Die treue Freundin - Lisa Unger - E-Book
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Die treue Freundin E-Book

Lisa Unger

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Beschreibung

Als Zwölfjährige entkam Rain Winter nur knapp einem grausamen Entführer, der danach selbst Opfer eines kaltblütigen Mordes wurde. Viele Jahre später - Rain arbeitet inzwischen als Journalistin - stößt sie auf einen rätselhaften Fall, der auffällige Parallelen zu dem Mord an ihrem Entführer aufweist. Am Tatort hinterließ der Mörder ein rotes Kristallherz, das Rain allzu bekannt vorkommt - und auf einmal ist das dunkelste Kapitel ihrer Kindheit wieder beängstigend nah ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMottoGestern Nacht1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344Sechs Monate Später4546Danksagung

Über das Buch

Als Zwölfjährige entkam Rain Winter nur knapp einem grausamen Entführer, der danach selbst Opfer eines kaltblütigen Mordes wurde. Viele Jahre später – Rain arbeitet inzwischen als Journalistin – stößt sie auf einen rätselhaften Fall, der auffällige Parallelen zu dem Mord an ihrem Entführer aufweist. Am Tatort hinterließ der Mörder ein rotes Kristallherz, das Rain allzu bekannt vorkommt – und auf einmal ist das dunkelste Kapitel ihrer Kindheit wieder beängstigend nah …

Über die Autorin

Lisa Unger ist eine amerikanische Thrillerautorin, deren Romane es in ihrem Heimatland regelmäßig auf die Bestsellerliste schaffen und vielfach begeistert besprochen werden. Auch international kann die Autorin mit ihren Thrillern große Erfolge verzeichnen, ihre Bücher erscheinen in 26 Sprachen, werden millionenfach gelesen und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Lisa Unger lebt mit ihrer Familie an der Westküste Floridas.

LISA UNGER

DIE            TREUEFREUNDIN

                                            Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Anke Angela Grube

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2019 by Lisa Unger

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Stranger Inside«

Originalverlag: Park Row Books, New York

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze

Umschlagmotive: © Trevillion Images: Magdalena Wasiczek

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-9447-4

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

In liebender Erinnerungan meine wunderbare Großmutter

MILLIE MISCIONE

 

und meine großartigeliebe Agentin und Freundin

ELAINE MARKSON

 

»Denn was ist das Böse anderes als das Gute,

von seinem eigenen Hunger und Durst gequält?«

Khalil Gibran, Der Prophet

Gestern Nacht

Ich warte, weil ich nichts habe außer Zeit.

Vom ruhigen, dunklen Innenraum meines Autos aus beobachte ich die ruhige Nachbarschaft, drücke mich tiefer ins Polster. Herbst. Laub segelt durch die kühle Luft. Geschmacklose, gruselige Halloween-Dekorationen schmücken die Veranden und Rasenflächen, hängen von Bäumen – Skelette und Kürbislaternen, Hexen auf Besenstielen. Morgen ist Schule, also spielen keine Kinder Fangen mit Taschenlampen, kein spontanes Fußballmatch auf der Straße. Vielleicht machen Kinder das auch gar nicht mehr. Habe ich jedenfalls gehört. Sie sind jetzt alle iPad-abhängige Stubenhocker. Das ist die »neue Grenze« der Erziehung. Aber das wirst du besser wissen, als ich es vermutlich je tun werde.

In dieser Straße leben jüngere Familien. SUVs wurden eilig abgestellt, Basketball-Netze hängen in den Auffahrten, Fahrräder wurden auf den Rasen geworfen. Mittwochs warten die Wertstoff-Tonnen geduldig am Straßenrand, der Restmüll wird am Freitag abgeholt. Heute läuft ein Footballspiel. Ich kann es parallel auf drei Großbildfernsehern in drei verschiedenen einsehbaren Wohnzimmern verfolgen.

Doch das Haus, das ich beobachte, liegt im Dunkeln. Ein schöner silberfarbener Benz, der bald zwangsversteigert werden wird, steht in der Einfahrt. Es ist eins von diesen Autos – ein Traumwagen, ein Wagen für Aufsteiger, den man sich anschafft, wenn … Aber er hat seinem Besitzer ganz sicher kein Glück gebracht. Der Typ, den ich beobachte – er ist deprimiert. Ich erkenne es an seiner gebeugten Haltung, wenn er das Haus betritt oder verlässt, an den dunklen Ringen unter seinen Augen, dem gehetzten Blick.

Ich kann kein Mitgefühl für ihn aufbringen. Und ich weiß, dass auch du keine Träne um ihn vergießt. Ich würde wetten, dass du fast so häufig an ihn gedacht hast wie ich – obwohl du jetzt natürlich anderes im Kopf hast.

Ein älterer Mann führt seinen Hund spazieren, eine weiße Flauschkugel an einer dünnen Leine. Eigentlich überhaupt kein Hund, eher ein übergroßes Meerschweinchen. Ich lasse mich etwas tiefer in den Sitz sinken und bleibe reglos wie ein Stein. Den Mann habe ich in dieser Straße noch nie gesehen, und ich verbringe schon seit einer ganzen Weile die meisten Abende und Nächte hier. Er ist von seiner Routine abgewichen, hat vermutlich beschlossen, heute mal einen anderen Weg zu nehmen. Allzu große Sorgen mache ich mir aber nicht. Mein beiger Toyota Corolla ist absolut unauffällig, praktisch unsichtbar, so verbreitet ist das Modell, und die Fenster sind getönt (aber nicht zu dunkel). Solange er mich nicht sieht, eine einsame Gestalt auf dem Fahrersitz, die offensichtlich nichts Gutes im Schilde führt, wird der Wagen ihm überhaupt nicht auffallen.

Ich habe Glück. Er starrt auf das Display seines Handys. Er ist schon älter, nicht damit aufgewachsen, es erfordert also seine ganze Konzentration. Dieses Gerät ist wirklich das Beste, was Leuten passieren konnte, die unsichtbar bleiben wollen. Er geht direkt an mir vorbei, ohne auf das Auto, mich oder überhaupt auf seine Umgebung zu achten. Sogar der Hund ist abgelenkt, nicht neugierig, hat die Nase dicht am Boden. Schnüffel, schnüffel, schnüffel. Endlich sind sie weg, und ich bin wieder allein.

Die Zeit vergeht. Ich atme in die Nacht.

Hinter einem Fenster nach dem anderen wird es dunkel, nur ein paar wenige Lampen brennen noch. In Nummer 704 wohnt ein Schlafloser und in Nummer 708 eine Krankenschwester, die mittwochs und freitags gegen drei Uhr nachts nach Hause kommt.

Kurz nach zwei steige ich aus, schließe leise die Autotür und schultere meinen Rucksack. Ich bin ein Schatten, der durch die Schatten der Bäume gleitet und lautlos zum Haus huscht. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, das Schloss am Seiteneingang aufzubrechen – heutzutage kann jeder auf YouTube lernen, wie alles Mögliche geht. Ich betrete das Haus durch die unverschlossene Innentür. Aus der Garage in die Waschküche. Aus der Waschküche in die Küche – ein typischer Grundriss in den Vororten. Ich verharre einen Moment und lausche.

Ich habe sie immer noch im Ohr, weißt du, die Schreie ihres Vaters.

Ich würde wetten, dass es dir ebenso geht. Vielleicht hörst du in ruhigen Momenten, wenn du nachts im Bett liegst, wieder sein verzweifeltes Wehklagen. Ich stelle mir vor, wie deine Gedanken in den Gerichtssaal zurückschweifen. Dein Gesicht war angespannt, diese hilflose Mischung aus Wut und Trauer, die Nasenflügel bebten ganz leicht. Ich war auch da, obwohl du mich nicht bemerkt hast. Oder vielleicht doch. Manchmal frage ich mich, ob du weißt, wie nahe ich dir bin. Ob du mich spüren kannst.

Als das Urteil verkündet wurde, gab es diesen Moment, weißt du noch? Eine winzige Zeitspanne, in der die Information durch die Synapsen und Neuronen lief, einen Herzschlag lang, einen Atemzug. Ich sah, wie das bisschen Energie und Farbe, das ihr geblieben war, aus dem ausgemergelten Körper ihrer Mutter wich. Ich sah, wie ihr Vater zusammensackte, wie ihr Bruder das Gesicht in den Händen vergrub. Das gnadenlose Licht im Gerichtssaal, dieses hässliche weiße Sirren, wurde irgendwie noch greller. Und dann brach ein Tumult aus, Ausrufe und Schreie mit allen Nuancen von Verzweiflung, Ungläubigkeit, Wut. Ich hatte schon früher Ungerechtigkeit erlebt, wie du auch. Du kennst es, wenn sie wie Rauch aus den schwarzen Höhlen zwischen Tischen und Stühlen aufsteigt. Sie erhebt sich, groß und bedrohlich. Ich war schon immer da, scheint sie zu sagen, während sie über dir aufragt, riesenhaft, siegreich. Es bringt einen auf die Knie. In der Gegenwart von nichts sonst fühlt man sich kleiner oder machtloser.

Wenn wir jung sind, sind wir naiv genug, an Gerechtigkeit zu glauben. Wir werden dazu erzogen, an ein Ideal wie aus dem Comic-Heft zu glauben, in dem das Gute das Böse besiegt. Wir glauben, dass weiße Magie stärker ist als schwarze. Dass Verbrecher ihre Strafe erhalten und die Justiz stets gerechte Urteile fällt. Selbst wenn es scheint, als würde das Böse triumphieren – nein. Im letzten Moment sorgt eine kosmische Kraft auf die eine oder andere Art für den Sieg des Guten. Das wollen wir so gern glauben.

