Der heimliche Beobachter - Lisa Unger - E-Book

Der heimliche Beobachter E-Book

Lisa Unger

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Beschreibung

Ein idyllisch gelegenes Cottage mit Whirlpool und Sternekoch. Hannah und ihr Mann Bruce freuen sich auf ein besonderes Wochenende in Gesellschaft guter Freunde. Doch schon bald ist die Stimmung im Cottage angespannt. Hannah spürt, dass Bruce etwas vor ihr verbirgt. Und als der Koch beim Abendessen unheimliche Geschichten über die Vergangenheit des Hauses erzählt, während draußen ein Sturm aufzieht, würde Hannah am liebsten wieder abreisen. Dann ist eine der Frauen plötzlich verschwunden. Immer verzweifelter suchen die Freunde nach ihr - nicht ahnend, dass es jemanden gibt, der alles daransetzt, ihr Traumwochenende in einen Albtraum zu verwandeln ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungTeil I – HerkunftProlog1 – Hannah2 – Trina3 – Hannah4 – Liza5 – Henry6 – Hannah7 – Bracken8 – Cricket9 – Hannah10 – Hannah11 – Henry12 – Hannah13 – Trina14 – Bracken15 – Liza16 – Henry17 – Hannah18 – Henry19 – Bracken20 – Hannah21 – Hannah22 – Liza23 – Trina24 – Henry25 – Cricket26 – Hannah27 – CricketTeil II – Fremde Familie28 – Hannah29 – Trina30 – Henry31 – Cricket32 – Bracken33 – Hannah34 – Henry35 – Cricket36 – Hannah37 – Hannah38 – Henry39 – Hannah40 – Cricket41 – Bracken42 – Henry43 – Hannah44 – Bracken45 – Hannah46 – Catrina47 – Hannah48 – Henry49 – HannahDanksagung

Über das Buch

Ein idyllisch gelegenes Cottage mit Whirlpool und Sternekoch. Hannah und ihr Mann Bruce freuen sich auf ein besonderes Wochenende in Gesellschaft guter Freunde. Doch schon bald ist die Stimmung im Cottage angespannt. Hannah spürt, dass Bruce etwas vor ihr verbirgt. Und als der Koch beim Abendessen unheimliche Geschichten über die Vergangenheit des Hauses erzählt, während draußen ein Sturm aufzieht, würde Hannah am liebsten wieder abreisen. Dann ist eine der Frauen plötzlich verschwunden. Immer verzweifelter suchen die Freunde nach ihr – nicht ahnend, dass es jemanden gibt, der alles daransetzt, ihr Traumwochenende in einen Albtraum zu verwandeln …

Über die Autorin

Lisa Unger ist eine amerikanische Thrillerautorin, deren Romane es in ihrem Heimatland regelmäßig auf die Bestsellerliste schaffen und vielfach begeistert besprochen werden. Auch international kann die Autorin mit ihren Thrillern große Erfolge verzeichnen, ihre Bücher erscheinen in 26 Sprachen, werden millionenfach gelesen und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Lisa Unger lebt mit ihrer Familie an der Westküste Floridas.

LISA UNGER

DER

HEIMLICHE

BEOBACHTER

thriller

Aus dem Amerikanischenvon Anke Angela Grube

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Deutsche Erstausgabe

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2022 by Lisa Unger

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Secluded Cabin Sleeps Six«

Originalverlag: Park Row Books, New York

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

 

Textredaktion: Anne Fröhlich, Bremen

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

Einband-/Umschlagmotiv: © Magdalena Wasiczek / Trevillion Images (2)

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4781-3

luebbe.de

lesejury.de

 

Eine Autorin ist nichts ohne die Menschen, die ihre Worte, ihre Figuren und Geschichten in ihr Herz einlassen.

Mein zwanzigster Roman ist den treuen Leserinnen und Lesern, Buchhändlern und Buchhändlerinnen, Bibliothekarinnen und Bibliothekaren gewidmet, die es mir ermöglichen, mein Leben mit Schreiben zu verbringen. Einige haben meine Laufbahn vom allerersten Buch an verfolgt – sie wissen, dass sie gemeint sind! Vielen Dank dafür, dass Sie mich auf diesem wilden, großartigen Ritt begleiten.

TEIL I

HERKUNFT

Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art.

Leo Tolstoi: Anna Karenina

Prolog

Weihnachtsabend 2017

Die Karkasse liegt in der Mitte der Festtagstafel. Das Fleisch ist von den Knochen gelöst und verspeist, die Rippen bloßgelegt. Der Truthahn, so schön knusprig und glänzend, als er aus dem Ofen geholt wurde, ist nur noch ein Haufen Knochen. Auf den Tellern sind nur mehr Soßenreste, die Weingläser sind leer, mit rotem Bodensatz. Eine weiße Stoffserviette ist von rotbraunem Lippenstift verschmiert. Die Lichter des hohen Weihnachtsbaums blinken manisch.

Das Fest mit all seinen glitzernden Verheißungen ist vorbei.

Irgendwann kommt immer dieser Moment, an den Hannah sich schon aus ihrer Kindheit erinnert. Nach wochenlanger Vorfreude und Vorbereitungen, der Planung des Festessens, dem Besorgen und Verpacken der Weihnachtsgeschenke sind das Festmahl und die Bescherung vorbei. Es gibt keine Geschenke mehr zu verteilen oder entgegenzunehmen, keine freudigen Überraschungen mehr, jetzt muss nur noch aufgeräumt und das Geschirr abgespült werden. Als sie klein war, hat sie diesen Moment in seiner stillen, leisen Traurigkeit immer sehr stark empfunden. Jetzt, wo sie älter ist, erkennt sie darin das, was es ist: den Fluss des Lebens. Die Ruhe nach dem Sturm, dazu gedacht, sich zu erholen und neu einzustellen, bevor alles weitergeht, ob mit guten oder schlechten Ereignissen.

»Viel zu viel«, erklärt ihre Mutter Sophia und schiebt den Teller von sich weg, als wäre er schuld an der Völlerei. »Zu viel Essen.«

Sophia ist ernsthaft betrunken. Nicht dass sie undeutlich sprechen oder torkeln würde. Nein. Das niemals.

Es ist subtiler.

Ihr Ton wird schärfer, ihre Miene härter. Wie viel hat sie getrunken? Wann hat sie angefangen zu trinken? Schwer zu sagen. Sie sitzt zur Linken von Hannahs Vater Leo, der am Kopf der Festtagstafel thront. Er lächelt nachsichtig, während sie weiterschwafelt.

»Das ist das Problem mit diesem Land, nicht wahr? Die Leute wissen nie, wann sie aufhören sollen – mit dem Essen, mit ihrem Konsum.«

Hannah spürt, wie sich eine leichte Anspannung in ihren Schultern festsetzt. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Sophia den ersten Giftpfeil abschießt oder eine beiläufige Bemerkung von jemandem, vermutlich Leo, ihren Zorn erregt.

Hannah beschließt aufzustehen und die Teller abzuräumen. Besser, man bleibt in Bewegung.

»Lass doch, Süße«, sagt ihr Vater und fährt sich mit seiner großen Hand durch das immer noch dichte, schneeweiße Haar. »Bruce und ich übernehmen das. Du und Liza, ihr habt ja die ganze Arbeit gehabt.«

Sophia zupft mit ihren beringten Fingern an dem himmelblauen Kaschmirschal, den sie sich umgelegt hat. Seine Farbe passt zu ihren Augen. »Ich habe alles beaufsichtigt«, wirft sie ein, immer noch milde.

Hannahs Mutter wollte eigentlich nicht, dass sie Weihnachten hier feiern, sie hat des Öfteren angedeutet, wie viel Arbeit das für sie bedeuten würde. Also haben Hannah und ihre Schwägerin Liza die Einkäufe erledigt, die Vorbereitungen übernommen und heute gekocht. Und jetzt, wo das Essen ein Erfolg war, will Sophia einen Teil der Anerkennung.

»Ohne dich hätten wir das nicht geschafft, Mama.«

Hannah weiß immer, was zu sagen ist. Sie ist eine Expertin im Navigieren auf diesem Terrain. Es bringt ihr ein liebesvolles Lächeln ihrer Mutter ein, deren funkelnde blaue Augen leicht blutunterlaufen sind.

»Es waren Ihre Rezepte, Mrs. M.«, sagt Liza.

In Wahrheit haben sie die Rezepte von der väterlichen Seite der Familie verwendet. Es gibt ein altes, gebundenes Notizbuch, voll mit handgeschriebenen Rezepten aller Art, von Lasagne bis Kutteln, von weißer Muschelsoße bis Auberginenauflauf, von Kartoffelstampf bis hin zu dem perfekten gebratenen Truthahn oder Hochrippenbraten. Ihr Vater sagt immer, die Rezeptsammlung stamme von seiner italienischen Mutter und seinen Tanten, es seien Rezepte aus der alten Heimat und der neuen, im Laufe der Jahre erweitert. Das Heft weist jahrzehntealte Kleckereien auf, die Seiten sind eingerissen und zerknittert, und das Buch wird mit einem Gummiband zusammengehalten. In der Familie gibt es seit langem das Bestreben, alles zu digitalisieren und ein Kochbuch daraus zu machen. Aber es ist bisher nie dazu gekommen, weil alle immer zu beschäftigt sind und das Projekt jedes Mal in Vergessenheit gerät, bis Weihnachten wieder vor der Tür steht.

