaum noch Grund zur Hoffnung haben – auch sie halten durch. Dennoch finde ich den Gedanken tröstlich, dass der Tod eine jederzeit mögliche Lösung wäre.

Schließlich werden mir Wind und Kälte zu viel. Ich drehe mich um und mache mich auf den Weg zurück in meine winzige Kabine, als ich es entdecke: das runde, weiße Auge eines Scheinwerfers, der hinter uns aus dem Nichts auftaucht, darunter kleine, rot-grüne Navigationslichter. Das Schiff ist noch zu weit entfernt, als dass ich die Maschinen hören könnte. Ich sehe nur einen weißen Lichtpunkt durch die Dunkelheit hüpfen. Ich will dem Kapitän ein Zeichen geben, aber er steht nicht mehr am Ruder. Ich überlege hinaufzusteigen und ihn zu warnen, aber es wäre zwecklos. Ich zögere kurz und beschließe, dass es das Beste für mich wäre, mir ein Versteck zu suchen. Wenn er mich tatsächlich aufgespürt hat, kann mir keiner mehr helfen. Ich stelle fest, dass ich kein bisschen überrascht bin. Dass er mich gefunden hat, wundert mich nicht. Ich habe nichts anderes erwartet.

In meiner Brust spüre ich das vertraute Klopfen, während ich über die endlose Wasserfläche starre und wieder die dunkle Verlockung spüre. Es wäre ein Akt des Trotzes, ihm das Einzige zu nehmen, das er jemals gewollt hat, und der ultimative Beweis dafür, dass mein Leben mir gehört und nicht ihm. Aber ein kleines, rundes, von wirren, goldenen Löckchen eingerahmtes Gesicht mit dunkelbraunen Augen und einem winzigen Schmollmund hält mich an Deck. Sie weiß nicht, dass ihre Mommy heute gestorben ist. Hoffentlich trauert sie nicht um mich, hoffentlich wächst sie nach meinem frühzeitigen Ableben nicht zu einem kaputten, gebrochenen Menschen heran. Deswegen muss ich am Leben bleiben. Damit ich eines Tages, hoffentlich eher früher als später, zurückkehren und ihr die Herkunft ihres Namens erklären kann; damit ich sie in die Arme schließen und die Mutter sein kann, die ich ihr immer sein wollte.

Aber zuerst muss ich kämpfen und gewinnen. Ich weiß nicht, wie viel Kraft mir geblieben ist, aber ich werde kämpfen. Nicht für die zerbrochene, ausgebrannte Frau, zu der ich geworden bin, sondern für meine Tochter. Für Victory.

ERSTER TEIL

ANGEKNACKST

Die reizende Ophelia! –Nymphe, schließ In dein Gebet all meine Sünden ein!

William Shakespeare, Hamlet

EINS

Als meine Mutter mich Ophelia nannte, fand sie das hochliterarisch. Sie wusste nicht, dass sie eine tragische Wahl getroffen hatte. Andererseits wusste sie wohl genauso wenig, was eine Tragödie ist, so wie Menschen aus besonders wohlhabenden Verhältnissen nicht realisieren, wie reich sie eigentlich sind; sie kennen es nicht anders. Meine Mutter fand den Namen schön, sie war der Meinung, er klinge wie ein Blumenname. Sie wusste, dass er zu einer berühmten Geschichte gehört (aber sie hätte nicht sagen können, ob es sich dabei um einen Roman oder ein Theaterstück handelte). Wahrscheinlich sollte ich mich glücklich schätzen, immerhin waren ihre anderen beiden Favoriten »Lolita« und »Gypsy Rose«. Ophelia hatte wenigstens einen Hauch von Würde.

Das geht mir durch den Kopf, während ich den Einkaufswagen durch die Gemüseabteilung des Supermarkts schiebe, vorbei an leuchtend grünen Äpfeln und knackigen Salatherzen, an riesigen, glänzenden Orangen und prallen, roten Paprikaschoten. Der mir allzu bekannte Mann vor der Fleischtheke winkt und schenkt mir ein Lächeln, das vermutlich gewinnend wirken soll, mir aber eine Gänsehaut über den Rücken jagt. Er wird so etwas wie »Hallo, Schätzchen« oder »Hallo, Kleine« sagen, und ich werde mich fragen, womit ich seine Aufmerksamkeit verdiene. Ich bin nämlich alles andere als ein offener oder warmherziger Mensch; ich kann es mir nicht leisten, zu freundlich zu den Leuten zu sein. Natürlich kann ich es mir genauso wenig leisten, zu unfreundlich zu sein. Ich kontrolliere mein Spiegelbild im Metallrahmen der Fleischtheke und vergewissere mich, dass ich unnahbar aussehe, ohne merkwürdig zu wirken. Mein Spiegelbild wird von den unzähligen Dellen und Kratzern im Metall verzerrt.

»Hallo, junge Dame«, sagt er, macht eine gezierte Geste und deutet eine Verbeugung an.

Ich lächle kühl, es ist kaum mehr als ein Hochziehen der Mundwinkel. Er tritt mit theatralischem Schwung beiseite, um mich vorbeizulassen.

Ich bin zu der Sorte Frau geworden, von der meine Mutter sich hätte einschüchtern lassen. An den meisten Tagen binde ich mein blondes, vom Waschen noch feuchtes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen; ich mag schlichte Eleganz. Ich trage einfache, legere Kleidung – umgekrempelte Khakihose und weiße Oversizedbluse unter einer dunkelblauen Barbourjacke. Nichts Besonderes, außer dass meine Schuhe und meine Handtasche mehr kosten, als meine Mutter früher in zwei Monaten verdient hat. So etwas wäre ihr aufgefallen. Sie hätte mit schlechtem Benehmen reagiert, wäre pampig und gemein geworden. Das lässt mich kalt. Es ist eine Tatsache, schlicht und einfach, wie Tatsachen nun einmal sind. Na ja, die meisten jedenfalls. Dennoch erkenne ich meine Mutter in meinem Spiegelbild wieder – die helle Pfirsichhaut, die hohen Wangenknochen, die dunkelbraunen Augen. Und im Gesicht meiner Tochter sehe ich sie ebenfalls.

»Annie? Hal-lo?«

Ich stehe wieder in der Gemüseabteilung, ehrlich gesagt weiß ich nicht, was mich hierher zurückgebracht hat. In der Hand halte ich eine glatte, reife Nektarine. Ich muss sie angestarrt haben wie eine Kristallkugel, die mir meine Zukunft verrät. Ich hebe den Kopf und sehe meine Nachbarin Ella Singer, die mich ebenso amüsiert wie besorgt beobachtet. Ich weiß nicht, wie lange ich die Nektarine angestarrt habe, oder seit wann Ella versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Wir sind mehr als Nachbarinnen, wir sind befreundet. Alle hier nennen mich Annie, sogar Gray, der es eigentlich besser wissen müsste.

»Jemand zu Hause?«, fragt Ella.

»Entschuldige«, sage ich mit einem kurzen Kopfschütteln, »ich habe wohl geträumt.«

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Doch, wirklich.«

Ella nickt und greift ebenfalls zu den Nektarinen. »Wo ist Vicky?«

Alle Nachbarinnen, alle Lehrer und auch die Mütter ihrer Freundinnen nennen meine Tochter »Vicky«. Ich korrigiere sie nicht, aber innerlich zucke ich jedes Mal zusammen. Sie heißt nicht Vicky. Ich habe sie Victory genannt, weil der Name mir etwas bedeutet, und ich hoffe, dass er ihr irgendwann auch etwas bedeuten wird. Es stimmt, der Name ist mir in einem Anfall von übersteigertem Selbstbewusstsein eingefallen. Aber Gray verstand auf Anhieb und gab seine Zustimmung. An jenem Tag haben wir uns beide sehr selbstbewusst gefühlt. Ich zehre bis heute von dem Gefühl. Obwohl es mir in letzter Zeit und unerklärlicherweise immer öfter abhandenkommt.

»Sie ist bei Grays Stiefmutter. Schwimmkurs mit Oma«, sage ich und lasse die Frucht in den durchsichtigen Plastikbeutel fallen. Die Nektarinen duften süß und frisch. Sie sind fast überreif und kurz vorm Platzen. Eine alte Frau mit einer Gehhilfe aus Aluminium schiebt sich direkt hinter uns schwerfällig vorbei. Aus den unsichtbaren Lautsprechern dudelt eine blechern verzerrte, weichgespülte Version von »Don’t Stand So Close to Me« von The Police.