Aber so ist es nicht immer. Manchmal braucht es einen kleinen Schubs, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.

Ich mache einen schnellen Rundgang durch das Haus, um sicherzustellen, dass alles so ist wie beim letzten Mal, als ich hier war. Die Einrichtung ist von Target, IKEA-Chic, weiß und taubengrau, markante Muster setzen Akzente. Es gibt eine Menge dieser Fotocollagen mit Wörtern wie LIEBE und TRAUM und FAMILIE. Ihre Eltern, lächelnd und wohlwollend, ihre Hochzeitsfotos – ein hauchdünner Schleier, ein Märchentraum –, eine Schar Nichten und Neffen mit Zahnlücken, ein Mädelsabend, Anstoßen mit rosa Drinks in Martini-Gläsern. Drei Kissen und weiche Wolldecken, Schnickschnack, dekorative Treibholz-Stücke, kunstvoll arrangiert. Sie war stolz auf ihr Heim, die Frau, die hier mal gelebt hat. Sie mochte es, wenn alles schön und gemütlich war. Jetzt ist alles von einer Staubschicht bedeckt. Ihr Zuhause riecht wie eine Müllkippe.

Als ich meinen Rundgang beende, verspüre ich einen Anflug von Traurigkeit ihretwegen. Sie war eine Frau, die alles richtig gemacht hatte. Sie befolgte alle Regeln, ging aufs College, bekam eine Stelle im Public-Relations-Bereich, heiratete, wurde schwanger. Hübsch war sie, und, allen Berichten zufolge, reizend und freundlich. Und siehe da. Ihr entzückendes Zuhause, ihre kleinen Träume, ihr unschuldiges Leben – alles leer, verrottend. Sie hätte etwas Besseres verdient.

Daran kann ich nichts ändern. Aber das hier ist das Zweitbeste.

Ich weiß, was du denkst. Was jeder denken würde. Wer bin ich, dass ich sagen könnte, ein Mann, der von zwölf Geschworenen für unschuldig befunden wurde, ist eindeutig schuldig? Und selbst wenn er schuldig ist, wer bin ich, dass ich der Vollstrecker seiner gerechten Strafe sein könnte?

Es ist wahr. Ich bin niemand. Aber ich wusste es.

Als Laney Markham als vermisst gemeldet wurde, hatte ich sofort ihren ach-so-gut-aussehenden Mann im Verdacht. Denn machen wir uns nichts vor: Dass ein Verbrechen von einem Fremdtäter begangen wird, ist eine statistische Anomalie. (Wir hätten beide ein, zwei Dinge zu dem Thema beizusteuern, nicht wahr? Aber statistisch gesehen stimmt es, da wirst du mir sicher beipflichten.) Die Vorstellung des Anderen, des Fremden, des Zerstörers, der in unser Haus eindringt, unsere Familie ermordet oder ein Kind entführt? So was kommt vor. Aber bei Weitem nicht so oft, wie ein Mann seine Frau umbringt. Oder ein Vater seine Tochter vergewaltigt. Ein Onkel seine Nichte sexuell belästigt. Solche Dinge schaffen es nicht immer in die Nachrichten. Warum? Weil es nichts Neues ist. Es ist die alltägliche Horrorshow des ganz normalen Lebens.

Also das war zum einen die »Es ist immer der Ehemann«-Schiene. Doch was es in meinen Augen besiegelte, waren seine Auftritte in den Morgenmagazinen der landesweiten Sender. Er machte die Runde, vorgeblich, um den Entführer anzuflehen, ihm seine schöne Laney unversehrt zurückzugeben. Hochgewachsen, attraktiv wie ein Filmstar – er war ein Naturtalent. Und die Moderatoren dieser Sendungen konnten gar nicht genug davon kriegen. Und Laney? Ebenfalls eine Schönheit. Eine von diesen jungen Frauen, die schwanger zum Anbeißen aussehen – sogar noch hübscher mit ihrem kleinen Babybauch, der glatten, rosigen Haut und dem seidigen Haar, das durch die Hormone voll und glänzend wirkt. Wenn das Ehepaar Markham weniger gut ausgesehen hätte, wäre das Medieninteresse viel geringer gewesen. Du weißt, dass das stimmt.

Jedenfalls, er trat vor die Kamera und fing an zu weinen, und ich meine, zu flennen. Steve Markham starrte direkt in die Kamera, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen, und flehte den Entführer an, ihm seine Frau und sein ungeborenes Kind zurückzubringen. Eine beeindruckende Vorstellung.

Nur …

Männer weinen nicht so. Wenn ein Mann dermaßen von seinen Gefühlen überwältigt wird, dass er die Beherrschung verliert und zu weinen beginnt, bedeckt er sein Gesicht. Tränen bei einem Mann sind ein Verstoß gegen die kulturelle Norm. Zu weinen wie eine Frau? Das erfüllt ihn mit Scham. Also bedeckt er sein Gesicht. Daher wusste ich, dass Steve Markham seine Frau ermordet hatte. Er war ein Soziopath. Diese Tränen waren so falsch wie nur was.

Du erinnerst dich. Ich weiß, dass du dasselbe gedacht hast.

Das reicht aber nicht, könntest du einwenden. Ich kenne dich. Du befolgst die Regeln – oder zumindest hast du eine Art Verhaltenskodex. Doch wir wissen alle, dass es genug belastbare Beweise gab, um den Scheißkerl auf den elektrischen Stuhl zu bringen. Es waren seine Anwälte mit ihren Tricks: Sie warfen Zweifel auf dieses, sorgten dafür, dass jenes vor Gericht nicht zugelassen wurde, verwirrten die völlig perplexen Geschworenen mit komplizierten Handydaten. Dieser Satellit sagt, dass er zur Tatzeit da und da war, es also nicht getan haben kann.

Trotzdem warte ich normalerweise ein Jahr. Nur um ganz sicherzugehen. Ich beobachte und warte, ich recherchiere. Mindestens ein Jahr, manchmal sehr viel länger, wie du weißt. Ich wähle sie sehr sorgfältig aus. Ich überlege lange und gründlich. Weil es furchtbar wäre, sich zu irren. Das könnte ich nicht rechtfertigen. Es ist eine Grenze, die ich nicht überschreiten kann. Wirklich. Denn ansonsten – was wäre ich?

Jedenfalls, meine alte Freundin, ich kann mit Genugtuung berichten, dass es seit dem Freispruch für Steve Markham nicht gut gelaufen ist. Er hat seinen Job verloren. Alle seine Freunde. Und seine Geliebte Tami, gleichzeitig sein Alibi – du erinnerst dich an sie, nicht wahr? Alles hing an der Aussage dieser farblosen Blondine aus Hoboken. Tja, sie hat sich von ihm getrennt. Aber das weißt du sicher alles schon. Wie ich dich kenne, hast auch du ihn im Auge behalten.

Wahrscheinlich weißt du nicht, dass er sich eine Weile in der Nähe von Tamis Wohnung herumtrieb, sie gestalkt hat. Ich dachte schon, wir würden ein Problem bekommen – dass ich handeln müsste, bevor ich bereit war. Aber Steve ist ein schlauer Junge. Vermutlich erkannte er, dass er nicht gut dastünde, wenn seine Freundin tot aufgefunden würde, weniger als ein Jahr, nachdem die Leiche seiner Frau in einem flachen Grab entdeckt worden war, wenige Kilometer von ihrem gemeinsamen Haus entfernt. Getötet durch zahlreiche Stiche mit der fünfzehn Zentimeter langen Klinge eines Sägemessers aus ihrer eigenen Küche. Ebenso wie ihr ungeborenes Kind. Er hörte schließlich auf, Tami zu verfolgen – die Frau, die davonkam.

Er wird das Haus verlieren. Letzten Monat wurde der Strom abgeschaltet. Das Wasser des Pools, in dem er, wie man annimmt, seine Frau ermordet hat, ist ganz grün und voller Algen. Sicher, er hat seinen Buchvertrag. Er machte die Runde durch sämtliche Talkshows. Diesmal gab er den unschuldigen, fälschlich angeklagten Mann, unermüdlich auf der Suche nach dem Mörder seiner Frau.

Er sei ihr untreu gewesen, gab er zu, grimmig und reuig. Es täte ihm leid. So furchtbar leid. Weitere Krokodilstränen.

Den Vorschuss hat er schnell durchgebracht. So viel Geld war es nun auch wieder nicht, kein Goldregen. Schließlich gingen noch die Provision für den Literaturagenten und die Steuer davon ab. Er hätte vielleicht damit auskommen können. Aber die Leute verstehen es nicht. Wenn man Geld nicht beschützt, ist es brennbar. Es geht in Flammen auf und weht davon wie Asche. Das Finanzamt ist hinter ihm her. Das System. Vielleicht hat es doch seine Möglichkeiten, einen zu kriegen, selbst wenn man sich zunächst durch die Ritzen gewunden hat.

Ich bemühe mich nicht, leise zu sein, als ich meine Tasche auspacke. Ich breite eine Plastikplane über dem Sofa aus und lege eine weitere vor die Tür, durch die er den Raum betreten wird, wenn er mich hört. Ich lege alles zurecht. Das Klebeband. Das Jagdmesser. Ich trage eine Pistole in einem Schulterholster, die leichte Beretta Px4 Storm Compact mit einem Ameriglo-Nachtsichtgerät und Talon-Gummigriff. Sie soll ihn nur dazu bringen, sich kooperativ zu verhalten. Wenn ich sie benutzen müsste, würde es auf einen Planungsfehler meinerseits hinauslaufen. Aber es gibt immer Faktoren, die man nicht einkalkuliert hat.