»Dieses Kochbuch«, sagt Liza, die immer noch nicht aufgegeben hat. »Es ist ein wahrer Schatz.«

Hannah wirft einen Blick auf ihren Vater, der entspannt am Kopf der Tafel sitzt, das übliche geduldige Lächeln im Gesicht, die Hände über dem Bauch gefaltet. Sophia gibt ein unverbindliches Brummen von sich. Liza räuspert sich und sieht Hannah an. Ihre Schwägerin kann nicht gewinnen, das sollte sie eigentlich wissen.

Ihre Mutter hat Liza nie angeboten, sie »Mutter« zu nennen, ja noch nicht einmal, sie mit dem Vornamen anzureden. Obwohl Liza jetzt seit einem Jahr mit Mako, Hannahs Bruder, verheiratet ist, hat Sophia sie noch immer nicht in die Familie aufgenommen, nicht wirklich. Sie ist freundlich zu ihr. Sehr höflich. Und dann auf einmal nicht mehr. Hannah hat keine Ahnung, warum ihre Mutter Liza so behandelt. Liza ist schön und freundlich, eine gute Ehefrau, eine pflichtbewusste Schwiegertochter. Hannah hat noch nie mit ihrer Mutter darüber gesprochen.

Ihr Mann Bruce legt Hannah tröstend die Hand aufs Knie. Sie schaut ihn an, seine dunklen Augen, die starke Kieferpartie, sein Lächeln. Es beruhigt sie; er beruhigt sie. Gemeinsam blicken sie auf den Video-Monitor, der vor ihnen auf dem Tisch liegt. Ihre neun Monate alte Tochter Gigi schläft friedlich, wie ein Engel auf einer rosa Wolke.

»Sie ist eine gute Schläferin«, sagt Sophia und beugt sich vor, um ebenfalls einen Blick auf den Monitor zu werfen, bevor sie sich ein neues Glas Wein einschenkt. Hannah sieht wieder ihren Vater an, der immer noch diesen zufriedenen, aber irgendwie leeren Gesichtsausdruck hat. Er ist ein kräftiger Mann, über eins achtzig groß. Ich habe große Knochen, sagt er gern. Sein Arzt will, dass er zehn Kilo abnimmt. Das wird wahrscheinlich nie passieren.

Bruce nennt Hannahs Vater »verpeilt«, was sie mehr irritiert, als es sollte.

Er ist nie so ganz da. Er ist wie weggetreten.

Das ist wahr, auch wenn Hannah nicht will, dass es stimmt. Leo war ihr immer ein liebevoller Vater und ganz präsent. Aber er neigt tatsächlich dazu, mit den Gedanken abzudriften, wenn es Streit gibt, und nicht nur dann. Oft lebt er wie in einer eigenen Welt, macht lange Spaziergänge, sitzt wie gebannt vor irgendeinem Computerspiel oder surft im Internet.

Aber weißt du, fügt Bruce immer rasch hinzu, wenn ich mit deiner Mutter verheiratet wäre, würde ich das auch tun.

Mako, Hannahs älterer Bruder, ist sofort nach dem Essen vom Tisch aufgestanden, hat sich auf die Sitzlandschaft neben dem gewaltigen Weihnachtsbaum gelegt und ist eingeschlafen. In dem weitläufigen, offenen Wohn-Essbereich ist er gut zu sehen, und als ein explosives Schnarchen ertönt, richten sich alle Blicke auf ihn.

Hannah lacht; sie und Mako standen sich schon immer sehr nahe, sie verstehen sich besser als die meisten Geschwister. Sie sind Freunde, Vertraute. Seit sie denken kann, haben sie einander unterstützt. Sie kann sich überhaupt nicht vorstellen, was sie ohne ihn wäre.

»Er hat zugenommen«, bemerkt Sophia.

Hannah wirft einen Blick auf ihren Bruder. Vielleicht hat er um den Bauch herum etwas zugelegt, aber er ist immer noch fit und viril und macht keinen ungesunden Eindruck. Er arbeitet zu viel, aus einem Antrieb heraus, den Hannah nicht immer versteht. Er schläft kaum. Konsumiert viel zu viel Junkfood.

Sophias Kommentar gilt Liza, Makos Frau. Als wäre es irgendwie ihre Schuld. Liza, zeitweise Veganerin und Yoga-Influencerin – was immer das bedeuten mag – hat Kleidergröße 32. Hannah ist froh darüber, dass sie nach Gigis Geburt inzwischen wieder in Größe 40 passt. Sie hat Diäten und Sport gemacht. Auf der väterlichen Seite der Familie sind alle ein wenig schwergewichtiger, ein Umstand, auf den ihre Mutter gern hinweist. Sophia selbst ist so mager, dass ihre Schlüsselbeine hervortreten.

Mako hat mindestens doppelt so viel gegessen wie jeder andere am Tisch. Liza hat sich ein papierdünnes Scheibchen Truthahn genommen, ein wenig Rosenkohl, kein Brot, keine Kartoffeln, und drei Gläser Wasser getrunken. Keinen Tropfen Alkohol. Nicht dass Hannah groß darauf geachtet oder gar versucht hätte, diese Essgewohnheiten nachzuahmen. Selbst wenn, es würde keinen Unterschied machen. Hannah wird nie Größe 32 haben. Und das ist völlig in Ordnung so.

»Er hat gerade sehr viel Stress«, sagt Liza, und ihre Schultern spannen sich leicht an. »Er ist ein Stress-Esser.«

Das stimmt. Hannah kennt das Gefühl – wenn sie wütend, traurig, frustriert oder besorgt ist, will auch sie nur noch Kohlenhydrate.

»Das neue Spiel wird bald rauskommen, und er arbeitet praktisch rund um die Uhr, auch am Wochenende«, fährt Liza fort und sieht mit einem besorgten Stirnrunzeln zu ihrem Mann hinüber. »Seine persönliche Assistentin hat ganz plötzlich gekündigt. Heute ist sein erster freier Tag seit Wochen.«

»Gekündigt?«, fragt Hannah. Das ist ihr neu. Sie fragt sich, was wohl passiert ist, kann es sich aber denken. Sie blickt auf ihren Teller hinunter.

»Ja«, sagt Liza. »Aber es ist gut, dass sie weg ist. Sie hatte eine sehr negative Energie.«

Das kann Hannah nur bestätigen. Die junge Frau war immer sehr schnippisch am Telefon und blickte etwas finster drein, wenn Hannah zu ihrem Bruder ins Büro kam. Sie war groß und sah umwerfend aus – vielleicht nicht direkt eine Schönheit, aber mit einem fast aggressiven Sexappeal. Ja, denkt Hannah, gut, dass sie weg ist. Sie wird ihrem Bruder vorschlagen, nächstes Mal einen männlichen Assistenten einzustellen.

Mako hat zu viel getrunken. Fünf Bourbons. Fünf. Wenn Hannah fünf Glas Whiskey trinken würde, müsste sie ins Krankenhaus. Sie beschließt, doch selbst den Tisch abzuräumen. Ihr Vater scheint sein Angebot vergessen zu haben, aber Bruce und Liza stehen ebenfalls auf, um ihr zu helfen.

»Wenn er dann und wann eine selbstgekochte Mahlzeit bekommen würde, müsste er vielleicht nicht so viel Junkfood essen«, sagt Sophia mit leichter Schärfe.

Da. Der erste Giftpfeil. Hannah merkt, dass sie den Atem anhält, und zwingt sich zum Ausatmen.

Aber Liza lächelt nur höflich. In vielerlei Hinsicht ähnelt sie Hannahs Vater. Sie ist ausgeglichen. Nicht so leicht in Wut zu bringen. Mako wäre vermutlich auf die Provokation eingegangen, sogar Hannah, wenn sie einen schlechten Tag hätte, und dann wäre ein richtiger Streit entbrannt. Was genau das ist, was ihre Mutter will. So traurig es ist, sie kann nur auf diese Art Nähe zulassen. Es hat eine jahrelange Therapie gebraucht, bis Hannah zu dieser Erkenntnis gelangt ist.

Aber Liza weicht gekonnt aus.

»Mako mag mein Essen nicht«, sagt sie und wirft Hannah einen amüsierten Blick zu. Sie spürt Dankbarkeit für ihre Schwägerin in sich aufsteigen. »Er mag Tacos. Die liebt er.«

»Du auch.« Hannah stößt Bruce an. »Ihr beiden habt Essgewohnheiten wie Teenager, wenn ihr in die Arbeit vertieft seid.«

Ihr Geplänkel scheint Sophia zu amüsieren, und die Gefahr ist gebannt. Sie räumen alle miteinander die Küche auf, während Mako auf dem Sofa schnarcht, dann versammeln sie sich im Wohnzimmer. Mako regt sich, setzt sich auf und reibt sich die Augen wie ein kleines Kind. »Was habe ich verpasst?«

»Nur alles«, sagt Liza.

Er legt ihr den Arm um die Schultern, und sie schmiegt sich an ihn, blickt zu ihm auf. Sie himmelt ihn an, das weiß Hannah. Ihr Bruder hatte schon immer diese Wirkung auf Frauen. Es liegt nicht nur an seinem Aussehen, obwohl das bestimmt auch eine Rolle spielt – er ist auf jungenhafte Art attraktiv, hat dichte Wimpern, starke Arme und gewelltes dunkles Haar, das er schon immer relativ lang getragen hat. Mako hat irgendetwas an sich, das Frauen dazu bringt, sich um ihn kümmern zu wollen. Und Liza liebt ihn, das ist deutlich zu sehen.