»Wie nett«, sagt Ella nickend. »Hast du Zeit für einen Cappuccino?«

Ich werfe einen Blick auf meine Uhr, wie um nachzusehen, ob in meinem übervollen Terminkalender noch Platz ist. Dabei wissen wir beide, dass ich nichts zu tun habe und Victory erst in Stunden zurückkommen wird – nach dem Schwimmen, bevor es zum Mittagessen und anschließend nach draußen geht, wo die Nachbarskinder auf sie warten. Die meisten von ihnen sind ältere Jungs, die Victory herumkommandiert wie eine Königin. Sie lieben sie dafür.

»Klar«, sage ich. Ella lächelt.

»Toll, dann sehen wir uns drüben, wenn du fertig bist.« Mit ›drüben‹ meint sie das kleine Café am Strand, wo wir uns immer treffen.

»Bis gleich.«

Sie schiebt ab. Ich mag Ella sehr gern. Sie ist immer so unkompliziert, offen und warmherzig, vertrauensselig und stets gut gelaunt; in ihrer Gegenwart fühle ich mich fast wie eine eiskalte Zicke. Ich winke ihr lächelnd nach. Mein Herz klopft. Wahrscheinlich habe ich schon zu viel Koffein intus, und mein Herz protestiert beim Gedanken an noch mehr. Vielleicht werde ich einfach einen Kamillentee bestellen.

Auf dem Weg zur Kasse fällt mir ein mürrischer Teenager auf, ein junges Mädchen, das neben seiner Mutter an der Feinkosttheke steht. Das Mädchen ist so dünn, dass seine Beckenknochen sich durch die Jeans zu bohren scheinen. Auf seinen Lippen funkelt rosafarbenes Gloss. Es hält sich ein Handy ans Ohr und kaut am rechten Daumennagel.

»Taylor, lass das«, sagt die Mutter und zieht an der Hand des Mädchens. Die beiden starren einander an wie rivalisierende Gangmitglieder. Ich frage mich, ob Victory und ich diese Phase, die Wirren der Adoleszenz, auch durchmachen werden. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich lebe in beständiger Angst, den Luxus der Auseinandersetzungen mit meiner halbwüchsigen Tochter nicht mehr erleben zu dürfen.

Ich gehe auf den Parkplatz und lade meine Lebensmittel in den Kofferraum. Ich sehe Ellas Auto davonfahren; sie hält die gespreizten Finger in die Höhe, um mir zu sagen: fünf Minuten! Sie wird nach Hause fahren und die Lebensmittel auspacken, bevor wir uns zum Kaffee treffen, und ich werde es genauso machen, schließlich wohnen wir nur wenige Minuten von hier entfernt. Dann brauchen wir keine Angst zu haben, das Hühnchen könnte schlecht werden oder das Eis schmelzen. Vorstadtsorgen, die ich mir gern mache, weil sie so simpel und relativ überschaubar sind. Aber als ich den Kofferraum zuschlage, kann ich es fühlen.

Es ist, als wäre die Sonne hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden und der Himmel auf einen Schlag dunkelgrau. Bloß dass man nichts davon tatsächlich sehen kann. Es ist ein strahlender, ungewöhnlich kühler Frühlingsmorgen in Florida. Der Parkplatz ist voll, überall laufen Mütter und Kindermädchen mit Kindern aller Altersstufen herum. Die Osterferien stehen bevor. Ich höre Gelächter, das Kreischen einer Möwe; ich kann die salzige Luft und den Golf von Mexiko riechen. Aber innerlich zerreißt es mich. Durch meine Adern fließt kalte, schwarze Tinte.

Ich springe in meinen Geländewagen, verriegle die Türen, klammere mich ans Lenkrad und versuche, mich zu beruhigen. Ich kenne diese Panikattacken. Normalerweise handelt es sich um einzelne Zwischenfälle, so kurz und heftig wie die Sommergewitter hier unten. Während der vergangenen Tage habe ich jedoch eine nach der anderen erlebt, und ihre Intensität hat mich überrascht. Gray nennt das »Fehlalarm«. Ich halte es eher für eine Art Frühwarnsystem.

Die Attacke ist heftiger, düsterer als sonst. Ich fühle echte Angst, ich schwitze und werde kreidebleich. Ich atme nur noch unregelmäßig, aber beim Blick in den Rück- und Seitenspiegel kann ich nichts Ungewöhnliches entdecken. Der Gegensatz macht mich ganz benommen, fast werde ich böse auf den strahlend sonnigen Tag, auf die Leute auf dem Parkplatz, die so fröhlich vor sich hinleben.

Nach einer Weile fahre ich, immer noch zittrig, einfach los und steuere das Auto vorsichtig nach Hause. Ich biege in unsere Privatstraße ein und winke dem Wachmann an der Schranke zu, komme an prunkvollen Villen mit terrakottafarbenen Dachziegeln und bunten Briefkästen vorbei. Die Häuser ducken sich unter riesigen Palmen, die Briefkästen haben die Form von Seekühen, Delphinen oder Flamingos oder sind eine Miniaturnachbildung des Haupthauses. In den gepflasterten Einfahrten stehen die neuesten Modelle der Luxusklasse.

Als ich in unsere Einfahrt biege, hebt die Frau im Nachbargarten die Hand zum freundlichen Gruß. Sie gießt gerade ihre Blumen. Ich erwidere die Geste und versuche zu lächeln, während ich auf die Fernbedienung für das Garagentor drücke. Weil ich keine Lust auf ein schwachsinniges Gespräch habe, bleibe ich im Auto sitzen, bis das Garagentor sich hinter mir geschlossen hat. Ich stelle den Motor ab und warte. Das wilde Herzklopfen lässt nach. Ich bin in Sicherheit, sage ich mir. Dieses Haus ist sicher. Das Zittern hört auf. Mein Atem geht wieder regelmäßig. Ich drücke einen Knopf am Armaturenbrett und höre das Freizeichen.

»Oma anrufen«, sage ich.

»Anruf bei Oma«, wiederholt das Autotelefon förmlich. Victory liebt das Geräusch und fängt immer, wenn sie es hört, unkontrolliert zu kichern an.

Nach dem ersten Klingeln antwortet eine samtige Männerstimme. »Hallo?«

»Hier ist Annie«, sage ich und merke, wie zittrig meine Stimme klingt. Er antwortet nicht gleich; auch er hat es bemerkt. Ihm entgeht nichts.

»Hallo, Annie.« Die gleichbleibend ruhige Stimme meines Schwiegervaters Drew. Ich sehe vor mir, wie er an dem schweren Eichenholzschreibtisch in seinem Arbeitszimmer sitzt, umgeben von Diplomen, militärischen Auszeichnungen und den Fotos seiner Kameraden von den Navy SEALs – seltsame, grobkörnige Aufnahmen von blutjungen Männern, die viel zu glücklich aussehen, um Waffen zu tragen. »Sie sind im Pool.«

»Ist alles in Ordnung?«, frage ich und hasse mich im selben Moment für die Worte, die aus meinem Mund purzeln.

»Alles bestens«, sagt Drew mit fester, ruhiger Stimme. Sein selbstsicherer, entschiedener Ton beruhigt mich, und ich schäme mich dafür, meine Schwäche gezeigt zu haben.

»Ist bei dir alles in Ordnung?«, fragt er nach einer Weile. Ich versuche, seinen verächtlichen Unterton zu überhören.

»Ja«, versichere ich viel zu schnell. Ich muss mich wiederholen, in beschwingterem Tonfall und etwas langsamer, um das erste Ja auszugleichen. »Ja. Alles prima. Du brauchst sie nicht zu stören. Ich komme gegen zwei vorbei, um Victory abzuholen.«

Ich beende das Gespräch, bevor er mir weitere Fragen stellen kann, und dann mache ich mich daran, die Lebensmittel auszuladen. Während ich die Sachen einräume, schalte ich den Fernseher in der Küche ein. Auf dem Bildschirm erscheint das Bild einer dünnen Blondine mit traurigem Gesicht. Die Bildunterschrift lautet: Frauenleiche in Zentralflorida gefunden – sechster Mordfall in fünf Jahren. Aus dem Off nuschelt sich eine Männerstimme mit schwerem floridianischem Akzent durch die Einzelheiten: keine Spuren am Fundort, Überschneidungen mit den anderen Fällen. Hastig schalte ich den Fernseher aus; solche Nachrichten sind das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann.