Er ist aufgewacht. Als er vorsichtig das vordere Zimmer betritt, sitze ich auf einem der billigen Ohrensessel am Fenster. Er ist nicht bewaffnet. Ich weiß, dass keine Waffen im Haus sind. Unter dem Bett lag ein Baseballschläger. Vielleicht hat er gedacht, dass eines Tages Laneys Bruder oder ihr Vater auf ihn losgehen würde. Aber der Schläger ist nicht mehr da. Er liegt im Kofferraum meines so leicht zu vergessenden, unauffälligen Wagens.

»Hallo, Steve«, sage ich ruhig und beobachte, wie er zurückweicht. »Setzen Sie sich.«

»Wer sind Sie?«

Ich betätige den lackierten Schlitten, der eine neue Patrone ins Patronenlager befördert, und sehe, wie er erstarrt. Es ist ein Geräusch, das jeder erkennt, selbst wenn nie zuvor eine Pistole auf einen gerichtet wurde.

»Auf das Sofa.«

Die Plastikplane zerknüllt unter seinem Gewicht, und er fängt wieder an zu heulen. Diesmal sind die Tränen echt.

»Bitte.« Seine Stimme ist kaum zu verstehen vor Angst und Reue.

Aber höre ich auch Erleichterung heraus?

Wir alle glauben die Geschichte, dass Betrüger nie gewinnen, dass sie immer zur Rechenschaft gezogen werden. Sogar die bösen Jungs glauben daran.

Ist es nicht so, meine alte Freundin?

1

Es war nur ein Pieps, ein kaum hörbares Krähen. Aber Rain riss die Augen auf, lag im Morgengrauen da und lauschte. Das Zwielicht und ein leichtes Blubbern von Übelkeit im Magen verrieten ihr, dass es viel zu früh war. Es würde noch Stunden dauern, bis der Wecker klingelte.

Jetzt ein Stöhnen, ganz schwach.

Schlaf wieder ein, flehte sie stumm. Sie vergrub den Kopf in den Kissen und zog die Bettdecke höher. Bitte, Baby.

Jetzt ein Schluckauf, fast schon ein Quengeln.

»Lass sie.« Schlaftrunken legte Greg den Arm um ihre Taille und zog sie an sich. »Sie beruhigt sich schon von selbst.«

Nein. Würde sie nicht. Das konnte Rain schon sagen. Draußen lärmten die Vögel. In der Eiche auf dem Rasen nisteten zwei Stare, die den ganzen Tag munter zwitscherten; in der frühen Morgendämmerung legten sie los. Es war süß, ein entzückendes Detail ihres häuslichen Lebens. Bis es das nicht mehr war.

Jetzt zwei schnelle, schwache Laute aus dem Babyfon auf dem Nachttisch. »Äh – äh.«

Sie stemmte sich hoch, den Kopf voller Watte, in ihrem Magen rumorte es. Es war gerade einmal zwei Stunden her, dass sie Lily gestillt hatte. Wachstumsphase.

Greg regte sich. »Ich hol sie.«

»Nein.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Schlaf noch ein bisschen, bevor du zur Arbeit musst.«

Mit einem Aufseufzen zog Greg die wohlig weiche Bettdecke enger um sich.

Über das Babyfon hörte Rain die Kleine ebenfalls seufzen. Dann Lilys leise, gleichmäßige Atemzüge, wie Meeresbrandung. Sie griff nach dem Gerät und schaltete den Bildschirm ein. Ein vollkommener kleiner Cherub schwebte auf einer Wolke, daneben lag ein weißer Teddybär. Ein kleiner Burrito in ihrem flauschigen Strampelsack. Ein wilder Schopf roter Haare. Doch nein, nicht rot – es war weiß und golden, mit kastanienbraunen und orangeroten Glanzlichtern. Das Haar einer Märchenprinzessin. Und ihre Augen waren nicht etwa blau, sie waren saphirblau, himmelblau, meergrün.

Ihr Töchterchen war ein Engel, oder nicht? Unsagbar schön und süß. Mach dich bereit für die größte Liebe deines Lebens, hatte Andrew, ihr Chefredakteur, geschwärmt, als sie verkündet hatte, dass sie schwanger war. Tränen waren ihm in die Augen getreten, als er einen Blick auf das Foto seiner zehnjährigen Zwillingssöhne warf. Und natürlich hatte er recht gehabt. Diese Liebe hatte sie verändert, genau wie alle es vorhergesagt hatten. In vielerlei Hinsicht.

Aber ihr war auch vollkommen klar, dass ihr Kind versuchte, sie umzubringen. Ganz langsam. Mit einem anbetungswürdigen, glucksenden Lächeln und den beiden Mäusezähnchen.

Tod durch chronischen Schlafentzug. Keine Gnade.

Rain ließ sich aufs Bett zurücksinken und schloss die Augen. Aber ihr Kopf – ebenso manisch und zwitschernd wie ihre Nachbarn, die Stare – wollte nicht aufhören zu plappern.

Schließlich zog sie ihren Morgenmantel über und ging leise nach unten. Sie konnte ebenso gut die Zeit nutzen und etwas Bio-Babybrei pürieren und in diese perfekten Gläschen mit den blauen Deckeln füllen. Äpfel. Süßkartoffeln. Brokkoli. Es war fünf Uhr morgens, und sie kochte Brei.

Sie behielt die blubbernden Töpfe im Blick, während sie ihren Kaffee trank. Koffein. Gott sei Dank. Ohne Koffein hätte sie die letzten dreizehn Monate nicht überlebt. Als sie schwanger war, hatte sie darauf verzichtet, aber sofort nach der Ankunft von Lilian Rae war sie wieder zu ihrem geliebten Suchtstoff zurückgekehrt.

Sie ließ sich von dem Aroma wecken, ließ das magische Elixier durch ihren Körper strömen. Ihren Körper, der gerade wieder anfing, sich wie ihr Körper anzufühlen, nachdem sie versuchte abzustillen – auf das nicht sonderlich dezente Geheiß ihres Mannes hin. Greg war Anfang der Woche ins Kinderzimmer gekommen, als sie Lily in den Schlaf stillte. (Ja, ja. Sie wusste selbst, dass man Babys nicht in den Schlaf stillen sollte. Aber mal ehrlich. Welchen Vorteil sollte es denn sonst haben, ein menschlicher Schnuller zu sein?)

Er hatte zärtlich Lilys seidiges Haar berührt und dann Rain mit einem seltsamen Lächeln angesehen.

»Wie lange noch?«, hatte er geflüstert. Es war ihr Paarabend. Er hatte etwas Leckeres zu essen und eine Flasche Wein mitgebracht.

»Fünf Minuten?«

»Nein«, sagte er. »Ich meinte, wie lange willst du sie noch stillen?«

Sie hatte versucht, sich nicht vor Verärgerung anzuspannen, sondern weiter gleichmäßig zu atmen. Wenn die Mama sich aufregt, überträgt sich das aufs Kind. So einfach war das.

»Ich weiß nicht«, hatte sie knapp erwidert.

Es war einer dieser aufgeladenen Momente, in denen alles, was sich bei beiden aufgestaut hatte, mal wieder nicht ausgesprochen wurde. Stattdessen presste er die Lippen zusammen – er behauptete, dass dieser Gesichtsausdruck Enttäuschung zeige, sie deutete es als Missbilligung –, nickte kurz und verließ den Raum. Nachdem sie eine Weile vor Wut geschäumt hatte, löste sie das Baby von ihrer Brust und legte es behutsam in das Kinderbettchen.

Wie lange noch, hatte sie gedacht. Was für eine Frage soll das denn bitte sein?

»Ich will dich zurück«, hatte er am Tisch sanft gesagt und ihre Hand berührt. Er war doch kein Trottel, oder? Einer von diesen Männern, die dachten, der Körper einer Frau sei ausschließlich für ihre Lust da. »Sechs Monate hatten wir gesagt.«

»Ich will mich auch zurück«, hatte sie zugegeben.

Sie wollte gerne weiter stillen, sie liebte die Nähe zu ihrer kleinen Tochter, diese schönen, innigen Momente mit ihr. Aber sie wollte auch ihren Körper zurück, wollte sich wieder sexy fühlen. Wie es schien, war alles am Muttersein ein ziemlich komplizierter Gefühlswirrwarr, ein empfindliches Gleichgewicht zwischen Festhalten und Loslassen.

Und, mal ganz ernsthaft, diese Still-BHs? Manche waren ja ganz süß, aber die meisten wirkten eher wie Ausrüstungsgegenstände als wie Dessous. Sie hatte sich seit Ewigkeiten nicht mehr sexy gefühlt. Wie konnte man sexy, heiß, erotisch sein, wenn man sich nicht mal selbst gehörte?

»Also«, hatte Greg an dem Abend beim Essen gesagt. »Können wir einen Plan machen?«

Dank einer Google-Seite (Abstillen – so klappt das) gab es jetzt einen Plan. Morgens und mittags wurde zugefüttert. Was bedeutete, Rain konnte abends auch mal ein Glas Wein trinken und brauchte nicht mehr die Milch abzupumpen (auch diese sexy Still-Terminologie). Jedenfalls laut der Kinderärztin. Rain schwor sich, sich nie wieder diese Milchpumpe an die Brust zu legen. Lieber Gott, mit diesem Ding fühlte sie sich wie eine Kuh!

Sie spürte bereits, wie die Milchbildung nachließ. Ihre Brüste waren wieder kleiner geworden, vertrauter. Sie hatte sich hübsche neue, spitzenbesetzte Dessous gekauft, keine abklappbaren Cups in Sicht. Sexy? So kam sie sich noch nicht vor. Aber sie war auf dem Weg.