»Was haben wir denn hier?« Hannahs Vater ist hinter den Weihnachtsbaum geschlüpft, eine alte Weihnachts-Gewohnheit von ihm. Er versteckt seine Geschenke und holt sie erst gegen Ende des Abends hervor, wenn alle anderen Geschenke ausgepackt sind und jeder denkt, dass nichts mehr kommt. Hannah liebt diesen Moment, wenn sie eigentlich gedacht hat, das Fest sei vorbei, und es dann doch noch eine Überraschung gibt.

Leo kommt mit einem Stapel schön verpackter Schachteln zur Sitzlandschaft, schaut auf die Geschenkanhänger und verteilt sie.

»Von dir, Paps?«, fragt Hannah.

»Nein«, erwidert er mit einem Blick auf einen Geschenkanhänger. »Vom Weihnachtsmann.«

Sie hat keine Ahnung, ob er es ernst meint oder nicht. Eigentlich hat er seine Überraschungsgeschenke für dieses Jahr schon verteilt, Bargeld in einem dicken roten Umschlag, das er allen mit einer herzlichen Umarmung überreichte. »Du bist eine großartige Mutter«, hat er zu Hannah gesagt. »Ich bin so stolz auf dich und all das, was du erreicht hast.«

Ihr Vater ist immer stolz auf sie, auch wenn sie noch längst nicht das erreicht hat, was sie erreichen wollte. Und jetzt ist Gigi da.

Als alle ihre Schachteln in den Händen halten, auch Hannahs Vater, reißen sie das rote Geschenkpapier auf.

»Oh«, sagt Hannah und starrt auf die Regenbogen-Doppelhelix auf der Schachtel, den Firmennamen im Prägefoliendruck.

»Origins«, liest Bruce vor.

»Was ist das?«, fragt Sophia missbilligend.

»Ah«, sagt Mako. »Das ist so ein DNA-Test-Kit. Paps, ich bin beeindruckt. Ich hätte nicht gedacht, dass du mit so etwas ankommst. Zu Science-Fiction-mäßig.«

Sein Vater schüttelt den Kopf und lacht leise. »Ganz im Ernst, Leute, das ist nicht von mir.«

»Von wem dann?«, fragt Liza.

Alle schauen einander an und zucken ratlos mit den Schultern. Hannah verspürt leichtes Unbehagen. Irgendjemand ist hier nicht ehrlich. Wo sollten diese Geschenke sonst herkommen?

»Das muss von Mickey sein«, erklärt Sophia, hält ihre Schachtel hoch und zeigt auf Hannahs Bruder. Irgendetwas läuft zwischen den beiden ab; sie fixieren sich schon den ganzen Abend wie Mitglieder feindlicher Gangs. »Glaubt mir. Ich weiß es, wenn mein Sohn wieder einen seiner Tricks auf Lager hat.«

»Mako, Mama«, korrigiert Mako, der eigentlich Michael heißt und Mickey genannt wurde, bis er aufs College ging, wo er beschloss, sein Kindheits-Ich abzustreifen.

Mako. Wie der Hai.

»Ach, genau«, sagt Sophia. »Der Name, den ich dir gegeben habe, war dir nicht gut genug. So wie alles andere. Du bist einfach nie zufrieden.«

Sie lässt ihre Schachtel fallen und bückt sich, um sie aufzuheben. Hannah hält den Blick auf Mako gerichtet. Eine zornige Röte steigt ihm ins Gesicht.

»Also«, sagt Leo, bevor Mako antworten kann. »Was genau soll das hier sein?«

Anders als Hannah es erwartet hat, explodiert Mako nicht. Er wirft lediglich einen verärgerten Blick auf seine Mutter und wendet sich dann an seinen Vater.

»Es ist ein sogenanntes Kit. Es enthält ein Röhrchen, in das man eine Speichelprobe geben kann. Man registriert sich online und sendet dann seine DNA-Probe an das Labor. Dann erhält man alle möglichen Informationen über sich selbst – Gesundheit, ethnische Herkunft, genetische Dispositionen und so weiter. Du könntest sogar entfernte Angehörige ausfindig machen, von denen du noch nie etwas gehört hast.«

»Ach«, meint ihr Vater und mustert die Schachtel genauer. Er wirkt vage interessiert, aber wachsam. Hannah vermutet stark, dass die Päckchen tatsächlich nicht von ihm stammen. »Ja, das klingt ein bisschen nach Science-Fiction.«

Sophia wirft Mako einen harten Blick zu. Selbst Hannah, die sämtliche Stimmungen ihrer Mutter kennt, kann ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. »Ich in meinem Alter weiß genau so viel über meine Familie, wie ich wissen will, das versichere ich dir. Danke für dein Geschenk, Mickey. Aber ich bin nicht interessiert.«

Sie erhebt sich unsicher und wäre fast gestürzt, wenn Hannah nicht aufgesprungen wäre, um sie zu stützen.

»Mir geht’s gut«, fährt ihre Mutter sie an und entreißt ihr den Arm.

Hannah setzt sich wieder. Bruce nimmt ihre Hand und wirft ihr einen beschwichtigenden Blick zu. Deine Familie. Alter Falter. Wurdest du nach der Geburt vertauscht? Das hat er gesagt, als sie ihn zum ersten Mal mit nach Hause brachte.

»Die sind nicht von mir«, sagt Mako.

»Wie du meinst, mein Sohn«, entgegnet Sophia. »Ich gehe ins Bett. Fröhliche Weihnachten euch allen und gute Nacht.«

»Sie sind wirklich nicht von mir«, wiederholt Mako und sieht Hannah an. »Sind sie von euch?«

»Nein, von uns bestimmt nicht«, versichert Hannah mit einem entschiedenen Kopfschütteln.

Alle sehen Liza an, die die Hände hebt. »Von mir garantiert nicht. Ich persönlich würde es mir zweimal überlegen, bevor ich persönliche Daten an eine derartige Firma schicke. Wer weiß, wozu sie die Informationen verwenden. Und ihr solltet ebenfalls gründlich darüber nachdenken, bevor ihr das tut. Oder spielt der Datenschutz überhaupt keine Rolle mehr?«

»Okay«, sagt Mako ungeduldig. »Von wem ist es dann? Wo kommen diese Schachteln her?«

Hannah betrachtet ihr Geschenk genauer. Die Beschriftung des Anhängers ist gedruckt, man kann also keine Schlüsse aus der Handschrift ziehen.

Für: Hannah

Vom: Weihnachtsmann.

Auch das rote Hochglanz-Geschenkpapier liefert keine Hinweise. Sie hat unzähligen Rollen davon bei Target gesehen.

»Papa, sind diese Päckchen mit der Post gekommen? Oder hat jemand sie abgegeben?«

Seit ihr Vater pensioniert ist, ist er für die Post zuständig – er geht zum Briefkasten und bringt die Pakete rein. Er erledigt jetzt auch die Einkäufe, bringt den Müll raus, macht Besorgungen. Der Jäger und Sammler.

Er hebt die Hände. »Nein, die sind nicht mit der Post gekommen. Irgendjemand muss sie reingeschmuggelt und hinter dem Weihnachtsbaum versteckt haben. Gestern waren sie noch nicht da.«

»Hm«, meint Hannah. »Ein Weihnachtsrätsel.«

Sie versucht, die Sache herunterzuspielen. Aber es ist schon merkwürdig, oder? Sie glaubt nicht, dass ihr Bruder lügt. Sie weiß mit Sicherheit, dass die Päckchen nicht von ihr und Bruce stammen. Hat noch jemand Zugang zum Haus? Hat sich jemand hier reingeschlichen? Nein, das ist doch albern. Der Einzige, der in Häuser einbricht und Geschenke hinterlässt, ist der Weihnachtsmann.

»Findet ihr das nicht auch merkwürdig?«, fragt sie.

»Jemand hat sich einen Spaß erlaubt«, meint Bruce, stapelt ihre beiden Origins-Schachteln aufeinander und legt sie zu ihrem Geschenkestapel.

Mako blickt noch einen Moment stirnrunzelnd drein, dann steht er auf und schenkt sich den sechsten Bourbon ein. Falls es Liza Sorgen bereitet, dass er so viel trinkt, zeigt sie es nicht. Sie betrachtet ihre Origins-Schachtel.

»Ich weiß nicht, wer uns das unter den Weihnachtsbaum gelegt hat oder warum. Tut mir leid, ich will nicht unhöflich sein, aber ich finde das Ganze ein wenig unheimlich. Besten Dank, aber meins landet im Müll«, erklärt sie.

Dann steht sie auf, um ihren DNA-Test zu entsorgen. Hannah hört, wie der Abfalleimer in der Küche geöffnet und wieder zugeklappt wird. Liza kehrt zum Sofa zurück. Hannah versucht, den Blick ihrer Schwägerin aufzufangen, aber die sieht Mako an, mit einem leichten Stirnrunzeln.

»Gute Idee«, sagt Hannah.

Sie überlegt, was sie noch hinzufügen könnte, um eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Aber ihr fällt nichts ein. Sie gehen freundschaftlich miteinander um, sind aber keine Freundinnen – obwohl Liza immer höflich und herzlich ist. Es ist, als wäre da eine Barriere zwischen ihnen, die Hannah offenbar nicht durchdringen kann. Liza ist immer auf der Hut, und Hannah vermutet, dass Sophia der Grund dafür ist. Sie nimmt sich fest vor, mit ihrer Mutter zu reden und sie zu bitten, weniger spröde zu sein, Liza mehr das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Sophia hat ihre Macken, aber sie ist nicht immer unfreundlich. Sie kann auch warmherzig und witzig sein. Vielleicht fühlt sie sich durch Liza bedroht, obwohl Hannah sich nicht vorstellen kann, warum das so sein sollte.