Ich versuche, das ungute Gefühl abzuschütteln, das mich beschlichen hat, und gehe meinem Tagwerk nach – Kaffee mit Ella, noch ein paar Besorgungen, dann Victory bei Drew und Vivian abholen. Als ich über Vivians Schwelle trete und mein kleines Mädchen sehe, gehört der dunkle Schatten fast schon der Vergangenheit an. Aber ich habe ihn noch nicht vergessen. Er verfolgt mich wie ein Geist.

»Alles in Ordnung, Liebes?«, fragt Vivian, als ich mir meine Tochter auf die Hüfte setze. (Sie ist zu groß, um noch herumgetragen zu werden, Annie. Du verwöhnst sie, sagt Gray.) Victory lässt sich erschöpft an mich sinken. Sie duftet nach einer Mischung aus Sonnencreme, Chlorwasser und Babyshampoo.

Ich drehe mich um und versuche zu lächeln. »Falscher Alarm«, sage ich. Alle kennen den Code.

»Bist du sicher?«, fragt Vivian. Ich bemerke, wie müde sie aussieht, unter ihren verquollenen Augen hängen dunkle Halbmonde. Ihre Miene verrät eine Mischung aus Liebe und Besorgnis, und am liebsten würde ich mich ihr an den Hals werfen und weinen. Es wäre nicht das erste Mal.

Hinter ihr kann ich den Golf von Mexiko sehen, der träge an den Strand schwappt. Die Rückseite des Hauses besteht komplett aus Glas. Der randlose Swimmingpool scheint direkt ins Meer überzugehen, eine sorgfältig konstruierte Illusion. Auf so etwas sind wir in dieser Familie spezialisiert.

»Mommy macht sich Sorgen«, flüstert Victory an meinem Hals. »Mach dir keine Sorgen.« Sie legt ihre Arme fester um mich, und ich drücke sie.

»Ich mache mir keine Sorgen, Schätzchen«, sage ich und fühle ein stechendes Schuldgefühl. »Ich bin nur müde.«

Bestimmt glaubt sie mir kein Wort. Wissen Sie, Kinder lassen sich nichts vormachen. Man sollte es gar nicht erst versuchen, denn sonst fangen sie an, an sich selbst zu zweifeln.

»Hast du Gray angerufen?«, fragt Vivian mit gerunzelter Stirn. Sie riecht nach Zitronengras. Sie legt eine Hand auf meinen Arm und reibt ihn sanft.

Ich versuche es mit einem beiläufigen, selbstkritischen Lächeln. »War nicht nötig.«

Sie wirft mir einen skeptischen Blick zu, sagt aber nichts mehr. Sie drückt einen Kuss erst auf meine, dann auf Victorys Wange und legt ihre fülligen Arme um uns. Als wir aus der Einfahrt rollen, entdecke ich Drew, der oben am Fenster seines Arbeitszimmers steht und uns beobachtet.

Während Victory am Nachmittag ihren Mittagsschlaf hält, sitze ich auf unserem Pooldeck, genieße den Ausblick aufs Meer und fange an, mir Gedanken darüber zu machen, auf welche Art ich aus dem Leben scheiden könnte.

Als Gray spätabends nach Hause kommt, liegt Victory längst tief und fest schlafend in ihrem Bett oben im Kinderzimmer. Ich sitze auf dem Ledersofa, das ich mir nicht ausgesucht habe und das mir eigentlich nicht gefällt, und starre in das flackernde Kaminfeuer, als er zur Haustür hereinkommt. Eine Sekunde lang ist er nicht mehr als ein langer Schatten im Flur; er könnte sonst wer sein. Aber dann tritt er ins Licht und wird zu meinem müden, erschöpften Ehemann. Er weiß nicht, dass ich ihn beobachte. Als er mich entdeckt hat, lächelt er und wirkt gleich ein bisschen frischer.

»Hey«, sage ich, stehe auf und gehe ihm entgegen.

»Hey.« Seine Umarmung ist kräftig, ich lasse mich hineinsinken und klammere mich an ihm fest. Nichts an ihm ist weich, jeder einzelne Muskel in seinem durchtrainierten Körper zeichnet sich deutlich unter der Haut ab. Hier fühle ich mich sicher. Nach dem aufreibenden Tag kehrt endlich Ruhe ein.

»Möchtest du einen Drink?«, frage ich und wende mich ab. Er hält mich noch kurz fest und versucht, mir in die Augen zu sehen, dann lässt er mich los.

»Was trinkst du?«, fragt er.

»Wodka auf Eis.«

»Klingt gut.«

Ich gehe zur Bar hinüber, von der man tagsüber aufs Pooldeck schauen kann. An diesem Abend kann ich in der Fensterscheibe nur mein Spiegelbild erkennen, während ich ein kantiges Glas mit Eis und Wodka aus dem Kühlschrank fülle. Auch dieses Ausstattungsmerkmal habe ich mir nicht ausgesucht – die Bar mit eigener Spüle und einem Riesenvorrat an alkoholischen Getränken, die wir kaum anrühren. So vieles in diesem von Vivian eingerichteten Haus – ein lächerlich extravagantes Hochzeitsgeschenk meines Schwiegervaters – hat nichts mit mir und Gray zu tun. Sich für ein solches Geschenk angemessen dankbar zu zeigen ist fast unmöglich, an den zahlreichen unnötigen Extras herumzumäkeln geradezu ausgeschlossen. Manchmal habe ich das Gefühl, in einem Musterhaus zu leben. Alles ist blitzblank und perfekt und doch haarscharf daneben.

Ich gehe zu Gray zurück und reiche ihm seinen Drink; dann setzen wir uns. Ich lege meine Beine auf seinen Schoß und greife nach meinem Glas auf dem Tisch. Das Eis ist geschmolzen, der Wodka schmeckt wässrig und lau. Ich trinke ihn trotzdem, denn ich bin zu faul, mir einen neuen zu holen.

Eine der Glastüren steht offen, und ein salziger, für diese Jahreszeit ungewöhnlich kühler Luftzug bläst herein, um sofort vom Kaminfeuer aufgewärmt zu werden. Ich folge Grays Blick. Ich weiß, er ist der Ansicht, die Tür müsse geschlossen und verriegelt sein, aber er schweigt. Ich sehe die tiefe, halbmondförmige Narbe zwischen seinem rechten Auge und der Schläfe, und mir fällt auf, wie selten ich seine Narben noch beachte. Anfangs weckten sie mein Misstrauen, sie ließen ihn hart und distanziert wirken. Damals fragte ich mich, welche Art von Gewalt so viele Spuren an einem Mann hinterlassen würde. Aber heute kenne ich die Antwort, und ich kenne sein Herz.

»Es geht wieder los«, sage ich, nachdem wir eine Minute stumm in die Flammen gestarrt haben. Ich klinge sehr dramatisch, selbst bevor ich hinzufüge: »Schlimmer als je zuvor.«

Gray reagiert kaum, aber ich sehe, wie sich seine Kiefermuskulatur unter den schwarzen Bartstoppeln anspannt. Er schaut ins Feuer, macht die Augen zu und wieder auf und seufzt. Die Situation ist ihm nicht neu.

Er legt eine Hand auf meinen Arm und blickt mir ins Gesicht. Im dämmrigen Licht kann ich die Farbe seiner Augen nicht erkennen, aber ich weiß, sie sind stahlgrau, seit dem Tag seiner Geburt. Daher auch sein Name.

»Er ist tot«, sagt Gray. »Seit langer Zeit.«

Er hat immer Geduld mit mir, egal, wie oft wir das Thema schon durchgegangen sind. Ich ziehe die Knie an und kuschle mich in seine Armbeuge.

»Woher willst du das wissen?«, frage ich. Ich habe ihm die Frage schon tausend Mal gestellt, nur um immer die gleiche Antwort zu hören.

»Weil ich ihn umgebracht habe, Annie.« Er berührt mein Kinn und dreht meinen Kopf zu sich, damit ich ihm seine unerschütterliche Überzeugung vom Gesicht ablesen kann. »Ich habe ihn sterben sehen.«

Ich fange an zu weinen, weil ich weiß, dass er das wirklich glaubt. Und weil ich es auch so gern glauben möchte.