Sie schüttete das Kochwasser weg, pürierte das Obst und Gemüse und füllte es in kleine Gläser.

Sehr sexy.

Ihr gefiel der Anblick der aufgereihten Gläschen mit ihren fröhlichen blauen Deckeln im Kühlschrank, der gut gefüllt und aufgeräumt war. Alles war ordentlich und übersichtlich. Es lag Befriedigung darin. Sie führte den Haushalt mit einem sparsamen, minimalistischen Eifer. Sie kaufte ein, kochte und erledigte die tägliche Putzarbeit. Einmal die Woche kam die Putzhilfe für die größeren Arbeiten. Rain befüllte jeden Tag die Waschmaschine. Die Sachen für die Reinigung, hauptsächlich Gregs Bürokleidung, wurden dienstags und donnerstags abgeholt. Sie führte den Haushalt so, wie sie früher im Beruf gewesen war – akkurat und effizient.

Mit halbem Ohr hörte sie sich die Nachrichten aus ihrem Smartphone an, während sie die Quarz-Arbeitsfläche abwischte, obwohl sie bereits sauber war. Die Nachrichten waren schlecht, wie immer. Sie versuchte, sich nicht hineinziehen zu lassen, arrangierte die frischen Tulpen in der Glasvase neu, zog eine welkende Blüte heraus und füllte Wasser nach. Auf der grauen Vitrine im Shabby-Chic erspähte sie einen schmierigen Handabdruck. Sie wischte ihn ab. Mittlerweile fiel das Sonnenlicht durch die großen Fenster herein. Sie räumte ein paar von Lilys Spielsachen in den Weidenkorb und zog den flauschigen weißen Überwurf auf dem gemütlichen Ecksofa gerade, auf dem Greg und sie den größten Teil ihrer Zeit verbrachten, jetzt, wo sie Eltern waren – wer hätte geahnt, dass man so viel Fernsehen gucken konnte?

»… Markham, angeklagt wegen Mordes an seiner schwangeren Frau Laney Markham und freigesprochen, wurde heute am frühen Morgen tot in seinem Haus aufgefunden.«

Sie hielt abrupt inne, ein Pappbilderbuch in der Hand. Sie ging zu ihrem Smartphone und stellte den Ton lauter. Jetzt pulste nicht mehr nur das Koffein durch ihre Adern.

Die Stimme war ihr vertraut, und das nicht nur, weil Rain sich jeden Tag die Nachrichten im National News Radio anhörte, sondern weil die Sprecherin ihre engste Freundin und eine frühere Kollegin war. Und es war die Nachrichtensendung, bei der Rain früher Redakteurin gewesen war.

»Markham wurde im letzten Jahr von der Anklage freigesprochen, seine Frau erstochen zu haben. Die Verteidigung stützte sich stark auf Handydaten, die offenbar sein Alibi bestätigten, nämlich dass er sich zum Tatzeitpunkt außerhalb des Bundesstaates aufgehalten hatte, zusammen mit einer Frau, die sich später als seine Geliebte erwies. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen. Ich bin Gillian Murray, Sie hören das National News Radio.«

Fast konnte Rain ein wenig klammheimliche Freude aus der Stimme der Freundin heraushören. Mehr als ein Jahr lang hatten sie gemeinsam über den Fall berichtet, und beide waren sie niedergeschmettert gewesen, als Markham freigesprochen wurde. Es war auch niemand sonst wegen des Mordes an Laney Markham und ihrem ungeborenen Kind angeklagt worden.

Dieser furchtbare Justizirrtum hatte sie beide nicht losgelassen. Mit ohnmächtiger Wut hatten sie verfolgt, wie der Medienzirkus losging – das Erscheinen von Markhams Buch, die Talkshows, bei denen er die Runde machte und vorgab, unermüdlich nach dem Mörder seiner Frau zu suchen. Fast jeden Tag hatten sie sein Gesicht sehen müssen, und die Maske des zu Unrecht Beschuldigten war so falsch, so aufgesetzt, dass Rain nicht begriff, wie irgendjemand darauf hereinfallen konnte.

»Früher habe ich an Gerechtigkeit und die Justiz geglaubt«, hatte Gillian eines Abends gesagt, nachdem sie ein paar Gläschen zu viel getrunken hatten. »Das tue ich nicht mehr. Die Bösen gewinnen. Sie gewinnen ständig.«

Rain hatte versucht, sie aufzumuntern, aber wie hätte sie das gekonnt? Ihre Freundin hatte ja recht.

Sie schaltete die Nachrichten aus und starrte auf die Gläschen mit Babybrei. Alles um sie herum drehte sich, so wie früher, wenn sie eine Story witterte.

Jemand hatte Steve Markham umgebracht. Er war mit einem Mord davongekommen – bis jetzt. Tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Wer, was, wann, wo? Warum? Die Sache berührte auch noch einen anderen Nerv.

Greg kam die Treppe herunter, in seinen Trainingssachen, einen Kleidersack in der Hand. Er musterte sie. Die besorgten Falten auf seiner Stirn verrieten, dass er bereits Bescheid wusste.

»Du hast das mit Steve Markham gehört?«, fragte sie.

»Es kam gerade per News-Update auf meinem Smartphone«, sagte er und rieb sich den Scheitel. Er legte den Kleidersack aufs Sofa und versuchte sich an einem Lächeln. »Ihr solltet darauf anstoßen, du und Gillian. Markham hat endlich das bekommen, was er verdient hat.«

»Wer war es, was meinst du?«, fragte sie.

»Das weißt du sicher besser als ich.« Seine Stimme war rauchig, weich. Sie hatte nie erlebt, dass er laut geworden wäre, in all den Jahren nicht, die sie jetzt zusammen waren. »Der Bruder. Der Vater. Der Kerl hatte keinen Mangel an Feinden.«

»Viele Leute stoßen Drohungen aus«, sagte sie. »Aber es ist etwas völlig anderes, jemandem das Leben zu nehmen. Selbst wenn derjenige es verdient hat.«

Sie schenkte ihm eine Tasse Kaffee aus der Cafetière ein und reichte ihm einen Apfel. Das war sein ganzes Frühstück vor dem Training. Während ihrer Schwangerschaft hatte er zugenommen. Doch er hatte alle Pfunde wieder verloren. Im Grunde war er heute besser in Form als damals bei ihren ersten Dates, die Armmuskeln stark und definiert, der Körper schlank. Von sich konnte sie das nicht behaupten. Neulich hatte sie versucht, sich in eine alte Jeans zu zwängen, was damit endete, dass sie weinend auf dem Bett lag. Hatte sie da je hineingepasst? Es schien unmöglich.

»Was denkst du?«, fragte er. Er schlang die Arme um sie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Was geht in deinem Riesenhirn vor?«

»Es ist nur … sonderbar«, sagte sie. »Dass ihn jemand umbringt. Ein Jahr später.«

Er trat zurück, biss in den Apfel und trank einen Schluck Kaffee.

»Es ist ein guter Tag, wenn Leute das bekommen, was sie verdienen. Oder nicht?«, sagte er und strebte zur Tür. »Ein Psycho weniger auf der Welt.«

Warum fühlte es sich bloß nicht so an? Sie merkte, dass sie ein hohles Gefühl in der Magengrube hatte.

»Ich geh vor der Arbeit noch zum Training«, sagte er.

Schön für dich, dachte sie, behielt es aber für sich.

»Okay«, sagte sie stattdessen. »Meinst du, du kommst so früh zurück, dass ich heute Abend zum Sport gehen kann?«

Alles war mit einem leichten Unterton behaftet. Wer blieb zu Hause? Wer ging zur Arbeit? Wer hatte die Zeit, sich mit Freunden zu treffen und Hobbys nachzugehen? Sie bemühten sich beide, einander Zeit dafür zu verschaffen.

»Ich werd’s versuchen, Schatz«, sagte er. »Aber du weißt ja, wie das ist. Man kann nicht immer einfach gehen.«

Greg war Produktionsredakteur bei der Nachrichtensendung des lokalen Fernsehsenders. Lokalnachrichten.

»Stimmt«, sagte sie. »Es könnte eine Eilmeldung wegen des Schafschurfestivals am Wochenende reinkommen.«

Er warf ihr einen Blick zu. »Sei kein Nachrichten-Snob, Süße. Wir können nicht alle im landesweiten Radiosender über wichtige Kriminalfälle berichten.«

Er kam zurück in die Küche, zog sie noch einmal an sich, und diesmal küsste er sie auf den Mund.

Sie spürte, wie sie lächelte, und ihre Stimmung hellte sich ein wenig auf. Das hatte sie gleich an ihm geliebt, dass er nicht das aufgeblasene Riesen-Ego hatte, das bei männlichen Nachrichtenleuten gang und gäbe war. Wenn sie ihn aufzog, schmollte er nicht. Umgekehrt galt das nicht immer, wie sie sofort als Erste zugegeben hätte.

»Es war schön gestern Abend«, sagte er. »Du siehst gut aus, Rain. Du fühlst dich gut an.«

»Du auch«, sagte sie. Seine Lippen auf ihrem Nacken, seine Hand auf ihrem Rücken.

»Ich komm rechtzeitig nach Hause«, flüsterte er. »Ich versprech’s.«

Er trank seinen Kaffee aus und ging zur Tür.

Sie brachte ihn noch zum Auto. Es wurde Herbst, es war frisch und kühl. Ein scharfer Wind fuhr durch die Zweige, und sie zog den Morgenmantel eng um sich. Ja, sie war die Frau, die im Schlafanzug auf die Einfahrt hinausging. Na und?