Sie schaut sich noch einmal im Wohnzimmer um und spürt diese Leere, die Unterströmung von Traurigkeit, die den Feiertagen anscheinend immer anhaftet, weil man weiß, dass nichts, was funkelt und glitzert, Bestand haben kann. Stets folgt darauf die Dunkelheit. Hannah versucht, nicht an die Geschenke zu denken und daran, von wem sie sind. Es muss jemand sein, der sich in diesem Raum befindet, so viel ist klar. Aber was soll dieses Spielchen?

Sie wirft ihrem Bruder erneut einen Blick zu, aber sein Gesicht ist ausdruckslos. Sie schaut zur abgeschlossenen Haustür, zu den Fenstern, hinter denen Dunkelheit liegt. Es ist schon seltsam.

Hannah steht auf, um weiter aufzuräumen, während Mako und Liza ihre Sachen zusammensammeln. Hannah und Bruce werden hier übernachten, was Liza und Mako niemals tun. Hannah versteht das. Ihre Mutter sorgt nicht gerade für einen angenehmen Aufenthalt. Sogar Bruce würde es vorziehen, nicht hier zu schlafen. Aber sie werden bleiben. Und Gigi schläft tief und fest in ihrem Körbchen in der großzügigen, schön eingerichteten Gästesuite.

Es ist eben ihre Familie. Bruce hat außer seiner Mutter kaum Angehörige. Eigentlich gar keine. Also wird Hannahs Familie alles sein, was Gigi hat. Sie ist nicht perfekt.

Aber welche Familie ist schon perfekt?

Draußen in der Auffahrt umarmt Mako sie fest.

»Warum hast du diese Geschenke mitgebracht?«, fragt sie leise.

»Warum sollte ich das tun?«

»Richtig«, sagt sie. Ja, warum sollte er?

»Lass dich nicht vom Mama ärgern«, flüstert sie und drückt ihn fest an sich.

»Du hast recht. Sie ist eben, wie sie ist.«

»Das gilt für uns alle, oder? Niemand ist vollkommen.«

Er legt die Hand an ihre Wange. »Außer dir.«

Hannah bedeckt seine Hand mit ihrer. Sie kann von Glück sagen, einen Bruder wie Mako zu haben.

»Bleibt es bei unserem langen Wochenende im Sommer?«, fragt er im Gehen. »Das Ferienhaus ist schon gebucht.«

Sie hat keine Ahnung, warum er so versessen auf diese Idee ist. Er hat es bereits mehrfach angesprochen. Es soll sein Geburtstagsgeschenk für Hannah sein und gleichzeitig ein Bonus für Bruce, ein Dankeschön für die harte Arbeit, die er geleistet hat. Mako ist so, setzt sich irgendwas in den Kopf und hält daran fest. Sicher steckt noch irgendwas anderes dahinter, Hannah weiß aber nicht, was.

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er die Sache absagen wird, wenn es so weit ist, oder dass Bruce dann unabkömmlich ist. Nur Erwachsene, darauf hat Mako bestanden. Also werden Hannah und Bruce eine Betreuung für Gigi organisieren müssen – die sie bislang noch nicht mal für einen einzigen Abend alleingelassen haben. Hannah weiß nicht genau, ob sie schon dazu bereit ist.

Aber Mako schwärmt begeistert von diesem fantastischen Ferienhaus tief in den Wäldern von Georgia, eine Art Wellness-Oase mit Wandern, Yoga und Massagen. Er hat so eine Art, mit Worten ein Bild zu malen – ein idyllisches Wochenende in der Natur, ein Kamin, sie und Bruce könnten ihr Paar-Sein neu entdecken, und vielleicht würde sich eine Gelegenheit ergeben, Liza näherzukommen. Wir laden auch Cricket ein – Hannahs beste Freundin, die praktisch zur Familie gehört.

Hannah hat zugesagt und den Termin in ihren Kalender eingetragen. Es ist noch ein halbes Jahr hin. Eine Ewigkeit. Bis dahin kann alles Mögliche passieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses verlängerte Wochenende tatsächlich stattfinden wird, ist praktisch gleich null.

»Klar«, sagt sie und schaut zu Bruce, der stirnrunzelnd auf sein Handy starrt. Hannah spürt ein vertrautes Aufflackern von Unbehagen. »Sicher.«

»Lass es dir bloß nicht vom ihm ausreden«, sagt Mako mit einem Blick auf Bruce, der aufsieht und liebenswürdig die Achseln zuckt. Das Stirnrunzeln ist verschwunden.

»Wir sind dabei«, bekräftigt er, und Mako nickt zufrieden.

»Das Haus ist abgelegen, aber es gibt WLAN«, fährt Mako fort. »Wir können also ins Internet, wenn wir arbeiten müssen. Und du kannst diesen Baby-Monitor im Auge behalten.«

»Ich könnte Gigi doch mitbringen«, sagt sie.

»Aber dann wäre es für dich und Bruce kein Urlaub, oder?«

Das stimmt. Aber seine Äußerung ärgert sie. Wenn man erstmal Kinder hat, sieht man, dass die Welt zweigeteilt ist. Es gibt Leute mit Kindern, und es gibt Leute ohne Kinder. Die frischgebackenen Eltern wissen, wie es vorher war. Aber die Nicht-Eltern haben keine Ahnung, wie es mit Kindern ist. Dadurch ist eine Kluft zwischen ihr und Mako entstanden, die sich erst schließen wird, wenn er selbst Kinder hat, und vielleicht noch nicht mal dann.

Hannah blickt zu Liza, die neben dem Auto steht und unbeteiligt zu ihnen hinübersieht. Hannah kann sich ihre zierliche, dünne Schwägerin nicht als Schwangere oder Mutter vorstellen. Was natürlich albern ist, vorurteilsbeladen und nicht nett. Manchmal hat Hannah mehr von Sophia, als sie sich selbst eingestehen möchte.

»Wie bist du denn auf das Haus gekommen?«, fragt sie. Normalerweise mietet Mako keine Ferienhäuser.

»Ich schicke dir den Link. Es ist wirklich fantastisch.«

Natürlich. Irgendein Schuppen mitten im Nirgendwo wäre nicht Makos Stil. Immer nur vom Feinsten, das ist sein Motto.

Offensichtlich wird Liza fahren. Als Hannah zu ihr tritt, zieht ihre Schwägerin sie in eine rasche Umarmung.

»Danke für alles«, sagt Liza.

»Ohne dich hätte ich das nie geschafft«, erwidert Hannah. Und Liza lächelt, ein liebes, warmherziges Lächeln. Hannah beschließt, dass sie sich im neuen Jahr erneut bemühen wird, ein besseres Verhältnis zu ihrer Schwägerin aufzubauen.

Liza setzt sich hinter das Steuer des neuen Tesla.

»Pass auf dich auf«, sagt Hannah zu Mako und tritt vom Auto weg. »Arbeite nicht zu viel.«

Er lacht, fährt sich mit den Fingern durchs Haar und sieht Bruce an, der neben ihr steht. »Ich versuch’s.« Er klopft Bruce auf die Schulter. »Seit dein Mann mir den Arsch gerettet hat, ist es sehr viel weniger stressig.«

Sie weiß nicht genau, was er damit meint. Irgendein Computer-Glitch im neuen Spiel, den Bruce entdeckt und beseitigt hat. Manchmal sprechen die beiden eine Sprache, die sie nicht versteht. Sie weiß, die beiden werden rund um die Uhr arbeiten, bis das neue Spiel auf den Markt gekommen ist. So ist das nun mal in der IT-Branche.

Das Auto gleitet davon, leise und schnittig wie ein Hai, und sie und Bruce winken, bis es außer Sicht ist. Es ist kühl, aber mild, die Palmwedel rascheln. Irgendwo knallt eine Bootsleine – das Boot der Nachbarn, das an der Anlegestelle hinter den Häusern liegt. Weihnachten in Florida.

Ihr Mann starrt einen Moment hinter dem Auto her, einen sonderbaren Ausdruck im Gesicht.

»Was ist?«, fragt Hannah.

Er schüttelt den Kopf, offenbar aus seinen Gedanken gerissen. »Nichts. Alles gut.«

Später, ihre Eltern und Gigi schlafen fest, Bruce sitzt vor seinem Laptop, »um kurz ein paar Sachen zu überprüfen«, nimmt Hannah sich einen Moment Zeit, sich vor den Weihnachtsbaum zu setzen. Die Lichter strahlen und funkeln. Sie betrachtet den Baumschmuck – einiges haben sie und ihr Bruder als Kinder gebastelt, anderes stammt aus Familienurlauben. Jetzt hängen auch ein paar winzige gerahmte Fotos von Gigi daran, ein Geschenk von Hannah für ihre Eltern. Es ist friedlich. Jetzt, wo sie älter wird, begreift sie es: Die Stille nach dem Sturm kann ein Segen sein.

Sie greift nach der Origins-Schachtel. Wahrscheinlich war es doch Mako. Sieht ihm ähnlich, Geschenke zu machen, die nur Ärger bereiten. Er war schon immer ein Unruhestifter. Und mal ehrlich, wer sollte es sonst gewesen sein?

»Warst du das?«, fragt sie ihren Mann, der an der Kücheninsel sitzt, das Gesicht von Bildschirm bläulich erleuchtet. Er blickt verständnislos.