»Willst du wieder mit den Medikamenten anfangen?«

Nein, das will ich nicht. Gray beugt sich vor, um sein Glas abzustellen. Ich rutsche dicht an ihn heran, und er umarmt mich und lässt mich weinen, bis ich mich besser fühle. Ich kann nicht sagen, wie lange es noch dauern wird. Aber Gray ist immer so geduldig.

ZWEI

Ich steige die schmale, rostige Treppe hinunter und laufe schnell durch den langen Flur, wobei ich mich an den Wänden abstütze. Die trüben Lampen flackern. Ich versuche krampfhaft, mich an meine Kabinennummer zu erinnern – 203 vielleicht? Außer dem Kapitän sind fünf weitere Männer an Bord, aber ich begegne keinem von ihnen.

Ich erreiche meine Kabine und mühe mich mit dem Schloss ab, dann stoße ich die Tür auf. In der hinteren Ecke befindet sich meine Schlafkoje, darunter das Schubfach mit all meinen Habseligkeiten. Ich knie nieder und zerre meine Tasche heraus, öffne den Reißverschluss und wühle herum, bis ich gefunden habe, wonach ich suche – meine Pistole. Eine schlanke Neun-Millimeter-Glock, mattschwarz und kalt. Ich überprüfe das Magazin und nehme ein zweites aus der Reisetasche, das ich in meine Jacke gleiten lasse. Die Glock stecke ich mir in den Hosenbund meiner Jeans. Sie blitzschnell zu ziehen und sofort zu zielen habe ich Millionen Mal geübt; selbst wenn mein Gehirn aussetzt, wird mein Arm wissen, was zu tun ist. Körpergedächtnis.

Ich wäge meine Optionen ab. Weil er problemlos durchführbar und besonders nachhaltig ist, steht der Selbstmord wieder ganz oben auf meiner Liste. Auf dem zweiten Rang, knapp dahinter, folgt die Option Angriff – im Grunde nichts weiter als ein Umweg zu Platz eins. An dritter Stelle steht verstecken und abwarten. Soll er sich ein bisschen anstrengen. Soll er mit den Leuten kämpfen, die zu meinem Schutz an Bord sind, und mich anschließend finden. Ich werde währenddessen bewaffnet in meinem Versteck sitzen und auf ihn warten.

Das Hämmern in meiner Brust hat nachgelassen, und ich warte auf die Geräusche, die mir verraten, dass der Kampf begonnen hat. Aber ich höre nichts als das ferne Dröhnen der Schiffsmotoren. Ich habe überhaupt keine Angst. Vielleicht habe ich die Angst inzwischen so weit verinnerlicht, dass sie sich ganz natürlich anfühlt.

DREI

Mein Vater ist Tätowierer von Beruf – und ein krankhafter Lügner. Zumindest auf eines kann ich mich verlassen:

So gut wie jedes Wort aus seinem Mund ist gelogen. Er kann nicht anders.

»Wie geht es, Dad?«, frage ich.

»Super«, sagt er begeistert. »Ich bin beim Kofferpacken.«

»Warum?«, frage ich skeptisch.

»Ich gehe auf eine Mittelmeerkreuzfahrt. Morgen geht’s los.«

Oder:

»Habe ich dir je von meiner Zeit als Navy SEAL erzählt?«

»Wirklich, Dad?«, spiele ich halbherzig mit. »Wann?«

»Damals, in Vietnam.«

»Wow. Erzähl mir davon.«

»Geht nicht. Schmerzliche Erinnerungen. Würde ich am liebsten alles vergessen.«

So geht es ständig. Mittlerweile stört es mich kaum noch, hauptsächlich weil er in wichtigen Angelegenheiten die Wahrheit sagt. Der Rest ist Unsinn. Es überkommt ihn wie ein Schluckauf, und schon sprudeln die Lügen aus ihm heraus, unaufhaltsam und ungefragt. Normalerweise mache ich gute Miene zum bösen Spiel, denn trotz seiner Flunkerei hat er etwas Wahrhaftiges. Er war ein lausiger Vater, aber er liebt mich, das habe ich immer gewusst.

Wenn er ans Telefon geht, höre ich im Hintergrund Geplapper und das Summen der Tätowiernadeln. Sein Shop, Body Art, liegt in der Great Jones Street in NoHo, Manhattan. Obwohl der Laden das reinste Loch und nicht einmal fünfzig Quadratmeter groß ist, reisen die Leute aus aller Welt an, um sich von meinem Vater ein Tattoo stechen zu lassen. Rockstars, Supermodels, selbst (glaubt man den Gerüchten) rebellische Fürstensöhne aus Saudi-Arabien haben sich bei meinem Vater unter die Nadel gelegt. Jahrelang prahlte er damit, aber ich glaubte ihm natürlich kein Wort. Irgendwann schickte er mir dann sein Porträt, das in der Village Voice erschienen war, und ich begriff, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Erstaunlich.

»Alles in Ordnung?«, fragt er und senkt die Stimme, sobald er mich erkannt hat.

»Alles toll«, sage ich, »uns geht es sehr gut.«

Er schweigt einen kurzen Moment, und ich merke, dass er meine Lüge durchschaut hat. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich höre ihn atmen, während er überlegt, was er sagen soll. Ich erinnere mich an die vielen bleiernen Schweigepausen während unserer früheren Telefonate – ich verzweifelt, er unwillig oder unfähig zu helfen. Schließlich sage ich: »Dad, erzähl es mir noch einmal.«

»Ach Schätzchen«, sagt er nach einem tiefen Seufzer, »komm schon. Ich dachte, du wärst drüber weg.«

Ich seufze und lausche auf Victory, die im Nebenzimmer mit ihrer Puppe spricht. »Du bist so hübsch«, sagt sie, »innen und außen. Und du bist so schlau und so stark.« Sie wiederholt, was sie von mir zu hören bekommt. Ich muss unwillkürlich lächeln.

»Opie, bist du noch dran?«

Mein Vater hat meinen Namen immer schon albern gefunden. Er nennt mich »O« oder »Opie«, manchmal auch »Ope«. Als ob das keine albernen Namen wären. Vermutlich hat er sie früher nur benutzt, um meine Mutter zu ärgern. Womit er unglaublichen Erfolg hatte. Übrig blieben die dummen Spitznamen, wenigstens zwischen ihm und mir.

»Sag es mir einfach«, wiederhole ich und versuche, nicht allzu gereizt zu klingen.

Ich schließe die Augen und sehe das gebräunte, zerfurchte Gesicht meines Vaters, der zu viel Zeit in der Sonne und auf seiner Harley verbracht hat. Als junger Mann trug er sein schwarzes Haar offen, es fiel ihm bis auf den Rücken. Ich habe das Gesicht meines Vaters eigentlich noch nie gesehen, denn seit jeher versteckt er es zum größten Teil hinter einem dichten, schwarzen Bart. Als ich ihm das letzte Mal begegnete, es ist Jahre her, waren sein Haupthaar und sein Bart schon fast grau. Er trägt ausschließlich Jeans, T-Shirt und Motorradstiefel. Seine Stimme klingt nach Whiskey und Zigaretten.

»Als ihr zwei hier ankamt, wart ihr noch Kinder«, sagt mein Vater, weil er weiß, dass er mir die Geschichte von Anfang an erzählen muss. »Ich konnte ihn von Beginn an nicht leiden. Er hatte so einen komischen Zug um die Augen.« Er stößt ein verärgertes Grunzen aus. »Ich fand es unerträglich, wie du ihn angehimmelt hast. Ich war eifersüchtig. Obwohl du damals das Gegenteil behauptet hast, wusste ich, dass du in der Klemme steckst. Ich habe dich im Stich gelassen, Kleines. Das tut mir bis heute leid.«

Ich höre zu und erinnere mich.

»Ich hätte mit dem Typen auf der Stelle kurzen Prozess machen sollen. Oder die Polizei rufen oder sonst was. Habe ich aber nicht. Das war immer schon mein größter Fehler als Elternteil: Ich wollte so was wie ein Freund für dich sein.«

Mein Vater hat mehrere schwere »Fehler als Elternteil« begangen, hauptsächlich durch Lügen und Vernachlässigung. Dass er mir ein Freund sein wollte, rangiert auf der langen Liste meiner Vorwürfe nicht besonders weit oben. Aber das sage ich ihm nicht.