Greg stellte seine Tasche auf den Rücksitz, kam zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. Das Leuchten seiner dunkelbraunen Augen, die kleine Narbe am Kinn, das wilde braune Haar, das sich nur zähmen ließ, wenn er es ganz kurz schnitt. Sie sah die Sorge in seiner gerunzelten Stirn, den zusammengezogenen Augenbrauen.

»Lass dich davon nicht runterziehen, ja?«

Sie brauchte nicht zu fragen, was er meinte. Der Markham-Fall. Es hatte sie arg mitgenommen, sie beide durcheinandergebracht. Der Mensch, der sie war, wenn eine Story ihr unter die Haut ging – sie war dann keine gute Ehefrau, keine gute Freundin. Eigentlich taugte sie zu gar nichts, außer dazu, die Geschichte zu erzählen, die sie erzählen wollte.

Aber das war früher gewesen – ein anderes Leben und sie eine andere Frau. Jetzt hatte sie Lily, jetzt war sie Mutter. Es gab nicht genug Raum für beide Teile ihrer selbst. Sie war klug genug, um das zu wissen.

Noch ein Kuss – sanft und vertraut, sein Duft war so tröstlich –, dann stieg er in ihren vernünftigen Hybrid-SUV und fuhr los. Sie sah ihm nach, und seine Worte hallten in ihrem Kopf nach.

Er hat bekommen, was er verdient hat.

Ihr Puls beschleunigte sich ein wenig, und die Übelkeit vom frühen Morgen kehrte zurück. Sie wollte Gillian anrufen, aber sie wusste, die Freundin würde noch eine ganze Weile nicht frei sein.

Als sie wieder ins Haus trat, begann Lily zu schreien. Und los ging’s.

Während Lily sicher in ihrem Hochstuhl saß und ihren Haferbrei löffelte, holte Rain ihren Laptop. Halb erwartete sie, dass er beim Aufklappen knarren würde wie die Tür eines verlassenen Hauses, dass die Tastatur von Spinnweben überzogen sein würde. Es war lange her, dass sie an Arbeit gedacht hatte.

Sie öffnete die Dateien über den Markham-Fall, die sie noch hatte, und fing an, ihre alten Notizen durchzugehen, sichtete die digitalen Bilder, die gespeicherten Internet-Links.

Früher hatte sie von Steve Markham geträumt, und in ihren Träumen hatte er die kalten gelben Augen eines Wolfs gehabt. Häufig saßen sie in ihren Träumen zusammen an einem langen Esstisch, auf dem Platten mit verdorbenen Speisen standen – überreife, aufgeplatzte Früchte, rote, hervorquellende Eingeweide und Samen auf dem weißen Tischtuch, verfaulendes Fleisch, von Fliegen umschwirrt, welkendes Gemüse, das dabei war, sich in Schleim zu verwandeln. Er hatte gelacht und seine scharfen Zähne sehen lassen. Und obwohl sie weglaufen wollte, war sie an ihren Sitz gefesselt und starrte ihn an, wie gebannt von seinem grässlichen Grinsen.

Nach seinem Freispruch hatte sie sich in Fantasien ergangen, ihn selbst umzubringen.

Doch die wilde Wut verging und hinterließ eine Art Leere. Eine schreckliche Müdigkeit des Geistes und der Seele.

Sie erinnerte sich an all das, als Lily ihren Nuckelbecher vor den Laptop auf den Tisch warf.

»Ma! Ma!«, krähte sie glücklich und wirkte sehr zufrieden mit sich.

Rain blickte über den Rechner hinweg auf ihre Tochter, Apfelbäckchen und wirrer Haarschopf, Gesicht und Lätzchen mit Haferbrei bekleckert.

»Du hast ganz recht, Häschen«, sagte sie, klappte den Laptop zu und hob den rosa Becher auf. »Lassen wir es los.«

2

Aber Rain konnte nicht loslassen.

Das war schon immer ihr Problem gewesen.

Sie konnte es nie einfach bei etwas bewenden lassen.

Das machte sie zu einer guten Journalistin, aber in allem anderen war sie ziemlich mies. Entschlossen, hartnäckig wie ein Hund, der sich in einen Knochen verbissen hat, sagte jedenfalls ihr Mann. Sie pflegte ihren Groll, was, wie jede Psychologin und jeder Lebensberater dir sagen würde, schlecht für deine Ehe war, für dein Leben. Rain meditierte nicht. Sie war keine Zen-Anhängerin, absolut nicht. Sie schwamm nicht mit dem Strom. Sie hielt fest. Grub tief.

Sie schnallte Lily in ihrem Jogger-Buggy fest, denn Greg würde heute ganz sicher nicht früh genug nach Hause kommen, dass sie noch ins Fitnessstudio konnte, so aufrichtig seine Absichten auch sein mochten. Ihre Müdigkeit nach dem allzu frühen Aufwachen am Morgen hatte sich etwas gelegt (dank dreier Tassen Kaffee). Lily in ihren regenbogenfarbenen Leggins und einem rosa Fleecepulli krähte fröhlich, strampelte mit den Beinen und wedelte mit den Armen.

Am Ende der Auffahrt sah Rain sich in der baumbestandenen Straße um, wie sie es immer tat.

Sie hielt nach unbekannten parkenden Autos oder einsamen herumlungernden Gestalten Ausschau. Selbst hier, wo auf dem Gehweg nie irgendwelche Fremden zu sehen waren, wo teure, mit Schindeln verkleidete Häuser, gestrichen in gedeckten Grau- und Blautönen, cremeweiß oder einem sanften Rotbraun, sich in perfekt gepflegte Rasenflächen schmiegten, auf denen nicht einmal Unkraut wachsen durfte. Selbst hier hielt sie nach ihm Ausschau.

Aber da war nichts. Heute war lediglich die getigerte Nachbarskatze zu sehen, die sich auf der obersten Verandastufe sorgfältig die Pfoten leckte. Geschmackvolle Halloween-Dekorationen hingen an den Türen, ein Füllhorn, eine Smiley-Hexe mit Glitzergarn als Haar. Ansammlungen bemalter Kürbislaternen auf den Holzstufen der Veranden. Nichts allzu Unheimliches oder Angstmachendes natürlich. Friedlich. Sicher. Ihre Straße bot eine Bilderbuchszene vom Glück im Grünen, ein Ort, an dem nie etwas Schlimmes passierte. Bis es dann doch geschah.

Und wie immer, wenn sie eine friedvolle Szene vor Augen hatte, malte sie sich aus, wie alles ins Chaos stürzte – eine Gang von Rowdies zog durch die Straße und zertrümmerte die Scheiben der teuren Autos, ein Erdbeben ließ den Asphalt aufbrechen, eine Feuersbrunst legte die Häuser in Schutt und Asche. Oder, ihre persönliche erste Wahl, eine massige Gestalt trat aus dem Halbschatten unter der Eiche hervor. Ein Schatten, der nur darauf wartete, das schöne Leben zu zerstören, das sie sich mit Greg aufgebaut hatte. Ja, hinter jede Ecke könnte dein schlimmster Albtraum lauern. Sie wusste das, besser als die meisten.

»Hör auf damit«, sagte sie zu sich selbst.

»Auf mit!«, wiederholte Lily und kicherte.

»Mama ist ein bisschen verrückt«, erklärte Rain ihrer Tochter, obwohl diese das zweifellos bald selbst herausfinden würde.

Sie steckte sich einen Ohrhörer ins Ohr und ließ den anderen herabbaumeln, damit sie die Straßengeräusche und Lily hören konnte. Sie schob den Jogger auf den Gehweg und hörte sich die Nachrichten an, während sie in leichtem Trab in Richtung Laufpfad lief. Sonore Stimmen sprachen über eskalierende Handelskriege, eine Rakete auf dem Weg zum Mars, unkontrollierbare Waldbrände in Kalifornien, den Selbstmord eines beliebten Promikochs. War die Welt wirklich derart düster? Sollte es nicht einen Sender nur für gute Nachrichten geben?

Sie blendete die Stimmen aus und lauschte stattdessen ihrem eigenen Atem, behielt wachsam die Umgebung im Blick. Sie hoffte, mehr Neues über den Markham-Fall zu erfahren, als Gillian anrief.

»Du hast es schon gehört«, sagte ihre alte Freundin statt einer Begrüßung. Ihr Tonfall, angespannt, aufgeregt, entfachte die journalistische Leidenschaft in ihr.

»Ich habe es vorhin von dir gehört«, sagte sie. »Was ist passiert?«

»Ich kenne nicht alle Details, aber ich hab Chris angerufen.«

Christopher Wright, der leitende Detective im Markham-Fall – und Gillians Ex. Heiß, heiß, heiß. Aber distanziert, zu sehr mit der Arbeit verheiratet. Fickbar, aber kein Partner-Material. Was ja ganz okay sein konnte. Aber für Gillian war es das nicht. Sie wollte das ganze Programm – eine Hochzeit, ein Baby, ein Haus. Wofür Chris nicht der Richtige war.

»Er hat gesagt – inoffiziell natürlich –, dass es bizarr war.« Gillian betonte das Wort.

»Oh?« Rain blieb an der roten Ampel stehen und lief auf der Stelle.

Eine ihrer Nachbarinnen fuhr vorbei. Mitzi, die ältere Dame von gegenüber, winkte und lächelte. Sie hatte angeboten, mal auf Lily aufzupassen. Jetzt, wo die Kleine älter war, zog Rain es in Erwägung. Nur ab und zu ein, zwei Stunden, damit sie wieder ein echtes Trainingsprogramm durchziehen konnte, über ein wenig freiberufliche Arbeit nachdenken konnte. Das Geld war ziemlich knapp. Doch die Wahrheit war, die Arbeit fehlte ihr. Bislang hatte sie das noch nie gegenüber irgendjemandem zugegeben.