»Was denn?«

Sie greift nach der Schachtel und hält sie hoch. »Sind die von dir?«

»Von mir? Nein. Nein, ich finde, man sollte keine schlafenden Hunde wecken.«

»Was soll das denn heißen?«

»Nur … du weißt schon.« Er hebt die Schultern und wirft ihr einen unschuldigen Blick zu. »Es gibt Dinge, an die man besser nicht rührt, sonst könnte es Ärger geben.«

Irgendwas ist komisch an der Art, wie er das sagt. Sie will nachhaken, aber er erklärt: »Nur noch eine Minute, okay? Ich bin fast fertig.«

Als sie aufsteht, um ins Bett zu gehen – Bruce arbeitet noch –, wirft sie die letzten Geschenkpapierreste in den Müll. Sie sucht nach der Schachtel, die Liza weggeworfen hat. Das ist schließlich Verschwendung, oder? Diese Dinger sind teuer. Wenn Mako sie gekauft hat, kann er sie vielleicht zurückschicken. Aber da ist nichts.

Die Origins-Schachtel ist weg.

Hannah grübelt kurz darüber nach und geht dann zur Haustür. Abgeschlossen. Bruce hat die Alarmanlage angestellt. Sie weiß, dass ein Bewegungsmelder ein Signal auf das Smartphone ihres Vaters schickt, wenn jemand vor der Tür steht. Unmöglich können die Päckchen ohne sein Wissen angeliefert worden sein. Niemand kann hier eindringen, während alle schlafen.

Sie sind in Sicherheit, denkt Hannah. Sie war immer schon sehr sicherheitsbewusst. »Captain Safety« war früher ihr Spitzname in der Familie. Seit sie ein Kind hat, hat sich diese Eigenschaft (dieser Fehler?) noch verstärkt. Als sie hinausschaut, sieht sie einen schwarzen BMW, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkt. Auch andere Autos parken dort, sie gehören Leuten, die hier Weihnachtsbesuche machen. Die Häuser in der Straße haben alle aufwendige Weihnachtsdekorationen – aufblasbare Weihnachtsmänner, Lichterketten in den Palmen, glitzernde Rentiere in den Vorgärten. Einen Moment beobachtet Hannah die Straße. Alles ist ruhig. Alles leuchtet.

Sie tritt zu ihrem Mann, schlingt die Arme um ihn und drückt ihre Lippen auf seinen Nacken. Er klappt den Laptop zu – ein wenig zu schnell vielleicht? Sie tut so, als hätte sie nichts bemerkt. Bruce dreht sich auf dem Stuhl zu ihr herum, und sie schmiegt sich an ihn. Er legt die Hand an ihre Wange und küsst sie.

»Wirklich?«, flüstert er, als ihre Hände sich an den Knöpfen seiner Hose zu schaffen machen. »Ich dachte, du magst es nicht, wenn wir – du weißt schon, im Haus deiner Eltern …«

Aber heute ist ihr das egal. Ihr Bruder, der Abstammungs-Test, der Wein, den sie getrunken hat, Liza, ihre Mutter, die Anspannung der Feiertage, die Familie – all das kommt zusammen. Die Traurigkeit darüber, dass ein Glücksmoment vorbei ist. Sie will das alles wegschieben. Sie will mit dem Menschen zusammen sein, den sie sich für dieses Leben erwählt hat, ihrem Mann. Sie will ihm zeigen, was er ihr bedeutet.

Sie sinkt auf die Knie.

»Hannah«, stöhnt er und wirft einen unbehaglichen Blick in Richtung ihres Schlafzimmers. »Deine Eltern.«

Sie schenkt ihm ein spitzbübisches Lächeln, bevor sie ihn in den Mund nimmt. Er stöhnt und packt den Rand der Kücheninsel.

Diskussion beendet.

In der Familie war Hannah immer das brave Mädchen, die Verantwortungsvolle, die Vermittlerin, diejenige, die alles richtet.

Aber manchmal fühlt es sich gut an, auch mal unartig zu sein.

1

HANNAH

Juni 2018

Das Nachtlicht warf Sterne an die Decke, und Hannah lag auf dem flauschigen Teppich und sah zu, wie sie funkelten und sich langsam drehten. Sie lauschte auf Gigis regelmäßige Atemzüge. Das Baby – mit fünfzehn Monaten jetzt fast ein Kleinkind –, war gerade in seinem Bettchen eingeschlafen.

Hannah rührte sich nicht, obwohl ihr Arm, den sie unter den Kopf gelegt hatte, unangenehm zu kribbeln begann. Eine falsche Bewegung, und diese engelhaften Augenlider würden sich öffnen. Dann müsste Hannah mindestens noch eine halbe Stunde auf dem Boden liegenbleiben.

Sie atmete. Gigi atmete.

Bruce war in seinem Arbeitszimmer am anderen Ende des Flurs, und sie konnte seine tiefe Stimme hören. Er hing am Telefon, arbeitete wie gewöhnlich zu lange. Hannah lauschte. Klang seine Stimme nicht ein wenig gepresst? Schwang da Ärger mit? Oder eine leise Verzweiflung, ein Flehen?

Doch dann wurde es still. Nach ein paar Minuten hörte sie, wie er nach draußen ging. Man hörte ein Klingeln, wie immer, wenn die Hintertür geöffnet wurde.

Das Unbehagen, das Hannah überkam, war ihr inzwischen nur zu vertraut.

In letzter Zeit war ihr Mann immer sehr spät nach Hause gekommen. Zweimal war sie nachts aufgewacht, um festzustellen, dass er wieder aufgestanden war und an seinem Schreibtisch saß. Als sie hereinkam, hatte er schnell den Laptop zugeklappt. Es hatte Anrufe gegeben, die er annahm, um dann vom Tisch aufzustehen oder das Wohnzimmer zu verlassen.

Hannah war nicht der eifersüchtige Typ. Und ihr Mann war liebevoll und hingebungsvoll, ein wunderbarer Vater.

Aber.

Sie hörte ihn wieder ins Haus kommen und widmete ihre Aufmerksamkeit erneut ihrer schlafenden Tochter, die sich auf die Seite gedreht hatte.

Hannah und Gigi hatten eins dieser unguten Einschlafrituale entwickelt, vor denen Kinderärzte und Elternratgeber immer warnten. Angefangen hatte es mit einem schweren Gewitter im letzten Monat, Donner hatten gekracht, Blitze gezuckt. Bruce war geschäftlich unterwegs gewesen, und Gigi hatte geschrien wie am Spieß.

Hannah war auf dem Boden liegengeblieben, bis das Gewitter weitergezogen war und die Kleine endlich eingeschlafen war.

Bleib hier, Mama, hatte Gigi sie am nächsten Abend gebeten.

Dann musste sie natürlich auch am Abend danach bleiben, und am folgenden. Mittlerweile war es zu einer festen Routine geworden, die schwer wieder abzuschaffen war. Alle Eltern wussten, welche enorme Energie nötig war, um mit einer schlechten Gewohnheit zu brechen. Eine Energie, die Hannah einfach nicht besaß. Manchmal war es leichter, es einfach laufen zu lassen.

Und überhaupt – wen interessierte es?

Was war denn so schlimm daran, auf dem Teppich zu liegen, während ihre kleine Tochter sie unverwandt anschaute, bis ihre Augenlider flatterten und sich schlossen, dann wieder aufklappten, um sicherzugehen, dass sie noch da war? Wer hatte sie je so geliebt? Und wie lange würde es dauern, bis Gigi ihre Mutter gar nicht mehr in ihrem Zimmer haben wollte? Dieser dämmrige Raum mit den funkelnden Sternen und den Regalen voller Spielsachen und Bücher, den Wänden, die sie und Bruce selbst gestrichen hatten. Er war einer ihrer liebsten Orte auf der ganzen Welt.

Wieder die Stimme ihres Mannes, lauter diesmal. Doch, sein Tonfall war irgendwie merkwürdig. So sprach er normalerweise nicht mit Kunden.

Sie musste beschämt zugeben, dass sie vor ein paar Tagen, als er unter der Dusche war, an sein Arbeitshandy gegangen war. Er hatte zwei Telefone – sein Leben-Handy, wie sie es nannten, das immer irgendwo herumlag, nicht passwortgeschützt – ein offenes Buch. Und sein Diensthandy – sie hatten eine unausgesprochene Vereinbarung, dass sie das nicht anrührte. Er hatte Kunden – Auftraggeber aus Militär, Regierung, Security – deren Angelegenheiten geheim waren. Und ihr wäre zuvor nie in den Sinn gekommen, diese rote Linie zu überschreiten.

Als Fan der Inbox-Zero-Methode hatte er die Angewohnheit, alle Nachrichten sofort zu löschen. Da war also nichts zu holen. Doch in der Anrufliste standen Kontakte, die ihr größtenteils unbekannt waren, aber auch ein paar bekannte Namen – das Büro, Mako, Bruces virtueller Assistent –, und in letzter Zeit hatte es drei Anrufe von einem unbekannten Anrufer gegeben. Keine Nummer. Keine Möglichkeit zurückzurufen. Fast hätte sie Bruce darauf angesprochen, zugegeben, dass sie herumgeschnüffelt hatte. Aber sie wusste bereits, dass er sagen würde, was er immer sagte: »Schwieriger Kunde.«

Über viele seiner Kunden durfte er nicht reden, und wahrscheinlich war das auch wirklich der Grund.

Aber.

Hannah versuchte immer achtsam zu sein, freundlich zu sich selbst, wie es heutzutage von einem erwartet wurde. Selbstfürsorge und all das. Aber mit ihrer Nach-dem-Baby-Figur Freundschaft schließen konnte sie nicht. (Obwohl ihr das mit der Vor-Baby-Figur auch schon nicht richtig gelungen war.) Zudem war sie manchmal noch im Schlafanzug, wenn Bruce zur Arbeit fuhr, und trug ihn immer noch, wenn Bruce abends nach Hause kam. Der Sex war immer gut, doch in letzter Zeit schnell und hastig, dazu oft durch Gigi unterbrochen. Zudem waren sie beide aus unterschiedlichen Gründen überarbeitet und so erschöpft, dass sie sofort danach einschliefen.