»Ich habe dich für eine Weile bei mir versteckt. Ich wusste ja nicht, wie weit es schon gekommen war. Ich hatte ehrlich keine Ahnung.«

Im Hintergrund höre ich eine Polizeisirene jaulen. Jemand betritt hustend den Laden. Ich höre, wie mein Vater eine Hand über die Muschel legt und so etwas sagt wie: »Einen Moment, verdammt noch mal.«

»So ein Tattoo hattest du noch nicht gestochen, nicht davor und nicht danach«, drängle ich ungeduldig.

»Das stimmt«, sagt mein Vater schnell, »ich habe dem Arschloch eine Tätowierung verpasst. Einzigartig in der ganzen Welt. Seine Vorlage, meine Arbeit.«

»Unmöglich zu kopieren«, sage ich.

Er schnauft verächtlich. »Von keinem Tätowierer, der mir bekannt wäre. Und ich kenne sie alle. Es handelte sich um die Sorte Kunstwerk, wie ich es dir schenken wollte. Aber du hast abgelehnt.«

Das stimmt. Das Leben ist hart genug und verpasst uns genügend Narben – wozu sollte man seine Haut freiwillig Nadelstichen aussetzen? Auch ein Piercing konnte ich erfolgreich abwehren. Ich verstehe nicht, warum manche Menschen die Qualen genießen.

»Erzähl mir von dem Tattoo.«

Mein Vater seufzt, bevor er weiterredet, so als bereute er, sich auf das Gespräch eingelassen zu haben. »Etwas Ähnliches habe ich nie gesehen. Aus dem Grund wollte ich es stechen. Es war eine hübsche Vorlage. Eine stürmische See, Wellen, die sich an spitzen Klippen brechen, die aus dem Wasser ragen wie Haifischzähne – jede Menge Linien und Schattierungen, kleine, halb versteckte Objekte, sogar das Gesicht eines Mädchens. Dein Gesicht, Opie. Daran habe ich es wiedererkannt.«

Er braucht es nicht ausführlicher zu beschreiben; ich habe das Bild deutlich vor Augen. In meinen Träumen kommt es wieder und wieder zu mir zurück, und manchmal sogar, wenn ich wach bin.

»Und als sie dir das Foto gezeigt haben, hattest du absolut keine Zweifel.«

Schweigen. »Nein, Kleines. Absolut keine Zweifel.« Und dann fügt er hinzu: »Er ist tot, Opie.«

»Nenn mich Annie.«

Ich weiß, dass er den Namen Annie noch mehr hasst als Ophelia. Er hält ihn für gewöhnlich. Dabei ist er kaum gewöhnlicher als sein eigener Name, Teddy March. Alle nennen ihn »Bär«. Ich für meinen Teil würde meinen rechten Arm dafür geben, gewöhnlich zu sein.

»Er ist tot, Annie. Er wird dir nie wieder etwas antun. Dir nicht, und niemandem sonst. Er hat es damals nicht geschafft, dich umzubringen. Du hast gekämpft, und du hast gewonnen.« Ich liebe diese Worte; ich versuche, sie aufzusaugen und als wahr anzuerkennen. Ob er ein krankhafter Lügner ist oder nicht – er verfügt über einen siebten Sinn, wenn es darum geht, mich zu beruhigen.

»Kein Grund, dein Leben jetzt noch durch ihn bestimmen zu lassen«, redet er weiter. »Du schadest dir und Victory – und deinem Mann. Lass es hinter dir, Kleines.«

So sehen meine Rituale aus, die Dinge, die ich tun und hören muss, um mich zu trösten. Während der letzten Jahre habe ich zuverlässig darauf zurückgreifen können, um mich zu beruhigen, um mich der Sicherheit, in der ich heute lebe, zu vergewissern. Aber diesmal funktioniert es nicht; ich weiß selbst nicht, warum. Ich habe das Gefühl, Zeichen zu sehen, die außer mir niemand sieht: den Hund, der im Kreis rennt, weil er die Vibrationen des herannahenden Erdbebens spürt, oder den Krähenschwarm, der auf unserem Rasen landet. Ich sage mir, dass das alles nicht real ist, dass ich mir alles nur einbilde. Das ist natürlich das Allerschlimmste; vielleicht sollte ich wirklich einmal mit unserem Arzt sprechen.

Esperanza, Haushaltshilfe und Kindermädchen in einer Person, räumt den Geschirrspüler aus. Mit flinker, lautloser Effizienz verstaut sie Teller, Schüsseln und Besteck am richtigen Platz. Der Fernseher läuft, und auf dem Monitor ist wieder das Bild der toten Frau zu sehen, so als gäbe es keine anderen Nachrichten. Ich starre das Opfer unwillkürlich an, das strähnige Haar, die hervorstehenden Schlüsselbeine, die müden Augen. Irgendetwas an diesem Bild, möglicherweise ein Schulabschlussfoto, vermittelt den Eindruck, sie hätte gewusst, dass ein schreckliches Ende auf sie wartet, dass man irgendwann ihre verstümmelte Leiche im Wasser finden wird. Die Frau sieht hoffnungslos und verbittert aus.

»Schrecklich, nicht?«, sagt Esperanza, als sie mich bemerkt. Sie tippt sich an die Stirn. »Die Leute sind krank.«

Ich nicke. »Schrecklich«, stimme ich zu. Mit Mühe wende ich die Augen vom Fernseher ab und verlasse die Küche. Während ich die Treppe hochsteige, höre ich Esperanza vor sich hin summen.

Victory sitzt fröhlich oben in ihrem Zimmer und spielt. Sie wird sich noch eine Weile so beschäftigen, bevor sie meine Gesellschaft oder Aufmerksamkeit braucht. Im Moment ist sie ganz in ihrer eigenen Welt, die sie für ihre Puppen Claude und Isabel erschaffen hat. Für ihre Babys, wie sie sie nennt.

Wenn ich mich im Schlafzimmer aufhalte, kann ich sie übers Babyfon, das immer noch im Kinderzimmer steht, flüstern hören. Ihr nächtliches Atmen ist für mich wie ein süßes Schlaflied. Ich frage mich, wann sie mich bitten wird, das Ding aus ihrem Zimmer zu entfernen. Wie alt wird sie sein, wenn sie nicht länger möchte, dass ich jeden ihrer Atemzüge mitbekomme? Mom, wird sie sagen, kümmer dich um dein eigenes Leben.

Als ich sechzehn Jahre alt war, zog meine Mom mit mir von einer Sozialwohnung auf Manhattans Lower East Side in einen Wohnwagenpark in Florida; alles nur, um einem Mann näher zu sein, mit dem sie damals eine Affäre hatte. Monatelang schrieben sie sich glühend heiße Liebesbriefe, dick und in roter Tinte abgefasst, und hin und wieder gab es ein R-Gespräch, bei dem meine Mutter säuselte und sich den Hörer so dicht an den Mund hielt, dass ich fürchtete, sie würde ihn ablutschen. Nach ein paar tränenreichen Geständnissen und herzzerreißenden Versprechungen packten meine Mutter und ich unsere wenigen Habseligkeiten in den Kofferraum des braunen Chevy Citation, den wir für siebenhundert Dollar gekauft hatten, und brachen gen Süden auf, um ein neues Leben anzufangen.

»In Florida werden wir es besser haben«, erklärte meine Mutter bestimmt. »Da bekommen wir mehr für unser Geld. Und da unten ist es so schön!«

Ich beobachtete, wie die Lower East Side hinter der Autoscheibe vorbeiflog, und ich fragte mich, was in der Welt schöner sein könnte als New York City. Natürlich ist New York manchmal kalt und gefährlich – ein bedrohlicher Ort, einsam trotz der Menschenmengen. Aber die großartige Architektur, der Straßenlärm, die Energie, die von den Millionen von Menschen ausgeht, die ihrem Leben nachgehen – das Gefühl ist einfach unverwechselbar. Kein Ort der Welt hat diesen Herzschlag. Denkt man an die berühmten Schönheiten der Weltgeschichte – Cleopatra, die Mona Lisa, Ava Gardner –, muss man feststellen, dass keine von ihnen auf die billige, durchschnittliche Art schön war, die heute als »umwerfend« gilt. Sie waren schön, weil ihre Einzigartigkeit von innen heraus strahlte, und ihre Gesichtszüge hätten an einem anderen Menschen vielleicht sogar hässlich gewirkt. Wenn man nicht weiß, worauf man in dieser Stadt achten muss – auf die versteckten Gassen und die winzigen, malerischen Seitenstraßen, auf ihre Schlitzohrigkeit, ihr pulsierendes Nachtleben –, dann fühlt man sich von ihr vielleicht eingeschüchtert oder gar von den vielen Gerüchen und Geräuschen abgeschreckt. Womöglich wendet man sich ab, weil die Stadt so laut und hochmütig daherkommt. Selbst schuld!