»Bei so was«, sagte Gillian, »da denkt man doch, Laneys Bruder oder ihr Vater hätten schließlich die Drohungen wahr gemacht, die sie im Gerichtssaal ausgestoßen haben. Das ist das Erste, was einem in den Sinn kommt. Man würde einen Tatort erwarten, der aussieht, als hätte da jemand gewütet. Overkill. Richtig?«

»Stimmt.«

Da war es wieder. Dieses Prickeln, die Anspannung. Feuer im Bauch, so nannten sie es unter Kollegen. Der überwältigende Drang, etwas zu erfahren, die Story zu kriegen, die Wahrheit herauszubekommen. Rain überquerte die Straße und bog in den Weg ein, auf dem man den Park umrunden konnte. Natürlich war es für sie mehr als das.

»Aber so war’s nicht«, fuhr Gillian fort. »Chris wollte mir nicht viel erzählen, er war nicht sehr mitteilsam. Er meinte nur, der Tatort sei ›ordentlich‹ gewesen. Er sagte, und ich zitiere: ›Es war offensichtlich geplant und wurde sauber durchgeführt.‹«

»Soll heißen?«

»Mehr wollte er mir nicht verraten. Die Polizei gibt nachher noch eine Pressekonferenz.«

Frustrierend. Nichts war schlimmer, als wenn Informationen zurückgehalten wurden.

»Halt mich auf dem Laufenden.« Nur dass sie raus war. So sehr, dass sie praktisch nicht mehr existierte. Was genau das war, was sie gewollt hatte, vor einem Jahr. Oder nicht?

»Natürlich«, versprach Gillian. Dann ein Seufzer. »Ich wünschte, du wärst hier.«

»Ich auch«, sagte Rain. Sie meinte es so. Und auch wieder nicht. Kompliziert. Alles war so verdammt kompliziert.

»Was macht unser Mädchen?«, fragte Gillian.

Gillian war die Babysitterin an ihren Paarabenden. Ungefähr einmal im Monat kam sie aus der Stadt und blieb bei Lily, wenn Greg und Rain ausgingen. Sie übernachtete im Gästezimmer und verbrachte den folgenden Tag mit Rain und Lily, während Greg ausschlief, Golf spielte oder es sich vor dem Fernseher gemütlich machte und sich ein Spiel ansah. Es war der seltene Fall einer Win-win-Situation.

»Sie vermisst ihre Tante Gillian«, antwortete Rain.

Es entstand eine Pause. Diese Pause, die entsteht, wenn man während des Telefonierens irgendwas anderes macht – die Mails checkt, eine Nachricht schreibt, im Web surft. Rain kannte das auch von sich selbst.

»Samstag, richtig?« Gillian war wieder voll präsent.

»Passt es dir immer noch?«

»Würde ich doch auf keinen Fall verpassen.«

»Bring alle Einzelheiten mit.«

»Abgemacht.«

Rain drehte ein paar Runden um den Park und dachte über das nach, was Gillian gesagt hatte. Ordentlicher Tatort. Offensichtlich geplant und sauber durchgeführt. Das war wirklich sonderbar. Man hätte mit einer Mordssauerei gerechnet, insbesondere bei einem Racheakt. Rasende Wut ist selten vorsichtig, sie plant nicht. Sie räumt nicht hinter sich auf. Normalerweise.

Etwas rumorte in ihrem Hinterkopf, als müsste sie sich eigentlich an etwas erinnern, an das sie sich nicht erinnern konnte. Aber das war eben das Baby-Gehirn – Schlafmangel, Hormone, Stillen, ständiges Aufpassen auf lauernde Gefahren, Sorgen und Ängste, diese überwältigende Liebe; Stunden, Tage, Monate, die einfach verschwanden. Es war wie ein Nebel, durch den man sich hindurchtastete.

Schwitzend und außer Atem fand Rain sich auf dem Weg wieder, der zum Spielplatz führte, obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatte, nicht wieder hinzugehen. Die anderen Mamas, die sich dort trafen, unterhielten sich über Buggys und Kinderärzte, Bauchlage für Babys, Wickeln, das Pürieren von Bio-Babykost und Koliken. Einige redeten auch über ihre Männer, offenbar unbedarfte Trottel, die sie geschwängert hatten, um dann ihr Leben weiterzuführen wie bisher. Die immer noch dachten, sie könnten dann und wann zum Zug kommen. Thema waren auch alleinstehende Freundinnen, die keine Ahnung hatten.

Rain redete nicht viel, sie hörte zu. Das war ihre Gabe – den Mund zu halten und sich anzuhören, was andere Leute zu sagen hatten. Das war die Art von Nachrichtenschreibern – beobachten, fragen, zuhören, berichten. Aber oft verließ sie die Gruppe mit einem beklommenen Gefühl, hatte es eilig, wieder nach Hause zu kommen.

Dennoch schob sie den Buggy zu einem der Picknicktische, trotz allem wie angezogen von der gemeinschaftlichen Natur der Versammlung. Sie gab Lily ihren Nuckelbecher und kramte ihre eigene Wasserflasche hervor. Sie hatte ein paar Reiswaffeln in die Buggy-Ablageschale gepackt – die sie gerade gesäubert hatte, besten Dank auch. Es hatte ihr letztes Mal einen Blick von einer der weniger entspannten Mütter der Spielplatz-Gruppe eingebracht – wie hieß sie noch mal? Gretchen. »Machst du dir denn gar keine Gedanken wegen der Keime?«, hatte sie hervorgestoßen und die hübsche, gel-manikürte Hand mit dem auffälligen Ring in einer Geste der Bestürzung auf die Brust gelegt. Das Ganze eine Karikatur von Besorgnis. Rain hatte gegen den unvernünftigen Impuls ankämpfen müssen, ihr eine reinzuhauen.

Nein, Rain machte sich keine Sorgen wegen Keimen. Sie war eine erfolgreiche Nachrichtenredakteurin, unter anderem. Sie machte sich Sorgen wegen sehr vielem – Nordkorea, Rassismus, der Zukunft der #MeToo-Bewegung, Frauenhandel, dem globalen Klimawandel, davor, aus Versehen den Jogger loszulassen und mit ansehen zu müssen, wie er auf die Straße und vor ein Auto rollte. Und anderen Dingen – vielen anderen Dingen, die sie sich in lebhaften Details ausmalte, so lebendig, dass es ihr den Atem verschlug. Sie hatten im Haus ein hochmodernes Sicherheitssystem installiert, obwohl Rain wusste – genau wusste –, dass Zufallsverbrechen an Kindern, Eindringen von Fremden in Privathäuser und Entführung eine statistische Anomalie waren. Sie hatte sehr persönliche Gründe dafür, dieses Sicherheitsniveau zu wollen. Aber nein, eine Keimphobikerin war sie nicht. Gab es das Wort überhaupt?

»Wusstest du nicht«, hatte sie ein wenig schnippisch geantwortet, »dass es das Immunsystem von Kindern stärkt, wenn sie einer normalen Keimbelastung ausgesetzt werden?«

Emmy, eine der anderen Spielplatz-Mütter, hatte mit einem ernsten Nicken eingeworfen: »Rain war Journalistin. Sie war beim National News Radio.« Gretchen hatte so getan, als wäre sie abgelenkt von ihrem Smartphone und wenig beeindruckt. »Ach, wirklich«, hatte sie abwesend erwidert und ihren Blick über den Spielplatz schweifen lassen. »Und wann war das?«

Heute hatten sich ein paar der Mütter mit älteren Kindern um den Spielplatz versammelt. Die Kleinkinder spielten gern im Sandkasten. Lily fing gerade erst an, erste Schritte zu machen, also holte Rain sie nicht immer aus dem Jogger, sondern nur, wenn sie unruhig wurde. Sie schob die Karre zu der Gruppe hinüber und stellte sie bei den übrigen Buggys ab.

»Wie war dein Lauftraining?«, trällerte Gretchen und warf ihr einen merkwürdigen Blick zu.

Schon komisch, dass eine vollkommen unschuldige Frage so viele Bedeutungsebenen haben konnte. Gretchen sah Rain mit einem seltsamen Lächeln an. Feingliedrig, zierlich, mit leuchtend grünen Augen und einem blonden, superkurzen Pixie-Schnitt, hatte sie etwas Eisiges unterhalb der Oberfläche, etwas Scharfes. Irgendwie vermittelte sie Rain das Gefühl, dass ihre eigenen Oberschenkel zu dick waren, und ihr wurde bewusst, dass ihr Shirt durchgeschwitzt war und sie Schweiß auf der Stirn hatte. Gretchen wirkte taufrisch mit ihrem weißen Shirt und den hautengen, perfekt ausgeblichenen Jeans. Und dieser Ring. Lieber Himmel. Wie viel Karat hatte der wohl?

»Du bist hierher gejoggt? Bravo!«, rief Emmy.

Emmy, die Mutter eines kleinen Mädchens, der sechs Monate alten Sage, hatte früher im Verlagswesen gearbeitet. Sie war Lektorin gewesen und konnte eine Reihe von Bestsellerautoren vorweisen. Sie arbeitete jetzt freiberuflich, von zu Hause aus.