Vielleicht gab es im Büro eines seiner Kunden ein junges, heißes Ding.

Eine Frau, die nicht im Schlafanzug war.

Die täglich duschte.

Ihr Mann sah – man musste es so sagen – wahnsinnig gut aus. Er war breitschultrig und groß, mit seinen über eins achtzig überragte er ihren Bruder bei weitem. Eine wie gemeißelte Kieferpartie und große Augen, die vor Intelligenz und Wärme sprühten. Er grübelte manchmal ein bisschen viel, war vielleicht ein bisschen streng. Aber er hielt sich durch Laufen in Topform, war stets gut angezogen und gepflegt. Er war ein guter Fang.

Das war ihr schon an dem Abend klargewesen, als sie sich kennenlernten. Obwohl sie gerade dabei gewesen war, sich von einer hässlichen Trennung zu erholen, hatte sie es sofort gewusst. Mako hatte in einem angesagten neuen Restaurant in St. Petersburg, in das er investiert hatte, eine seiner Mega-Partys veranstaltet, zu der auch Bruce eingeladen war. Das war noch vor Liza gewesen. Ihr Bruder hatte sie einander vorgestellt. »Das ist meine Schwester, die zufällig auch meine beste Freundin ist«, hatte er verkündet und beschützend den Arm um sie gelegt. »Und das ist Bruce – vielleicht der intelligenteste Mensch, den ich kenne. Und der ehrlichste.«

Bei ihm ist man sicher. Hannah erinnerte sich, dass sie das gedacht hatte, als sie sich die Hand gaben. Sein Handschlag war warm und fest, aber nicht so fest wie bei manchen Männern, die ihren Händedruck als Statement zu betrachten schienen. Sie war noch stark mitgenommen nach der Trennung von einem Mann, der sie betrogen und grenzwertig beschimpft und beleidigt hatte. Danach hatte er ständig nachts angerufen und Nachrichten hinterlassen, die abwechselnd verzweifelt und beleidigend waren. Chad. Auch ein Freund ihres Bruders, aber jetzt natürlich nicht mehr, nachdem er Hannah so behandelt hatte. FVMs, so nannte ihre beste Freundin Cricket sie gern, Freunde von Mako. Alles intelligente, erfolgreiche Spitzenkräfte auf ihrem Gebiet, aber viele davon auch veritable Arschlöcher. Dieser besondere Charakterzug stellte sich offenbar oft bei Menschen ein, die Macht bekamen.

Doch dieser Mann schien anders zu sein. Was ihr auffiel, war seine nüchterne Gelassenheit, seine Eleganz. Und diese Augen.

Er trug eine puristische Armbanduhr, analog mit blauem Zifferblatt und silbernen Zeigern, reines Understatement. Sie fing das Licht ein und glitzerte. Hannah gefiel sie, weil es nicht die übliche Rolex war, die Männer gern trugen, um allen zu signalisieren, wie reich sie waren. Wie sie später erfuhr, liebte Bruce Uhren, Präzisionsinstrumente mit nur einem Zweck, nämlich dem, das Verstreichen der Zeit zu messen. Eine seltsame Leidenschaft für einen IT-Mann.

Sie waren ins Gespräch gekommen und unterhielten sich angeregt, und irgendwann traten sie auf die Terrasse hinaus in die kühle Nachtluft. Die Bucht glitzerte, und auf der anderen Seite des Beach Drive lag das kleine Museum of Fine Arts, hell angestrahlt.

»Du kannst unmöglich mit Mako verwandt sein«, hatte er nach einer Weile gesagt.

»Nicht?«

»Du bist zu … echt.«

Sie fragte nicht, was er damit meinte. Sie wusste es. Die Mako-Show. Sie lief ununterbrochen.

An dem Abend, an dem sie ihren Mann kennenlernte, kam sie frisch vom Friseur, war frisch manikürt und gewaxt. Alle ihre Vorzüge kamen bestens zur Geltung. Damals hatte sie für Mako gearbeitet: Events geplant, Kunden betreut, Firmenretreats gebucht, die besten Hotels und Restaurants für Makos Geschäftsreisen ausfindig gemacht, Reservierungen getätigt. Es war nicht die berufliche Karriere, die sie sich eigentlich vorgestellt hatte. Aber.

Bruce redete wieder, seine Stimme drang durch den Flur zu ihr. Hannah lauschte, konnte aber die Worte nicht verstehen.

Bei ihrem kurzen und wenig hilfreichen Besuch letzte Woche hatte ihre Mutter dezent angedeutet, dass Hannah dringend mal wieder zum Friseur müsse, vielleicht zur Maniküre. Wir dürfen uns auf keinen Fall vernachlässigen, Liebes, auch nicht, wenn ein Baby da ist.

Sophia hatte nicht angeboten, auf Gigi aufzupassen, damit Hannah das erledigen konnte. Nein, bei ihren Besuchen machte Sophia immer nur ein Foto von sich und dem Baby, das sie ihren Freundinnen schicken konnte, und drückte Hannah das Kind danach sofort wieder in den Arm. Hannah spürte, dass ihre Mutter gern mehr Nähe zu ihrer Enkelin gehabt hätte, sich aber nicht traute. »Sie ist so winzig«, hatte sie mehr als einmal gesagt. »So zerbrechlich.«

Selbst wenn der Besuch gut verlief und Sophia ein bisschen putzte oder kochte, fühlte Hannah sich danach noch unsicherer, erledigter und erschöpfter als vorher.

Als Bruce am Abend nach Sophias letztem Besuch laufen gegangen war, hatte Hannah versucht, an seinen Laptop zu gehen, aber feststellen müssen, dass er passwortgeschützt war. Sie hatte es mit Gigis Geburtstag und ihrem Hochzeitstag versucht, sich aber nicht getraut, es ein drittes Mal zu probieren, weil sie wusste, dass der Laptop nach zwei Fehlversuchen gesperrt wurde.

War er immer schon passwortgeschützt gewesen? Sie wusste es nicht, weil sie nie zuvor versucht hatte, ihren Mann auszuspionieren.

Sie war auf dem besten Weg, zu einer dieser Frauen zu werden.

Endlich, nach einem kritischen Blick in den Spiegel, hatte Hannah letzte Woche ihre Schwiegermutter gebeten, eine Weile auf Gigi aufzupassen. Lou war das genaue Gegenteil von Hannahs Mutter; sie bestand darauf, dass Hannah sich mal hinsetzte und die Füße hochlegte, während sie selbst Kaffee kochte, eine Ladung Wäsche wusch und mit Gigi spielte. Sie machte Fotos von dem Baby, aber keine Selfies. Lou war nicht auf Facebook. Es gab keine Posts, die Hannah sich dann verärgert ansah: Heute gab es nur die kleine Gigi und ihre Oma! Sie ist das Licht meines Lebens!

Lou hatte sehr gern auf Gigi aufgepasst, während Hannah sich mit Warmwachs die Bikinizone enthaaren ließ, was so sehr wehtat, dass sie Sterne sah. Dann Maniküre und Pediküre. Haare schneiden, tönen und föhnen. Sie kaufte sich neue Dessous und etwas gehobene Loungewear.

Gut, ja, sie hatte eine kleine Rundumerneuerung dringend nötig gehabt.

Jetzt wandte sie den Kopf und schaute Gigi an.

Das geliebte Gesichtchen. Sie hatte eindeutig Bruces Augen, groß und unschuldig, und auch ihre hohe, intelligente Stirn hatte sie vom Vater. Aber ansonsten war sie mit ihren vollen, geschwungenen Lippen, der Stupsnase, dem breiten Lächeln und den hohen Wangenknochen Hannah wie aus dem Gesicht geschnitten. Hannah, die nach ihrem Vater Leo kam. Das sagten alle. Sie hatte sich ihre Tochter in den letzten Wochen sehr genau angesehen, ihre Gesichtszüge analysiert.

Sie hatte verwundert die ungepflegte Frau im Spiegel angestarrt und sich gefragt, ob sie wirklich eine so große Ähnlichkeit mit Leo hatte. Jedenfalls hatte sie viel von ihrer Mutter, auch wenn sie sich in Haar- und Augenfarbe unterschieden.

Hannah war ganz in diese Überlegungen versunken, als Bruce leise die Tür aufschob. Er lächelte nachsichtig, als er sie auf dem Boden liegen sah. Dann machte er eine Geste, als hielte er sich ein Glas an die Lippen.

Ja, dachte sie. Das wäre schön. Sie nickte, und er verschwand in der Dunkelheit.

Ihr Arm tat weh, als sie auf allen vieren aus dem Kinderzimmer kroch – ja, kroch, und sie schämte sich nicht dafür. Erst vor der Tür kam sie auf die Füße. Sie konnte den Cabernet schon fast schmecken, den Bruce ihnen vermutlich gerade einschenkte.

Sie blieb im schwach beleuchteten Flur stehen, wartete mit angehaltenem Atem.

Gigi gab ein leises Glucksen von sich und drehte sich auf den Rücken. Eins. Zwei. Drei. Stille.

Mission erfüllt.

Das Kind schlief.

Hannah seufzte so, wie Mütter es nur tun, wenn das Baby eingeschlafen ist und sicher in seinem Bettchen liegt.

Als freie Frau tappte sie in den offenen Wohnbereich. Bruce hatte das Licht gedimmt, leise Musik spielte. Sein Jazz-Sender. Er stand in der Küche, hatte zwei Gläser bereitgestellt und den Cabernet in eine Karaffe gefüllt.