Ich hatte gedacht, dass mein Vater einen größeren Aufstand machen würde, als meine Mutter mich einpackte und mitnahm. Aber anscheinend war er der Überzeugung, ein Tapetenwechsel täte mir gut. In der Schule hatte ich wegen Ungehorsam, Unpünktlichkeit und Schwänzen schon einigen Ärger bekommen. Einem Mädchen mit dermaßen nachlässigen Eltern hatte die Stadt einfach zu viele Verlockungen zu bieten. Jedenfalls standen meine Bedürfnisse beim Entscheidungsfindungsprozess meiner Eltern an letzter Stelle. Meine Mutter ließ sich ausschließlich von männlicher Aufmerksamkeit motivieren. Mein Vater liebte nichts so sehr wie seine Kunst. Ich passte irgendwo dazwischen; ich will nicht behaupten, sie hätten mich nicht geliebt.

»Keine Sorge, Kleines. Florida ist nur einen Katzensprung entfernt«, sagte mein Vater, als ich mich an seiner Schulter ausweinte.

Dabei war er kein einziges Mal nach Florida gekommen, um mich zu besuchen. Und ich sah ihn erst wieder, als ich zwei Jahre später von zu Hause weglief. Aber ich greife zu weit vor.

Wir zogen also in einen Wohnwagenpark, und meine Mutter suchte sich in einem nur wenige Straßen entfernten Diner einen Job als Kellnerin. Das war auch besser so, schließlich war der Kühler unseres Chevy auf dem Weg nach Florida dreimal übergekocht und hatte bei der Ankunft den Geist aufgegeben.

»Tja, nichts geschieht ohne Grund«, sagte meine Mutter mit dem für sie typischen, hirnlosen Optimismus, als der Motor sich stotternd verabschiedete. »Wenigstens haben wir alles, was wir brauchen, in der Nähe. Im Notfall können wir ein Taxi rufen. Und zu Frank fahre ich mit dem Bus. Außerdem sparen wir so die Benzin- und Versicherungskosten.« Falls tatsächlich irgendeine Frau mit noch weniger Grund zu einer positiven Lebenseinstellung existierte, ich hätte ihr nicht begegnen wollen. Bei meiner Mutter lief einfach alles schief. Falls es für die Missgeschicke, die ihr zustießen, einen Grund gab, habe ich ihn nie erfahren.

Zum Beispiel der Mann, dessentwegen wir nach Florida gezogen waren. Er war schon in Ordnung, eher still und bei unseren Begegnungen ganz nett zu mir. Aber es gab da ein Problem: Er war ein verurteilter Mörder und Vergewaltiger, der im Staatsgefängnis auf seine Hinrichtung wartete. Meine Mutter hatte ihn bei einer Briefaktion ihrer Kirchengemeinde »kennengelernt«. Ziel der Aktion war gewesen, den verlorenen Seelen in der Todeszelle das Wort Gottes näherzubringen, sie zu »erretten«, bevor sie für ihre auf Erden verübten Taten bestraft würden. Ganz offensichtlich war meine Mutter beim »Erretten« zu weit gegangen.

Unseren ersten August in Florida werde ich nie vergessen. Ich wusste bis dahin nicht, dass es dermaßen heiß werden kann. Die schwüle Hitze fühlte sich auf meiner Haut wie ein feuchter Film an, sie kroch mir bis in die Lunge. Heftige Gewitter erhellten den Himmel stundenlang, und der Regen verwandelte die Straße vor dem Wohnwagenpark in einen reißenden Wildbach. Und die heimischen Riesenschaben ließen die New Yorker Kakerlaken wie Marienkäfer aussehen. Mit Florida konnte ich mich nur anfreunden, weil manchmal ein Vollmond über den sich wiegenden Palmen hing und die Luft nach Orangenblüten duftete. Aber alles in allem betrachtet lebten wir in einem Dreckloch. Ich hasste es, und ich hasste meine Mutter, weil sie uns hergebracht hatte.

Das Florida, das ich heute mit Gray und Victory bewohne, ist ganz anders. Wir leben im Florida der Reichen, einem Ort mit blitzenden Cabriolets und palastähnlichen Villen, mit Meerblick, weißen Sandstränden, Margaritas und Musik von Jimmy Buffett. Mit Klimaanlagen und frisch gestärkten Golfhemden, die locker über den Khakishorts hängen; mit Tagen im Country Club und Fünfzehn-Meter-Yachten. Um ehrlich zu sein, verabscheue ich dieses Florida nicht weniger. Es ist so verlogen, so geschmacklos, so neureich und so stolz auf seine silikonverstärkten, wasserstoffblondierten Barbiefrauen.

Jederzeit würde ich alles für Beton und Straßenlärm eintauschen. Für gelbe Taxis und Hotdog-Stände. Für beinamputierte Obdachlose, die sich auf Rollbrettern durch die U-Bahn-Waggons schieben und mit selbstgerechter Gelassenheit ihre Blechbüchsen voller Münzen schütteln.

Darüber denke ich nach, während ich neben dem Bett auf dem Boden sitze und die Unterseite der Matratze abtaste. Ich habe ein großes Loch hineingeschnitten. Darin bewahre ich Sachen auf, die weder Gray noch meinem Therapeuten gefallen würden. Sie würden es nicht verstehen. Ich taste herum und kann zunächst nichts finden. Vielleicht hat Gray sie entdeckt, denke ich in einem Anflug von Panik. Vielleicht hat er sie versteckt, um zu sehen, wie lange es dauern würde, bis ich sie vermisse. Aber dann streichen meine Finger über die glatte, kalte Oberfläche eines Gegenstands, und eine Welle der Erleichterung durchflutet mich.

»Mommy!«, flüstert Victory durchs Babyfon. Ich kann sie hören, sie mich jedoch nicht, was sie auch weiß. »Mommy«, sagt sie, lauter diesmal. »Komm in mein Zimmer. Da steht ein komischer Mann auf unserem Strand.«

Ich sprinte los, noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hat. In meiner Panik scheint sich der Flur endlos auszudehnen und immer länger zu werden, aber als ich endlich die Tür zu ihrem Zimmer aufstoße, erschreckt und atemlos, kann ich auf unserem Strandabschnitt niemanden entdecken. Hinter Victorys Kinderzimmerfenster sehe ich nichts als den launischen, schwarzgrau bewölkten Himmel und das dunkelgrüne Meer mit weißen Schaumkronen.

Wir wohnen am Ende eines lang gezogenen Sandstrands, direkt neben einem Naturschutzgebiet. Etwa fünf weitere Häuser liegen in der direkten Umgebung, drei davon stehen die meiste Zeit des Jahres leer. Sie werden als Wochenend- und Winterhäuser genutzt. Im Grunde genommen sind wir hier mit den Fisch- und den Schmuckreihern, den wilden Papageien und nistenden Wasserschildkröten allein. Abgesehen vom Meer und den Möwen ist es still. In der Touristensaison gehen Leute am Strand spazieren, aber die wenigsten halten sich länger als nötig hier auf, befinden sich doch alle Bars, Restaurants und Hotels über einen Kilometer weiter südlich.

»Wo, Victory?«, frage ich viel zu laut. Sie hat sich längst wieder ihren Puppen zugewandt. Sie feiern eine Teeparty. Victory schaut vom Spiel auf und studiert meinen Gesichtsausdruck, weil sie meine Stimmlage nicht einordnen kann. Ich versuche, nicht verängstigt auszusehen, was mir auch beinahe gelingt. Victory kommt ans Fenster und zuckt die Achseln.

»Weg«, sagt sie beiläufig, geht zu ihren Puppen zurück und setzt sich wieder auf den Boden.

»Was hat er gemacht?«, frage ich, während mein Blick die hohen Gräser und den Strandhafer absucht, der unser Grundstück vom Ufer trennt. Ich kann keine Bewegung erkennen, aber ich stelle mir vor, wie jemand auf unser Haus zuschleicht. Wir würden ihn erst bemerken, wenn er auf dem Pooldeck steht. In letzter Zeit haben wir bei den Schutzmaßnahmen nachgelassen und uns in falscher Sicherheit gewiegt. Ich hätte es besser wissen müssen.