Ihr dickes rotbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und aus ihren Augen leuchtete die Intelligenz. »Ich hab seit Monaten keinen Sport mehr gemacht. Meine Brüste sind riesig.«

»Hör auf. Du siehst großartig aus, und das weißt du«, sagte Rain. Und das tat sie auch, sogar in Joggingklamotten, ungeduscht und mit etwas Babyspucke auf dem Kapuzenpullover. Ihre Haut war perfekt, wie Pfirsich und Sahne, die Haare schimmerten vor Gesundheit. Als ihre Kleine zu schreien begann, hob Emmy sie aus dem Kinderwagen und packte dann vor allen anderen eine Brust aus.

Gretchen wandte sich ab, ganz offensichtlich peinlich berührt.

»Ach, noch nie eine weibliche Brust gesehen?«, fragte Emmy mit einem mutwilligen Glitzern in den Augen.

»Die Kinder«, sagte Gretchen.

»Ach, die haben noch nie eine Brust gesehen?«

Emmys Lachen war honigsüß und ansteckend, und Rain lachte mit.

»Ich habe genug von diesem Schal-Dings«, erklärte Emmy. »Ich packe sie jetzt einfach aus, egal wo ich bin. Es gefällt dir nicht? Dann guck woanders hin.«

»Ich konnte nicht stillen«, sagte Gretchen steif. »Ich habe Schlupfwarzen.«

»Schlupfwarzen? Autsch«, meinte Beck, die zu der Gruppe gestoßen war.

Beck war die Jüngste der Mütter. Sie war mit ihrem Highschool-Schatz verheiratet und hatte zwei Kleinkinder (Tyler, zwei, und Jessa, dreieinhalb). Ein Drittes war auf dem Weg. In Rains Augen war sie eine Berufsmutter. Die Übrigen hatten entweder vorher etwas anderes gemacht oder wollten noch etwas anderes werden. Falls Beck noch andere Träume und Pläne hatte, hatte sie es jedenfalls nie erwähnt.

»Hast du das von diesem Typen gehört? Dem Kerl, der letztes Jahr seine Frau umgebracht hat?«, fragte Emmy. »Markham?«

Gretchen schüttelte angewidert den Kopf. »Wir sehen zu Hause keine Nachrichten. Zu viel Stress.«

»Jemand hat ihn umgebracht«, sagte Beck leise. Und fügte hinzu: »Wurde auch Zeit.«

Lily wurde unruhig. Gretchen lief rasch hin, als wäre es ihr Baby, und hob sie aus dem Buggy, nachdem sie Rain mit einem raschen Blick um Erlaubnis gefragt hatte. Rain nickte leichthin. Es war schon witzig, wie natürlich gewisse Dinge mit anderen Müttern waren – vielleicht kehrte sie deshalb immer wieder zu dieser Gruppe zurück. Es war etwas Gemeinschaftliches an der Versammlung, etwas Tröstliches. Irgendjemand hatte immer Wischtücher dabei oder Reiswaffeln, war bereit, ein Knie zu verbinden, oder hatte ein tröstliches Wort parat. Stressig in gewisser Weise, mit einer seltsamen Unterströmung von Konkurrenz, aber eindeutig gemeinschaftlich.

Lily saß zufrieden auf Gretchens Hüfte und kaute glücklich an ihrem winzigen Händchen. Gretchen gurrte und wiegte sie kaum merklich auf und ab, sog den Duft von Lilys Babyhaar ein. Lily hatte Hunger. Rains Brüste spannten. Sie würde ihre Brust nicht rausholen wie Emmy. Auf keinen Fall.

»Wahrscheinlich war es der Vater«, sagte Emmy. »Erinnert ihr euch an die Verhandlung? Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so untröstlich war.«

Rain war vor Ort gewesen. Sie hatte die Verhandlung nicht im Fernsehen verfolgt wie der Rest des Landes. Sie war im Gerichtssaal gewesen. Gillian hatte berichtet, Rain hatte die Texte geschrieben und die Produktion übernommen. Seine Stimme, die Klagelaute, die er von sich gegeben hatte, ließen sie nicht los – so viel Wut, so viel Schmerz. Es war ursprünglich, tief und echt. Ein Vater, der seine Tochter verloren hatte, machtlos und unfähig, ihr Gerechtigkeit zu verschaffen. Seine heiseren Schreie verbanden sich mit jeder Nervenendung in Rains Körper. Einige Wochen zuvor hatte sie erfahren, dass sie schwanger war. Sie fing gerade erst an zu ahnen, wie es war, ein Kind zu haben. Was es bedeutete, für den Schutz eines anderen Menschen verantwortlich zu sein. Und zu versagen.

»Ich hätte ihn auf der Stelle umgebracht«, sagte Emmy. »Mit meinen bloßen Händen.«

Rain schwieg, obwohl dieses Brennen fast unerträglich war. Sie musste nach Hause, Lily stillen und hinlegen und sich vor den Computer setzen. Sie hatte immer noch Kontakte. Sie konnte herumtelefonieren. Das war ihre Story.

»Oder es war der Bruder«, meinte Beck. »Er hat es auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude angekündigt, oder? Wenn du es am wenigsten erwartest, werden wir kommen, hat er gesagt.«

Es war geplant und sauber durchgeführt, hätte Rain fast eingeworfen. Es war keine Tat im Blutrausch.

Aber sie sagte nichts. Weil.

Weil, rief sie sich in Erinnerung, ich nicht mehr bei dem Nachrichtensender bin. Sie hatte jetzt mit Windeln und Wischtüchern, Reiswaffeln und Nuckelbechern zu tun. Ihre Aufgabe war jetzt, sich um Lily zu kümmern. Was sie früher mal gemacht hatte, war Geschichte; es war jämmerlich, sich an Vergangenem festzuklammern, oder nicht?

Sie nahm Gretchen das Kind ab und setzte sich neben Emmy. Sie nahm den Stillschal aus der Tasche, legte ihn um und begann zu stillen. Sie spürte, wie Lily an die Brust ging. Es war eine beseligende Befreiung, Milch und Oxytocin strömten. Niemand erzählte einem je, dass der eigene Körper schmerzte, wenn das Baby hungrig war, dass die Brüste zu lecken begannen, wenn es schrie. Niemand sprach von diesem intensiven körperlichen Band.

»Bravo, Mädchen«, sagte Emmy.

Gretchen verschränkte die Arme und wandte sich ab. Es ist keine große Sache, dass du nicht stillst oder nicht stillen kannst, hätte Rain ihr gern gesagt, das ist nur eins von diesen Dingen, die sie einem vor die Nase halten. Etwas, nach dem man sich ausstrecken sollte, was man möglicherweise erreichen konnte, vielleicht aber auch nicht. Man sollte es versuchen und sich beschissen fühlen, wenn man es nicht schaffte. Ehrlich, wenn es ihr selbst nicht so leichtgefallen wäre, hätte sie vielleicht auch nicht gestillt. Sie tat es im Grunde, weil das am praktischsten war. Sie war zu Hause, weil – tja, aus hundert Gründen. Kristallklar war nur einer davon, als ein Teil des hormonellen Nebels sich jetzt, ein Jahr später, zu lüften begann – Lily Rae.

»Mein Schwager ist Polizist drüben in Jessup, wo die Markhams gelebt haben«, erzählte Beck. »Er hat gesagt, heute Morgen wäre das FBI zum Tatort gekommen und hätte den Fall von der örtlichen Polizei übernommen.«

Alarmglocken schrillten in Rains Kopf. Die Bundespolizei. Warum?

»Ach?«, meinte sie mit gespielter Gleichgültigkeit und sah Beck fragend an.

Doch Becks Handy klingelte, und sie wandte sich ab, hob einen Finger und warf Rain einen entschuldigenden Blick zu.

Rain hob ihr milchtrunkenes Baby hoch und legte sie in den Buggy.

»Ich muss los«, erklärte sie und schnallte Lily im Jogger fest.

Es war ein Bumbleride, ein absurd teures Geschenk von ihrem Vater, begleitet von einer Nachricht.

Bleib in Bewegung, Kind, stand auf der Karte. Lass dich davon nicht bremsen.

Seit Lilys Geburt hatte Rain ihren Vater erst wenige Male getroffen. Sie musste sich unbedingt bei ihm melden, damit er seine Enkelin sehen konnte, aber nach ihrem letzten Besuch bei ihm fehlte ihr dazu einfach die Energie. Da hatte er ihr klar vermittelt, dass sie seiner Ansicht nach in der Tat zugelassen hatte, dass ihr Baby sie ausbremste, dass ihre Karriere – und damit ihr Leben – zum Stillstand gekommen war. Er schien nicht zu begreifen, dass es mehr im Leben gab als die Arbeit.

»Schönen Tag noch, Süße.« Gretchen warf ihr erneut einen sonderbaren Blick zu, seltsam triumphierend.

Rain war schon fast wieder zu Hause, als sie merkte, dass sie immer noch ihren Stillschal trug (Gott sei Dank!) und sie ihre Brust nicht wieder im Shirt verstaut hatte. Himmel. Ehrlich? Hastig richtete sie ihre Kleidung. Nach einem Blick in den Buggy stellte sie fest, dass Lily eingenickt war. Sie eilte nach Hause, in der Hoffnung, eine Stunde am Computer und am Telefon verbringen zu können, bevor sie aufwachte.

3

Ein stilles, aufgeräumtes Haus begrüßte Rain, und sie stellte den Jogger in der Diele ab. Lily schlief fest, ihr Kopf war zur Seite gesunken. Rain schenkte sich noch eine Tasse Kaffee aus der Cafetière ein und huschte nach oben ins Arbeitszimmer.