»Schläft sie?«, fragte er.

Sie nickte. »Fertig mit der Arbeit für heute?«

Er lächelte sie an und schenkte den Wein ein. »Hab früh Schluss gemacht.« Es war fast neun Uhr abends.

Er reichte ihr ein Glas, und sie schlenderten ins Wohnzimmer, wo er den falschen Kamin anstellte, der nur Licht spendete und keine Wärme. Schließlich lebten sie in Florida. In einem Haus, in dem in zehn von zwölf Monaten die Klimaanlage lief, wäre ein echter Kamin albern gewesen. Hannah ließ sich auf die Sitzlandschaft sinken. Am liebsten hätte sie den Fernseher angestellt und eine Weile abgeschaltet.

»Mit wem hast du denn so spät am Abend noch telefoniert?«, fragte sie leichthin. »Du klangst verärgert.«

Er verdrehte die Augen. »Schwieriger Kunde.«

Sie versuchte, in seinem Gesicht einen Hinweis darauf zu entdecken, dass er sie täuschte, sah aber nur Müdigkeit.

»Willst du darüber reden?«

»Ich würde lieber über alles andere reden, um ehrlich zu sein«, seufzte er und stellte sein Weinglas auf dem Couchtisch ab.

Sie massierte ihm den Nacken, die Stelle, an der sich immer seine ganze Anspannung sammelte.

»Meinst du, dass du am Wochenende mal abschalten kannst?«, fragte sie.

Sie bezweifelte es stark. Sogar in ihrem Hawaii-Urlaub letztes Jahr war er nicht fähig gewesen, seine Firma sich selbst zu überlassen; vormittags hatte er meistens gearbeitet, während sie mit Baby Gigi im Kinderbecken plantschte. Sie hatte sich nie beschwert oder ihm eine Szene gemacht, schließlich hatte sie gewusst, wie er war, als sie ihn heiratete.

»Ich werde es versuchen«, sagte er, zog sein Handy aus der Tasche und warf einen schnellen Blick darauf. »Was ist mit dir?«

Sorge stieg in ihr auf. »Es ist das erste Mal, dass wir ohne Gigi wegfahren.«

»Meine Mutter kommt gut mit ihr zurecht.« Er legte ihr beruhigend die Hand aufs Bein.

»Ja«, bestätigte Hannah. Gigi betete ihre Oma Lulu an. »Nur deshalb habe ich es überhaupt in Erwägung gezogen.«

»Nur deshalb?«

Er rückte näher, nahm ihr Glas und stellte es auf der antik gebürsteten und gekälkten Tischplatte ab. Sie schmiegte sich an ihn.

Eigentlich war ihr nicht nach Rummachen zumute, aber sie wollte ihn auf keinen Fall wegschieben. Sie brauchten die Verbundenheit, die Nähe. Seine Lippen liebkosten ihren Hals. Sie spürte die Stärke seiner Arme. Roch den leichten Duft seines Aftershaves.

Hmm. Vielleicht war ihr doch nach Rummachen. Schließlich hatte sie eine frisch enthaarte Bikinizone. Beim letzten Mal hatten sie das Licht ausgemacht. Sie erwiderte seinen Kuss und ließ sich von dem Moment mitreißen, von seinem Begehren.

Gigi stieß ein leises Wimmern aus. Beide erstarrten und blickten zum Monitor des Babyfons, der auf der Küchenarbeitsplatte stand. Hannah wollte aufstehen, aber Bruce hielt sie sanft zurück. »Warte einen Moment, vielleicht beruhigt sie sich wieder.«

Stille. In der Ferne rollte der Donner, Blitze zuckten. Dann kamen leise Atemgeräusche aus dem Babyfon. Hannah, die die Schulter hochgezogen hatte, entspannte sich.

»Ich schwöre, sie hat einen siebten Sinn dafür«, meinte er, griff nach seinem Glas und lächelte schief.

Das Baby war ohne Zweifel eine Sexbremse. Jedes Begehren, das sich geregt hatte, erlosch. Kein Wunder, dass Bruce es mit der heißen Frau aus dem Büro irgendeines Kunden trieb. Nein, das tat er nicht. Natürlich tat er das nicht. Sie kannte doch ihren Mann. Oder nicht?

Hannah griff nach ihrem Weinglas, kuschelte sich in seine Armbeuge, starrte auf die tanzenden falschen Flammen und nahm einen tiefen Schluck. Er drückte einen zärtlichen Kuss auf ihren Scheitel.

»Im Ferienhaus werden wir jede Menge Zeit für uns haben«, sagte sie, als Trost für ihn ebenso wie für sich selbst.

»Bist du dir da sicher?«

»Wir werden dafür sorgen.«

»Das Programm, das dein Bruder uns geschickt hat, sieht ziemlich voll aus. Wandern, Ziplining, Yoga, Massagen, Kosmetikbehandlungen.«

»Er ist nicht unser Boss.« Aber in der Tat konnte Makos Enthusiasmus manchmal fast gebieterische Züge annehmen. Und ja, manchmal fühlte Hannah sich machtlos, wenn er mal wieder seinen Willen durchsetzte. Doch im Grunde war er ein lieber Kerl, meistens, auch wenn er so seine Momente hatte. Er war einfach eine starke Persönlichkeit, das war sicher nicht jedermanns Sache.

»Im Grunde ist er mein Chef«, sagte Bruce und fuhr sich mit der Hand durch die Locken. »Momentan jedenfalls.«

Bruce war selbstständig, ein Programmiergenie mit einer eigenen Firma. Mako war der Gründer einer wachsenden Gaming-Firma und Entwickler des erfolgreichen Spiels Red World. Ihr Mann hatte eine Nische für sich in der IT-Branche gefunden: Er reparierte, entdeckte Viren, Sicherheitslücken, Fehler im Programmiercode, die sogar den Entwicklern der Software entgangen waren und Glitches verursachten. Zu Hause war er genauso. Immer war er am Kontrollieren und Reparieren – sei es die Toilettenspülung, eine abgesplitterte Stelle in der Fußleiste, das kaputte Licht in der Dusche. Hannah hatte ihn noch nie darum bitten müssen, irgendwas in Ordnung zu bringen. Er sah immer sofort, was getan werden musste.

Er ist eine Art Computerflüsterer, hatte Mako einmal gesagt. Lebt innerhalb des Codes, der Code spricht zu ihm.

In den fünf Jahren, die Hannah und Bruce jetzt verheiratet waren, hatte er einige Aufträge für Mako erledigt, und vor kurzem hatte er ihren Bruder unmittelbar vor dem wichtigen Release eines Spiels vor einem Fiasko bewahrt. Mako wollte, dass er ganz bei Red World anfing; das Thema war seit Weihnachten einige Male zur Sprache gekommen. Er hatte Bruce sogar offiziell eine hochbezahlte Stelle als sein Technischer Geschäftsführer angeboten. Aber ihr Mann zog gern sein eigenes Ding durch, er hatte sich eine eigene Firma aufgebaut und war nicht bereit, sie zu verkaufen, um für Mako zu arbeiten. Möglich, dass es deswegen leichte Spannungen zwischen den beiden gab, weil Mako normalerweise bekam, was er wollte. Aber es war eine freundschaftliche Spannung. Die beiden Männer waren befreundet, seit Jahren schon. Also hielt Hannah sich da raus.

»Du bist der Chef«, erinnerte sie ihn.

»Eigentlich bist du das«, sagte er und küsste sie auf den Scheitel.

Ein Krähen von Gigi kam aus dem Monitor. Sie blickten einander an und lachten. Jeder wusste, wer hier der Chef war.

»Es ist schlechtes Wetter angekündigt«, sagte sie. »Über dem Atlantik braut sich ein Sturm zusammen, der am Freitag die Küste erreichen soll. Wenn er bei uns im Binnenland ankommt, sollte er sich abgeschwächt haben. Aber trotzdem, Wanderwetter wird das nicht. Wir sollten reichlich Zeit zum Faulenzen haben.«

Bruce griff nach seinem Telefon und sah auf der Wetter-App nach. »Hier soll das Wetter gut werden. Gigi und Lou werden keine Probleme haben.«

»Andere Küste. Wie es aussieht, soll unser tropischer Sturm um St. Simons Island herum auf Land treffen.«

Viele Meilen entfernt von ihrem Ferienort Sleepy Ridge.

Ihr Handy meldete sich. Mako.

Schon fertig gepackt? Das wird echt mega.

Das war Makos Lieblingswort. Alles war »mega«.

Wann fahrt ihr los?

Sie schrieb: Bruces Mutter kommt gegen sieben. Das Gepäck ist schon im Auto, wir können dann also sofort los.

Ein plötzlicher Anflug von Sorge. Drei Nächte weit weg von Gigi. Sie unterdrückte den Impuls. Es war alles okay. Sie brauchte mal eine Auszeit. Bruce auch. Und für Gigi und Lou war es eine gute Gelegenheit, ihre Beziehung zu vertiefen. Es war für alle gut.

Warum war ihr dann so mulmig zumute?

Wunderbar. Cricket und ihr derzeitiger Freund – wie hieß er noch mal? – kommen ungefähr um dieselbe Zeit an. Wir werden alle rechtzeitig zum Essen da sein, das unser Privatkoch für uns zaubern wird.