»Er hat beobachtet«, sagt sie. Mein Herz bleibt fast stehen.

»Das Haus, Victory?«

Victory betrachtet mich und legt den Kopf schief. »Nein. Die Vögel. Er hat die Vögel beobachtet.«

Victory macht sich daran, kleine Phantasieteetassen zu füllen. Esperanza steht immer noch unten in der Küche und summt. Auf dem Strand ist niemand zu sehen. Die Sonne bricht durch die Wolken und taucht alles in goldfarbenes Licht. Ich sehe ein, dass es an der Zeit ist, meinen Psychiater anzurufen.

VIER

Ein paar Monate, nachdem meine Mutter und ich nach Florida gezogen waren und ich mich an der neuen Schule einigermaßen eingelebt hatte, fing das komische Verhalten meiner Mutter an. Ihre manisch-depressiven Hochs und Tiefs wurden von einem Gleichmut abgelöst, den ich seltsam und fast ein bisschen gruselig fand.

Die Veränderung ging schleichend vor sich. Zunächst fiel mir auf, dass meine Mutter kein Make-up mehr benutzte. Sie war eine hübsche Frau mit einer guten Figur und langem, seidigem Haar. Ihre Wimpern und Brauen waren genauso blond wie ihr Haar und ohne Mascara und Augenbrauenstift praktisch unsichtbar. Wenn meine Mutter kein Make-up trug, wirkte sie müde und erschöpft. Auf ihr Aussehen hatte sie immer sehr großen Wert gelegt. »Schönheit ist Macht«, pflegte sie zu sagen, auch wenn ich dafür niemals Beweise sah.

Eines Samstagmorgens saßen wir in der Küche. Ich aß Cornflakes und schaute Zeichentrickfilme, die in dem kleinen Schwarzweißfernseher auf dem Küchentresen liefen. Meine Mutter war dabei, sich auf ihre Mittagsschicht im Diner vorzubereiten. Die altmodische, ins Wohnwagenfenster eingebaute Klimaanlage gab in der Augusthitze ihr Bestes, trotzdem standen mir Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe.

Ich betrachtete meine Mutter, die sich ihre Tasche umgehängt hatte, am Tresen lehnte und Kaffee aus einem roten Becher trank. Sie starrte geistesabwesend in die Luft, als wäre sie woanders.

»Mom, willst du dich nicht ›anmalen‹?«, fragte ich, wobei ich ihre saloppe Ausdrucksweise boshaft imitierte.

»Nein«, sagte sie verträumt. »Ich trage kein Make-up mehr.«

»Warum nicht?«

»Weil es billig ist. Frank findet, dass ich damit wie eine Nutte aussehe.«

Bei diesen Worten krampfte sich mein Magen zusammen, obwohl ich damals nicht hätte erklären können, warum.

»Das hat er gesagt?«

Sie nickte. »Er hat gesagt, er kann nachts nicht mehr schlafen bei dem Gedanken, dass ich so rumlaufe, dass andere Männer mir nachstarren und denken, ich sei billig zu haben. Er hat gesagt, ich solle mein Gesicht so zeigen, wie Gott es gemacht hat. Und er hat recht.«

Ich war sprachlos. Und obwohl ich erst sechzehn, inzwischen fast siebzehn Jahre alt war, spürte ich, dass diese Einstellung viel zu verkorkst war, als dass sich eine Diskussion gelohnt hätte.

»Mom«, sagte ich schließlich, »das ist Quatsch.«

»Hüte deine Zunge, Ophelia«, keifte meine Mutter und warf mir einen strengen Blick zu. »Zu dieser Ausdrucksweise habe ich dich nicht erzogen. Wenn Frank nach Hause kommt, wird es so was nicht mehr geben.«

Nach einer Weile wandte sie sich ab und starrte aus dem Fenster, als erwartete sie jemanden.

»Mom, Frank sitzt in der Todeszelle«, sagte ich ruhig. »Er kommt nicht nach Hause.«

Sie fuhr herum und funkelte mich böse an. »Sag das nicht.«

»So ist es aber, Mom. Das weißt du selbst.«

»Ophelia, du hast keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnete sie und hob die Stimme. »Es gibt neue Indizien, die beweisen werden, dass Frank auf keinen Fall getan haben kann, was man ihm vorwirft. Er ist unschuldig. Gott wird nicht zulassen, dass ein unschuldiger Mann für Verbrechen hingerichtet wird, die er nicht begangen hat.«

Ihre Stimme klang schrill, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie knallte den leeren Kaffeebecher auf den Tresen und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.

Über diesen Moment haben mein Psychiater und ich mindestens hundert Mal geredet. Über den Moment, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass mit meiner Mutter ernsthaft etwas nicht stimmte.

»Wie haben Sie sich an jenem Morgen gefühlt, nachdem sie gegangen war?«

»Krank«, sage ich. »Erschreckt.«

»Warum?«

»Weil sie so ... anders war. Und ich wollte nicht, dass Frank ›nach Hause‹ kommt. Ich dachte mir, dass sie lediglich eine Phase durchmachte, dass die Beziehung in die Brüche gehen würde wie alle anderen davor auch, und dass wir nach New York zurückziehen würden.«

»Hatten Sie Angst vor ihm?«

Die Frage erscheint mir dumm. »Er war ein verurteilter Mörder und Vergewaltiger«, antworte ich langsam. Mein Therapeut nickt höflich, aber er sagt nichts und wartet darauf, dass ich weiterrede. Als ich schweige, sagt er: »Ihre Mutter hielt ihn für unschuldig. Wäre das nicht möglich gewesen? Unzählige Menschen sind für Verbrechen verurteilt worden, die sie nicht begangen haben.« Den Anwalt des Teufels spielt er jetzt nur, um mich zur Verteidigung meines Standpunkts zu bewegen. Ich finde das nicht hilfreich, sondern ärgerlich.

»Meine Mutter hielt ihn für unschuldig, ja«, sage ich. Ich erinnere mich an jene seltsamen Besuche im Gefängnis, bei denen sie ihre Hände an die trennende Glasscheibe legten, bis irgendein Wärter sie anschnauzte, das zu unterlassen. Ich erinnere mich, wie er mich anschaute und sich nach der Schule erkundigte. Ich erinnere mich an seinen kühlen Blick und die sanfte Stimme. Irgendetwas an ihm weckte in mir den Wunsch, schreiend wegzurennen. »Seine Augen wirkten seltsam tot«, sage ich. »Selbst wenn er lächelte, hat irgendetwas ... gefehlt. Und dann diese Veränderungen bei meiner Mutter. Wenn er einen solchen Einfluss auf sie nehmen konnte, obwohl er hinter Gittern saß – wie würde es dann erst werden, wenn er bei uns einzog?«

Mein Arzt schweigt eine Weile.

»Was glauben Sie, was Sie zu jenem Zeitpunkt hätten tun können, um den Verlauf der Dinge zu ändern?«, fragt er schließlich.

Mein Einsatz. Irgendetwas war an diesem Morgen im Wohnwagen mit meiner Mutter passiert. Ich bin vollkommen überzeugt, dass es der letzte Moment war, an dem ich noch hätte eingreifen können. Ich hätte meiner Mutter nachlaufen und sie fragen müssen, wovon sie redete. Wenn ich ihr gesagt hätte, dass ich mich krank vor Angst fühlte, dass Frank in der Tat schuldig war und dass er nicht, niemals und unter keinen Umständen, bei uns einziehen konnte – dann hätte sie vielleicht auf mich gehört. Das sage ich meinem Therapeuten.

»Aber glauben Sie wirklich, Ihre Mutter hätte auf Sie gehört, Annie?«

»Das werde ich vermutlich nie erfahren.«

Er lässt die Worte im Raum stehen. Wir haben sie beide schon so oft gehört. Trotzdem schaffe ich es nicht, mich mit ihnen anzufreunden.

»Was haben Sie stattdessen getan?«, fragt er.