Der Bildschirm mit der Tastatur vor ihr, das war ihr Instrument – mit den richtigen Anschlägen, den richtigen Wörtern konnte sie eine Symphonie von Informationen zusammenstellen. Sie durchsuchte das Internet, überflog die verschiedenen Nachrichtenseiten, ein paar der Kriminalitäts-Blogs, die ihr gefielen. Die Markham-Story kursierte, immer die gleichen wenigen Sätze: Markham, des Mordes an seiner Frau angeklagt und freigesprochen, sei heute Morgen tot in seinem Haus aufgefunden worden. Mehr war offensichtlich noch nicht bekanntgeworden. Keiner der großen Sender und keine der wichtigen Zeitungen hatte bereits einen längeren Beitrag veröffentlicht. Sie durchstöberte die Seiten der lokalen Nachrichten – bislang keine Zeugen, keine Spuren, keine Verdächtigen.

Oder das FBI hielt Informationen zurück.

Eigentlich hätte mehr zu finden sein müssen – sehr viel mehr. Bilder von Übertragungswagen, die sich vor Markhams Haus versammelten, Interviews mit Angehörigen oder Nachbarn.

Vielleicht hat Markham sich selbst umgebracht, dachte sie. Dann wäre die Story weniger interessant. Ein unbefriedigend abruptes Ende einer traurigen, ungerechten Geschichte und die Art von Abschluss, für die Leute meist wenig Sympathie oder Interesse aufbringen. Doch darüber wäre berichtet worden. Selbstmord. Ende der Geschichte.

Sie griff nach ihrem Telefon, wählte eine Nummer, die sie auswendig kannte, und wartete.

»Wright.«

»Hallo.«

»Rain Winter.« Er hatte eine Art, ihren Namen auszusprechen, die diesen klingen ließ wie eine Melodie. »Lange her.«

Sie und Christopher waren befreundet gewesen, irgendwie, bevor er und Gillian ein Paar wurden. (Rain hatte die beiden einander vorgestellt, was sie ein wenig bereute. Er hatte Gillian nicht gut behandelt, und Rain war immer noch sauer deswegen.) Sie war damals die junge Gerichts- und Kriminalreporterin der lokalen Tageszeitung und arbeitete an ihrer ersten großen Story über einen Serienvergewaltiger. Chris war der leitende Ermittler gewesen und einer der wenigen Männer – im Newsroom oder außerhalb –, der sie nicht behandelte wie ein Schoßhündchen, sie nicht »Kleine« nannte oder dieses abfällige Grinsen aufsetzte, das einige ältere Männer für junge Frauen in einem Beruf übrighatten, der früher eine Männerdomäne gewesen war. Nicht ein einziges Mal hatte er die Bemerkung fallenlassen, sie sei »zu hübsch, um über Verbrechen und Kriminalität zu schreiben«.

»Ich dachte eigentlich, wir würden uns bei Gillians Geburtstagsfeier letzte Woche treffen«, sagte sie im Versuch, einen leichten Ton anzuschlagen.

Er grunzte. »Gillian will mich nicht sehen«, sagte er. »Auch wenn sie das Gegenteil denkt.«

Rain war allein zu Gillians Feier gegangen, ohne Töchterchen und Göttergatten, was selten vorkam – eigentlich war es das erste Mal gewesen. Es war nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nervös hatte sie etwa hundert Mal den Babyfon-Monitor und die Sicherheitskameras zu Hause gecheckt, nur um zu sehen, wie Greg auf der Couch döste und Lily friedlich in ihrem Bettchen schlummerte. Den größten Teil des Abends hatte sie damit zugebracht, ihre Freundin zu trösten.

»Typisch Mann«, bemerkte sie. »Ihr glaubt immer zu wissen, was eine Frau will.«

Schweigen. Sie war es gewöhnt, darauf zu warten, dass er endlich etwas sagte. Er war ein Meister der langen Pause. »Rufst du wegen Gillian an?«

»Wegen Markham.«

»Dachte ich mir.«

»Tja.«

»Ich bin nicht mehr zuständig«, sagte er.

Straßenlärm war zu hören, Hupen und Stimmen, in der Ferne heulte eine Sirene. »Das FBI hat heute übernommen. Der Tatort ist abgeriegelt. Strikte Nachrichtensperre. Die Pressekonferenz wurde auf morgen verschoben. Wenn es überhaupt eine geben wird.«

»Warum?«

Eine der brennenden Fragen und die Frage, die sie immer am meisten interessierte. Wer? Was? Wann? Wo? Alles wichtig. Aber »Warum?« Bei einer Nachricht war das nicht so entscheidend.

Aber bei einer Story war es das A und O.

»Warum interessiert dich das?«, fragte er.

Sie hörte, dass Lily sich unten in der Diele regte. Ticktack.

»Ich dachte, du wärst raus«, sagte er. »Vollzeitmutter.«

Sie hörte es, das Gewicht der Verurteilung. Zorn flammte in ihr auf. Manche Leute verurteilten eine Frau, wenn sie zu Hause blieb. Andere verurteilten sie, weil sie arbeiten gehen wollte, obwohl sie die heilige Mutterrolle übernommen hatte. Rain hatte sich nie groß darum geschert, was andere Leute dachten. Aber selbst sie spürte, dass es eine Falle war – nichts war jemals gut genug. Wartete immer jemand bloß darauf, einen kleinzuhalten?

»Ich mache einen Podcast«, erklärte sie. Warum hatte sie das gesagt? Nichts lag ihr ferner. Impulsiv, reaktionsschnell. Das sagte ihr Vater immer über sie. Aber er meinte es als Kompliment. »Einen Crime-Podcast. Du weißt schon – ein längeres Erzähl-Stück, ausführliche Hintergrund-Berichterstattung.«

»Ernsthaft?«

»Warum nicht?«

»Genau. Das sagen sie heutzutage alle: Warum nicht? Jeder kann einen Podcast machen.«

»Ich bin vom Fach«, erwiderte sie leichthin. Und das war sie. Sie hatte zehn Jahre lang Nachrichten recherchiert, geschrieben und für die Aussendung vorproduziert. »Außerdem sind Podcasts heutzutage der einzige echte Journalismus, den es noch gibt. Alles andere ist bezahlt und gekauft, den Werbekunden und ihren Anliegen verpflichtet. Nennt sich Demokratie, weißt du noch, diese alte Idee? Meinungsfreiheit. Unabhängige Presse. Eine Presse, die nicht die Meinungen der Leute vertritt, die zufällig gerade die Rechnungen bezahlen.«

Ihr war gar nicht klar gewesen, dass sie in dieser Sache so leidenschaftlich empfand. Tat sie auch gar nicht. Es gefiel ihr nur nicht, ins Abseits geschoben zu werden.

»Das meiste ist Mist.«

»Das meiste von allem ist Mist.«

Er stieß ein kleines Lachen aus, und das rief ihr in Erinnerung, wie ernst und grimmig er normalerweise dreinschaute. Er hatte eine hohe, von tiefen Falten durchfurchte Stirn und einen durchdringenden Ich-drück-dich-gegen-die-Wand-Blick, wie grünes Krypton. Und eine Polizistenstimme, kalt wie Granit und ebenso hart. Doch wenn er lächelte oder lachte, leuchtete sein Gesicht auf wie das eines Kindes am Weihnachtsmorgen. Sie wünschte, sie würde ihm irgendwo gegenübersitzen. Es war so viel einfacher, zu bekommen, was man wollte, wenn man einander gegenübersaß.

»Da hast du allerdings recht«, räumte er ein.

Rain ging zum obersten Treppenabsatz. Sie konnte Lilys pummelige Beinchen sehen, die perfekten rosa Zehen strampelten. Ticktack. Ticktack. Rain hatte Lilys Stoffbuch in Reichweite gelegt, in der Hoffnung, dass ihr das ein wenig Zeit verschaffen würde, wenn die Kleine aufwachte. Sie konnte es rascheln hören, als Lily danach griff und glücklich krähte. Treffer. Sie hatte gerade ungefähr vier Minuten gewonnen.

»Komm schon«, sagte sie. »Du musst doch irgendwas haben.«

Er seufzte ins Telefon. Er diskutierte einfach gern um des Diskutierens willen. Sie hatte durchaus etwas dafür übrig. Ein gutes Wortgefecht gehörte zu den befriedigendsten Begegnungen, die eine Frau mit einem Mann haben konnte, besonders, wenn sie gewann. Und Polizisten redeten gern, obwohl sie immer das Gegenteil behaupteten – es war direkt schmerzhaft für sie, nicht loswerden zu können, was sie wussten.

»Es war keine Tat im Affekt, wie man es vielleicht erwarten würde. Es war organisiert, sauber. Jemand hat das geplant. Das ist alles, was ich sagen kann.«

Das wusste sie bereits. »Das hast du schon Gillian erzählt.«

»Ja«, sagte er. »Und das FBI ist heute Morgen angerückt und hat die Ermittlungen übernommen.«

Beide Informationen besaß sie bereits. Er hielt etwas zurück.

»Was noch?«, drängte sie.

An anderem Ende der Leitung hörte man Türenknallen und Schritte. Es waren Stimmen zu hören, ein Telefon klingelte. Lily begann zu quengeln, suchte nach Rain.

»Okay, hör zu«, sagte er endlich. »Das ist alles, was ich weiß. Sie denken, dass es mit einem anderen Fall zusammenhängt, in dem sie ermitteln. Einem älteren Fall.«

»Welchem?«

Wieder eine längere Pause. Diesmal dachte sie schon, er hätte aufgelegt, das tat er ziemlich oft. Doch dann kam: »Google den Boston-Boogeyman. Das war’s. Mehr kann ich dir nicht sagen.«

Ein Ruck ging durch sie hindurch. Sie kannte den Namen. Kannte ihn gut.