Bruce, der über ihre Schulter mitgelesen hatte, stieß die Luft aus. »Ein Privatkoch? Ich dachte eigentlich, es würde entspannter zugehen und wir würden grillen: Burger, Spare Ribs.«

Hannah spürte den vertrauten Drang zu vermitteln und versuchte, ihren Bruder anzurufen, aber es meldete sich nur die Mailbox. Mako ging fast nie ans Telefon. Er schätzte es, seine Kommunikation möglichst effizient zu gestalten – sagte er wenigstens. Hannah vermutete, dass er einfach keine Lust auf die chaotischen Unwägbarkeiten eines echten Gesprächs hatte.

Wieder piepste ihr Handy: Sag Bruce, der Koch wird grillen. Ich weiß doch, was für ein Fleischesser unser Großer ist. Aber du kennst ja Liza.

Keine Erwähnung davon, dass Hannah gerade versucht hatte, ihn anzurufen.

Hannah wusste nicht genau, wie Mako das meinte. Deutete er an, dass Liza sich gegen einen gemütlichen Grillabend ausgesprochen hatte? Es stimmte, sie war nicht der Typ, der Bier aus der Flasche trank und von Papptellern aß. Aber sie lebte größtenteils vegan, und wenn Fleisch aufgetischt wurde, knabberte sie an einem Salat oder aß Burger aus schwarzen Bohnen. Wenn sie das Sagen hätte, würden sie kein Fleisch grillen. Hannah vermutete, dass das von Mako kam. Er war es, der einen Privatkoch wollte. Das Protzige sprach ihn an, während es Bruce Unbehagen bereitete. Die beiden Männer hätten wirklich nicht unterschiedlicher sein können.

Hannah und Bruce wechselten einen Blick. Familie. Was sollte man machen?

Alles gut, schrieb sie. Danke noch mal.

Dieses ganze »private Wellness-Retreat« in einem riesigen, stilvoll eingerichteten und total abgelegenen Ferienhaus war Makos Idee, und er bezahlte auch. Eine derart großzügige und großspurige Geste sah ihm ähnlich.

Ist doch das Mindeste, nach allem, was ihr für mich getan habt.

Hab dich lieb, schrieb sie. Wir sehen uns morgen.

Hab euch auch beide lieb. Kann es kaum erwarten. Nur relaxen und Zeit füreinander haben.

Fast hätte sie geantwortet: Können wir mal reden? Allein?

Aber wenn sie das tat, würde er keine Ruhe geben, bis er erfuhr, was los war. Er war kein geduldiger Mensch. Und sie wusste noch nicht mal, ob sie wirklich mit ihm reden wollte. Ob das eine gute Idee war.

»Was ist los?«, fragte Bruce, der wie immer ihren Gesichtsausdruck korrekt gedeutet hatte.

»Nichts«, antwortete sie. »Ich bin nur müde.«

Wahrscheinlich war es tatsächlich nichts.

»Wir sollten unseren Anteil übernehmen. Ist ja nicht so, als könnten wir es uns nicht leisten«, sagte Bruce.

»Er möchte das gern für dich tun, für uns. Lass ihn«, erwiderte Hannah.

Bruce grunzte zustimmend. Sie kuschelte sich an ihn. Die falschen Flammen tanzten, Gigi atmete.

»Aber du wirst es ihm doch sagen, oder?«, fragte Bruce.

Sie blickte zu ihm hoch, total überrascht. Wusste er Bescheid? »Ihm was sagen?«

Er runzelte die Stirn. »Das mit dem Haus.«

Im Moment wohnten sie in Makos früherem Haus zur Miete. Sie waren noch nicht bereit gewesen, sich etwas Eigenes zu kaufen, als Mako sich vergrößern wollte. Also waren Bruce und Hannah kurz nach ihrer Hochzeit in das geräumige Haus direkt am Wasser gezogen, Makos alte Junggesellenbude, die sogar mit Badetonne und Outdoor-Küche ausgestattet war. Aber jetzt wollten sie sich ein eigenes Haus kaufen, das Zuhause, in dem Gigi aufwachsen würde. Es lag in derselben Gegend, jedoch an der Spitze des Insel-Fingers mit einem wunderbaren Blick auf das offene Meer. Ihr Angebot war akzeptiert worden, und sie hatten den Vertrag unterschrieben. Hannah empfand Unbehagen bei dem Gedanken, es ihrem Bruder zu erzählen. Aber dazu bestand doch kein Grund, oder? Er würde dieses Haus einfach verkaufen und ein Vermögen verdienen.

»Ja«, versprach sie. »Ich sage es ihm am Wochenende.«

Bruce sah sie an. Er schien ihr irgendetwas mitteilen zu wollen, schwieg dann aber.

Seine ruhige Art gehörte zu den Eigenschaften, die sie von Anfang an für ihn eingenommen hatten. Er dachte immer erst nach, bevor er etwas sagte, hörte ihr zu. Aber er neigte dazu, alles zu lange für sich zu behalten, zu viel zu grübeln. Er hatte eine schwere Kindheit gehabt – sein Vater hatte ihn und Lou verlassen, als er noch klein war. Hannah wusste, dass Lou zwei Jobs gehabt hatte, um sich und ihren Sohn über Wasser zu halten. Und Bruce hatte das Gefühl gehabt, immer stark sein und sich um seine Mutter kümmern zu müssen. Er hatte nie die Chance gehabt, wirklich Kind zu sein. Hannah versuchte, es wiedergutzumachen – sie feierte seinen Geburtstag immer ganz groß, hatte ihm eine Xbox für sein Arbeitszimmer geschenkt. Er war stoisch. Es hatte keinen Zweck, ihn zu bedrängen; sie musste abwarten, bis er sich ihr öffnete.

Was er irgendwann tun würde.

Hoffte sie.

Es sei denn …

»Es wird bestimmt toll«, sagte sie und betrachtete sein markantes Profil – kantige Kinnpartie, Adlernase. Wie müde er aussah. Sogar im orangeroten Schein der Flammen konnte sie erkennen, wie erschöpft er war.

Er brauchte diesen Kurzurlaub. Und sie ebenfalls.

Aber irgendetwas störte sie.

Sie führte das wachsende Gefühl von Unbehagen darauf zurück, dass sie Gigi zum ersten Mal allein lassen würden. Das war normal, oder nicht? Natürlich. Vollkommen normal.

Schweigend tranken sie ihren Wein aus.

2

TRINA

Ich beobachte. Ich bin die Beobachterin. Von meinem Platz im Schatten sehe ich alles.

Die Luftfeuchtigkeit ist heute brutal, treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Eins nach dem anderen gehen die Lichter aus, bis das Haus schlafend daliegt.

Ihr habt morgen alle eine lange Fahrt vor euch.

Ich ebenfalls.

Ich stehe neben einer hohen Kokospalme und verschmelze mit der Nacht. Ich habe diese Sache in Bewegung gesetzt wie einen großen Felsbrocken, gegen den ich all mein Gewicht gestemmt habe, und der jetzt zu Tal poltert, bereit, alles in seinem Weg zu zermalmen. Es hat Zeit gekostet und intensive Planung. Mehr als sechs Monate. Viele Variablen, viele Unwägbarkeiten.

Ich seufze und lausche dem Quaken der Frösche, dem Rascheln der Palmwedel im Wind.

Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind? Ich ganz bestimmt. Es war einer dieser perfekten Morgen in Florida, weder zu heiß noch zu kalt, der Himmel war von einem frischen Hellblau, und die Wolken sahen aus wie fröhliche weiße Berge in der Luft. Diese unangenehme Glocke aus schwüler Hitze, die sich im späten Frühjahr über das Land senkt und bis in den Spätherbst dort bleibt, war noch nicht da.

Die Welt fühlte sich sauber an.

Ich fühlte mich sauber. Elektrisiert. Ich hatte ein Ziel.

Viele Vögel sangen an diesem Tag, wenn ich mich recht erinnere. Mehr als sonst vielleicht. Ja. Ich erinnere mich, dass mir dieser Gedanke kam, als ich im Morgengrauen aufwachte. Wie glücklich die Vögel draußen vor meinem Fenster sich anhörten. Eine Spottdrossel trillerte, ein Vorspiel für die übrigen Vogelstimmen. Es erschien mir wie ein gutes Omen.

An dem Morgen sprang ich aus dem Bett und ging sofort unter die Dusche. Ich wollte auf keinen Fall zu spät zu dem Vorstellungsgespräch kommen, das nicht leicht zu ergattern gewesen war. Ich war entschlossen, es zu schaffen.

Ich wollte, dass du mich ebenso sehr wolltest wie ich dich.

Und so kam es.

Sobald wir in deinem schicken Büro ganz oben in einem der wenigen Hochhäuser der Gegend allein waren, konnte ich es dir von deinem markanten Gesicht ablesen: Ich war genau dein Typ.

Die Wände deines Büros sind aus Glas, und die Stadt, die glitzernde Bucht, der Hafen und das Terminal für die riesigen Kreuzfahrtschiffe lagen vor uns ausgebreitet. Im Westen, in der Ferne, konnte man gerade noch die weißen Strände und das juwelengrüne Meer ausmachen.

Die Leute machen sich gern lustig über Florida, und über diese Gegend ganz besonders. Vielleicht, weil ihr der Glanz und Glamour und die Kulturangebote des bunten, lebendigen Miami fehlen. Doch es gibt eine heimliche Schönheit hier, etwas, das am Morgen atmet und bei Sonnenuntergang singt. Eine fast gewaltsame Wildheit. Frieden. In Florida sind die Raubtiere gut versteckt, sie verbergen sich tief im stillen Wasser der Seen, im hohen Gras, unter den Schaumkronen der Wellen. Die üppige Vegetation blüht und wuchert. Die Sterne funkeln, Musik tönt aus der Ferne, Alkohol fließt in Strömen. Man sieht sie nie kommen, die Dunkelheit.