»Ich habe meine Cornflakes aufgegessen und weiter ferngesehen. Ich habe mir gesagt, sie spinnt, sie ist eine Idiotin. Ich habe den Gedanken verdrängt.«

»Darin sind Sie gut.«

»Im Verdrängen? O ja!«

Das Sprechzimmer meines Therapeuten ist ungemütlich. Das Sofa mit dem Chenilleüberzug ist weich, aber billig, und es scheint mich eher abzustoßen als einzuladen. Es ist so kalt wie in einem Kühlschrank, so wie in den meisten Innenräumen in Florida. Trotz der Tropenhitze draußen habe ich eine eiskalte Nasenspitze. Ich kann das Sonnenlicht auf dem warmen, grünen Wasser des Kanals funkeln sehen.

Anstatt mich auf dem Sofa auszustrecken, hocke ich im Schneidersitz in einer Ecke. Bei meinem ersten Besuch hat mein Therapeut mich darauf hingewiesen, dass ich mich hinlegen könne, falls mir das bequemer erscheine. Ich lehnte sofort ab. Er sitzt mir gegenüber, in einem riesigen Sessel, den er mühelos ausfüllt, zwischen uns steht ein mit Kunstbänden beladener Sofatisch – Picasso, Rembrandt, Georgia O’Keeffe. Der Raum gibt sich größte Mühe, wie ein Wohnzimmer zu wirken und nicht wie eine Arztpraxis. Alles hier ist Imitat – der Tisch, die Bücherregale, der Schreibtisch sind allesamt mit billigem Furnier verkleidet. Die Sorte Möbel, die in einer Kiste angeliefert werden, ein Haufen Bretter, ein Säckchen Schrauben und dazu eine unverständliche Montageanleitung. Die Einrichtung wirkt provisorisch und nicht besonders einladend. Ich überlege mir, dass die Möbel meines Therapeuten aus Eichenholz sein sollten, aus einem schweren, kostbaren Material. Und draußen vor dem Fenster sollte ein stürmischer Herbsttag in Neuengland sein, mit wirbelndem Laub und einem Hauch von Schnee in der Luft. Mein Therapeut sollte eine Strickweste tragen, am besten in Braun.

Er macht sich keine Notizen; nie hat er unsere Sitzungen aufgezeichnet. Ich habe darauf bestanden. Ich will nicht, dass meine Gedanken irgendwo dokumentiert sind. Er fand das in Ordnung und versicherte, alles Erforderliche zu tun, damit ich mich wohlfühle. Ich habe mich aber schon öfter gefragt, ob er sich Gesprächsnotizen macht, sobald ich gegangen bin. Er scheint sich immer lückenlos an alle angesprochenen Themen zu erinnern.

Obwohl ich ihm viel von mir offenbare, habe ich eine Menge Geheimnisse vor ihm. Seit Vivian ihn mir vor einem Jahr empfohlen hat, besuche ich ihn in unregelmäßigen Abständen. (Er ist ein Freund von Martha, hatte Vivian gesagt. Martha, du erinnerst dich doch? Die Wohltätigkeitsveranstaltung im letzten August? Macht nichts, angeblich ist er wun-der-voll.) Während der Sitzungen sage ich die Wahrheit über meine Gefühle, aber ich habe die Namen der Hauptdarsteller in meiner Geschichte verändert. Es gibt zu viel, das er nicht wissen darf.

»Annie«, fragt er, »warum stehen wir wieder an diesem Punkt?«

Ich reibe mir die Augen mit aller Kraft, wie um meine Anspannung wegzumassieren. »Weil ich seine Nähe fühlen kann.«

Ich hebe den Kopf und begegne seinem freundlichen, warmen Blick. Sein Aussehen gefällt mir, selbst wenn er keine braune Strickweste trägt, ein alter Mann mit weißgrauem Haar und einem sonnengebräunten, runzeligen Gesicht, das mich an einen alten Baseballhandschuh erinnert – auf positive Art. Er trägt Chinos und ein glattes Baumwollhemd, dazu Leinenschuhe. Er sieht nicht wie ein Therapeut aus, eher wie ein Lieblingsonkel oder ein netter Nachbar, mit dem man am Briefkasten steht und plaudert.

»Sie fühlen seine Nähe nicht, Annie«, sagt er mit sanfter, entschiedener Stimme. »Sie denken, es wäre so, aber Sie irren sich. Achten Sie genau auf Ihre Wortwahl. Nennen Sie die Dinge beim Namen. Sie erleben eine Gefühlsschwankung, eine Panikattacke, was auch immer. Bilden Sie sich keine übersinnlichen Antennen ein, die Ihnen anzeigen, dass ein Toter Sie verfolgt.«

Ich nicke. Ich weiß, dass er recht hat.

»Warum ist es so schwer?«, frage ich. »Es fühlt sich so echt an. Es ist schlimmer als je zuvor.«

»Was für ein Tag ist heute?«, fragt er. Ich überlege und sage es ihm. Dann merke ich, worauf er hinauswill. Ich schüttle den Kopf.

»Das ist es nicht.«

»Sind Sie sicher?«

Ich antworte nicht, denn natürlich bin ich mir nicht sicher. Ich weiß gar nichts mehr. Vielleicht hat er recht. »Aber ich kann mich an nichts erinnern.«

»Ein Teil von Ihnen erinnert sich. Obwohl Ihr Bewusstsein sich weigert, gewisse Ereignisse ans Licht kommen zu lassen, lebt die Erinnerung in Ihnen weiter. Diese Erinnerung will wahrgenommen, zugelassen und akzeptiert werden. Sie wird jede erdenkliche Gelegenheit nützen, um sich bemerkbar zu machen. Ich denke, dass Ihnen alles wieder einfallen wird, sobald Sie stark genug für die Konfrontation sind. Annie, seit unserem ersten Treffen haben Sie an Stärke dazugewonnen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich den Dämonen zu stellen. Vielleicht sind Ihre Gefühle deswegen so stark.«

Wenn ich ihn so ansehe, möchte ich fast glauben, dass ich es schaffen kann, in die dunklen Abgründe meiner Seele hinabzusteigen und den Kampf gegen den unbekannten Gegner aufzunehmen, der sich dort versteckt.

»Er ist tot, Annie. Aber er wird weiterleben, solange Sie sich nicht mit der Erinnerung an das auseinandersetzen, was er Ihnen angetan hat. Sie werden sich immer wieder einbilden, dass er hinter Ihnen her ist. Sie werden niemals frei sein.«

Etwas Ähnliches hat mir mein Vater gesagt, und Gray ebenfalls. Auf der intellektuellen Ebene weiß ich, dass sie recht haben. Aber mein Herz und mein Blut sagen mir etwas anderes. Es ist wie bei der Gazelle in der Serengeti und der Maus am Waldboden. Ich bin die Beute. Ich kenne meinen Platz in der Nahrungskette, und ich muss auf jede Witterung und jeden Schatten achten.

FÜNF

Ich kauere in meiner Kabine; wenn die Tür aufschwingt, werde ich dahinter versteckt hocken. Meine Atmung hat sich verlangsamt, und meine Beine schmerzen, weil ich meine Position scheinbar seit Stunden nicht verändert habe. Ich höre das Dröhnen der Schiffsmotoren und sonst nichts. Ich beginne mich zu fragen, ob an Deck vielleicht alles in bester Ordnung ist? Ich sage mir, dass es da draußen möglicherweise gar kein zweites Schiff gibt. Eine nächtliche Sinnestäuschung vielleicht, oder meine paranoide Vorstellung, oder eine Kombination aus beidem. Ich bin noch dabei, mich mit dem Gedanken anzufreunden, als es an meine Tür klopft. Das Geräusch erschreckt mich so sehr, dass ich hochfahre und mir an der Wand, an der ich lehne, den Kopf stoße.

»Annie?« Eine gedämpfte Männerstimme. »Sind Sie da drin?«

Ich erkenne den australischen Akzent wieder; der Mann gehört zu der Truppe, die zu meinem Schutz angeheuert wurde. Ich öffne ihm die Tür. Sofort fällt sein Blick auf die Waffe in meinem Hosenbund. Er nickt kurz und scheint zufrieden.

»Wir werden von einem Schiff verfolgt«, sagt er. Er hat wache Augen und einen muskelbepackten Körper. Ich versuche, mich an seinen Namen zu erinnern. Alle diese Männer tragen knappe, zackige Namen, die wie Faustschläge klingen. Ich glaube, er hat sich als Dax vorgestellt. Richtig, Dax. »Könnte sich um ein Fischerboot handeln, um Wilderer – oder sogar um Piraten. Wir haben einen Gruß losgeschickt, aber sie haben nicht reagiert.«